Scheunenfest (Alpen-Krimis 6) Scheunenfest (Alpen-Krimis 6) - eBook-Ausgabe
Ein Alpen-Krimi
„Nicola Förg ist erneut ein spannender Krimi gelungen, bei dem politische und historische Themen in die Handlung integriert werden, ohne dass es belehrend wirkt.“ - Münsterland Zeitung
Scheunenfest (Alpen-Krimis 6) — Inhalt
Düster ragt das Skelett einer abgebrannten Scheune in den Himmel über dem Ammertal. Bei den Aufräumarbeiten werden darin die verkohlten Leichen zweier Frauen gefunden. Wurden die beiden Opfer eines tragischen Unfalls, oder hat jemand versucht, die Spuren eines Verbrechens zu verschleiern? Ein neuer verzwickter Fall für Irmi Mangold und Kathi Reindl.
Leseprobe zu „Scheunenfest (Alpen-Krimis 6)“
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„In my darkest hour“, sang eine einschmeichelnde Frauenstimme. Ein paar Kerzen brannten in der morgendlich leeren Bibliothek, die auch ein Restaurant beherbergte. Hier, im Sortland Hotell, hatte der Schriftsteller Lars Saabye Christensen sein letztes Buch geschrieben. Viele seiner Werke wuchsen die Wände hinauf, in einer Glasvitrine ruhte ein Originalmanuskript, der Widerschein der Kerzen tanzte auf den Scheiben.
Irmi war in den letzten Wochen öfter hier gewesen. Immer wenn es größere Einkäufe zu tätigen gab, fuhr man in die Stadt. Wobei Stadt ein [...]
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„In my darkest hour“, sang eine einschmeichelnde Frauenstimme. Ein paar Kerzen brannten in der morgendlich leeren Bibliothek, die auch ein Restaurant beherbergte. Hier, im Sortland Hotell, hatte der Schriftsteller Lars Saabye Christensen sein letztes Buch geschrieben. Viele seiner Werke wuchsen die Wände hinauf, in einer Glasvitrine ruhte ein Originalmanuskript, der Widerschein der Kerzen tanzte auf den Scheiben.
Irmi war in den letzten Wochen öfter hier gewesen. Immer wenn es größere Einkäufe zu tätigen gab, fuhr man in die Stadt. Wobei Stadt ein bisschen übertrieben war, Sortland war eher ein Städtchen. Irmi nippte an ihrem Kaffee, während draußen ein bläuliches Licht Schlieren in den Himmel zu ziehen begann. Es war neun Uhr morgens, erst gegen zehn würden sich Rosa und Lila ins Blau mischen. Um zwei würde der Farbkasten Gelb und Orange hinzufügen, die schwarzen Fjordberge würden scharfe Konturen zeichnen, und dann würde das Licht wieder davongleiten – langsam, sanft, sphärisch.
Die ersten Tage war Irmi geneigt gewesen hinauszustürmen, um das Licht schnell aufs Foto zu bannen. Doch der Himmel hier war viel gnädiger zu den Fotografen als der in den Alpen mit seinen schnellen Sonnenauf- und -untergängen. Sie hatte schon bald gelernt, dass sie sich hier auf 68 Grad und 42 Minuten nördlicher Breite befand. In der Polarnacht kam die Sonne nicht mehr über den Horizont, dennoch war Licht, magisches Licht, vier bis fünf Stunden lang. Genug Zeit für Hunderte, ja Tausende von Fotos. Genug Zeit für einen weiteren Kaffee, den die Norweger ja literweise tranken.
Es war ein klarer Tag, es würde heute heller werden als an den Tagen zuvor. Irmi beschloss, zum Hafen zu schlendern, durch die Stadt, die immer blauer wurde, und zwar nicht nur wegen des Himmelsspektakels. Zur Jahrtausendwende hatte der Künstler Bjørn Elvenes nämlich ein Projekt entwickelt, mit dem aus Sortland, dem „schwarzen Land“, eine „blaue Stadt“ werden sollte, Blåbyen. Er entwarf eine Farbpalette und begann die Häuser Sortlands in verschiedenen Blautönen zu streichen. Sortland war zu diesem Zeitpunkt nicht gerade ein Vorzeigestädtchen, und der Künstler wollte mit seiner Aktion die depressive Stimmung wegmalen. Die Stadtväter hatten sich für besonders clever gehalten und dafür Industriefarbe zur Verfügung gestellt, die billiger war. Der Künstler klagte wegen der mangelnden Qualität, es gab ein langes Hin und Her – nun wurde schließlich weitergemalt, in diversen Blautönen. Letztlich herrschten auch hier am Weltenende, an der Kante des Universums, Bauernschläue und die Macht des Geldes.
Am Hafen lag die „Arctic Whale“, eine Gruppe von Touristen hatte aufgeregt das Deck gestürmt. Winter Whale Watching Tours waren etwas ganz Neues, ebenso die Wintergäste, die Pauschalreisen hierher buchten. Denn wer fuhr schon freiwillig im Winter nach Nordnorwegen?
Irmi hatte es gewagt, sie war an einem windigen Tag Anfang Januar nach Kopenhagen, von da aus nach Oslo und weiter nach Narvik geflogen. Das Weihnachtsfest hatte sie knapp überstanden, aber auch nur, weil Bernhard so gar keine Antennen für seine Schwester hatte oder haben wollte.
Am 6. Januar hatte sie die Krippe weggepackt, die alte Krippe mit den versehrten Figuren, wie es sie in vielen Familien gab. Den Hirten waren die Arme schon vor vielen Jahren abgebrochen. Der eine von ihnen trug eigentlich ein Holzbündel auf der Schulter, aber ohne Arm ging das schlecht. Irmi hatte ihn immer wieder angeklebt, doch sobald sie das Holzbündel hineingeschoben hatte, löste sich der Arm wieder. Nun hatte der arme armlose Hirte keinen Job mehr. Einer der Heiligen Drei Könige hat sein Bein verloren. Wie wanderte man als Einbeiniger aus dem Morgenland heran? Der Esel war ein Dreibein, und einer der Engel hatte sich seiner Laute entledigt. Da war das Frohlocken auch nicht mehr das, was es mal gewesen war. Versehrt und arbeitslos waren sie, diese Figuren. Die lange Wartezeit im Sommer setzte ihnen zu, denn irgendwann räumte man die Kiste im Speicher eben doch um, stellte eine andere darüber – und schon gab es neue Versehrte.
Als Irmi dieses Jahr ihr Krippenvölkchen wegpackte, begann sie zu weinen, sie konnte gar nicht mehr damit aufhören. Warum war das Leben so ungerecht? Es gab immer neue Verletzungen, es ging mit großen Schritten dem Alter entgegen, das einem die Mutter nahm, den Vater, die Freunde. Es war düster in Irmis Seele.
Zwei Tage lang spürte sie gar nichts, dann regte sich in ihr ein Fluchtreflex. Wieder einmal besuchte sie Adele, berichtete ihr von einer Freundin, die sie besuchen wolle. Ausgerechnet hinter dem Polarkreis. Doch letztlich hatte Adele ihr zugeraten.
Adele war ihre Therapeutin. Niemals hätte Irmi gedacht, dass sie mal zu so einer Seelenklempnerin gehen würde. Sie musste lächeln, während sie da im Sortland Hotell saß und an Adele dachte. Das Klempnerhandwerk passte so gar nicht zu Adele Renner mit ihrer leicht entrückten Weltfremdheit. Dafür war sie mit ihrer sanften und liebevollen Art gar nicht handfest genug. Als Irmi sich irgendwann eingestanden hatte, dass ihre Schlafstörungen, ihre für sie selbst unfassbare Bedrücktheit mitten an bunten Sonnentagen das Maß des Erträglichen überstiegen hatten, war es fast schon zu spät gewesen. Sie hatte ihr sprachloses Entsetzen selber nicht verstanden, sie hatte die Bilder gesehen, die immer wieder in ihrem Inneren auftauchten, aber sie hatte mit niemandem darüber reden können. Ein gemeinsames Wochenende mit Jens, bei dem sie ihn nur noch angepflaumt und jeden seiner Blicke und Gesten falsch gedeutet hatte, war die Initialzündung gewesen. Sie konnte sich selbst zerstören, aber doch nicht die Menschen, die sie liebten. Man durfte den Besten nicht immer die schlechtesten Seiten zumuten. Aber genau das hatte sie getan.
Und so war sie an die zierliche und alterslose Adele gelangt. Weit weg von Garmisch, im Allgäu draußen, weil man sie dort nicht kannte. Adele hatte sie nicht belabert, hatte keine Gemeinplätze von sich gegeben, keine Plattitüden, aber auch nicht die ganze Zeit geschwiegen. Stattdessen hatte Adele ihr eine EMDR-Therapie angeboten, das sogenannte Eye Movement Desensitization and Reprocessing, zu Deutsch „Augenbewegungsdesensibilisierung und Wiederaufarbeitung“. So lautete die etwas sperrige Bezeichnung für eine Methode, bei der eine traumatisierte Person eine besonders belastende Phase ihres traumatischen Erlebnisses gedanklich einfrieren soll, während der Therapeut den Klienten mit langsamen Fingerbewegungen zu rhythmischen Augenbewegungen anhält. Irmi kam das alles zwar etwas merkwürdig vor, aber sie akzeptierte zum ersten Mal, dass sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung litt. Sie begriff, dass das Eingesperrtsein mit einem Rentierschädel in einem dunklen Bunker, dass diese Todesangst, die sie dort empfunden hatte, eben doch tiefe Schäden in ihr hinterlassen hatte. Und weil die Methode des EMDR nach dem Tsunami im Indischen Ozean 2004 bei den Überlebenden so gut funktioniert hatte, vertraute Irmi dieser kleinen Frau. Vielleicht auch, weil diese selbst so unperfekt wirkte.
Adele hatte sich Irmis Reisepläne angehört und sie letztlich gutgeheißen, trotz des merkwürdigen Ziels. Kathi hingegen hatte Irmi angesehen, als sei sie geistesgestört, als sie ihr erzählte, dass sie mitten im Winter nach Nordnorwegen fahren wollte. „Was willst du denn auf einer windgepeitschten Insel am verschissensten Arsch der Welt? Da wird ja selbst ein Bauerntrampel wie du depressiv“, hatte sie gesagt. Von Irmis Therapie wusste sie ja nichts. Irmi hatte nur gutmütig gelacht. Eigentlich sollte die Reise ihre Schwermut ja eher vertreiben. Kathi hatte ihr zu Ayurveda in Sri Lanka oder zumindest zu „so einem Wellness-Chichi auf Malle“ geraten.
Doch Irmi war nordwärts geflogen.
Wieder trank sie einen Schluck von ihrem Kaffee und winkte einem Mann auf dem Schiff zu. Sie selbst hatte kürzlich auch so eine winterliche Whale Watching Tour mitgemacht, mit Ssemjon, der seinen Namen den Eltern zu verdanken hatte, die glühende Tolstoi-Anhänger waren. Ssemjon war Deutscher und hatte ein Guesthouse an einer windigen Inselspitze. Er war extrem wetterfest und voller Euphorie. Auch Irmi hatte sich nach einiger Zeit den Norwegern angepasst und trug nun über ihren ohnehin schon warmen Klamotten einen dieser typischen Overalls. Schmeichelhaft für die Figur waren sie nicht gerade, denn sie machten einen zum Michelinmännchen oder Öltank. Aber nicht umsonst hatte das halbe Land sie – sie waren wattiert, wasserfest, winddicht.
Mit dem Schiff waren sie bis in den engen Trollfjord eingefahren, dessen Ende zugefroren war. Irmi war es fast unglaublich erschienen, dass die Schiffe der Hurtigruten hier wenden konnten. Seeadler hatten über dem Boot gekreist, das Licht hatte Feuersbrunst am Himmel gespielt. Sortland war Anlegestation, und immer wenn eines der stolzen weißen Schiffe der Hurtigruten kam, blieben Autos auf der Brücke stehen, und es wurde fotografiert. „Man hat schon ein Halteverbot auf der Brücke diskutiert“, hatte Ssemjon erklärt. „Doch der Antrag wurde abgeschmettert: Die Hurtigruten ist ein Teil der nationalen Identität, so viel Zeit muss eben sein!“
Und Zeit hatte Irmi genug in dieser anderen Welt, die sich aus Eis und Wind, aus Licht und so viel Dunkelheit jeden Tag neu erschuf. Ihre Finger waren bei der Whale Watching Tour an Deck des Schiffes zusehends zu Eiskrallen geworden, aber sie hatte den Auslöser der Kamera, die Kathi ihr mitgegeben hatte, nicht loslassen können. Ein Lob auf die Michelinmännchenbekleidung. Nur Ssemjon hatte ohne Mütze im Wind gestanden und gelächelt, weil er fand, dass seine Wahlheimat der schönste Platz der Welt war, gerade jetzt, wo die Fjordberge immer schwärzer wurden. Und es schon um drei Uhr nachmittags Nacht wurde. Irmi verstand ihn gut. Erst nach einiger Zeit hatte sie den Rhythmus hier begriffen, die Welt war langsamer geworden, nichts zählte mehr, nur das Licht, das zauberhafte, betörende Licht.
Nachdem Irmi ihre Einkäufe erledigt hatte, fuhr sie zurück nach Bø, an jenem Berg vorbei, der wie ein Spaten aussah. Es war stockdunkel, als sie nach gut einer Stunde Fahrt über kurvige Sträßchen im Guesthouse in Ringstad ankam, ihrem Zuhause auf Zeit. Vom offenen Meer blies ein scharfer Wind in den Vesterålsfjord herein, und es riss ihr fast die Tür aus der Hand, als sie die Tüten ins Haus schleppte. Kaum hatte sie alles eingeräumt, da klingelte das Schnurlostelefon, das auf der Theke lag. Sie hob ab und verstand erst gar nichts.
Es war Kathi. Wie war sie an ihre Telefonnummer gekommen? Es rauschte, fast wie der Wind draußen. Immer wieder brach Kathis Stimme ab. Nur eines war ganz klar zu verstehen: „Du musst zurückkommen.“ Irmi begab sich mit dem Mobilteil näher zur Ladestation, und das Rauschen wurde zu einem Rascheln.
„Erzähl das bitte noch mal. Ich kann dich nur ganz schlecht verstehen“, sagte Irmi und starrte auf ein grandioses Foto an der Wand, das ihr Domizil am Wasser zeigte. Darüber war das Nordlicht zu sehen, Aurora borealis genannt – ein Spektakel, das süchtig machte. Das Foto war nur eines von vielen, die Ian aus seiner schwarzen Kamera zaubern konnte. Seine Bilder konnten einen zu Tränen rühren, so schön waren sie.
Irmi hatte Carina und Ian vor einigen Jahren in Garmisch kennengelernt, wo sie Urlaub gemacht hatten – voller Sehnsucht nach unberührter Natur, von der sie im Ruhrgebiet, wo sie damals wohnten, nicht genug finden konnten. Inzwischen hatten die beiden eine alte Handelsstation in der Inselwelt der Vesterålen gepachtet, in der sie Zimmer vermieteten, und sie hatten Irmi per E-Mail herzlich dorthin eingeladen. Ian veranstaltete nicht nur Schneeschuhwanderungen, Touren mit dem Winterkajak und Adlersafaris, sondern auch großartige Fotokurse, die irgendwo im Nirgendwo einer Bucht hinter den Schären stattfanden. Er hatte Irmi ein paar Privatstunden gegeben und ihr dabei erklärt, dass es nur einen hassenswerten Buchstaben im Alphabet gebe: P wie Programmautomatik. Ian war ein Magier der Blende und gab sein Wissen gern weiter. Selbst Irmi hatte am Ende spektakuläre Fotos gemacht. Die würden ihr bleiben, auch wenn sie wieder in Deutschland wäre.
Doch was wollte Kathi von ihr?
Der Bericht ihrer Kollegin war schnörkellos. Es ging um einen Tennenbrand in Unterammergau. Um zwei Tote im Silo und zwei Alte, die nicht zu Schaden gekommen waren. Kathis Rede wurde immer wieder unterbrochen von einem kaum vernehmbaren Schlucken.
„Der Chef und die Staatsanwaltschaft wollen jemanden von außen holen, weil du nicht da bist. Jemanden aus München.“ Wieder eine kurze Pause. „Wir brauchen hier niemanden aus München. Ich hab gesagt, dass du zurückkommst. Ich, ach … Ich war mir sicher, dass du zurückkommst.“
Es blieb still am anderen Ende der Leitung. In der Küche klapperte irgendwer mit Geschirr. „Aber jetzt nicht mehr?“, fragte Irmi. „Jetzt bist du dir nicht mehr sicher?“
„Nein, ich hätte dich nicht stören dürfen. Es ist absurd, ich …“
Es kam Irmi vor, als sei Kathi überraschend stark aus der Bahn geworfen. Sie war fast schon beklemmend leise und zurückgenommen. War das „ihre“ Kathi, die sagte: „Ich hätte dich nicht stören dürfen“? Kathi, das Sturmtief? Kathi, Taifun und Tornado in Personalunion? Das Mobilteil des Telefons begann zu piepsen, schrill und nervtötend.
„Kathi, ich ruf sofort zurück. Ich glaube, der Akku gibt gerade auf.“ Klack.
Irmi ging die steile Treppe hinauf in ihr Zimmer, das ihr in den letzten drei Wochen zum Zuhause geworden war. Es dauerte eine Weile, bis sie ihr Handy gefunden hatte, es steckte oben im Koffer, in der Deckeltasche, in die sie gebrauchte Wäsche zu stecken pflegte. Sie schaltete es ein, und mit dem Aufflackern des Bildschirms, mit diesem Startton, den sie nun schon so lange nicht mehr gehört hatte, passierte etwas in ihr. Es war wie ein Ruck, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Da war sie wieder: Irmi Mangold, Hauptkommissarin aus Schwaigen in Oberbayern.
Sie ging ins Bad und schaute in den Spiegel, der zu hoch hing – dabei war sie wahrlich nicht klein. Sie reckte sich ihrem Spiegelbild entgegen und lächelte wieder. Auf einmal war es so mühelos. Als wäre es das Einfachste der Welt. Der Weg lag klar vor ihr, ein Weg, den sie schon verloren geglaubt hatte.
Sie ging hinaus auf die steile Außentreppe, denn drinnen unter dem Dach war kein Empfang. Sie wählte eine Nummer und hatte im nächsten Moment ihren Chef am Apparat. Sie redeten ein paar Minuten. „Wir brauchen niemanden aus München“, lautete Irmis letzter Satz.
Dann rief sie Kathi zurück. „Ihr müsst mit Hochdruck an der Identifizierung arbeiten. Es wird ein klein wenig dauern, bis ich zu Hause bin. Der Weg vom Polarkreis zurück in die Welt zieht sich.“ Irmi lachte.
Die Tränen traten ihr in die Augen, sie war so dankbar, so demütig. Wie oft hatte sie diesen Moment herbeigesehnt, den Moment, an dem sie sich wieder spüren würde, eine Irmi mit klaren Gedanken und klarem Blick. Sie hatte versucht, die Normalität herbeizukämpfen. Dann war sie wieder in ein tiefes Loch gefallen und hatte darüber nachgedacht, was eine berufsunfähige Polizistin wohl tun könnte. An der Supermarktkasse arbeiten? Oder putzen gehen? Dabei hasste sie Putzen!
Und nun war es auf einmal so leicht, ohne Vorwarnung, ohne Kampf. Was Kathi erzählt hatte, war grausam und gruselig. Aber Irmi freute sich, denn das war es doch, was ihr Leben ausmachte. Sie musste forschen und wühlen in den Exkrementen menschlicher Leben, und diesmal freute sie sich darauf. Nicht auf die Exkremente, aber darauf, das zu tun, was sie konnte: genau hinsehen, genau hinhören.
„Du kommst?“ Kathi klang ungläubig.
„Was für eine Frage! Wir reden von Unterammergau. Das ist ein Dorf voller Gallier. Da brauchen wir keine Münchner.“
Wir – es jubelte in ihr. Wir, wir, wir.
„Puh, da bin ich aber froh. He, du alter Bauerntrampel, du hast mir gefehlt“, sagte Kathi leise, und es klang ein wenig so, als schniefte sie.
Natürlich war der Abschied am nächsten Tag etwas wehmütig. Ein letztes Mal war Irmi mit Carina in Straume im Supermarkt, bevor sie am Abend fliegen würde. Sie waren in der kleinen Kunstgalerie, bei der Tankstelle und auf der Post gewesen. Dann waren sie weiter nach Bø in einen Haushaltswarenladen gefahren, und während Carina wieder irgendwas suchte, hatte Irmi eine Abschiedstour zu ihrem Lieblingsplatz gemacht, einer eindrucksvollen Skulptur mit dem Titel „Der Mann vom Meer“.
Auf dem Weg dorthin kam sie an den voll behängten Gestellen mit Stockfisch vorbei, der insgesamt sicher zwei Millionen Euro wert war, wenn es sich um Fisch der besten Qualität handelte. Sie legte einen Abstecher in das kleine Museum ein, das vor allem Regine Norman gewidmet war, einer mutigen Frau, deren bösartiger Mann ihr das Schreiben hatte verbieten wollen. Deshalb hatte sie heimlich in einer Höhle geschrieben, bevor sie schließlich vor ihm geflohen war. 1913 war sie die erste Norwegerin gewesen, die sich scheiden ließ. Im Museum war auch ein Christbaum aufgestellt, wie ihn die Menschen hier oben früher selbst angefertigt hatten. Da es auf den Inseln keine üppigen Wälder mit Nadelbäumen wie in Irmis Heimat gab, hatten die armen Fischer Löcher in einen Birkenstamm gebohrt und Wacholderzweige hineingesteckt.
Schließlich erreichte sie den „Mann vom Meer“, eines von dreiunddreißig Land-Art-Kunstwerken im Nordland. Die gusseiserne Skulptur blickte über Inseln, die einst bewohnt gewesen waren, deren Menschen aber 1950 umgesiedelt wurden, weil der Staat nicht wegen ein paar Insulanern Wasser und Strom dorthin legen lassen wollte. Der über vier Meter lange Mann stand fest verankert da. Sein starkes Rückgrat war dem Wasser abgewandt. In die Rückseite der Skulptur war eine kleine Frauenfigur aus Gold eingelassen. Irmi blickte in den Himmel, der inzwischen dunkelrot geworden war, und nickte der goldenen Frau zu. Frauen stärkten Männern den Rücken.
Sie dachte an Jens, den sie über ihre Auszeit informiert hatte. Ja, es war ein formelles Informieren gewesen, eine Art Abwesenheitsnotiz für Geschäftsfreunde. So redete man nicht mit dem Mann, den man liebte. Jens wusste zwar als Einziger, dass Irmi sich Hilfe geholt hatte, aber Genaueres wusste er nicht. Er hatte ihr Glück gewünscht und sie gebeten, sich zu melden, wenn es an der Zeit sei. Er werde auf sie warten, ein ganzes Leben. Sie beschloss, ihn von zu Hause aus anzurufen.
Später traf sie sich mit Carina in einem Café. Die beiden Freunde würden ihr fehlen. Ian, der Engländer aus Cornwall, der einst in Deutschland beim Militär gewesen war und da schon alles und jeden fotografiert hatte. Als Lastkraftwagenfahrer war er eine Weile im Ruhrgebiet gefangen gewesen, wo er Carina getroffen hatte, die norwegische Fremdsprachensekretärin, auch sie Kind einer vom Wind gepeitschten Insel am Polarkreis.
Dass schon heute Abend ein Platz in einem Flug von Narvik nach München mit nur einem Umstieg in Oslo frei gewesen war, kam Irmi wie ein Wink des Schicksals vor. Das würde keine lange Flugexpedition werden wie auf dem Hinweg, als sie mehrmals hatte umsteigen müssen, mit Verspätungen und langen Aufenthalten in irgendwelchen Wartehallen.
Ganz so reibungslos ging es dann aber doch nicht vonstatten. Das Flugzeug bekam zunächst keine Starterlaubnis, und die Passagiere lungerten eine ganze Weile auf dem Vorfeld herum. Als sie endlich abgehoben und die Flughöhe erreicht hatten, leuchtete der Himmel. Die Fluggäste hingen alle auf einer Kabinenseite, staunten, stießen spitze Schreie aus, versuchten durch die kleinen Fenster zu fotografieren. Und doch gab das Nordlicht einzig für Irmi ein letztes furioses Spiel. Bis der schwarze Vorhang der Nacht fiel. Sie würde in jedem Fall wiederkommen an dieses Ende der Welt, allein wegen der Aurora borealis. Sie hatte das Nordlicht gesehen und war süchtig geworden.
Schon am ersten Tag ihrer Anwesenheit hatte Ian Irmi entführt. Mit der Stirnlampe auf dem Kopf waren sie hinausgegangen, dorthin, wo es knackte und knarzte. Ebbe und Flut arbeiteten im Eis der zugefrorenen Buchten. Ian hatte Schneekristalle aufgehoben, schweigsam und andächtig. Immer wieder hatte er zum Himmel geblickt. Ob es kommen würde? Es verging eine weitere Stunde. War das eine Wolke dort oben? Nein, es war eine gräuliche Schliere, die ganz plötzlich am Himmel erschien. „Das kann der Beginn des Nordlichts sein, sie kann aber auch wieder verschwinden“, hatte Ian gesagt. Irmi hatte den Kopf in den Nacken gelegt und gespürt, wie sie Gänsehaut bekam. Sie wollte es zwingen, wollte das Nordlicht herbeihypnotisieren. Doch die Natur kann man nicht zwingen, wenn der Mensch das nur begreifen würde. Sie hatte tief durchgeatmet und die Schultern entspannt. Langsam waren sie zum Guesthouse zurückgegangen. Auf einmal hatte es begonnen. Die Aurora borealis färbte den Himmel, waberte, formierte sich neu, verlief wieder. Changierte in allen sphärischen Abstufungen von Grün. Verwirrende Schönheit! Der Mensch war so klein dagegen, ein Wicht – und Irmi war so dankbar gewesen. Vom ersten Tag an.
Sie war eingetaucht in das norwegische Leben, von Anfang an. Carina hatte eine Weihnachtsfeier nach der anderen zu organisieren gehabt, einige davon hatten erst nach Weihnachten stattgefunden, weil vorher immer so viel los gewesen war. Die Gäste hatten Irmi zugeprostet, sie wusste nur selten, mit dem wievielten Aquavit. In der Küche des Guesthouse hatte der tschechische Koch Lutefisk zubereitet, jene gewöhnungsbedürftige Weihnachtsspezialität, für die der Trockenfisch abwechselnd in Natronlauge und Wasser eingelegt wird. Auch das Essen war mit Aquavit besser zu überstehen, dem alle üppig zusprachen. Man gab Kinderreime zum Besten, zum Beispiel den vom Hühnchen, das einfach tot vom Zaun fiel. Ganz schön makaber für einen Kinderreim, fand Irmi, auch wenn das Hühnchen am Ende zum Engel wurde. Was sollten die Kinder daraus lernen? Die heitere Runde nötigte Irmi, das Gesicht so ins Deutsche zu übersetzen, dass es sich reimte. Irmi gab alles und dichtete:
Hühnchen saß auf dem Zaun ganz munter.
Hühnchen fiel hinunter.
Kein Arzt konnt helfen in der Not,
denn Hühnchen war schon tot.
Hühnchen kam in den Himmel droben,
Hühnchen konnt es dort nur loben.
Hühnchen wurd ein Engel schnell
in des Himmels Schloss so hell.
Die Zuhörer johlten, und Ian heftete Irmi den Vesterålen-Dichterpreis an – in Form einer zerbrochenen Muschel. Diese lag nun im Bauch des Flugzeugs, sicher eingehüllt in eine Stinkesocke in Irmis Koffer. In jenen feuchtfröhlichen Nächten hatte man auch ein Weihnachtslied gesungen, das die Melodie von „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“ hatte. Irmi summte es leise im Flugzeug vor sich hin und sah dabei noch einmal in die Nacht hinaus. Bestimmt würde sie wiederkommen, aber jetzt hatte sie erst einmal in Bayern zu tun. Daheim! Daheim, endlich!
Sie kamen noch später als geplant in München an, weil es zunächst keine Landeerlaubnis gegeben hatte. Zu viel Schnee, hatte es geheißen. Wurde es nicht eigentlich jedes Jahr Winter? Launig hatte der Kapitän damit gedroht, dass er wegen des Nachtflugverbots in München dann wohl in Linz landen müsse. Nachts um elf im Schneesturm in Linz, na, das waren Aussichten! Irgendwie war es ihm dann aber doch noch gelungen, kurz vor knapp in München niederzugehen.
Es war nach elf, als Irmi ihr Gepäck hatte, den Ankunftsbereich verließ und gegen eine Wand von Menschen lief. Es war doch immer höchst merkwürdig, wenn man in all die erwartungsfrohen Gesichter sah, in die suchenden Blicke, wenn man die Enttäuschung spürte, dass die eigenen Lieben noch nicht dabei waren.
Kathi trug eine kurze grasgrüne Daunenjacke und passende grüne Stiefel und belebte damit das Einerlei an dunklen Wintermänteln. Sie stand etwas abseits und hob die Hand zu einer Art Winken, als sie Irmi entdeckte. Betrachter dachten vermutlich, dass hier eine sehr schlanke Tochter ihre nicht so schlanke Mutter abholte. Die Schlemmerei in Norwegen war nicht gerade ein Diättrip gewesen.
„Hei“, sagte Irmi und blieb stehen. Es wäre ihr unpassend vorgekommen, Kathi zu umarmen.
„Hei“, sagte Kathi. „Ich dachte schon, ihr kommt gar nicht mehr.“
Während sie über den verzögerten Start und das Nordlicht plauderten, erreichten sie das Auto und wenig später den Autobahnzubringer. Er schneite wirklich wie verrückt, und Kathi fluchte über die „Erzdeppen, die besser daheimbleiben sollten“, und über die „bleden Münchner, die ihren Ring nicht räumen und eh nicht Auto fahren können“. Auf der Garmischer Autobahn lag eine geschlossene Schneedecke, und sie hatten schon die Starnberger Ausfahrt erreicht, als Irmi sich erkundigte: „Weiß man schon was?“
Kathi schüttelte den Kopf. „Wenig. Die eine Frau könnte Ionella Adami sein, eine junge Rumänin.“
„Rumänin?“
„Ja, sie hat bei der Familie, wo die Tenne abgebrannt ist, als Pflegekraft gearbeitet. Du weißt schon, diese Frauen aus Rumänien oder Polen, die ein paar Wochen bleiben, bevor die Nächste kommt. Und so weiter.“
Auch wenn schon ein langer Tag hinter ihr lag, war Irmi nun hellwach. Eine junge Rumänin starb in einem Silo in Unterammergau? Und mit ihr eine weitere Person?
Weil Irmi gar nichts sagte, fuhr Kathi fort: „Ich hab schon mal kurz mit Andrea und Sailer darüber diskutiert, und die haben gemeint, das sei inzwischen gang und gäbe. Ich war etwas überrascht, weil ich immer gedacht hab, auf den Bauernhöfen funktioniert das noch besser mit dem Generationenvertrag. Ich meine …“
Ach Kathi, dachte Irmi. Auf der Alm, da gibt’s koa Sünd, und am Hof, da gibt’s koane Probleme … Da sitzen die Alten im Austragshäusl inmitten von Streuobstwiesen, und die Omama pflegt noch ein wenig den Bauerngarten, und der Opapa fährt noch mit dem alten Dieselross das Wasserfass auf die Weiden. Am Ende schläft die Omama vor einer Kochsendung im BR zum letzten Mal friedlich ein, und der Opapa beendet sein Leben am Hausbankerl.
Aber so war es eben nicht mehr! Viele aus der jüngeren Generation waren Nebenerwerbsbauern, hasteten nach der frühen Stallarbeit auf die Baustelle oder in eine Fabrik, und kaum waren sie daheim, war der Stall wieder dran. Ihre Frauen hatten längst Jobs, die schicke Kleidung und Pumps erforderten. Und selbst auf den Höfen, wo der Jungbauer wirtschaftete und die Eltern nebenan lebten, war wenig Raum für Pflege. Meist machte es der Sohn dem Vater nicht recht, und die Alten konnten nicht loslassen.
„Wie ist denn die Situation in dieser Familie?“, fragte Irmi möglichst neutral, obwohl es in ihrem Inneren toste. Ihr war jetzt schon klar, dass in diesem Fall jede Menge Sprengstoff lag.
„Die Frau ist schwerst dement, der Mann noch recht fit, aber sie sind halt sehr alt, oder! Beide weit über neunzig. Es gibt zwei Söhne, Frauen, Enkel … Ich hab mal eine Art Stammbaum der Familie Schmid erstellt.“
„Super, den schau ich mir morgen mal an. Habt ihr schon alle befragt?“
„Noch nicht alle. Natürlich sind die total durch den Wind wegen des Brandes. Die Tenne ist komplett hin. Und keiner weiß, wo Ionella abgeblieben ist. Die Aussagen hab ich zusammengestellt, bisher ist alles noch sehr dünn, und wir warten auf die Identifizierung der Leichen.“
„Ist diese Ionella denn als vermisst gemeldet?“
„Nein, das nicht. Franz Schmid, der eine Sohn des Alten, und der Enkel Thomas – beides granatenmäßige Ekelpakete – waren der Meinung, die Ionella sei abgehauen, weil das solche ja gerne tun.“
Irmi grinste. Ja, sie war schlagartig angekommen in Kathis Sprachwelt. „Solche?“
„Na ja, die Herren halten wenig von den ›Weibern aus den Karpaten‹. Originalton. Die Familie hat wohl schon einige Mädels verschlissen. So einfach war das offenbar nicht.“
Kathi hatte eine so begnadete Art, Kompliziertes in wenigen treffenden Worten zusammenzufassen, dachte Irmi.
„Klar ist das nicht einfach“, sagte sie. „Da kommt so ein Mädchen vielleicht wirklich irgendwo aus den Karpaten und soll vierundzwanzig Stunden am Tag präsent sein. Ob sie überhaupt alles versteht …“
„Sicher ned, wenn die so richtig ugauerisch redn“, meinte Kathi grinsend.
„Eben. Daran scheitern doch schon die Preißn, und die sind immerhin deutsche Muttersprachler“, konterte Irmi. „Und davon mal abgesehen: Die Alten sind sicher nicht immer lieb und pflegeleicht, und nicht jede dieser jungen Frauen weiß vorher, worauf sie sich da einlässt. Manche werden ihren Vorteil suchen, andere werden viel zu jung und sensibel sein. Da prallt so viel aufeinander!“
Irmi war sich bewusst, dass auch die finanzielle Lage in vielen Familien katastrophal war. Bauernrenten waren weniger als Almosen, die Kosten für ein Pflegeheim waren meist nicht aufzubringen. Da war diese Nebenwelt der Pflege oft die einzige Chance, auch wenn die Kinder ein schlechtes Gewissen hatten, weil sie selbst nicht genug anpackten. Denn tief drinnen wusste die jüngere Generation natürlich, dass die Alten auch deshalb so wenig abgesichert waren, weil sie nie etwas von ihrem Besitz verkauft, sondern immer nur „das Sacherl beieinandgehalten“ hatten. Weil sie neue Laufställe für die Kühe zu einem Preis gebaut hatten, für den andere sich eine Villa mit Meerblick auf Malle gekauft hätten. Weil die Kredite wie ein Albdruck über den mit Solarpanels bedeckten Dächern dieser Ställe lagen. Vorsorge war ein Unwort gewesen, und auf einmal war die Quittung da. Diese Ostmädels waren die einzige Chance. Irmi wusste das, sie kannte das aus einigen Familien, wo sich Rumäninnen und Polinnen die Klinken in die Hand gaben.
Ihre eigenen Eltern waren zu Hause gestorben, sie und Bernhard hatten letztlich Glück gehabt. Vater und Mutter waren ohne lange Leidenszeit gegangen. Ihre Mutter fehlte ihr plötzlich so sehr. Die Trauer war wie ein böser Stich, der sie in unregelmäßigen Abständen quälte. Es tat noch immer sehr weh, und das würde wohl ewig so bleiben.
„Wurde denn sonst noch etwas Verwertbares gefunden?“, fragte Irmi und versuchte sich wieder auf den Fall zu konzentrieren.
„Beide Leichen sind Frauen. Das weiß die Gerichtsmedizin ganz sicher“, sagte Kathi zögerlich.
„Ach!“
„Ehrlich gesagt, hatte ich angenommen, es würde um ein Verhältnis oder so gehen. Ein Lover und seine Geliebte vielleicht.“
„Ein Schäferstündchen im Silo? Das ist aber kein guter Platz.“
„Und ein Schäferstündchen zwischen zwei Frauen im Silo macht es noch komplizierter“, sagte Kathi. „Und das in Ugau.“
Irmi starrte hinaus ins Dunkel. „Sonst noch was?“
„Eine der Frauen hatte ein Handy dabei, das ist aber völlig zusammengeschmolzen. Man konnte keine Anrufe oder irgendwelche anderen Daten retten. Es war ein Smartphone von Samsung, immerhin das weiß die KTU. Das war’s aber auch schon. Bis jetzt sind keine Vermisstenmeldungen eingegangen. Aber jetzt komm du doch erst mal richtig an, oder!“
Als Kathi Irmi in Schwaigen absetzte, war es nach eins. Der Schnee fiel unermüdlich weiter. Irmi bedankte sich und schloss die Haustür auf. Sie stutzte kurz, als sie den Gang betrat. Erst kürzlich hatte er einen neuen Linoleumboden bekommen, der wie Holzdielen aussah, und sie hatte sich noch nicht an den Anblick gewöhnt. Der alte karierte, bei dem an manchen Stellen schon das Jutegewebe herausgekommen war, hatte seinen Dienst ja wirklich getan, aber irgendwie hatte Irmi ihn in Gedanken noch abgespeichert.
Sie machte Licht und ging in die Küche. Auf dem Tisch stand ein Schokonikolaus, und daneben lag ein Zettel: „Wellcom, Schwester!“ Irmi lächelte, während sie auf einen Stuhl glitt. Das Englische war nicht gerade eine Stärke ihres Bruders. Aber sie war gerührt.
Von einem Kissen erhob sich etwas Schwarzes. Katzenbuckel! Der kleine Kater, der schon längst nicht mehr klein war, sondern ein Mordsbrackl geworden war. Er sprang auf den Tisch, gab Irmi einen gewaltigen Nasenstüber, gähnte und begann zu schnurren. Irmi kraulte ihn unterm Kinn. „He, Süßer. Du stinkst ganz schön aus dem Hals!“
Sie war daheim. Vom Gang kam ein merkwürdig kratzendes Geräusch. Der alte Kater hatte Irmis Koffer, den sie dort abgestellt hatte, umgeworfen und herzhaft draufgepinkelt. Nun kratzte er ein wenig halbscharig auf diesem neuen Katzenklo herum und bedachte Irmi mit einem vernichtenden Blick. Dann zeigte er ihr das Hinterteil und wackelte in seinem Djangogang davon. Der alte Kater war schwer beleidigt und nicht gerade auf Willkommenskomitee eingestellt. Irmi wischte das Malheur weg. Prima, die erste Amtshandlung daheim war das Eliminieren von Katzenpisse. Einfach großartig!
Die beiden Frauen haben keine festen Partner, Irmi eine Affäre mit einem verheirateten Mann. Zudem erholt sie sich zu Beginn des Buches von einer posttraumatischen Belastungsstörung. Gehören private Probleme zu einem guten Krimi dazu?
Die Irmi ist keine gebrochene Persönlichkeit, sie ist eine optimistische, zupackende, bodenständige Persönlichkeit. Aber ich wollte zeigen, dass auch und gerade solche Menschen, die immer selbstbestimmt sind, die alles selber können und nie Hilfe annehmen, an einen point of no return kommen. Irmi hat das akzeptiert, erliegt dem Zauber Nordnorwegens im Winter und spürt sich wieder. Sie spürt sich auch wieder als die Kommissarin, die die Intuition hat. Und die braucht sie in dem Fall auch!
Dieses Mal kommen Sie mit wenig Tieren aus….
Ich weiß, ich stehe in Verdacht, gerne Tierthemen aufzugreifen, was im Falle von „Mordsviecher“ und „Platzhirsch“ natürlich wahr ist. Aber das sind eben die Themen vor meiner Haustüre. Es ist meine Lebensrealität inmitten von Pferden, Katzen und Kaninchen zu leben, es ist meine Realität, selber Heu zu machen oder Bäume zu fällen. Und auf dem Land ist das auch die Realität vieler Menschen. Sei es im Bereich der Nutztiere wie beim Bruder meiner Kommissarin, seien es Haustiere, die heiß geliebt werden. Meine Themen sind immer ein klein wenig „aufklärerisch“. Und das bedeutet eben auch, dass Menschen mit dem einen oder anderen tierischen, ländlichen Thema in Berührung kommen, das in einen Krimi verwoben wurde. Ein Thema, das ihnen sonst vielleicht nicht untergekommen wäre …
Sie sagen aufklärerisch, andere nennen es sozialkritisch und dieses Mal beschäftigen sie sich mit dem brisanten Thema der ausländischen Pflegekräfte.
Ich möchte das gar nicht so hoch hängen, aber mir kommen eben immer wieder Geschichten unter, die mich aufregen, die mich berühren, die mich erschüttern. Aus dieser inneren Bewegung entsteht dann eben der Wunsch, eine Geschichte zu erzählen, die andere auch bewegt. Und in dem Fall ist es das gewaltige Problem der Pflege alter Menschen. Auch ich stand vor der Frage, wie ich meinen Eltern ein würdiges Altern ermöglichen kann. In meiner Familie sind wir den Weg der ausländischen Pflegekräfte gegangen und das ist für alle Beteiligten ein Tanz auf sehr dünnem Eis. Die Angehörigen haben ein bohrend schlechtes Gewissen, die lieben Alten sind natürlich nicht immer lieb. Die Mädchen aus dem Ausland sind weder Engel noch Teufel. Die meisten haben Sprachprobleme, sie haben Heimweh. Sie erfüllen einen übermenschlichen 24-Stunden-Job – emotional ist das alles hochsensibel. Und ja, ich musste einige Jahre durchatmen, um nun erzählen zu können. Der Tod, ja das Verenden meiner schwer dementen Mutter war mit das Bitterste, was ich erlebt habe.
Eine junge rumänische Pflegerin kommt bei einem Tennenbrand um.
Ja - und das bringt Sand ins Getriebe einer schrecklich normalen Familie aus dem Ammertal. Was nun tun mit den Alten? Da ist die Rede von den Karpatenweibern, die man mit Verachtung sieht. Wiewohl das ein weites Tal ist, sind da so viele Scheuklappen vor den Augen. Es geht eben immer auch darum, aus den richtigen Familien zu stammen, Zugereiste haben immer nur ein Ticket zweiter Klasse! Und es ist beklemmend zu sehen, wie viele Grauzonen diese Familie zulässt, wenn es um Lug und Trug geht. Nur Mord schließt man kategorisch aus.
Getötet wurde aber nicht nur die junge Rumänin, sondern auch eine junge Norwegerin?
Ja, sie ist eine Austauschstudentin und freundete sich mit der Rumänin an. Es ging mir auch darum zu zeigen, welche zwei Pole wir im heutigen so gar nicht vereinten Europa haben. Da ist eine gebildete junge Frau aus einem Land, das viele nur mit Menschenhändlern, Drogenschiebern und Sinti und Roma assoziieren. Eine junge Frau, für die 1200 Euro im Monat sehr viel Geld sind. Die andere kommt aus einem Land, das durch sein Ölvorkommen reich ist, wo Überfluss herrscht, wo ein junges Mädchen alle Möglichkeiten hat. Zwei junge Frauen mit ganz unterschiedlichen Ausgangspositionen sind fröhlich und mit der Unverwundbarkeit der Jugend nach Bayern gekommen. Und sterben gemeinsam in einer Tenne!
Und die junge Norwegerin hatte noch einen ganz anderen Beweggrund zu kommen?
Ihr Auftauchen führt uns in ein unrühmliches Kapitel unserer Geschichte, es entführt uns in die Zeit norwegischer Besatzungssoldaten. Und auch hier bin ich ganz persönlich bewegt. Meine Eltern sind beide verstorben, auch im Falle meines Vaters sind alte Dokumente und Bilder lange in der Truhe des Verdrängens gelegen. Als ich dann seinen Ariernachweis in Händen hielt, seine Entlassungspapiere aus britischer Gefangenschaft, die alten Fotos – da erging es mir eben wie meiner Kommissarin. Ich gehöre zur Generation deren, die gerufen haben: Warum habt ihr da mitgemacht? Wir wurden im Geschichtsunterricht so mit der NS Zeit torpediert, dass wir zugemacht haben. Ich hadere heute damit, dass ich zu wenig gefragt habe - und um mit einer meiner Figuren zu sprechen: Krieg ist eben Millionen mal ein Einzelschicksal und wenn der letzte Zeitzeuge gestorben ist, dann ist es Geschichte. Scheunenfest ist auch ein Buch gegen das Vergessen!
„›Scheunenfest‹ punktet wieder mit authentischen Protagonisten und jeder Menge Lokalkolorit.“
„Die Story ist gut recherchiert, aufwendig verwoben und spannend.“
„Förg schafft es wieder einmal, neben Witz und Spannung, neben Lokalkolorit und Dramatik auch aktuelle Probleme kritisch zu beleuchten.“
„Spannend, skurril, überraschend.“
„Spannung pur!“
„Dialoge und Personen sind, wie von Nicola Förg gewohnt, überaus authentisch. Das Buch hat einen durchgehend hohen Spannungsbogen, nachdem sich die Geschichte komplett entwickelt hat, mag man es kaum noch aus der Hand legen.“
„Nicola Förg ist erneut ein spannender Krimi gelungen, bei dem politische und historische Themen in die Handlung integriert werden, ohne dass es belehrend wirkt.“
„Ein idealer Roman mit viel Lokalkolorit für einen Sommer-Urlaub in Bayern.“
„Förgs Romane sind vor allem eines – wohltuend unvolkstümlich.“
„Wie alles zusammenhängt, bitte selbst nachlesen. Es zahlt sich aus!“
„Toll geschrieben und absolut empfehlenswert!“
„Förg hat die Geschichte spannend verpackt und mit dem Norwegen-Aufenthalt samt Ermittlungen eine perfekte Rahmenhandlung geschaffen.“
„Eine aufwühlende Geschichte, meisterhaft erzählt und elektrisierend bis zur letzten Seite.“
Trotz der ernsten Hintergründe war der Krimi sehr unterhaltsam und vom Schreibstil her mühelos zu lesen. Eingeflochtene Wortwechsel im bayrischen Dialekt wirkten auflockernd. Dank einiger unerwarteter Wendungen konnte auch die Spannung bis zum Schluss aufrechterhalten werden. Mir hat es insgesamt sehr gut gefallen und ich empfehle das Buch gerne an Leser von guten Krimis weiter. Dieses Fazit ist ursprünglich auf www.lovelybooks.de erschienen.
Ein packender Alpenkrimi, der weit entfernt ist von uriger Hüttengaudi. Dieses Fazit ist ursprünglich auf www.lovelybooks.de erschienen.
Trotz der ernsten Themen liest sich auch dieser Band der Reihe gewohnt unterhaltsam. Die Protagonistinnen Irmi und Kathi werden mir immer sympathischer. Dieses Fazit ist ursprünglich auf www.lovelybooks.de erschienen.
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