Lieferung innerhalb 1-3 Werktage
Bezahlmöglichkeiten
Vorbestellung möglich
Kostenloser Versand*
Blick ins Buch
Blick ins Buch

Schau der Welt direkt in die Augen Schau der Welt direkt in die Augen - eBook-Ausgabe

Eva Grübl
Folgen
Nicht mehr folgen

Roman

— Historischer Roman über Helen Keller und ihre geniale Lehrerin
Hardcover (23,00 €) E-Book (18,99 €)
€ 23,00 inkl. MwSt. Erscheint am: 02.05.2025 In den Warenkorb Im Buchshop Ihrer Wahl bestellen
Geschenk-Service
Für den Versand als Geschenk können eine gesonderte Lieferadresse eingeben sowie eine Geschenkverpackung und einen Grußtext wählen. Einem Geschenkpaket wird keine Rechnung beigelegt, diese wird gesondert per Post versendet.
Kostenlose Lieferung
Bestellungen ab 9,00 € liefern wir innerhalb von Deutschland versandkostenfrei
€ 18,99 inkl. MwSt. Erscheint am: 02.05.2025 In den Warenkorb
Geschenk-Service
Für den Versand als Geschenk können eine gesonderte Lieferadresse eingeben sowie eine Geschenkverpackung und einen Grußtext wählen. Einem Geschenkpaket wird keine Rechnung beigelegt, diese wird gesondert per Post versendet.
Kostenlose Lieferung
Bestellungen ab 9,00 € liefern wir innerhalb von Deutschland versandkostenfrei

Schau der Welt direkt in die Augen — Inhalt

„Schau der Welt direkt in die Augen“ | Bewegender historischer Roman über ein außergewöhnliches Kind und seine geniale Lehrerin

„Eva Grübls kluger und einfühlsamer Roman erzählt die unglaubliche, aber wahre Geschichte der Freundschaft zwischen der genialen Lehrerin Anne Sullivan und ihrer taubblinden Schülerin Helen Keller.“ LAURA BALDINI

Boston, 1886. Anne Sullivan ist 21 Jahre jung, als sie in den Süden der USA geht, um das taubblinde Mädchen Helen Keller zu unterrichten. Während Anne eine Kindheit voller Entbehrung und Gewalt erleben musste, wächst die kleine Helen in einer reichen und liebevollen Familie auf. Dennoch ist sie unbändig und voller Wut, denn ihr fehlt der Zugang zur Welt. Anne wird Helens Vertraute und Begleiterin. Sie wird ihr Schritt für Schritt ins Leben helfen und ihr ermöglichen, zu strahlen und später als Schriftstellerin der staunenden Welt ihr ganzes unglaubliches Potenzial zu zeigen.

Als Kind ist die taubblinde Helen Keller verzweifelt – bis eine junge, unkonventionelle Lehrerin ihr ein Fenster zur Welt öffnet.

Für alle Fans von Laura Baldinis „Aspergers Schüler“ und „Lehrerin einer neuen Zeit“, Geschichten mit wahrem Hintergrund und Tatsachenromanen.

Anne begleitete Helen vierundzwanzig Stunden am Tag und verzichtete auf konservative Methoden, feste Stundenpläne und Vokabellisten. Sie sprach mit Helen, indem sie Buchstabe für Buchstabe ganze Sätze in ihre Handfläche buchstabierte. Lange verstand Helen den Zusammenhang nicht. Erst als Anne kaltes Wasser über Helens Hand laufen ließ, während sie ihr gleichzeitig das Wort „Wasser“ in die Hand schrieb, begriff Helen, dass Dinge einen Namen haben – und lernte perfekt, mit Worten zu kommunizieren.

Entdecken Sie in diesem fesselnden historischen Roman die wahre Geschichte von Helen Keller und Anne Sullivan.

Eva Grübl studierte Grundschullehramt und Gehörlosenpädagogik. Sie unterrichtetin Österreich an einem Landesschulzentrum für Hör- und Sehbildung. Das Schicksal von Helen Keller und Anne Sullivan hat sie so bewegt, dass sie ihnen diesen großen, emotionalen Roman widmet.

„Ich bin blind, aber ich sehe; ich bin taub, aber ich höre.“ HELEN KELLER

€ 23,00 [D], € 23,70 [A]
Erscheint am 02.05.2025
416 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-492-07338-7
Download Cover
€ 18,99 [D], € 18,99 [A]
Erscheint am 02.05.2025
432 Seiten
EAN 978-3-492-60948-7
Download Cover

Leseprobe zu „Schau der Welt direkt in die Augen“

Prolog
 Brewster, Massachusetts

August 1886

Sie hasste es, wenn die Augen brannten und so sehr tränten, dass sie sie schließen musste. Dann sah sie das Meer nicht mehr, den Horizont, die weiß schäumenden Kronen. Anne grub ihre Zehen tief in den feinen Sand, spürte, lauschte. Noch immer konnte sie besser fühlen, besser riechen, besser hören als die meisten anderen Menschen. Wenn die Welt dunkel war, vibrierte sie in einem Gemisch aus Gerüchen, Gefühlen und Geräuschen.

Mit geschlossenen Augen kramte sie die dunkle Brille aus ihrer Tasche und hob zaghaft die [...]

weiterlesen

Prolog
 Brewster, Massachusetts

August 1886

Sie hasste es, wenn die Augen brannten und so sehr tränten, dass sie sie schließen musste. Dann sah sie das Meer nicht mehr, den Horizont, die weiß schäumenden Kronen. Anne grub ihre Zehen tief in den feinen Sand, spürte, lauschte. Noch immer konnte sie besser fühlen, besser riechen, besser hören als die meisten anderen Menschen. Wenn die Welt dunkel war, vibrierte sie in einem Gemisch aus Gerüchen, Gefühlen und Geräuschen.

Mit geschlossenen Augen kramte sie die dunkle Brille aus ihrer Tasche und hob zaghaft die Lider. Verschwommene Formen nahmen langsam Gestalt an. Vor ihr lag Cape Cod, die kleine Halbinsel südlich von Boston mit ihren breiten weißen Sandstränden und den hübschen Holzhäuschen, die für Anne Geborgenheit ausstrahlten.

Dr. Bradford hatte sie vor vier Jahren aus der Dunkelheit befreit und ihr eine neue Welt eröffnet. Inzwischen hatte Anne den Schulabschluss der Perkins-Schule für Blinde in der Tasche. Außerdem hatte sie sieben Augenoperationen hinter sich gebracht, die letzte lag erst einige Wochen zurück. Doch wie sollte es weitergehen?

Anne hatte Angst, und sie war wütend, weil sie anders war. Sie hatte zu den Besten ihrer Schule gehört, das Lernen fiel ihr leicht. Doch was hieß das schon? In einem von der Außenwelt isolierten Institut für Blinde konnte man leicht brillieren. Die Konkurrenz innerhalb der Schule war überschaubar. Jetzt wartete die wahre Welt auf sie, die ungepolsterte, die keine Rücksicht auf ihre Sehschwäche nahm. Sie konnte keiner Arbeit nachgehen, für die sie die Augen brauchte. Zwar sah sie Farben, Formen und Menschen, zum Lesen aber benötigte sie Lampe und Lupe, und längere Lektüre brachte ihre Augen zum Tränen.

Eine Anstellung als Tellerwäscherin oder Dienstmädchen wäre sicher eine Möglichkeit gewesen, aber Anne konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, ihr Leben lang Geschirr abzuwaschen oder einer Familie den Haushalt zu führen. Am liebsten hätte sie eine Universität besucht. Doch abgesehen davon, dass nur eine Handvoll Frauen an der Universität von Boston eingeschrieben war, konnte sie sich ein Studium gar nicht leisten. Sie hatte nichts, kein Geld, kein Heim, kein Eigentum, nicht einmal Eltern. Die Menschen, die ihr am nächsten standen, waren der Direktor Michael Anagnos und Mrs Hopkins, die Hausmutter in dem Häuschen auf dem Gelände der Perkins-Schule, wo Anne wohnte.

Sie spazierte den gewundenen Pfad zu dem Sommerhäuschen hinauf, spürte den feinen Sand unter ihren bloßen Füßen, den sanften Wind, der warm und salzig war. Sie liebte diesen Ort, die Ruhe, die er ausstrahlte, das Gefühl der Freiheit, wenn sie aufs Meer blickte. Mrs Hopkins hatte sie schon zum dritten Mal während der Ferien in ihr Sommerhäuschen in Brewster auf Cape Cod mitgenommen. Hinaus aus der Stadt, fort von dem Trubel, dem Lärm, der Hektik.

Nun stand Mrs Hopkins auf der Terrasse, hielt nach ihr Ausschau und winkte ihr zu, als sie sie endlich entdeckte.

„Annie! Ich habe einen Brief von Direktor Anagnos für dich!“, rief sie ihr entgegen.

Anne fing an zu laufen, sprang die Holztreppen hinauf, nahm zwei Stufen auf einmal.

„Geht es um eine Anstellung?“, fragte sie außer Atem.

„Ich denke schon, aber lies selbst!“

Anne nahm das Schreiben in Empfang, lief in den ersten Stock und legte sich aufs Bett. Dreimal atmete sie durch, um ihre Nervosität zu zügeln. Dann riss sie den Umschlag auf, zündete die Petroleumlampe an, holte ihre Lupe aus der Tasche und las.

Meine liebe Annie,

bitte lies den Brief aufmerksam, den ich Dir beilege, und gib mir möglichst bald Bescheid, ob Du das Angebot der Familie Keller aus Alabama annehmen möchtest. Die sechsjährige taubblinde Helen braucht eine Gouvernante. Leider habe ich keine weiteren Informationen als jene aus dem Brief des Vaters, den ich mitschicke. Aber solltest Du Dich entscheiden, die Stelle anzunehmen, wäre es ein Leichtes, mehr zu erfragen.

Ich verbleibe mit den herzlichsten Grüßen an Mrs Hopkins

Dein Freund

Michael Anagnos

Anne überflog den beigelegten Brief von Arthur Keller aus Alabama. Die Zeilen des Vaters der kleinen Helen klangen verzweifelt. Anne sah aus dem Fenster, wo die Sonne dunkelorange ins Meer sank. Da war sie, ihre Aufgabe, nach der sie so lange gesucht hatte. Sie spürte es, wusste es in dem Moment, in dem sie den Brief zu Ende gelesen hatte. Ihre Aufgabe war es, Helen Keller zu unterrichten.

Beim Abendessen stocherte Anne gedankenverloren in ihrem Teller und schwieg, bis Mrs Hopkins endlich das Schweigen brach.

„Nun rede endlich, Annie! Was stand in dem Brief?“

„Mr Anagnos hat mir eine Stelle als Lehrerin angeboten. Bei einem taubblinden Mädchen. Helen heißt sie.“

Mrs Hopkins’ Miene hellte sich auf. Sie setzte sich Anne gegenüber und nahm ihre Hände.

„Das ist ja großartig. Wo? In der Perkins-Schule?“

„Nein, in Alabama.“

„Das ist weit weg“, bemerkte Mrs Hopkins.

„Vor der Reise nach Alabama graut mir jetzt schon“, gab Anne zu. „Ich war doch noch nie außerhalb von Massachusetts und weiß gar nicht, wie es im Süden ist.“

„Willst du die Stelle denn annehmen?“

Anne nickte. „Dieses Kind braucht mich. Das fühle ich. Und es ist genau das, was ich machen will. Ich könnte als Lehrerin arbeiten, Mrs Hopkins!“

„Dann tu es! Du wirst sehen, du wächst an der Herausforderung. Wenn es jemand schafft, dann du, mein liebes Kind.“

Anne drückte Mrs Hopkins’ Hand. Sie konnte nicht in Worte fassen, wie viel es ihr bedeutete, dass diese Frau so unbeirrbar an sie glaubte.

„Ich würde Sie lange nicht sehen, Mrs Hopkins. Dort habe ich niemanden. Alles wird fremd sein, und dennoch …“

„Dennoch?“

„Dennoch glaube ich, dass ich die Richtige für diese Aufgabe bin.“

„Ich bin sogar davon überzeugt, dass du die Richtige bist, Annie. So ehrgeizig, wie du bist, gibt es keine Bessere für diese Arbeit.“

Nach einer schlaflosen Nacht entschied sich Anne, die Stelle in Alabama anzunehmen. Sie schrieb Direktor Anagnos und erbat sich einige Monate Vorbereitungszeit. Wenig später traf seine Antwort ein. Da die Familie der kleinen Helen sie erst im März erwartete, blieb Anne noch über ein halbes Jahr Zeit bis zu ihrer Abreise nach Alabama.

Die nächsten Tage nutzte Anne, um Abschied von Cape Cod zu nehmen. Während sie ihren Koffer packte, brach sie immer wieder in Tränen aus. Sie kämpfte mit der Angst vor dem Ungewissen, das vor ihr lag. Mrs Hopkins begleitete sie zum Bahnhof, umarmte sie und versprach, bald nach Boston nachzukommen.

 

Anne stand vor der Perkins-Schule und betrachtete das alte Gebäude mit den hohen Bäumen, deren verfärbtes Laub in der Abendsonne leuchtete. Ein warmes Gefühl schlich sich in ihre Brust. Hier war sie zu Hause. Im nächsten Moment überfielen sie Trauer und Abschiedsschmerz. Dieses Heim, das einzige, das sie je gehabt hatte, würde sie hinter sich lassen müssen.

Sie betrat das Hauptgebäude, in dem sie sich, auch ohne zu sehen, sicher bewegt hätte. Von draußen drang das bekannte Geräusch der vorbeifahrenden Pferdewagen herein, und sie nahm noch im Gebäude den Duft der Rosenbüsche wahr, die an der Hausmauer emporrankten.

Während sie die Treppen ins Obergeschoss hinaufging, fragte sie sich, wie wohl ihr Leben in Alabama aussehen würde. Dort war sie auf sich gestellt, verantwortlich für das taubblinde Mädchen. Anne wusste, was es hieß, blind zu sein, sie konnte Brailleschrift lesen und schreiben, kannte das Taubstummenalphabet. War das genug? Genug, um diesem Kind zu helfen? Um es aus der Isolation zu holen?

Anne setzte sich ans Fenster und blickte hinaus. Sie brauchte Unterstützung. Ihr Blick fiel auf den weißen Schaukelstuhl, der an einem Fenster im Erdgeschoss stand. Er gehörte Laura Bridgman, der älteren taubblinden Frau, die seit Jahrzehnten in der Perkins-Schule lebte. Häufig saß sie in ihrem Schaukelstuhl und stickte. Anne beschloss, zu ihr zu gehen und mit ihr über ihr Vorhaben zu sprechen.

Sie stand auf und lief die Treppen hinunter. Unten öffneten sich einige Türen. Ein paar kleinere Mädchen kamen ihr entgegen, entdeckten und bestürmten sie sofort. Freundschaften mit gleichaltrigen Mädchen hatte Anne an der Schule nie geschlossen. Zu groß waren die Unterschiede zwischen ihr und den wohlhabenden Schülerinnen. Aber für die Jüngsten, die oft von Heimweh und Angst geplagt wurden, hatte Anne gerne die Rolle der großen Schwester übernommen. Nun kamen diese Mädchen auf sie zugelaufen, zupften an ihr und umarmten sie.

„Wir haben schon gehört, dass du Lehrerin wirst“, sagte die kleine Susan, tastete nach Annes Hand und drückte sie. „Aber das Kind, das du unterrichten sollst, wohnt so weit weg. Sind es wirklich über tausend Meilen dorthin?“

„Ja, Alabama ist weit weg, im Süden der Vereinigten Staaten.“

„Wie ist es dort?“, fragte eine andere Schülerin.

„Das weiß ich nicht. Wärmer als bei uns, auf jeden Fall. Und die Menschen leben auf dem Land in großen Villen. Es soll viele Baumwollplantagen geben.“

Anne hatte auch gehört, dass die Leute rückständiger seien im Süden und immer noch der Sklaverei nachtrauerten. Doch das verschwieg sie ebenso wie ihre Angst und ihre Unsicherheit.

„Ich bin noch bis März hier“, fuhr sie fort. „Die Monate bis dahin brauche ich, um zu lernen und mich vorzubereiten. Wir haben also noch viel Zeit zusammen. Jetzt muss ich zu Laura. Ist sie auf ihrem Zimmer?“

Die Mädchen nickten. Anne vertröstete sie auf später und ging geradewegs in Lauras Zimmer.

Die ältere Frau saß in ihrem Schaukelstuhl am Fenster. Sie trug ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid und hatte das dunkle Haar streng gescheitelt und zu einem Knoten zusammengefasst. Wie immer hatte sie ihre schwarze Brille auf, um die ins Leere starrenden Augen zu verdecken. Anne stampfte auf. Laura hob den Kopf und wandte sich ihr zu. Dann streckte sie die Hand aus, und Anne ging zu ihr.

„Ich bin es, Anne“, buchstabierte sie in Lauras Hand. Vermutlich wusste sie längst, wer vor ihr stand, denn sie hörte es am Schritt, merkte es an der Art, wie Anne auf sich aufmerksam machte.

Lauras Finger bewegten sich in Windeseile. „Du wirst Lehrerin, ich weiß es schon.“

Anne verstand sie problemlos. Das Fingeralphabet für Taubblinde, in die Handfläche buchstabiert, hatte sie schon als Kind gelernt und mittlerweile perfektioniert. Alle in der Schule beherrschten es, da man nur so mit Laura kommunizieren konnte. Anne jedoch konnte es am besten von allen. Manche Wörter waren kurze Bewegungen, ein Streichen, ein sanftes Drücken, doch die meisten mussten Buchstabe für Buchstabe zusammengesetzt werden. Wenn Laura schnell sprach, fühlte es sich auf der Handfläche wie flatternde Schmetterlingsflügel an.

Anne forschte in Lauras Gesicht und fragte sich, ob sie sich für sie freute. Noch nie hatte sie Laura ausgelassen lachen gesehen. Da waren immer nur Beherrschtheit, Strenge, Disziplin. Seit Anne sehen konnte, spürte sie eine Distanz zwischen ihnen, die vorher nicht da gewesen war.

„Du musst dem Mädchen viel beibringen. Für sie ist die Welt dunkel und stumm“, buchstabierte Laura weiter.

„Ich hoffe, ich schaffe es.“

„Sie wird wütend sein. Sehr wütend. Ich war damals wütend.“

„Ich weiß“, erwiderte Anne. Sie kannte die Erzählungen von der störrischen und zornigen Laura, die im frühen Kindesalter an die Perkins-Schule gekommen war. „Aber ich bin nicht mehr blind. Ich kann sehen und werde mich gut vorbereiten.“

„Das Sehen allein wird dir nicht helfen“, buchstabierte Laura. „Dr. Howe hat alles aufgeschrieben. Er war klug, hat studiert und viele Jahre mit blinden Kindern gearbeitet. Dann kam ich.“

Anne zog die Hand zurück. Sie spürte den Zweifel in jedem Wort, das Laura buchstabierte – ob Anne nämlich mit ihren zwanzig Jahren einer Aufgabe gewachsen war, mit der damals sogar der erfahrene Dr. Howe zu kämpfen gehabt hatte. Er war zu Laura durchgedrungen, hatte ihr das Tor zur Sprache geöffnet. Dadurch war er zu einer Koryphäe geworden, geschätzt und gefeiert.

„Wo sind die Aufzeichnungen?“, fragte Anne.

„Die Institutsleitung wird sie dir sicher zur Verfügung stellen“, antwortete Laura.

Anne bedankte sich und lief in ihr Zimmer. Von einer prickelnden Euphorie befallen, setzte sie ein Schreiben an den Vorstand des Instituts auf, in dem sie um sämtliche Berichte und Aufzeichnungen von Dr. Howe bat.

Wenige Tage später trafen alle Unterlagen bei ihr ein. Es waren zahlreiche handgeschriebene Notizen, Bücher, Zeichnungen, sogar Fotografien. Während Anne in den Aufzeichnungen blätterte, befiel sie ein Gefühl der Überforderung. Es würde Tage und Wochen dauern, die Unterlagen zu studieren. Für ihre schmerzenden Augen würde es eine Tortur werden. Doch dann siegte ihre Neugier.

Sie begann mit den Grundlagen der Pädagogik und fasste die wichtigsten Erkenntnisse in ihrem Notizbuch zusammen. Stundenlang las sie, immer und immer wieder, machte sich Notizen, sammelte Material und gravierte Buchstaben und Wörter in Karten aus Karton ein, bis ihre Augen so schmerzten, dass Mrs Hopkins ihr kühlende Kamillenumschläge auflegen musste.

„Du musst dich ausruhen, Annie! Deine Augen sind noch empfindlich. Überanstrenge dich nicht, sonst wird das nichts mit deiner Stellung!“

„Ich muss mich aber bestmöglich vorbereiten. Dort werde ich ganz alleine sein und muss alles mitnehmen, was ich benötige.“

Mrs Hopkins wechselte die Umschläge. „Für heute ist es genug. Es ist zehn Uhr abends. Du liest und studierst seit den frühen Morgenstunden.“

„Bei Laura hat er nie Brailleschrift angewandt. Wussten Sie das, Mrs Hopkins?“

„Wer?“

„Dr. Howe.“

„Ich habe ihn nie kennengelernt. Es heißt, er sei ein Sturkopf gewesen, aber auch klug und beharrlich.“

„Das war er bestimmt … und erfahren. Er hat mit erhabenen Buchstaben angefangen, die Laura ertasten konnte, und hat sie an Gegenständen befestigt. Laut seinen Berichten hat es allerdings Monate gedauert, bis sie begriff, dass die Buchstaben etwas bedeuten. Ich werde Laura noch mal fragen.“

„Erzähl mir mehr von dem Mädchen, das du unterrichten sollst“, bat Mrs Hopkins. „Was weißt du über die Eltern?“

„Die Familie scheint recht wohlhabend zu sein. Und ich habe den Eindruck, die Kellers sind sehr liebevolle Eltern.“

Mrs Hopkins nickte nachdenklich. „Es ist gut, dass die Eltern sich um das Kind sorgen. Du kannst jeden Rückhalt gut gebrauchen.“

„Bestimmt merkt die Familie, dass ich unerfahren bin.“

„Das spielt keine Rolle, Annie. Sie werden deine freundliche und offene Art schätzen und dich schnell ins Herz schließen. Ebenso, wie ich dich damals ins Herz geschlossen habe!“

Mit keinem Wort erwähnte sie die Widerspenstigkeit und das schlechte Verhalten, das Anne bei Mrs Hopkins’ Ankunft an den Tag gelegt hatte. Mrs Hopkins hatte an sie geglaubt, ihr Vertrauen geschenkt, als sie verlassen und einsam gewesen war. Sie hatte als Einzige verstanden, dass Zuneigung der Schlüssel zu Annes Gefängnis gewesen war.


Boston, Massachusetts

Februar 1887

Anne zog den Handspiegel aus ihrer Tasche. Das dunkelbraune Haar hatte sie zu einem festen Knoten hochgesteckt. Die Frisur ließ sie älter wirken, das hoffte sie zumindest. Denn immer wieder überkamen sie Zweifel, ob sie nicht doch zu jung war für eine solch große Aufgabe.

Sie steckte den Handspiegel weg und sah stattdessen durchs Zugfenster in die Landschaft hinaus, die bisher ihre Heimat gewesen war. Die Randbezirke von Boston zogen an ihr vorbei. Allmählich verlor sich das Grau der Stadt und machte schneebedeckten Wiesen und Feldern Platz. Anne schloss die Augen und lehnte sich ans Fenster, fühlte das Vibrieren des Zuges, das sanfte Schaukeln, spürte die kalte Scheibe an ihrer Stirn, hörte das regelmäßige Rattern der Räder auf den Schienen, roch die anderen Menschen um sie herum, blumiges Parfum und den herben Geruch nach Arbeit.

Jemand berührte sie sacht an der Schulter und fragte nach der Fahrkarte. Anne schlug die Augen auf, kramte in ihrer Tasche und hielt dem Schaffner das Ticket hin.

„Alabama? Das ist eine weite Fahrt für eine junge Dame“, bemerkte der Mann freundlich. „Was führt Sie so tief in den Süden, Miss?“

„Ich werde dort als Lehrerin arbeiten“, erklärte sie. Ihre Augen begannen zu brennen und zu tränen. Anne schloss sie wieder.

„Ist etwas nicht in Ordnung, Miss?“

„Danke, es geht schon.“

Sie tupfte sich die geröteten Augen trocken und nahm den entwerteten Fahrschein entgegen. Als der Schaffner weiterging, wandte sie sich wieder zum Fenster und sah hinaus. Das Weiß der Schneedecke blendete sie. Ihr Blick fiel auf kahle Bäume und vereinzelte Menschen, die, in Mäntel, Schals und Mützen gehüllt, auf Pferdegespannen saßen.

Die erste Reise, die Anne ganz allein antrat, führte sie gleich in einen anderen Bundesstaat. Beim Gedanken an die weite Reise, die sie aus ihrer Heimat Massachusetts wegführte, wurde ihr ein wenig flau im Magen.

Um sich abzulenken, zog sie Dr. Howes Berichte, ihre Lupe und ihre eigenen Notizen aus der Tasche und begann zu lesen. Doch die Arbeit der letzten Monate rächte sich. Ihre Augen hätten nach der Operation mehr Zeit gebraucht. Zeit, die sie nicht hatte. Das Licht im Zug war zu schlecht, um zu lesen, und sie spürte, dass die Leute um sie herum sie anstarrten, als sie sich den Text so dicht vor die Augen hielt. Vermutlich bot sie ein eigentümliches Bild für Menschen, die mit Sehschwäche keine Erfahrung hatten.

Sie gab bald auf, lehnte sich zurück und bemühte sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Sie war gut vorbereitet auf das neue Leben, versuchte sie sich zu beruhigen. Doch dann kamen wieder die Zweifel. Eine Gegend, die sie nicht kannte, lauter fremde Leute, ein fremdes Zuhause. Reich waren sie, die Kellers. Wie war es wohl, reich zu sein? Wie lebte man, wenn man alles hatte? Wie benahm man sich? Anne wusste es nicht. Im Grunde wusste sie gar nichts. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, als sie diese Stelle angenommen hatte?

 

Nach einigen Stunden näherten sie sich New York. Die Stadt lag unter einer riesigen Dampf- und Rauchglocke, und die Häuser ragten so hoch in den Himmel, dass Anne meinte, sie müssten gleich die Wolken berühren. Sie fuhren lange Zeit durch Stadtgebiet, bis der Zug den Bahnhof erreichte und quietschend unter einem riesigen Gewölbe aus Stahl und Glas zum Stehen kam. Anne stieg aus und sah sich um. Lärm, Gedränge, Gerüche. Sie klammerte sich an ihren Koffer. Unter dem rechten Arm hielt sie ihre Handtasche fest an sich gedrückt. New York sei ein Moloch, hatte Direktor Anagnos sie gewarnt. Groß, laut, schmutzig und gefährlich. Sie solle auf der Hut sein und den Bahnhof auf keinen Fall verlassen.

„Miss, darf ich Ihnen behilflich sein?“

Der Schaffner wartete ihre Antwort gar nicht ab, sondern nahm ihren Koffer und bot ihr den Arm an.

„Sie müssen auf Bahnsteig fünf wechseln. Ich bringe Sie hin. Der Bahnhof von New York kann zur Herausforderung werden.“

„Das ist ausgesprochen nett von Ihnen“, erwiderte sie und folgte ihm durch die Menge.

Das Bahnhofsgebäude war imposant, fast ähnelte es einem Schloss. Anne hatte gewusst, dass New York eine riesige Stadt war, doch was sich hier abspielte, übertraf ihre Erwartungen. Es roch nach Pferdemist, gebratenen Würsten, Zigarrenrauch, Schweiß. Der Schaffner begleitete sie zum Bahnsteig und wechselte einige Worte mit einem Kollegen, der Annes Koffer übernahm und sie in ihr Zugabteil begleitete.

„Wir fahren erst in vierzig Minuten ab, Miss, aber Sie können schon Platz nehmen.“

„Vielen Dank“, sagte Anne, setzte sich und ließ die Gedanken schweifen. Auf der dreitägigen Reise zu ihrem Zielort würde sie nach Connecticut und New York noch durch die Bundesstaaten Pennsylvania, Maryland, Virginia und Tennessee kommen. Es lag ein langer Weg vor ihr.

Da ertönte ein lauter Pfiff. Dampfend und keuchend setzte sich die Lok in Bewegung und ließ das pulsierende New York hinter sich. Flache, weite Ebenen wechselten mit bergiger Landschaft, Großstädte, Dörfer, schneebedeckte Gipfel in der Ferne, immer weiter weg von der Küste, immer weiter gen Süden.

Stunden vergingen, Nächte, Tage. Anne schlief immer nur kurze Zeit und wachte von wirren Träumen geplagt wieder auf. Allmählich verwandelte sich der Winter in einen erwachenden Frühling. Schnee und Eis verschwanden, an den Bäumen waren Knospen zu sehen, das Gras wurde grüner.

Und während der Zug sich dem Zielort näherte, malte Anne sich aus, wie Helen Keller aussehen mochte. Vor allem aber fragte sie sich, wie es wohl um die Gefühlswelt des kleinen Mädchens bestellt war. Helens Vater hatte in seinen Briefen so verzweifelt gewirkt.

Sie wäre so hübsch, wären da bloß nicht diese Augen. Anne wusste nicht mehr, wer diesen Satz ausgesprochen hatte, doch vergessen hatte sie ihn nie. Ihr Leben lang war sie auf ihre Sehschwäche reduziert worden. Für die Welt war sie nur ein hilfloses, blindes Mädchen gewesen, dem das Tor zur Welt verschlossen bleiben musste. Ach, sie konnte sich gut vorstellen, wie die kleine Helen sich fühlte. Genauso, wie sie selbst sich seinerzeit gefühlt hatte.

Eva Grübl

Über Eva Grübl

Biografie

Eva Grübl-Widmann wurde 1971 in Wien geboren. Sie studierte Grundschullehramt und Gehörlosenpädagogik. Nach langjährigem Auslandsaufenthalt in Stockholm und Mailand, lebt sie heute mit ihrer Familie wieder in Österreich und unterrichtet an einem Kompetenzzentrum für hörbeeinträchtigte Kinder. Ihre...

Veranstaltung
Lesung
Freitag, 16. Mai 2025 in Leonding
Zeit:
19:30 Uhr
Ort:
Stadtbücherei Leonding,
Stadtpl. 2c
4060 Leonding
Im Kalender speichern
Lesung und Gespräch
Dienstag, 20. Mai 2025 in
Zeit:
Uhr
Ort:
Online-Veranstaltung,
Im Kalender speichern
Kommentare zum Buch
Kommentieren Sie diesen Beitrag:
(* Pflichtfeld)

Eva Grübl - NEWS

Erhalten Sie Updates zu Neuerscheinungen und individuelle Empfehlungen.

Beim Absenden ist ein Fehler aufgetreten!

Eva Grübl - NEWS

Sind Sie sicher, dass Sie Eva Grübl nicht mehr folgen möchten?

Beim Absenden ist ein Fehler aufgetreten!

Abbrechen