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Scheißrentiere

Scheißrentiere - eBook-Ausgabe

Magne Hovden
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Roman

„Amüsant geschrieben.“ - OÖ Nachrichten (A)

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Scheißrentiere — Inhalt

Die Nordnorweger Leif und Roy träumen davon, das schnelle Geld zu machen. Da hat Leif eine geniale Idee: ein Erlebniscamp, in dem gestresste Urlauber wie Samen leben und im Kontakt mit der Natur wieder zu sich finden können. Braucht ja niemand zu wissen, dass Leif und Roy in Wirklichkeit wenig Ahnung von den Traditionen der Samen haben. Doch manche Touristen stellen echt viele Fragen …

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 16.04.2012
Übersetzt von: Frank Zuber
224 Seiten
EAN 978-3-492-95281-1
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Leseprobe zu „Scheißrentiere“

Kapitel 1

„Eiswürfel.“
„Was?“
„Eiswürfel, Roy.“
Roy Åsen und Leif Samuelsen saßen an einem See am Jarfjordfjell in der Nähe von Kirkenes und starrten auf das Wasser. Die Angelschnur hing locker an der Rute, gab im Wind nach und formte einen Bogen auf dem Wasser. Der Schwimmer war in den Kräuselwellen kaum zu erkennen.
„Keine normalen Eiswürfel, sondern Eiswürfel aus arktischem Gebirgswasser. In Eiswürfeltüten aus dem Supermarkt. Die Japaner werden sie kübelweise im Internet bestellen. Wir werden Bars und Hotels in der ganzen Welt beliefern.“
»Viel zu [...]

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Kapitel 1

„Eiswürfel.“
„Was?“
„Eiswürfel, Roy.“
Roy Åsen und Leif Samuelsen saßen an einem See am Jarfjordfjell in der Nähe von Kirkenes und starrten auf das Wasser. Die Angelschnur hing locker an der Rute, gab im Wind nach und formte einen Bogen auf dem Wasser. Der Schwimmer war in den Kräuselwellen kaum zu erkennen.
„Keine normalen Eiswürfel, sondern Eiswürfel aus arktischem Gebirgswasser. In Eiswürfeltüten aus dem Supermarkt. Die Japaner werden sie kübelweise im Internet bestellen. Wir werden Bars und Hotels in der ganzen Welt beliefern.“
„Viel zu anstrengend. Ich lauf doch nicht mit Kanistern und dem ganzen Zeug die Berge hoch und runter. Außerdem bestellt keiner Eiswürfel im Internet.“
„Das Wasser aus deinem Wasserhahn kommt doch direkt aus einem arktischen Bergsee. Wir stecken eine Multebeere in jeden Eiswürfel. Auf die Idee ist bisher noch niemand gekommen. Wir werden die Eiswürfelindustrie revolutionieren.“
„Es gibt keine Eiswürfelindustrie, Leif. Nur eine Eiswürfeltüten- und Wasserindustrie. Und eine Eiswürfelmaschinenindustrie. Die modernen Kühlschränke haben so was vorne dran.“
„Ja. Aber niemand hat jemals Eiswürfeltüten mit arktischem Gebirgswasser und Multebeeren verkauft. Fertig zum Einfrieren, das ist das Geniale daran. Exklusiv. Die Leute lieben so was.“
„Genial. Und wie willst du die Multebeeren durch das kleine Loch in der Eiswürfeltüte kriegen?“
„Das ist doch gar nicht … Was verstehst du schon von der Eiswürfelproduktion?“
Roy stand auf, nahm seine Angelrute und holte den Schwimmer langsam ein. Ab und zu zog er die Rute mit einem Ruck zu sich heran, sodass der Schwimmer kleine Sprünge machte. „Mehr als du, offenbar. Achtung, jetzt hol ich mir eine ganz Fette. Man muss die Forellen mit dem Schwimmer ärgern, dann beißen sie an. Forellen sind total launisch; es gibt keinen anderen Süßwasserfisch, der so launisch ist.“
„Sprich mit ihnen, Roy.“
„Was?“
„Um sie zu ärgern. Sprich mit den Fischen. Dein Dialekt wird sie in den Selbstmord treiben, sie werden an Land hüpfen und vor deinen Füßen krepieren. Erzähl ihnen von den Heringstrawlern und den schönen Frauen in Ålesund.“
Ein Hering war aus dem sandigen Boden gerutscht, und der dunkelgrüne Zeltstoff flatterte im Wind. Das Geräusch erinnerte Leif an die bunten Plastikplättchen, die er als Kind am Fahrrad befestigt hatte und die beim Fahren in den Speichen ratterten. Er spießte einen neuen Regenwurm auf den Haken und stand auf. Dann kurbelte er die Schnur ein Stück ein, legte den Zeigefinger auf die Rolle und ließ die Rute von zehn vor bis zehn nach und wieder zurückschnellen, bevor er den Zeigefinger von der Rolle nahm und die Schnur laufen ließ. Der Schwimmer landete mitten im See und verursachte ringförmige Wellen, die in kürzester Zeit vom Wind aufgelöst wurden. „Das ist wie bei deiner Uhr, Roy“, hatte sein Vater gesagt, „die Spitze der Rute ist der Minutenzeiger. Er muss auf zehn vor stehen, wenn du anfängst. Bei zehn nach hörst du auf und gehst wieder auf zehn vor zurück, dann erst lässt du die Schnur laufen.“ Roy hatte gelernt, wie man Würmer auf einen Haken zieht, bevor er allein aufs Klo gehen konnte.
„Gestern hab ich Hege im Spar getroffen.“ Er ging in die Hocke, um die Finger abzuspülen, und behielt den Schwimmer im Auge. Manchmal bissen sie an, sobald er gelandet war, als würden sie sich über die Störung ärgern und wütend zuschnappen. „Ihre Mutter ist sechzig geworden, deshalb war sie in Kirkenes. Frode war auch dabei.“
Er wischte die Hände an der Hose ab und setzte sich wieder neben Leif.
„Der Filmstar aus Berlevåg?“
„Ja, Frode der Filmstar. Was hat er, was ich nicht habe?“
Leif hatte die Zigarette so weit aufgeraucht, dass er sich fast die Finger verbrannte. Er schnipste den Stummel in die Feuerstelle vor ihrem Zelt. „Den Glamour-Faktor.“
„Ein fünfzig Jahre alter Optiker mit Glatze!“
„Das spielt keine Rolle. Prominenz macht die Frauen ganz verrückt vor Lust.“
Roy nickte. „Wie viele Jahre ist es her, seit Heftig und begeistert im Kino lief? Und der wird immer noch erkannt. Es war das erste Mal, dass ich sie wiedergesehen habe, seit sie mit diesem Chorwichser abgehauen ist. Ich dachte, ich würde heulen oder mich sonst wie blamieren, oder was Peinliches sagen, aber es lief eigentlich ganz gut. Bis auf eine Kleinigkeit. Als die Verkäuferin Frode um ein Autogramm bat, hab ich Hege erzählt, dass wir gerade ein samisches Erlebniszentrum für Touristen aufbauen und schon den ganzen Sommer lang ausgebucht sind.“
„Ein samisches Erlebniszentrum? Damit hast du sie bestimmt so beeindruckt, dass sie auf allen vieren zu dir zurückgekrochen kommt, Roy. Die Idee ist fast so gut wie Arctic Power Powder.“
Vor vier Jahren hatten sie die Produktion von Arctic Power Powder geplant, eine Mischung aus fünf Prozent gemahlenem Rentiergeweih und 95 Prozent Puderzucker, die Männern in aller Welt gigantische Erektionen bescheren sollte. In Roys Wohnzimmer, wo sie sich auf dem Discovery Channel Dokumentarserien über die Herstellung von Reißverschlüssen oder den Bau unterseeischer Zugtunnel ansahen, hatten sie die Herstellungskosten optimistisch auf maximal zwei Kronen pro Packung berechnet, dazu kamen 21 Kronen Porto für den weltweiten Luftpostversand.
Mit Gesamtkosten von 23 Kronen und einem Verkaufspreis von 24 amerikanischen Dollar hätten sie pro Packung Arctic Power Powder 134 Kronen verdient. Sie wollten es über eBay an Millionen von potenziellen Kunden verkaufen und rechneten mit einem täglichen Abverkauf von mindestens zwanzig Packungen, was ein wöchentliches Einkommen von rund 19 000 Kronen ergeben hätte. Sie wollten im Wechsel je einen Monat lang arbeiten und dann freihaben, und ein Arbeitstag sollte nicht länger als drei Stunden dauern.
Aber dann wurden sie von drei wütenden Samen in den Wald gejagt, als sie mitten in der Nacht Rentiergeweihe von einem Schlachtplatz stehlen wollten, und wegen Rohstoffmangels kam Arctic Power Powder nie auf den Markt.
„Ich will sie ja gar nicht zurück. Aber ich fürchte, dass ich nie wieder eine wie sie finde. Ich hab sie zum Lachen gebracht, Leif. Als wir uns das erste Mal trafen, habe ich sie zum Lachen gebracht. Mit ganz natürlichen, unverkrampften Witzen. Das hat davor noch nie bei Frauen geklappt, in die ich verliebt war.“
„Und was ist mit Jungs?“
„Was?“
„Die Jungs bringst du immer zum Lachen. Hast du dich schon mal gefragt, ob du vielleicht schwul bist? Wenn du mit Männern zusammen bist, plapperst du ungehemmt drauflos. Natürlich und unverkrampft.“
„Nein, deshalb ist man doch nicht gleich …“
„Zuckt dir kein bisschen der Rettich, wenn du mich in der Sauna siehst?“
„Verdammte Scheiße, ich sitze hier und …“
„Das macht nichts, Roy, ich werde immer dein Kumpel sein, auch wenn du scharf auf mich bist.“
„Leck mich am Arsch.“
„Keine Angst, ich werde dich deswegen nicht verarschen.“
Roy überprüfte seinen Schwimmer. Zehn Meter vor ihm sprangen ein paar Fische.
„Wir hätten in Oslo bleiben sollen. Sie hatte sich dort wohlgefühlt. Aber ich wollte ja unbedingt nach Irland.“
„Es wäre in jedem Fall so gekommen, Roy. Und den Berg runtergegangen. Egal, wo ihr gewohnt hättet. Echte Liebe kennt keine Geografie.“
„Herrgott, du solltest Schlagertexte für Bjørn Eidsvåg schreiben.“
„Bjørn Eidsvåg ist ein Mann mit Charisma. Und du weißt, dass ich recht habe.“
„Als wir wieder in Kirkenes waren und sie mir sagte, dass sie sich in einen vom Berlevåg-Männerchor verliebt hatte …“
„Hör auf damit, Roy. Das ist lange her. Es gibt genug Kühe auf der Weide, wie man so schön sagt.“
„Ja. Torhild, zum Beispiel.“
Leif sah ihn von der Seite an. „Torhild? Wer ist Torhild?“
„Eine Kundin von der Post. Sie arbeitet im Ärztezentrum. Sie ist hübsch. Aber ich kriege in ihrer Gegenwart keinen einzigen zusammenhängenden Satz heraus. Vielleicht sollte ich mich lieber gleich über die Klippe stürzen, als mich monatelang zu quälen und dann einzusehen, dass der Zug abgefahren ist. Oder in einem anderen Bahnhof hält.“
„Lass uns lieber aufhören mit der Klippenmetaphorik. Und die Züge lassen wir besser auch in Ruhe. Du wirst schon jemanden treffen, der schräg genug drauf ist, um dich zu mögen. Genau wie ich. Seit Nina mich verlassen hat, hab ich viele Frauen getroffen, die mich mögen.“
„Ich will aber was Dauerhaftes. Keine Sexbesuche bei verheirateten Frauen in den Wechseljahren.“
„Reife Frauen wissen, was sie wollen, Roy. Wenn du wüsstest …“
Sie hatten sich an die Feuerstelle gesetzt, und Leif zündete sich eine Zigarette an. Die Sonne stand tief, aber sie schien noch so hell, dass die Lichtreflexion auf dem Deckel der stählernen Thermoskanne Roy blendete, als er den Becher mit Kaffee zum Mund hob.
Leif holte Käsewürstchen und Hotdog-Brötchen aus dem Rucksack, legte sie neben die Feuerstelle und bürstete sich die Krümel von der Hose. Die Brötchen waren zerbröselt, als er sie aus der Tüte gezogen hatte. Frische Hotdog-Brötchen in den Läden von Kirkenes zu bekommen, war wie ein Lottogewinn. Leif zerbrach ein paar Zweige und häufte sie zusammen mit dünnen Streifen aus Birkenrinde in der Mitte der Feuerstelle auf. In der kahlen Gegend musste man weit laufen, um etwas anderes als dürre, kleine Wacholderzweige zu finden, aber sie hatten unterwegs Holz gesammelt. Sie waren über den alten Panzerweg gekommen, den die Deutschen im Zweiten Weltkrieg gebaut hatten, um schwere Geschütze an die russische Front zu transportieren. Von dort führte ein Pfad durch knorriges Heidekraut an den See. Eigentlich waren es nur zwei kaum sichtbare Fahrrillen im Gras, die weiter zur russischen Grenze führten, vorbei an Stellungen, in denen ausgelieferte Soldaten den Rückzug durch das offene Gelände verteidigt hatten. Verzweifelt hatten sie versucht, ihren Kameraden einen Vorsprung zu verschaffen, als Wellen von russischen Soldaten die Deutschen zurückschlugen. Es gab keine Deckung außer den Löchern, die sie in die Erde gegraben hatten. Überall lagen leere Patronenhülsen und hölzerne Munitionskisten herum, als wären sie erst gestern zurückgelassen worden. In entgegengesetzter Richtung ragte eine graue Abhörstation in den Horizont, eines der vielen Überbleibsel des Kalten Krieges.
Leif türmte immer größere Zweige und Äste über dem Häuflein auf, dann hielt er ein Streichholz an die Birkenrinde.
Er hatte eine Glatze, aber seine Bräune, die bis lange in den Winter hielt, und das symmetrische Gesicht mit dem markanten Kinn verliehen ihm eine Maskulinität, auf die Roy neidisch war und die Frauen mochten. Sogar den lächerlichen Schnurrbart ließen sie ihm durchgehen, obwohl meistens Brotkrümel darin hingen, festgekleistert von Dorschrogen- oder Bananenaufstrich.
„Survivor-Man.“
„Was?“ Leif drehte sich zu Roy, der immer noch seinen Schwimmer beobachtete.
„Du bist der reinste Survivor-Man. Wie der im Discovery Channel. Oder Grillwürstchen-Man.“
„Wusstest du, dass der Käse in den ersten Käsewürstchen, die es gab, als durchgängiges Rohr in der Mitte von der Wurst lag?“
„Nein.“
„Wenn man mit einem Bier in der Hand vor dem Grill stand, fing der Käse an zu kochen und stand dann unter so einem Druck, dass die Wurst beim Anbeißen explodierte und dir heiße Käsesoße in die Fresse spritzte.“
„Ist dir das mal passiert?“
„Nein, ich hatte Glück.“ Leif drehte sich wieder zum Feuer. „Heutzutage ist der Käse in kleinen Stückchen in der gesamten Wurst verteilt, gerade genug, damit der charakteristische Geschmack von geschmolzenem Käse bewahrt bleibt.“
„Du solltest Vorträge im Käsewürstchenmuseum halten.“ „Genau solche Ideen brauchen wir, Roy. Einfach, aber genial. Würstchen schmecken gut, Käse schmeckt auch gut. Und Käse in Würstchen, das ist genial. Wir müssen uns etwas Einfaches ausdenken, auf das noch nie jemand gekommen ist und das nicht viel Aufwand erfordert.“
„Ich finde immer noch, dass die RSC eine gute Idee war. So was gab es damals noch nicht, aber neulich habe ich im Radio gehört, dass jemand eine ähnliche Idee hatte. Wir hätten auf RSC setzen sollen. Die großen Sicherheitsfirmen hätten sich auf uns gestürzt, sobald wir auf dem Markt gewesen wären. Dann hätten wir den ganzen Mist an sie verkauft und für lange, lange Zeit wie die Fürsten leben können. Anstatt Briefmarken auf Umschläge zu pappen und uns von den Kunden anscheißen zu lassen, weil sie eine dreiviertel Stunde angestanden haben.“
RSC stand für Remote Security Company. Es sollte ein billiges Überwachungssystem für kleine und mittelgroße Firmen werden. Roy und Leif hätten strategisch platzierte Kameras mit Bewegungsmeldern an den Gebäuden montiert, und bei der kleinsten Bewegung hätte ein Computerprogramm die Bilder per Internet in das Remote Security Operational Center in Leifs Keller übertragen. Wenn es sich um einen Einbruchsversuch gehandelt hätte, wäre die Polizei umgehend vom Chief of Operations, Leif, alarmiert worden.
Sie waren überzeugt, dass die Remote Security Company die Sicherheitsbranche revolutionieren würde. Aber Überwachungskameras mit Bewegungsmeldern stellten sich als unerwartet teuer heraus. Und bis auf die gelegentlichen Besuche jener Webseiten, die einsame Männer ab und zu anklickten, hatten weder Roy noch Leif Erfahrung mit Computern und Programmierung. Außerdem hatte keiner von ihnen die leiseste Ahnung von Marketing, Buchführung oder wie man eine so große Firma gründet, also wurde nie etwas aus der Remote Security Company. Aber den Frauen, denen sie abends in der Stadt begegneten, erzählten sie nach wie vor, dass sie im Begriff wären, eine innovative Sicherheitsfirma zu gründen.
„Es bringt nichts, der nachzutrauern, Roy. Du jammerst alten Ideen hinterher und nörgelst über meine neuen. Denk dir doch selber mal was Neues aus, sonst wird das nie was.“
Erneut waren Fische an der Oberfläche zu sehen, diesmal bei Roys Schwimmer. Er stand auf, nahm die Angel und bewegte sie vorsichtig hin und her. Schaut euch den schönen Wurm an, dachte er. Kommt schon, holt euch den schönen fetten Wurm.
Leif spießte zwei Würstchen auf und lehnte den Spieß gegen einen Stein am Feuer. Dann ging er zu Roy ans Ufer zurück.
Die beiden liebten es, mit Schwimmern in kleinen Bergseen zu angeln. Die weite, unberührte Landschaft verleitete einen, sich einfach auf einen der Steine zu setzen, die Gletscher vor Millionen von Jahren hinterlassen hatten, und über das Leben nachzudenken. In dieser Umgebung schien es ganz natürlich, grundlegende Fragen des Lebens zu diskutieren. Aber das taten Roy und Leif nicht. Sie diskutierten die Möglichkeiten, wie sie zum schnellen Geld und ökonomischer Unabhängigkeit gelangen könnten. Sie hatten das Gefühl, dass ihnen das Schicksal etwas schuldete. Dass ein besseres Leben gleich um die Ecke wartete, um die sie allerdings niemals biegen würden.
Wieder sprangen die Fische, diesmal zehn Meter vom Schwimmer entfernt. Roy und Leif gingen zurück zum Lagerfeuer und aßen ihre Würstchen. Die Sonne wärmte Ende Mai noch nicht genug, das war auch der Grund, warum die Fische nicht anbeißen wollten. Der Schnee war früh geschmolzen, und in einem Monat, wenn die dünnen Birken grün waren, würde ein warmer Wind aus dem Südosten Russlands die Fische aus der Winterstarre wecken. Nach dem Essen blieben sie sitzen und beobachteten ihre Schwimmer, während Leif rauchte und eine Melodie vor sich hin summte, die Roy nicht kannte.
„Gestern hab ich eine Statistik in der Zeitung gesehen. Die Ostfinnmark wird in Zukunft von Touristen überschwemmt werden. Was wäre, wenn wir wirklich ein Samenlager eröffnen?“
Leif sah Roy an. „Was?“
„Für Touristen ist das exotisch, weißt du. Mitternachtssonne, Rentiere, arktische Tundra und der ganze Kram. Unsere Gegend gilt als touristisch unerschlossen.“
Leif schüttelte den Kopf und warf ein Schokoladenpapier ins Feuer, das immer heller wurde, je tiefer die Sonne hinter dem Berg mit der NATO-Abhörstation sank. „Es gibt schon genug Souvenirverkäufer hier. Wir sind nicht einmal Samen, Roy.“
„Ich hatte nicht vor, ein Samenzelt …“
„Lavvo.“
„Ich hatte nicht vor, ein Lavvo auf dem Marktplatz oder am Hurtigrutenkai aufzustellen, mich in Samenkluft zu werfen und laut joikend ein Rentier an der Leine zu führen. Ich denke an etwas Größeres. Meine Besucher sollen das Gefühl bekommen, selber ein Same zu sein.“
„Welcher vernünftige Mensch auf diesem Planeten will sich wie ein Same fühlen?“
„Touristen sind keine vernünftigen Menschen, Leif. Wer in den Urlaub fährt, will Geld ausgeben. Und man will etwas erlebt haben, womit man zu Hause angeben kann. An einem Ort wie Kirkenes kann man nicht viel Geld ausgeben, die Touristen laufen ratlos herum und suchen nach Abenteuern. Wenn wir ihnen anbieten, für eine kurze Zeit wie Samen zu leben, vielleicht nur einen Vormittag lang, bezahlen sie bestimmt gut dafür. Ausländische Touristen erwarten, dass alles in Norwegen verdammt teuer ist.“
„Jepp. Dann kriegen sie am Eingang Samentrachten und Samenmützen, genau wie im Wikingerland, oder wie dieser Park da unten in Tusenfryd heißt. Dort bekommt man Wikingerhelme und ein Schwert. Ich war da mal auf einer Weihnachtsfeier.“
Roy stand auf und befestigte den losen Hering, an dem das Zelttuch flatterte.
Der Wind blies ohne Widerstand über die nackte Landschaft aus vereinzelten Wacholderbüschen, Mooren und Geröllhalden. Aber er würde sich legen, sobald die Sonne untergegangen war.
„Ich meine es ernst, Leif. Das könnte gut werden. Richtig gut. Der Markt ist da, das Lager könnten wir auf deinem Grundstück in Pasvik errichten, und die Ausgaben wären nicht so hoch. Wir brauchen nur ein paar Lavvos und eine Feuerstelle, dann besorgen wir uns ein paar Rentiere, mit denen man Lassowerfen üben kann, und servieren Rentiergulasch. Ich glaube, wir könnten 750 Kronen für einen Vormittag nehmen, und vielleicht 1500 für einen ganzen Tag mit Übernachtung. Mit fünfzehn Übernachtungsgästen würden wir 22 000 Kronen am Tag verdienen.“
„Hört sich nach viel Arbeit an. Höllisch viel. Touristen können ganz schön anstrengend sein. Und wir müssten die ganze Zeit dort wohnen. Draußen im Moor, im Zelt. Hört sich ziemlich schlimm an. Weißt du, wie viele Mücken es da oben im Juli gibt? Die Touristen werden wahnsinnig werden.“
„Ich glaube, da irrst du dich. Ich glaube, die Touristen werden die Mücken lieben. Jedenfalls werden sie es lieben, daheim erzählen zu können, was für ein authentisches Samenerlebnis sie gehabt haben. ›Das hättest du sehen sollen! Wir hatten Mücken in den Ohren und in der Nase! Das war echt ein Erlebnis!‹, werden sie sagen. Das ist genau das, was sie wollen. Abenteuer. Eine Mückenplage ist das reinste Abenteuer für sie.“
Er zog eine Tüte Bonbons aus der Hosentasche und steckte ein rosa Karamell in den Mund.
Ab und zu, wenn der Wind sich legte, schwirrten ein paar früh geschlüpfte Eismücken um ihre Köpfe. Aus irgendeinem Grund waren sie größer als die Mücken, die Ende Juni schlüpften, aber sie wirkten schlapp und tollpatschig beim Anflug auf die Adern, die unter Roys und Leifs blasser Haut lockten.
„Du hast recht, es wird viel Arbeit. Verdammt viel Arbeit am Anfang und ziemlich viel Arbeit, wenn es dann losgeht. Aber die Saison dauert nur drei Monate. Mit einem Schnitt von fünfzehn Gästen pro Nacht haben wir nach drei Monaten ungefähr zwei Millionen Kronen verdient. Eine Million für jeden von uns! Für drei Monate Arbeit! Die Vormittagsgäste habe ich noch gar nicht mitgerechnet. Das ist schnelles Geld. Eine Goldgrube wird es, wenn wir ihnen den Eindruck vermitteln können, dass der Aufenthalt in unserem Samenlager ein exklusives Erlebnis ist, das man nirgendwo anders in der Welt kriegt. Das kann doch nicht so schwer sein, oder?“
Leif ging zum Wasser hinunter, um nachzusehen, ob noch etwas von dem Wurm am Haken übrig war.
„Samenland.“
Roy drehte sich zu ihm um.
„Samenland?“
„Wir nennen es Samenland. Genau wie dieses Disneyland oder Sommerland in der Telemark.“

Magne Hovden

Über Magne Hovden

Biografie

Magne Hovden, geboren 1974 im norwegischen Ålesund, arbeitet als Schriftsteller, Cartoonist, Übersetzer, Literaturagent, Transportunternehmer und Goldgräber. Er hat in Norwegen mehrere Bücher veröffentlicht; „Scheißrentiere“ ist das erste, das auf Deutsch erscheint. Wie seine beiden Romanhelden lebt...

Pressestimmen
OÖ Nachrichten (A)

„Amüsant geschrieben.“

skandinavischebuecher.wordpress.com

„Hovden gelingt es wirklich, das ganz typische Nordnorwegen vor dem inneren Auge des Lesers entstehen zu lassen.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung

„Der Spaß endet mit einem furiosen Showdown. Der locker-leicht hingeworfene Roman ist aber nicht nur Unterhaltungsstoff, sondern eine ziemlich genaue Satire auf den Tourismus. Er zeigt, um nur weniges zu übertreiben, wonach Touristen manchmal in der Fremde suchen und was Einheimische dafür zu geben bereit sind. So kann die Lektüre auch den Blick dafür schärfen, wie echt wohl alles ist, was auf Reisen angeboten wird.“

Schweizer Familie

„Hovden legt eine amüsante Posse aus dem hohen Norden vor – gut komponiert, gekonnt erzählt und mit Hintersinn angereichert.“

Südhessen Woche

„Magne Hovden gelingt eine schräge Geschichte über zwei Jungs, die versuchen, mit wenig Aufwand maximalen Erfolg zu erzielen. Grandios komisch!“

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