Santo Fiore (Die Belmonte-Reihe 3) Santo Fiore (Die Belmonte-Reihe 3) - eBook-Ausgabe
Eine deutsch-italienische Familiensaga
— Ergreifende Familiensaga über einen Neuanfang in den italienischen MarkenSanto Fiore (Die Belmonte-Reihe 3) — Inhalt
Ein verwilderter Garten, ein alter Gutshof und die Suche nach der eigenen Geschichte ...
Da ihre Gärtnerei im Allgäu kaum Gewinn abwirft, wagt Simona den Neuanfang bei ihrer Familie in den italienischen Marken. In Belmonte will die junge Landschaftsgärtnerin einen verwilderten Klostergarten wiederaufleben lassen und ihr Herzklopfen für Gutshofbesitzer Adriano ergründen. Doch dann erfährt sie von der Mailänderin Carla, die ein Zimmer bei ihm bezogen hat ...
Für Carla gleicht der Besuch des Gutshofs ihrer Kindheit einer Reise in die Vergangenheit: Jeder Winkel des herrschaftlichen Gebäudes ist ihr vertraut, und Erinnerungen an ihre Mutter werden lebendig. Aber in der Vergangenheit lauert Dunkles. Und die Gerüchteküche im Dorf brodelt: Was führt die Tochter eines Mörders zurück nach Belmonte?
„Santo Fiore“ ist wie eine Reise ans Mittelmeer und zu sich selbst. In ihrem neuen Roman erzählt SPIEGEL-Bestsellerautorin Antonia Riepp („Belmonte“, „Villa Fortuna“) eine ebenso dramatische wie bewegende Familiengeschichte zwischen Deutschland und Italien.
Von Liebe und Verlust, Geheimnis und Verrat, Familie und Versöhnung. Der malerische Ort „Belmonte“ wird in „Santio Fiore“ erneut zum Schauplatz einer emotionalen Saga.
„Die Autorin ist eine wunderbare Erzählerin.“ Sempacher Woche
„Die Autorin trifft souverän den Ton ihrer vielschichtigen Figuren.“ Allgäuer Zeitung
Leseprobe zu „Santo Fiore (Die Belmonte-Reihe 3)“
Kapitel 1 Verwandtschaften
Belmonte, Gegenwart
Raschelnd fuhr die Sense ins Gestrüpp. Es war das einzige Geräusch, das die Sonntagnachmittagsstarre durchbrach, deshalb kam es Adriano übermäßig laut vor. Die sonst allgegenwärtigen Laute der campagna waren zum Erliegen gekommen. Es jaulte keine Motorsäge, kein Trecker fuhr, kein Huhn gackerte, sogar die Zikaden schwiegen, und noch nicht einmal ein Moped knatterte durch das Tal. Einzig auf den Uhrturm von Belmonte war Verlass. Gerade schlug die Glocke vier Uhr, um danach erneut eine lähmende Stille zu [...]
Kapitel 1 Verwandtschaften
Belmonte, Gegenwart
Raschelnd fuhr die Sense ins Gestrüpp. Es war das einzige Geräusch, das die Sonntagnachmittagsstarre durchbrach, deshalb kam es Adriano übermäßig laut vor. Die sonst allgegenwärtigen Laute der campagna waren zum Erliegen gekommen. Es jaulte keine Motorsäge, kein Trecker fuhr, kein Huhn gackerte, sogar die Zikaden schwiegen, und noch nicht einmal ein Moped knatterte durch das Tal. Einzig auf den Uhrturm von Belmonte war Verlass. Gerade schlug die Glocke vier Uhr, um danach erneut eine lähmende Stille zu hinterlassen. Es war heiß, viel zu heiß, und das schon jetzt, Ende Juni.
Adriano war dabei, dem Wildwuchs rund um das Gemüsebeet zu Leibe zu rücken. Man brauche bald ein Buschmesser, um an den Salat zu kommen, hatte Maria Santino neulich geklagt. Seit die Haushälterin die Hoheit über den Gemüsegarten, den orto, an sich gerissen hatte, breiteten sich dort immer mehr unbekannte Arten aus, sodass es Adriano schwerfiel, Nutzpflanze von Unkraut zu unterscheiden. Vorsichtshalber zog er deshalb seine Schneise in respektvollem Abstand zum Beet, um nur ja nichts Falsches abzumähen. Er war geübt mit der Sense, und die gleichmäßige Bewegung hatte etwas Meditatives, fast Einschläferndes. Der Duft reifer Tomaten stieg ihm in die Nase. Er könnte zum Abendessen Mozzarella mit Tomaten und Basilikum zubereiten, sein Standardessen, wenn seine helfende Hand nicht da war.
Sein Hund Asso hatte unter einem Lorbeerbusch eine flache Kuhle gegraben und lag darin erschöpft auf der Seite, nur die Flanken hoben und senkten sich im Takt seiner trägen Atemzüge. Jetzt zuckten plötzlich seine Ohren, und schon schnellte der schwarze Zerberus trotz seiner beachtlichen Größe im Bruchteil einer Sekunde in die Höhe. Erdbrocken flogen, als er mit lautem, tiefem Gebell in Richtung Tor raste. Adriano hielt mitten im Sensenschwung inne. Auch ihm war, als hätte er auf der strada bianca, der gewundenen Schotterstraße, die zu seinem Anwesen hinaufführte, einen Motor gehört. Er lehnte die Sense gegen die Wand des Holzschuppens, wischte sich den Schweiß von der Stirn und bewegte sich ohne Hast um das Haus herum, dem Radau seines Hundes hinterher. So wie dieser sich aufführte, musste es ein Fremder sein. Und Adriano erwartete auch niemanden. Erst nächste Woche sollte ein Autor aus Dublin eintreffen, der in der ländlichen Abgeschiedenheit der mittelitalienischen Provinz seinen zweiten Roman verfassen wollte. Sein Erstling war ein Überraschungserfolg gewesen, entsprechend groß war nun die Erwartungshaltung, und der Junge machte sich gerade in die Hose. Adriano kannte das Gefühl, er hatte vor Jahren Ähnliches durchgemacht. Damals, in einem anderen Land, in einem anderen Leben.
Er überlegte, ob er vielleicht das Datum durcheinandergebracht hatte und es der Schriftsteller sein könnte. Möglich wäre es. Die heißen Sommertage reihten sich gleichförmig aneinander wie Perlen auf einer Schnur, was er durchaus schätzte, denn er brauchte weder Aufregung noch Zerstreuung. Dabei konnte man schon einmal einen Termin aus den Augen verlieren.
Vor dem hohen, zweiflügeligen Eisentor wartete mit rasselndem Diesel ein Taxi. Der Fahrer des alten Mercedes streckte seinen behaarten Arm weit zum offenen Fenster hinaus, zwischen seinen Fingern qualmte eine Zigarette. Nein, das war nicht das irische Nachwuchstalent. Neben dem Taxi stand eine Frau. Sie war bestimmt an die eins achtzig groß, trug eine kakifarbene Pluderhose und darüber ein rot kariertes Hemd, das weit geschnitten war und doch nicht verbergen konnte, dass sie erschreckend dünn war. Noch erschreckender fand Adriano allerdings die zwei Rollkoffer, die neben ihr standen, grell pinkfarben der eine, der andere hatte ein rosa Leopardenmuster, beide groß wie Kähne.
Nun, da die Unbekannte Adriano aus dem Schatten der Kastanien treten sah, die das Tor flankierten wie zwei alte, ehrwürdige Wächter, winkte sie ihm kurz zu, eine Geste, als würde man sich kennen. Was bestimmt nicht der Fall war, da war Adriano ganz sicher, obwohl er wegen der ausladenden Krempe ihres Strohhuts und einer überdimensionalen Sonnenbrille nicht viel von ihrem Gesicht sehen konnte. Sie wandte sich um und gab dem Fahrer ein Zeichen. Der schnippte die Zigarette weg, legte den Gang ein und preschte los, dass der Schotter nur so spritzte und eine weiße Staubwolke die Frau samt ihren Koffern einnebelte. „Stronzo“, hörte er sie murmeln, während sich der Staub langsam wieder legte und Adriano seinem Hund befahl, sich zu beruhigen.
Er öffnete das Tor und ging auf die Fremde zu. „Salve“, begrüßte er sie mit dem in der Gegend üblichen Gruß. „Ich fürchte, Sie sind hier falsch. Sie hätten das Taxi nicht wegschicken sollen.“
Sie nahm den Hut und die Brille ab, behielt beides in der rechten Hand. Ihr Haar, dunkel, dicht und lockig, war etwa kinnlang, allerdings sah es aus, als hätte sie es seit Tagen nicht mehr gekämmt. Asso näherte sich der Gestalt und beschnüffelte ihre weißen Turnschuhe.
„Lass das! Vai a casa! Ab mit dir!“, befahl Adriano.
Der Hund trollte sich, ging aber nicht a casa, sondern blieb in der Nähe, um notfalls zur Stelle zu sein.
„Adriano Prisco“, sagte die Fremde.
„Wer will das wissen?“, erwiderte er, obwohl sein Name aus ihrem Mund gar nicht wie eine Frage geklungen hatte, sondern wie etwas, das lediglich nach einer formellen Bestätigung verlangte.
„Carla Prisco.“ Sie nannte ihren Namen in der Art eines Sesam-öffne-dich, dazu angetan, um sämtliche Tore dieser Welt auf der Stelle sperrangelweit aufspringen zu lassen.
„Okay“, sagte Adriano gedehnt. Nichts weiter.
Es gab, verteilt über zwei Kontinente, eine ganze Menge Priscos auf diesem Planeten. Wo käme man hin, wenn jeder von denen unangemeldet hier aufkreuzte?
„Unsere Großväter waren Brüder“, erklärte sie. „Meiner war der ältere, er hieß Basilio. Der jüngere, Cesare, müsste deiner gewesen sein.“ Sie sprach Mailänder Dialekt. Den erkannte inzwischen sogar Adriano, dessen Italienisch auch nach fünf Jahren Daueraufenthalt noch immer zu wünschen übrig ließ. Weil er einfach zu wenig unter die Leute kam und sich stattdessen lieber in seinem Zuhause vergrub. Es stimmte, was sie sagte. Adrianos Großvater Cesare Prisco war auf diesem Gut aufgewachsen und 1945 als junger Mann nach New York ausgewandert, wo ein Teil der Verwandtschaft schon seit mehreren Generationen lebte, und sein ältester Sohn war Adrianos Vater. Doch was hatte das mit dem Hier und Heute zu tun, was wollte Carla Prisco von ihm? Ahnenforschung betreiben?
Als stünden ihm seine Gedanken auf die Stirn geschrieben, rückte sie auch schon mit ihrem Anliegen heraus: „Kann ich eine Weile hier wohnen?“
„Ich führe kein Hotel“, antwortete er, bewusst blasiert und schroff.
„Ich weiß“, sagte sie. „Du betreibst eine Art …“, sie blickte zum Himmel und wedelte mit der Hand herum, als wollte sie das richtige Wort herbeifächeln, „… eine Künstlerkolonie auf Zeit, richtig?“
Demnach kannte sie seine Webseite. Was hatte sie dann daran gehindert, seine E-Mail-Adresse anzuklicken und ihr Anliegen schriftlich anzumelden, wie es unter zivilisierten Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts üblich war? Wenigstens anrufen hätte sie können, oder war auch das zu viel verlangt?
„Nur ein paar Tage, bitte, es wäre mir sehr wichtig“, insistierte sie.
Adriano warf einen skeptischen Blick auf die zwei monströsen bonbonfarbenen Trolleys und fragte sich, was sie unter ein paar Tagen verstand.
„Ginge das?“, hakte sie nach.
„Für gewöhnlich suche ich mir meine Gäste selbst aus.“
„Und nach welchen Kriterien?“
„Die Leute kommen für ein paar Wochen her, um an einem Werk zu arbeiten. Die meisten sind Autoren, aber ab und zu sind auch bildende Künstler dabei. Steht alles auf meiner Webseite“, fügte er hinzu.
„Wie viele sind es denn zurzeit?“ Sie spähte an ihm vorbei, durch das verschnörkelte Eisentor, als versuchte sie, einen Blick auf die Scharen von Kreativen zu erhaschen, die im Schatten der Bäume herumlungerten oder auf den gekiesten Wegen lustwandelten.
„Keiner.“ Er fand es unter seiner Würde, sie anzulügen.
Sie hob ihre Augenbrauen. Ihre Augen lagen leicht schräg über den hohen, hervorstechenden Wangenknochen, die Nase war schmal, und der Schwung der Oberlippe verlieh ihrem Gesicht etwas Aufmüpfiges. Irgendetwas störte ihn an ihr. Vielleicht, dass sie so mager war und dabei doch dem gängigen Schönheitsideal allzu sehr entsprach. Gesichter wie ihres sah man im italienischen Fernsehen, wann immer man es einschaltete.
Im Frühjahr hatte er etliche Anfragen abgewimmelt, weil er im vergangenen Jahr gemerkt hatte, dass Gäste, Autoren zumal, auch recht anstrengend sein konnten und er gerade wieder dabei war, in eine Phase hineinzugleiten, in der er gerne für sich war, seinen Trott lebte und seine Ruhe haben wollte. Er spielte mit dem Gedanken, ihr den Moretti-Hof zu empfehlen, ein gut ausgestattetes agriturismo am anderen Ende von Belmonte, doch irgendetwas sagte ihm, dass sie genau hier, auf seinem Gut, unterkommen wollte und nirgendwo anders.
„Ich schreibe Haikus“, verkündete sie.
Er musste lachen.
Sie konnte nicht wissen, wie selten er lachte. Eher instinktiv nutzte sie die gute Stimmung und sagte: „Es ist sehr heiß, könnten wir das alles nicht bei einem caffè und einem Glas Wasser besprechen?“
Ein durchschaubares Manöver, beide wussten das. Einmal über der Türschwelle, würde man sie nicht so leicht wieder loswerden. Andererseits sollte man Verwandte nicht vor der Haustür verdursten lassen, sondern sie wenigstens hereinbitten, ihnen Kaffee und Gebäck anbieten, ehe man zusah, dass man sie verabschiedete. Wenn er sie jetzt gleich ins Dorf schickte, würde sie sich bestimmt in der Bar von Belmonte über sein harsches Benehmen beschweren, und es würde sich binnen Minuten herumsprechen, was für ein Rüpel und Unmensch er doch war. Nicht, dass ihn das groß kümmerte, doch er musste seinen Ruf als Eigenbrötler und komischer Kauz auch nicht unnötig zementieren. Also nickte er schicksalsergeben, entriegelte einen der beiden Torflügel und trat zur Seite.
Wortlos schritt sie an ihm vorbei. Man konnte es beim besten Willen nicht anders nennen: Rücken gerade, Kinn oben, Blick ins Weite gerichtet, entschlossene, ausgreifende Schritte. Die zwei Monsterkoffer blieben zurück und warteten auf einen Lakaien, der sie ihr hinterhertrug. Adriano hatte auch schon eine leise Ahnung, wer das sein würde.
Auf halber Strecke blieb sie stehen und ließ ihren Blick schweifen.
„Ich hatte das Haus größer in Erinnerung.“
„Es ist ein einfaches italienisches Landgut, nicht Downton Abbey.“
Das Gebäude war kompakt und rechteckig, mit einem Erker in der Mitte, wo sich unten der Eingang und oben die Bibliothek befand. Es bestand aus dem Erdgeschoss, dem ersten Stock und dem Dachgeschoss mit vier Gauben, zwei auf jeder Seite. Die Fenster im ersten Stock und im Erdgeschoss waren schmal und hoch, auch die Räume hatten eine stattliche Höhe, abgesehen vom Dachgeschoss, in dem früher die Bediensteten untergebracht waren und das nun leer stand.
Sie musste seine Verstimmung bemerkt haben und lenkte ein: „Vielleicht wirkt es kleiner auf mich, weil inzwischen die Bäume gewachsen sind. Als Kind kommt einem alles viel größer vor. Ich war gerade erst sechs, als wir weggezogen sind.“
Das Erdbeben von 1997 hatte seinen Kern in Umbrien, in der Nähe von Assisi, aber auch in der benachbarten Provinz, den Marken, waren Schäden entstanden. Das Gutshaus galt danach als einsturzgefährdet, deswegen zogen die Priscos, die damals dort gewohnt hatten, nach Mailand. Ein Paar mit zwei Töchtern. Das hatte der Makler ihm erzählt. Fast zwanzig Jahre stand das Gut nach dem Beben leer, und der Park verwilderte. Bis Adriano Prisco den alten Palazzo kaufte. Er rechnete im Stillen und kam zu dem Ergebnis, dass Carla Prisco jetzt neunundzwanzig oder dreißig sein musste.
„Du hast den Garten so gelassen, wie er war.“ Das schien sie zu freuen, sie lächelte. Der Garten besaß die Dimensionen eines Parks einer mittelgroßen Stadt und erstreckte sich zuerst flach vom Tor bis zu dem hellgelb schimmernden Gutshaus und dahinter weit den Hang hinauf bis zum Wald.
„Ich bin dem Ratschlag einer klugen Landschaftsgärtnerin gefolgt“, sagte er und konnte nicht verhindern, dass eine gewisse Person, an die er eigentlich gar nicht mehr denken wollte, vor seinem inneren Auge auftauchte. Simona.
Dann standen sie vor dem Eingang. Mit einer zärtlichen Geste strich sie über die hellen Steinblöcke, die das Portal einrahmten. „Der gute, alte palazzo verde.“
„Verde? Das Haus ist gelb, nicht grün, oder bin ich schon farbenblind?“
„Bist du nicht“, erwiderte sie. „Aber es hieß schon immer so. Vielleicht, weil drum herum so viel Grün ist. Kanntest du den Namen wirklich nicht?“
„Nein.“
„Siehst du. Du kannst von mir lernen.“
„Na großartig“, murmelte er. Er ließ ihr den Vortritt in die Eingangshalle und beobachtete, wie sie sich andächtig umschaute und dabei die Nasenflügel blähte, als hoffte sie, den Geruch wiederzufinden, den das Haus in ihrer Kindheit hatte.
„Wow“, sagte sie schließlich. „Es ist schöner, als es früher war. Das hätte ich nicht erwartet.“
„Ach nein?“ Wider Willen fühlte er sich etwas geschmeichelt.
„Ich war auf das Allerschlimmste gefasst.“
Natürlich. Welcher Italiener traute einem Amerikaner schon zu, ein Jahr lang bei einem Restaurateur und Stuckateur ein Praktikum zu absolvieren, nur um sich das nötige Wissen für die Instandsetzung seines noblen, aber maroden alten Palazzo anzueignen? Wer wusste schon, dass Adriano monatelang nach den passenden antiken Bodenfliesen suchte, um die beschädigten möglichst originalgetreu zu ersetzen, und dass die verschnörkelten Streben des Treppengeländers ursprünglich zu einem vierhundert Jahre alten Chorgestühl gehörten? Dabei hatte sie noch nicht einmal das Deckenfresko in der Bibliothek gesehen, mit dessen Restaurierung er extra einen Kirchenmaler betraut hatte.
„Du weißt ja, wo die Küche ist“, sagte er und ging zum Tor, ihre Koffer holen.
„Dann war es also dein Vater, der mir das Haus verkauft hat“, stellte er fest, als sie an dem langen Holztisch in der Küche saßen.
„Ja.“
Sie stürzte den caffè ohne Zucker hinab und das Wasser gleich hinterher. Die biscotti in der blau-goldenen Dose rührte sie nicht an, sondern nahm die Dose in beide Hände und strich mit den Daumen über das Relief, das ein orientalisches Muster nachbildete. „Die kenne ich. Darin waren immer die Bonbons für Paula und mich.“
„Es war noch einiges an Geschirr und Hausrat in den Schränken. Erstaunlich, nach so vielen Jahren Leerstand. Du kannst die Dose haben, wenn du sie magst.“
Sie schüttelte den Kopf, knabberte nun aber doch eine Ecke von einem Keks ab und legte den Rest auf die Untertasse. Asso hatte sich an die Besucherin herangepirscht. Sie kraulte ihn hinter dem Ohr, und er schob seine Schnauze frech über die Tischkante in Richtung des Gebäcks. Adriano jagte ihn weg.
„Du bist aber streng“, meinte sie.
„Ich versuche nur, den Schein zu wahren. Bei Maria darf er erst gar nicht in die Küche.“
„Maria?“
„Die Haushälterin. Die biscotti hat sie gebacken. Mandelkekse mit Limoncello-Glasur.“
Carla beeilte sich, noch eine Winzigkeit davon abzubeißen. Dann sagte sie: „Mein Großvater Basilio ist gestorben, als ich noch sehr klein war, ich erinnere mich überhaupt nicht an ihn. Hast du deinen Großvater gekannt?“
Adriano nickte. „Er ist recht alt geworden, er starb erst vor zehn Jahren. Ein prima Typ. Anwalt, zweimal verheiratet, zuletzt lebte er in der Nähe von Washington, D. C. Im Krieg kämpfte er auf der Seite des Widerstands. In der Bar im Dorf hängt ein Bild der Dorfpartisanen, da ist er auch drauf.“
„Sieh da, ein Held“, lächelte sie.
Er zuckte mit den Achseln. Sein Großvater Cesare Prisco hatte im Hier und Jetzt gelebt. Die Vergangenheit ist das, was vorbei ist, pflegte er zu sagen. Weshalb er seinen Kindern und Enkeln auch nicht allzu oft mit alten Geschichten vom Krieg in den Ohren lag. Seine Partisanenvergangenheit hatte er nur erwähnt, um ein für alle Mal klarzustellen, dass er politisch auf der richtigen Seite gestanden hatte. Viel hatte er über diese Zeit nicht berichtet. Sie hausten versteckt in den Bergen, verübten Sabotageakte auf die Infrastruktur der Besatzer, und einmal geriet er in ein Gefecht und wurde an der Schulter verletzt.
„Es ranken sich viele Legenden rund um die resistenza, man darf nicht alles glauben“, meinte Adriano nun zu Carla. „Aber ein Frauenheld war er auf jeden Fall. Es kursieren da ein paar Geschichten … Jedenfalls ist er 1945 in die Staaten ausgewandert, und sein älterer Bruder, dein Großvater Basilio, hat das Gut in Belmonte übernommen, wie es so üblich war.“
„Basilio hat für die Faschisten gekämpft.“
Adriano, um eine Antwort verlegen, knebelte sich mittels zweier biscotti, die er auf einmal in seinen Mund stopfte.
„Manchmal ist es nur ein Zufall, auf welcher Seite der Geschichte man landet“, meinte er schließlich, nachdem er sich die Krümel aus seinem Bartgestrüpp gewischt hatte.
„Was ist lächerlich an Haikus?“, wollte sie unvermittelt wissen.
„Nichts, gar nichts“, versicherte er. „Sie sind bestimmt eine chronisch unterschätzte Literaturform.“
„Ich könnte während meines Aufenthalts hier an einem Gedichtband mit Haikus arbeiten.“
Welcher Aufenthalt?
„Zum Glück sind Haikus kurz und die Sammlungen meist recht schmal“, bemerkte er.
„Mit solchen Bosheiten vergraulst du mich nicht.“
„Ich muss dich nicht vergraulen. Wenn es mir passt, setze ich dich einfach an die Luft“, stellte Adriano klar.
„Du bist grob und unhöflich, aber das weißt du“, stellte sie fest.
„Was hast du erwartet von einem americano? So sind wir eben, ungehobelt bis an die Schmerzgrenze.“
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und betrachtete sie prüfend. Sie hatte ein Bein untergeschlagen, das spitze Knie ragte über die Tischkannte, mit der rechten Hand zwirbelte sie ihr Haar im Nacken. Jetzt, wo sie ihrem Ziel einen gewaltigen Schritt näher gekommen war, wirkte sie entspannt und lächelte sogar ein wenig maliziös, als sie seinen Blick bemerkte.
„Was machst du so, ich meine beruflich?“, fragte er.
„Dies und das.“ Es klang eine Spur zu lakonisch.
„Warum willst du hier wohnen?“
„Ich muss für eine Weile weg aus Mailand.“
Er breitete die Hände aus. „Die Welt ist groß.“
Achselzucken. „Ich weiß nicht. Nostalgie vielleicht? Back to the roots, so was in der Art.“
Zwei misstrauische Falten wurden über seiner Nasenwurzel sichtbar. Er beschloss, Tacheles zu reden. „Okay, mit wem muss ich rechnen? Mit einem rasenden Ehemann, einem eifersüchtigen Freund, einem verrückten Stalker, der uns Tierleichen ans Portal nagelt?“
„Nein, nichts in der Art, keine Sorge.“
„Was dann? Polizei, Mafia, guardia di finanza? Sag es einfach, dann kann ich mich darauf einstellen.“
Sie schüttelte den Kopf. „Man merkt, dass du Thriller-Autor bist.“
„War. Ich schreibe nicht mehr.“
Bestimmt hatte sie ihn gegoogelt und kannte seinen Werdegang, wusste, dass er in Cambridge studiert hatte und später selbst Professor für Englische Literatur geworden war, am Bard College in Annandale-on-Hudson, einer putzigen Kleinstadt in Upstate New York. Hätte er nicht eines Tages sein kleines Vorstadtglück aufs Spiel gesetzt, indem er sich als Thriller-Autor versuchte und fatalerweise Erfolg damit hatte …
„Gut, du hast geschrieben“, durchbrach Carlas Stimme seine Gedanken. „Aber Shakespeare wäre immer noch Shakespeare, auch wenn er nach Hamlet aufgehört hätte zu schreiben.“
„Übertreib es nicht mit den Schmeicheleien, sonst geht der Schuss nach hinten los“, sagte er und musste insgeheim anerkennen, wie geschickt sie den Themenwechsel eingefädelt hatte. „Schon gut, es ist deine Privatsache. Ich will nur keinen Stress hier, capisci?“
„Den kriegst du nicht, versprochen.“
Mit dem Hinweis, er habe noch zu tun, stand er auf. Stimmte ja auch, das Unkraut mähte sich nicht von selbst. Er war an der Tür, als sie ihm nachrief: „Welches Zimmer soll ich nehmen?“
„Such dir eins aus.“
„Danke.“
In der Halle stand noch immer ihr Gepäck. Sollte er es ihr nach oben tragen? Da sie dürr wie ein Ast war, konnte er sich kaum vorstellen, dass sie es schaffen würde, die zwei Ungetüme selbst zu schleppen. Andererseits war er nicht ihr Butler, und wenn sie schon derart viel Krempel mit sich führen musste, sollte sie selbst sehen, wie sie damit klarkam. Was aber, wenn sie die Koffer nicht trug, sondern über die Holzstufen zerrte und schleifte, von denen er jede einzelne selbst repariert und in wochenlanger Arbeit mit einem sündhaft teuren Furnier aus Eichenholz überzogen hatte?
Einen Fluch auf den Lippen, ergriff er die Trolleys, von denen jeder einzelne sicherlich mehr wog als seine Besitzerin, trug sie in den ersten Stock und ließ sie neben der Treppe stehen.
Danach setzte er seine unterbrochene Mäharbeit fort und horchte in sich hinein. Spürte dem unguten Gefühl nach, das er wahrzunehmen glaubte und das mit der Ankunft von Carla zu tun hatte. Vom Dorf her ertönte das Läuten einer Glocke. Es war jedoch nicht der Uhrturm, der die Zeit maß, sondern der Ton kam aus dem etwas kleineren Kirchturm: ein helles, aufdringliches, monotones Bimmeln. Adriano war lange genug hier, um zu wissen, was dieses Geläut bedeutete. Im Dorf war jemand gestorben.
Kapitel 2 Rosenwurz
Kempten im Allgäu, Gegenwart
Kurz vor Mitternacht steuerte Simona auf ihren toten Punkt zu. Gegen den Kühlschrank gelehnt, schloss sie für einen Moment die Augen und ließ sich einlullen von der wohltemperierten Lounge-Musik und dem Dahinplätschern der Stimmen, aus dem ab und zu ein spitzes Lachen hervorstach. Sie befand sich seit Ewigkeiten mal wieder auf einer Party, die ihr Freund Sebastian zu seinem vierzigsten Geburtstag veranstaltete.
Die meisten Gäste waren Freunde von ihm, die im Laufe der Jahre auch zu ihren … Nein, halt. Ihre Freunde waren das nicht, nicht automatisch. Viele von ihnen mochte sie nicht einmal. Die Verbindung zwischen ihnen und ihr war lediglich Sebastian. Der hatte sie vorhin einem neuen Kollegen von der Hochschule vorgestellt. Simona, meine Partnerin, hatte er gesagt, und auf diesem Wort kaute sie noch immer herum, denn bisher hatte er sie immer als seine Freundin vorgestellt. Partnerin, das klang nach Vernunft und Zuverlässigkeit, nach einer schalen Kooperation, fernab vom Chaos und den Unwägbarkeiten der Liebe. Davon abgesehen – war Partnerin im Verbindlichkeits-Ranking eine Steigerung zur Freundin oder eine Herabstufung?
„Hey, Simona, wie läuft’s eigentlich mit deiner Bio-Gärtnerei?“
Simona hob träge die Lider. Vor ihr stand Beata im kleinen Schwarzen. Wie die meisten Gäste der Geburtstagsfeier gehörte auch sie zu jenem harten Kern, mit dem Sebastian regelmäßig seinen Hang zu Outdoor-Aktivitäten auslebte, was man ihrer Figur auch ansah. Simona dagegen schreckte vor allzu anstrengenden Freizeitzeitbeschäftigungen eher zurück – was man ihrer Figur ebenfalls ansah. Zumindest ein bisschen.
„Gut.“
„Du baust jetzt nur noch eine einzige Sorte Pflanzen an, stimmt das?“ Wenn Beata über den Werdegang von Simonas Kleinunternehmen bestens im Bilde war, warum fragte sie dann überhaupt?
„Mhm“, machte Simona und hoffte, die lästige Person werde sich wieder verziehen, wenn sie sich nur ausreichend maulfaul gab.
„Was war es noch gleich?“
„Rosenwurz.“
Ach, hätte die Pflanze doch nur einen anderen Namen! Er begann so verheißungsvoll mit den Rosen – und dann kam der Wurz. Doch was will man erwarten von einem Dickblattgewächs, zu dessen Familie auch noch die Fetthenne gehörte und der Geldbaum.
„Rosenwurz“, wiederholte Beata, wobei sie das R rollen ließ wie einen Traktorreifen.
„Er geht an eine Pharmafirma. Aus dem Extrakt der Wurzeln gewinnt man ein Heilmittel gegen Erschöpfung und leichte Depressionen“, verteidigte Simona das Gewächs, das momentan ihre Existenz sicherte.
„Noch nie davon gehört“, meinte Beata.
„Dabei kannten es schon die Wikinger.“
„Die Wikinger? Dass die auch schon Depressionen hatten …“, spöttelte Beata.
Simona war versucht, auf die Terrasse zu flüchten und bei den Rauchern eine zu schnorren, bis ihr einfiel, dass ja inzwischen keiner mehr rauchte.
„Also war’s das mit deiner Alpengärtnerei“, hielt Beata fürs Protokoll fest. „Vermisst du denn nicht den Kontakt zur Kundschaft? Du wohnst ja sogar direkt neben deiner Gärtnerei, oder? Ist es dort oben nicht ziemlich einsam?“
Steckten hinter Beatas Anteilnahme etwa Hintergedanken? Bei einer Immobilienmaklerin durchaus möglich. Es sei eine Verschwendung, dass auf einem Grundstück in dieser herrlichen Aussichtslage eine Gärtnerei mit einem maroden Wohnhaus stünde, hatte Simona sie einmal sagen hören.
„Das nennt man Alleinlage, und es ist der pure Luxus“, grinste Simona.
Halt mich meinetwegen für eine Soziopathin, aber schwirr endlich ab!
„Puh, das liegt aber auch nicht jedem. Also, ich könnte das nicht.“ Beatas Miene spiegelte die schiere Besorgnis über Simonas Gemütszustand wider.
Simona nickte wissend und fragte scheinheilig lächelnd: „Hast du dich schon mal gefragt, wie andere Leute jemanden ertragen sollen, der nicht mal mit sich selbst allein sein kann?“
Der Hieb saß, sie konnte es an Beatas geblähten Nasenflügeln erkennen.
Der Gegenschlag ließ jedoch nicht lange auf sich warten. „Apropos allein sein …“, begann Beata gedehnt. „Bist du eigentlich noch mit Sebastian zusammen?“
Jetzt war Simona plötzlich hellwach. „Wieso? Was meinst du?“
Beata hob die Hände. „Sorry, ich dachte nur, weil ihr den ganzen Abend noch keinen Satz miteinander geredet habt.“
Garantiert würde Simona ein paar Stunden später eine schlagfertige Entgegnung einfallen. Jetzt suchte sie nur Sebastians Blick, um ein demonstrativ inniges Lächeln mit ihm zu tauschen. Aber er war zu sehr in ein Gespräch über Trekking-Rucksäcke vertieft, um sie wahrzunehmen. Beata hingegen drehte sich um und ließ von Simona ab, wie ein Raubtier von seiner zerfleischten Beute.
* * *
Obwohl sie erst gegen drei Uhr ins Bett gekommen waren, stand Simona am nächsten Morgen um acht Uhr auf. Durch die bodentiefen Fenster fiel eine müde, dunstverschleierte Morgensonne auf die Hinterlassenschaften der Feier. Nach einem doppelten Espresso fühlte sie sich fit genug, um es mit dem Chaos aufzunehmen. Normalerweise gab Simona in Sebastians Wohnung nicht die Putzfrau, wo käme man denn da hin? Heute würde sie jedoch eine großzügige Ausnahme machen, denn der Ärmste musste ja neben seinem Kater auch noch damit fertigwerden, dass er jetzt vierzig war. Aufräumen und Putzen waren außerdem Tätigkeiten, bei denen man gut nachdenken konnte. Und das musste sie, denn die boshafte Bemerkung von Beata ließ ihr keine Ruhe.
Vor zwei Jahren war Beata, Gerüchten zufolge, hinter Sebastian her gewesen wie der Teufel hinter der armen Seele. Simona hatte ihn nie nach dem Erfolg dieser Bemühungen gefragt, denn damals war es zwischen ihnen beiden so gut wie zu Ende gewesen. Vieles war geschehen, in jenem Sommer: Sie verlor ihre Stelle in der Gärtnerei, und es starb ihre geliebte Großmutter, nonna Franca, die Simona aufgezogen hatte. Sie vererbte ihrer Enkelin ein altes Bauernhaus in den italienischen Marken. Es lag am Fuß eines Dorfes namens Belmonte, und dort traf Simona endlich, nach dreißig Jahren, ihren Vater, über den sich ihre Mutter Marina bis dato ausgeschwiegen hatte. Doch nicht nur ihn lernte sie kennen, sondern auch dessen große Familie, die nun auch die ihre war. Außerdem war da noch ein gewisser Adriano Prisco, den sie in Belmonte den americano nannten …
Letztendlich entschied sich Simona dann aber doch für ihre angestammte Heimat und für die Gärtnerei im Alpenvorland, die gerade zum rechten Zeitpunkt zum Verkauf stand. Und Sebastian? Er war froh, dass sie zurückkam, auch wenn sie nicht mehr bei ihm einzog und lieber in dem kleinen Haus wohnte, das zu ihrem künftigen Betrieb gehörte: einer Gärtnerei für seltene Kräuter und einheimische Pflanzen.
Was Adriano betraf: Inzwischen war Simona zu dem Schluss gekommen, dass sie in ihn lediglich urlaubsverliebt gewesen war. Das soll ja vorkommen, besonders dann, wenn das Leben durcheinandergerät, so wie in jenem Sommer. Es war ein trauriges, fröhliches, aufregendes Durcheinander gewesen, eben alles andere als ein geordnetes Leben, über das man die Kontrolle hat. Genau das aber wünschte Simona sich damals: ein geregeltes Leben, ein eigenes Geschäft.
Doch als studierte Landschaftsgärtnerin musste sie sich schon bald eingestehen, dass ihr die Arbeit in den Beeten und Gewächshäusern oder der Entwurf einer Gartenanlage deutlich mehr Freude bereiteten als der Umgang mit der knausrigen, mäkeligen Kundschaft, die zwar gerne ausgefallene Pflanzen im Garten haben wollte, sich aber empörte, wenn sie mehr dafür bezahlen sollte als für einen Schnittlauchtopf bei Aldi. In solchen Momenten dachte Simona voller Sehnsucht und Reue an das alte, liebevoll renovierte Bauernhaus inmitten der sanften Hügel der italienischen Marken und scrollte auf ihrem Handy durch die Fotos von Belmonte, dem malerischen, mittelalterlichen Dorf auf dem Hügel. Ja, sie wusste um die menschliche Eigenschaft, sich stets nach dem zu sehnen, was man gerade nicht hatte, aber dennoch quälten sie Selbstzweifel. War sie womöglich genau wie Marina, ihre Mutter, die ihr Leben lang nie etwas zu Ende gebracht hatte? Auf keinen Fall wollte sie so sein oder werden wie sie. Und doch musste Simona einsehen, dass sich ihre anfängliche Begeisterung für die Idee einer „Alpengärtnerei“ inzwischen verflüchtigt hatte.
In einer botanischen Fachzeitschrift entdeckte Simona eines verschneiten Winterabends einen interessanten Artikel über Rosenwurz. Im Frühjahr baute sie aus schierer Experimentierfreude an einem steinigen Hang hinter dem Haus ein paar Reihen davon an. Sie war erstaunt, wie gut er gedieh, ohne Dünger, mit minimalem Aufwand, aber die größte Überraschung war, welchen Preis ein Hersteller für Naturheilkundeprodukte für ihre Ernte bot. Die Rechnung war einfach: Wenn sie komplett auf Rosenwurz umsattelte, würde sie mehr Gewinn erzielen und müsste sich nicht mehr mit der geizigen Kundschaft herumplagen.
So entstand ihre Rosenwurzplantage. Doch nach dem Umgraben, Pflanzen und der Installation einer automatischen Bewässerung war plötzlich nichts mehr zu tun. Der Wurz wurzelte und wuchs, wie es von ihm erwartet wurde, und war, ganz nordisches Gewächs, robust und anspruchslos. Die gewonnene Zeit wollte Simona nutzen, um sich wieder mehr um Sebastian zu kümmern, welchen sie in der ersten Euphorie ihrer Geschäftsgründung ein wenig vernachlässigt hatte. Bisweilen überlegte sie, wie sie reagieren würde, sollte er eines Tages von Heirat sprechen. Wie immer lösten diese Gedanken bei ihr akute Spießigkeitsängste und Unbehagen aus. Wozu brauchte man so ein verbindliches, staatstragendes Ja?
Andererseits war sie inzwischen zweiunddreißig. Zeit, in die Gänge zu kommen, sollte sie noch an Kinder denken, hatte Marina neulich in ihrer unverblümten Art verlauten lassen, und da ihre Mutter selten ein Klischee ausließ, musste auch gleich noch die tickende biologische Uhr herhalten. Ausgerechnet Marina, das Lehrbeispiel einer Rabenmutter kam ihr damit.
„Ach, deshalb hast du mich schon mit achtzehn in die Welt gesetzt und von deiner Mutter großziehen lassen, während du dein Seelenheil in Indien oder unter den Bettdecken irgendwelcher Loser gesucht hast!“, ätzte denn auch Simona. „Endlich habe ich es kapiert.“
Und doch hatte der mütterliche Pfeil ins Schwarze getroffen und zitterte noch eine ganze Weile nach.
„Du bist ein Engel!“ Die Hände gegen die Schläfen gepresst, schaute Sebastian sich gegen Mittag in der blitzblank aufgeräumten Wohnung um.
Simona servierte ihm als Katerfrühstück Porridge, Tee und Aspirin. Danach schlug sie ihm einen Ausnüchterungsspaziergang vor.
Normalerweise waren Spaziergänge nicht Sebastians Ding. Er bevorzugte die Extreme: Berg-, Rad- oder Mountainbike-Touren. Hauptsache anstrengend, Hauptsache in die Berge. Aber heute, erkannte Simona, kam er wirklich auf dem Zahnfleisch daher, deshalb war er nicht nur sofort mit ihrem Vorschlag einverstanden, sondern schien obendrein ebenes Gelände vorzuziehen.
„Vielleicht laufen wir ein paar Schritte entlang der Iller?“
Leider waren an diesem Sonntagnachmittag noch mehr Menschen auf dieselbe Idee gekommen. Scharen bewegten sich am Flussufer entlang, als strebten sie einer Pilgerstätte entgegen. Ständig mussten Simona und Sebastian zur Seite treten und hintereinander gehen, um Jogger und Radfahrer vorbeizulassen. Das Wetter hatte sich zusehends eingetrübt, zwischendurch verschwand die Sonne hinter ein paar Wolken, und der Wind frischte auf.
„War doch nett gestern, oder?“, meinte Sebastian.
„Mhm“, versicherte Simona und fragte dann: „Kann es sein, dass wir den ganzen Abend nicht miteinander geredet haben?“ Sie hatte nicht davon anfangen wollen, wirklich nicht. Keine Ahnung, warum es ihr trotzdem herausgerutscht war.
„Das ist doch nicht wahr“, protestierte er.
„Behauptet jedenfalls Beata.“
Insgeheim erhoffte sie sich eine abfällige Bemerkung, was Beata im Allgemeinen und deren Beobachtungsgabe im Besonderen anging, doch er sagte nur leicht zerknirscht: „Tut mir leid, es waren so viele Leute da.“
„Es sollte kein Vorwurf sein. Eine Party ist ja dazu da, dass man mit seinen Gästen redet und nicht mit seinem Partner.“
Er sprang nicht auf das Wort an, sondern sagte: „Simona, ich wollte schon länger mit dir über etwas reden.“
Sie horchte auf, gespannt, aber auch leicht misstrauisch, denn wenn er seinen Sätzen ihren Namen voranstellte, folgte meist etwas Unangenehmes oder Belehrendes. Zumindest schien es etwas Wichtiges zu sein, so wichtig, dass er nun sogar stehen blieb und mit ernster Miene auf das grün dahinfließende Wasser der Iller schaute, als müsste er das nun Folgende erst noch in Gedanken proben oder Mut dafür fassen. Die Verzögerung reichte schon, damit Simona prompt ein klein wenig Herzklopfen bekam. War das vielleicht der Moment? Hatte ihn der Übergang in ein neues Lebensjahrzehnt dazu veranlasst, sich, ebenso wie sie, Gedanken über die Zukunft zu machen und diese, im Unterschied zu ihr, auch auszusprechen?
„Über was denn?“, fragte sie betont arglos und schielte dabei erwartungsvoll nach schräg oben, denn er war fast einen Kopf größer als sie. Doch zunächst einmal mussten sie einen Pulk schwadronierender E-Bike-Rentner passieren lassen. Was immer er ihr sagen wollte, er hätte kaum einen weniger geeigneten Ort dafür finden können. Zu allem Überfluss standen sie auch noch neben einer großen Trauerweide, die ihre Zweige müde im Wasser badete.
Er tat einen schweren Atemzug. Sie lächelte ihm aufmunternd zu und klimperte mit ihren frisch getuschten Wimpern.
„Simona, ich … also, da hat sich etwas ergeben. Es ist eine wichtige Entscheidung, die ich in den nächsten Wochen treffen muss. Du weißt ja, wie schwierig es ist, eine Festanstellung an einer Hochschule oder Uni zu kriegen. Wer es sechs Jahre nach der Promotion nicht auf eine Professur geschafft hat, darf nicht weiter an der Hochschule beschäftigt werden. Also, kurz und gut: Ich habe ein Angebot für zwei Gastsemester in Shanghai. Ab Herbst.“
Sie war viel zu verdattert, um etwas zu erwidern. Das war auch nicht nötig, denn jetzt, da es raus war, redete Sebastian ungehemmt drauflos, wobei nur einzelne Worte und Satzfetzen zu ihr durchdrangen.
„Dieses blödsinnige Wissenschaftszeitvertragsgesetz … hätte sowieso woandershin gehen müssen … Karrieresprungbrett … ganz andere Liga … Forschungsgelder … asiatischer Wirtschaftsraum … Entwicklung in Robotik …“
Die Begriffe prasselten auf sie ein wie Hagelkörner. Ja, er hatte ihr von den Fallstricken dieses komplizierten Gesetzes erzählt, doch Simona hatte angenommen, dass ihm schon eine Lösung für dieses Problem einfallen würde, denn der Allgäuer an sich verließ seine Heimat prinzipiell nicht gern. Erstens, weil er sie für die schönste Gegend der Welt hielt, und zweitens, weil man woanders seinen Dialekt nicht verstand.
So konnte man sich täuschen.
Simona war ebenfalls hier geboren und aufgewachsen, doch anders als Sebastian hatte sie ihre Heimat stets mit einer gewissen kritischen Distanz betrachtet, nämlich durch die Augen ihrer Großmutter, ihrer nonna Franca, die als junge Frau eingewandert und trotz aller Mühe, sich zu assimilieren, tief im Herzen eine Italienerin geblieben war.
Was jetzt? Was, wenn er sie fragen sollte, ob sie mitkäme? Bisher allerdings war sie in seiner Rede noch gar nicht vorgekommen, und es erhärtete sich der Verdacht, dass dies auch so bleiben würde. Unbemerkt war er ihrer Beziehung entwachsen und wohl innerlich schon ganz weit weg. Es lagen eben Welten zwischen Robotik und Rosenwurz.
Sie spürte seine Hände an ihren Schultern.
„Simona! Jetzt sag doch auch mal was.“
„Shanghai. Wow. Ich gratuliere dir!“
„Es ist nur für ein Jahr. Eine Gastprofessur ist heutzutage Standard, das wird erwartet, wenn man etwas erreichen möchte.“
Sie trat einen Schritt zurück. Seine Hände glitten von ihren Schultern, und die Arme baumelten wie erschlafft neben seinem athletischen Körper herab.
„Hör schon auf! Wir wissen beide, dass du nicht mehr zurückkommen wirst. Nach China geht es in die USA oder weiß der Teufel wohin, aber ganz bestimmt nicht zurück nach Kempten im Allgäu.“
„Woher willst du das wissen? Ich lebe nämlich gern hier. Außerdem ist es ja noch nicht mal entschieden, ob ich überhaupt weggehe. Deshalb wollte ich ja mit dir reden.“
„So klang das aber nicht. Außerdem würde ich niemals von dir verlangen zu bleiben. Also geh nach Shanghai, wenn es das ist, was du willst und was deiner Karriere nützt.“
Bis jetzt, fand sie, hatte sie cool und erwachsen reagiert. Souverän geradezu. Dabei sollte es nach Möglichkeit auch bleiben. Also nichts wie weg, ehe er noch bemerkte, wie nah sie am Heulen war. Den stolzen Abgang vereitelte eine Familie, die gerade angeradelt kam. Vater voraus, Sohn und Tochter in der Mitte, die Mutter bildete das Schlusslicht.
Schon länger, hatte er gesagt. Er wolle schon länger mit ihr über etwas reden. Wie lang war länger, und was, bitte schön, hatte ihn davon abgehalten? Hielt er sie etwa für eine Frau, die Szenen machte?
„Es stört mich nur, dass du nicht schon früher was gesagt hast. Ist dir denn nie der Gedanke gekommen, dass ich vielleicht auch Pläne haben könnte?“
„Du sprichst doch andauernd von deinen Plänen. Erst war es ein Gemüseladen in Italien, dann die Kräutergärtnerei im Allgäu, jetzt ist es der Rosenwurz … Und was kommt morgen? Da gehst du vielleicht wieder nach Italien oder sonst
wohin.“
„Diese Pläne meine ich nicht. Ich rede von …“ Sie deutete den Weg entlang, wo die bunte Radfahrerfamilie gerade hinter einer Biegung verschwand. „… von so was eben!“
Sebastian stieß ein freudloses Lachen aus. „Von so was?“, höhnte er. „Du kannst es ja nicht einmal aussprechen.“
„Und wie ich das kann“, widersprach Simona und schrie, so laut sie konnte, über den Fluss hinweg: „Heirat! Goldene Ringe! Familie! Kinder! Ein ganzer Stall voller Rotznasen!“
„Herrgott, Simona!“, zischte Sebastian.
Es näherte sich ein mageres, durchtrainiertes Paar auf schmalen Rennrädern und mit aerodynamisch geformten Helmen.
„Ich bin zweiunddreißig, verflucht noch mal!“, brüllte Simona. „Die scheiß Uhr tickt! Da zählt jeder verdammte Monat!“
Die beiden Rennradler traten wild in die Pedale, der Mann grinste Sebastian an, der peinlich berührt seine Birkenstocksandalen fixierte. Als das Paar weg war, funkelte er Simona wütend an und fragte: „Wer von uns beiden ist denn bei der erstbesten Gelegenheit wieder ausgezogen?“
Das war es also. Die Wunde dieser Kränkung schwärte seit zwei Jahren unter einem hauchdünnen Schorf vor sich hin. Sie hatte seinerzeit als Argument ins Feld geführt, dass es praktisch und notwendig wäre, auf dem Gelände ihres Betriebs zu wohnen. So musste sie wenigstens nicht zugeben, dass sie sich in Sebastians durchgestylter Wohnung stets gefühlt hatte wie ein Gast in einem zu noblen Hotel. Wahrscheinlich hatte er schon seit dem Tag, an dem sie ihre Kaffeebechersammlung aus seiner Wohnung in ihr Hexenhäuschen gebracht hatte, seine Zukunft nicht mehr mit ihr zusammen geplant.
Sinnlos, ihm nun irgendwelche Vorhaltungen zu machen. Es war zu spät, und sie selbst war auch nicht immer ganz aufrichtig zu ihm gewesen, was ihre Gefühle anging.
Etwas Hartes saß in ihrer Kehle und schnürte ihr die Luft ab. Wortlos trat sie den Rückweg an, ohne sich noch einmal umzuwenden. Dabei verspürte sie den seltsamen Drang, ans Ufer der Iller, vielleicht neben die Trauerweide, eines von diesen kleinen Holzkreuzen zu setzen, wie man sie zuweilen an Straßenrändern sah. Um den Ort zu markieren, an dem gerade ihre Liebe gestorben war.
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