Schlangen und Stein Schlangen und Stein - eBook-Ausgabe
Das Erwachen der Medusa
— Ein modernes Retelling des Medusa-Mythos„Eine eindrucksvolle Neuinterpretation der Medusen-Sage, die den antiken Stoff über die Themen Verfolgung, Unterdrückung und Gemeinschaft in die heutige Zeit transportiert.“ - letterheart_buecherblog
Schlangen und Stein — Inhalt
Was, wenn Medusa nie das Monster war?
Mit „Schlangen und Stein“ hat James A. Sullivan eine eindrucksvolle Neuinterpretation der Medusen-Sage geschaffen, die den antiken Stoff über die Themen Verfolgung, Unterdrückung und Gemeinschaft in die heutige Zeit transportiert: Medusa wurde von Perseus getötet, ist jedoch in Form von neun Schwestern wiederauferstanden. Im Verborgenen haben sie überlebt, doch ihr Ziel ist es, eines Tages wieder eins zu werden. Sema und Elena, eine Medusenschwester und eine Gargoyle, setzen alles daran, dies Wirklichkeit werden zu lassen. Ein Weg, auf dem sie alles gewinnen, aber auch alles verlieren könnten.
Leseprobe zu „Schlangen und Stein“
Kapitel 1
Am Rande von Irland
Wir folgten dem steinigen Küstenpfad, der sich die Klippe entlangschlängelte. Unter uns rauschte das Meer, über uns drohten Regenwolken, und die Feinde waren auf unserer Fährte. Wie vor zwei Jahrzehnten waren wir auf der Flucht, und wie damals gab es nur uns – Elena und Sema, eine Gargoyle und ihre Medusa.
Wie unsere Feinde – die selbst ernannten Söhne des Perseus – uns in Dublin aufgespürt hatten, wusste ich nicht, aber seither waren wir in Bewegung. Da Sema lange im Medusenschlaf gelegen hatte, schwankte ihre [...]
Kapitel 1
Am Rande von Irland
Wir folgten dem steinigen Küstenpfad, der sich die Klippe entlangschlängelte. Unter uns rauschte das Meer, über uns drohten Regenwolken, und die Feinde waren auf unserer Fährte. Wie vor zwei Jahrzehnten waren wir auf der Flucht, und wie damals gab es nur uns – Elena und Sema, eine Gargoyle und ihre Medusa.
Wie unsere Feinde – die selbst ernannten Söhne des Perseus – uns in Dublin aufgespürt hatten, wusste ich nicht, aber seither waren wir in Bewegung. Da Sema lange im Medusenschlaf gelegen hatte, schwankte ihre Konzentration. Auf das Hellwachsein folgte schnell felsenschwere Müdigkeit. Dazu kam, dass Sema per Gedanken mit ihrer Medusenschwester Umae in Kontakt stand und dadurch oft von der Wirklichkeit um sie herum abgelenkt war. Es war an mir, den klaren Blick auf unsere Umgebung zu wahren.
Die ruhigen Jahre in Irland, die Sema fast ausschließlich im Schlaf verbracht hatte, waren vor drei Wochen in einer Nacht in Dublin mit meiner letzten Heimkehr in unser schmales Haus vorbei gewesen. Seit unserer Auseinandersetzung, bei der Sema einige unserer Feinde versteinert hatte, waren wir mehrmals in Bedrängnis geraten, hatten aber auch versucht, unsere Verfolger zu Verfolgten zu machen. Wir hatten sie sogar belauscht und den Magier, den sie dabeihatten, nach einem vergeblichen Versuch Semas, ihn zu versteinern, in die Irre geführt.
In uralten Verstecken im Nordwesten Irlands hatten wir von Sema vergrabenes Gold und Schriften geborgen. Das Gold hatten wir heimlich verkauft, die Schriften ersetzten Bücher, die wir in den 1990ern bei unserer Flucht aus Vancouver verloren hatten – darunter Das Buch der Gorgonen.
Den Schatz zu bergen, hatte jedoch einen Preis gehabt: Unsere Feinde hatten unsere Spur wieder aufgenommen. So befanden wir uns nun am Rande von Irland, im Süden auf der Halbinsel Dingle an einer Klippe, und sahen, dass die Söhne des Perseus nicht nur hinter uns waren, sondern auch vor uns auf dem Weg hinab zur Straße lauerten.
Wir suchten Zuflucht auf einer Wiese, an der der Pfad vorbeilief. Bei Tag war dies sicherlich ein wunderschöner Aussichtspunkt, doch nun in der Abenddämmerung, vom Regen getrübt, wurde es zu dem Ort, an dem wir unseren Feinden die Stirn bieten würden. Ob die Söhne des Perseus uns in die Enge getrieben oder wir sie in die Falle gelockt hatten – diese Frage hing allein von Semas Verfassung ab. War sie müde und verwirrt, dann war es das eine, war sie hingegen wach und konzentriert, war es das andere.
Als wäre es eine Antwort auf meine Erwägungen, setzte sich Sema ins nasse Gras und schien darum zu kämpfen, die Augen offen zu halten, als wäre sie ein Mensch, der sich dem Schlaf kaum noch zu entziehen vermochte. Sie schaute sich um, als schwirrten Geister über die Wiese. Dann hob sie den Blick zu den Möwen, die kreischend unter den grauen Wolken umherflogen, als flüchteten sie vor dem Meer.
Die sich anbahnende Konfrontation war wie all jene in den 1880ern in Maryland, als wir zwischen Potomac und Chesapeake Bay den wiederkehrenden Angriffen der Feinde begegnet waren. Unsere Widersacher wussten längst, dass Pistolen und Gewehre nicht genug gegen uns ausrichteten, um uns daran zu hindern, an sie heranzukommen.
Die beiden Gruppen unserer Feinde vereinten sich auf dem Pfad und rührten sich nicht. Ich war zwar nicht gut darin, Magie zu spüren, hatte aber in den letzten Wochen so oft mit den magischen Dolchen zu tun gehabt, dass ich diese Waffen nun bei der Hälfte unserer elf Widersacher wie beinahe verloschene Fackeln gewahrte. In dieser vom Regen getrübten Abenddämmerung mochten Sema und ich kaum mehr als Schatten für sie sein. Mit dem Grauen Blick, der mir als Gargoyle gegeben war, konnte ich sie hingegen noch so gut ausmachen, dass ich den Magier zwischen ihnen erkannte. Er wirkte jung, und ich fragte mich, ob ein Zauber ihn vor dem Altern bewahrte. Er schaute immer wieder unter seinen Leuten umher, und ich glaubte, daran Unsicherheit abzulesen.
Ich ließ meine Kräfte fließen, und mein Körper verwandelte sich von einem aus Fleisch und Blut in einen aus Stein und Magie. Es war, als bildeten sich kleine Kügelchen unter meiner Haut, die nach innen strebten und alles auffüllten – winzige Steine in meinen Adern und große in meinem Magen, die aufglühten und die Wut der Gorgonen in mir entfachten. Mein Herz hatte eben noch gepocht, nun war es zu einem Felsbrocken erstarrt, schob aber mit Zaubermacht die Magie durch meine versteinerten Adern. Aus Fleisch war Stein, aus Blut war Magie geworden. Die Organe waren umgewidmet: In der einen Gestalt waren sie trotz Magie noch teilweise menschlich, in der anderen waren sie die eines Zauberwesens. Nur die Formen erinnerten an das alte Leben.
Für einen Augenblick überlegte ich, ob ich meinen Körper in der Schwebe halten sollte, irgendwo zwischen Fleisch und Stein. Es hatte mir in der Vergangenheit oft genützt, äußerlich weich und verletzlich zu erscheinen, innerlich aber aus Stein zu sein. Stattdessen vollzog ich die Verwandlung jedoch vollständig, und sogar die Kleidung, die ich am Leib trug, wurde zu Stein.
Ein Schuss ertönte, und ich erschrak, obwohl ich wusste, dass ich die Geschosse nicht zu fürchten hatte – solange unsere Feinde keinen Weg fanden, Kugeln zu fertigen, denen der Zauber ihrer Klingen innewohnte.
Ich stellte mich schützend vor Sema. Die meisten Geschosse prallten einfach von mir ab, einige aber sprengten mir Steinstücke von Schulter, Arm und Hüfte. Der aufflammende Schmerz wurde nur noch von der Peinigung durch den Zauber übertroffen, der in mir loderte und die gerissenen Kerben wieder auffüllte.
Die Männer – die Söhne des Perseus bestanden nur aus Männern – kamen näher. Die mit den Dolchen liefen voran, der Magier und die anderen hielten sich dahinter. Das waren zu viele, um sie allein zu besiegen. Drei, vielleicht vier würde ich abhalten können. Aber sobald mich einer der Dolche berührte, wäre es, als würde dessen Klinge glühen und mich zugleich schneiden und verbrennen. Wenn in der Vergangenheit zwei Gegner auf mich eingestochen hatten, nahm ich es hin und schlug mit meinen Steinfäusten nach den Angreifern. Um die Wunden kümmerte ich mich später.
»Sema! Du musst was tun!«, sagte ich. „Nur du kannst …“ Ich brach ab, denn so sehr Sema an diesem Tag verwirrt schien, so sehr überwältigte mich der magische Hauch, der jetzt von ihr ausging. Der Regen hatte ihr Haar schwer gemacht. In dicken Locken fiel es ihr auf die Schultern. Ihre dunkle Haut, die dunkler war als die meine, war von glänzenden Tropfen bedeckt, und ihre Augen waren ganz schwarz geworden. Ihr Haar hob sich, als hätte es der Wind trotz aller Feuchtigkeit erfasst. Es waren ihre Schlangen, die sich zischelnd aufrichteten – diesmal waren sie grün wie das trübe Gras, und sie schauten sich um, als sähen sie die Welt zum ersten Mal.
Über das Schlangenhaupt ging Semas Verwandlung nicht hinaus. Insbesondere die Schwingen, die sie aus ihrem Rücken herauswachsen lassen konnte, hätten uns in diesem Augenblick zur Flucht verhelfen können. Doch ihre entschlossene Miene sagte mir, dass sie eine Konfrontation wollte.
Ich machte ihr Platz, und was ein Angriff unserer Feinde werden sollte, geriet ins Zögern. Der eine ließ dem anderen den Vortritt. Jene, die mit Pistolen bewaffnet waren, gaben weitere Schüsse ab. Semas Schlangen fauchten und richteten sich nach vorn, als wollten sie den Feinden entgegenspringen. Blitzschnell nahm Sema ihre eigene Steingestalt an. Alles wurde grau, sogar ihre Kleidung. Sie blieb jedoch beweglich, und die Schlangen schienen lediglich ihre Farbe gewechselt zu haben. Auch an ihr prallten die meisten Kugeln ab, und die wenigen, die an ihrem Körper nagten, schienen ihr keinen Schmerz zu bereiten.
Als wäre es eine unmittelbare Folge der Verwandlung, erstarrte einer der Männer. Erst schien es, als hätte ihn die Angst gepackt, doch die Schreie seiner Kameraden und ihr Zurückweichen sagten mir, dass Semas Macht wirkte, noch ehe ich es selbst mit dem Blick erfassen konnte. Als ein weiterer beim Weglaufen erstarrte, machten alle kehrt, und ich fragte mich, wie viel man diesen Männern gesagt hatte. Wussten sie, dass es bei der Macht der Medusa nicht darauf ankam, dass diese sie sahen, sondern nur darauf, ob sie von ihr gesehen wurden, wenn sie ihren Zauber wirkte?
Einer nach dem anderen erstarrten die Söhne des Perseus in ihren Fluchtbewegungen. Auch der Magier hielt inne, aber ich sah, dass er zitterte. Falls er so mächtig war, dass er Semas Zauber widerstand, mochte er für uns eine Gefahr werden; falls nicht, wäre es nun bald mit ihm vorbei.
Langsam näherten wir uns dem Magier, und ich fragte mich, ob Sema ihn teilweise versteinert hatte, sodass er nicht fortlaufen konnte. Als wir bei ihm waren, erblickte ich Angst in seinen braunen Augen. Der Regen hatte sein blondes Haar verdunkelt, und im Grau des nahenden Abends wirkte er für meinen Gargoyleblick mit seiner blassen Haut beinahe wie eine Statue aus Kalkstein.
Er atmete stoßhaft ein und zittrig aus. Sobald Sema ihn versteinerte, würden wir unserem Ruf als Monster gerecht und würden ihn und all die anderen von der Klippe ins Meer stoßen. Niemand würde sie finden – zumindest nicht für eine Weile. Sema jedoch hielt inne und musterte den Magier lediglich. „Dir ist klar, dass ich hier und jetzt dein Leben beenden könnte“, sagte sie.
„Dann tu es“, erwiderte der Magier mit einer tieferen Stimme, als ich im zugetraut hätte. „Wo ich herkomme, gibt es andere, die dich und deine Schwestern finden werden.“
Ich wunderte mich über das Wort Schwestern. Er verwendete es wie der Vertraute einer Medusenschwester. Sicherlich meinte er nicht Stheno und Euryale, die wir in unseren Kreisen als Gorgonenschwestern bezeichneten. Seine Wortwahl nährte unseren Verdacht, dass die Söhne des Perseus inzwischen fast alles über uns wussten.
Sema fasste die Hände des Magiers, und ich spürte seine Zauberkraft, die wie ein Windhauch von ihm ausging und Sema entgegenwehte, sich in den Schlangen verfing und sie tanzen ließ, als berauschten sie sich an der Macht des Magiers.
„Wie heißt du?“, fragte Sema.
„Bertram … Setterfield.“
„Bertram. Ich lasse dich laufen. Aber solltest du mir jemals auf diese oder ähnliche Weise wiederbegegnen, werde ich dich versteinern. Halte dich fern von uns!“
Bertram Setterfield schwieg, und als hätte es irgendjemand befohlen, wandte er sich um und lief davon.
„Mach ihn zu Stein“, sagte ich. „Sonst macht er uns nur wieder Ärger.“
„Er ist nicht ihr Anführer“, erwiderte Sema, während wir dem Magier nachschauten, wie er den Weg zum Küstenpfad abkürzte und auf halbem Weg ins Stolpern geriet, aber auf den Beinen blieb. „Er ist nur ein … Handlanger.“ Sema atmete tief durch, und das Seufzen kannte ich nur zu gut. Sie war erschöpft.
„Ich hoffe, er hat nicht gemerkt, dass du geschwächt bist“, sagte ich.
„Hat er nicht“, erwiderte sie und geriet ins Taumeln; und sie wäre gestürzt, hätte ich sie nicht aufgefangen. Die Schlangen ließen sich fallen und verwandelten sich in Semas Lockenhaar, das begierig den Regen aufnahm.
Sema wollte sich erheben, aber ich legte ihr die Hand auf die Schulter. „Bleib sitzen“, sagte ich. „Ich kümmere mich um alles.“ Dann sah ich, dass Setterfield auf dem Pfad nach links gelaufen war, und hoffte, dass er uns nicht unten bei unserem Wagen erwartete.
Allein machte ich mich daran, die Versteinerten zum Rand der Klippe zu zerren und sie in die Tiefe zu stoßen. Die meisten zerbrachen an den Felsen, die anderen versanken in den Wogen des Meeres. Es hätte ohnehin keine Hoffnung für sie gegeben. Nicht einmal Sema konnte eine endgültige Versteinerung rückgängig machen. Nur mit den vereinten Kräften der Schwestern war dies möglich – oder wenn sie alle wieder zu Medusa verschmolzen. Denjenigen, deren Steinkörper dort unten nicht zerbrachen, würde das Leben nur allmählich entschwinden. So oder so: Ich stürzte hier unsere Feinde in den Tod, und ich schämte mich nicht dafür.
Beim letzten Versteinerten ging Sema mir zur Hand, als hätte sie nie Erschöpfung geplagt. Gemeinsam warfen wir die Statue in die Tiefe.
„Vielleicht hätte ich sie nur eine Weile aus dem Spiel nehmen sollen“, sagte Sema. In all den Jahren hatte ich nur zweimal erlebt, dass Sema jemanden zeitweise versteinerte. Es verlangte viel mehr Kraft und Konzentration. Weder über das eine noch über das andere verfügte sie gerade.
„Nur um ihnen dann wieder zu begegnen?“, erwiderte ich. „Nein. Lass uns hoffen, dass dieser Magier uns nicht beim Wagen erwartet. Ach, Fakke! Ich hätte ihn auch lebendig von der Klippe stoßen können.“
„Das hättest du tun können?“, entgegnete Sema, und mit ironischer Stimme fügte sie hinzu: „Einfach einen hilflosen Menschen in den Tod stoßen?“
„Inzwischen könnte ich ihnen alles antun“, antwortete ich. „Und … Setterfield ist gefährlich. Er mag zögerlich wirken, aber er hätte uns heute erledigen können. Wir sind beide nicht auf der Höhe unserer Kräfte.“
„Tut mir leid, dass ich so viel in Gedanken war“, sagte Sema. „Das hindert mich daran, gänzlich zu erwachen.“
„Wir brauchen eine Ruhepause“, erwiderte ich. „Hätten wir diesen Schatz nicht verkauft, hätten sie uns nicht erwischt. Wir hätten stutzig werden müssen, dass dieser Händler nur zu Fuß zu erreichen war.“
„Das spielt keine Rolle mehr“, sagte Sema. „Ich habe eine Zuflucht für uns gefunden.“
„Eine Zuflucht?“, fragte ich verwundert, denn normalerweise suchte ich uns einen sicheren Ort.
„Umae hat es mir zugeflüstert. Sie hat alles in die Wege geleitet. Wir müssen nach Cork. Und dann sagen wir dieser Insel Lebewohl.“
„Das heißt, Umae wird uns helfen.“ Mir war klar, dass Sema mit ihrer Medusenschwester im Gedankenaustausch stand, aber dass Umae so schnell für uns eine Flucht organisiert hatte, damit hatte ich nicht gerechnet.
Ich nahm nun auch meinerseits wieder meinen Körper aus Fleisch und Blut an, und auch meine Kleidung verwandelte sich zurück und war ebenso nass wie zuvor. Da mein Zauber in der Versteinerung alle Kerben und Breschen geschlossen hatte, war auch meine Kleidung unversehrt – so, wie sie vor der Verwandlung gewesen war.
Auf dem Weg hinab zum Parkplatz an der Straße erblickte ich unseren roten Nissan. Daneben standen die beiden Wagen, die wir schon bei unserer Ankunft bemerkt hatten. Von Setterfield war nichts zu sehen. Und da unser Wagen in Ordnung zu sein schien, stiegen wir ein. Ich mochte diesen alten Kleinwagen. Er war jedenfalls besser als das kotzgelbe Wrack, das ich vor ein paar Wochen noch gefahren hatte und mit dem wir in den ersten Tagen unserer Flucht alles andere als unauffällig gewesen waren.
„In Killarney wartet ein neuer Wagen auf uns“, sagte Sema, und mir war klar, dass Umae das tat, was ich jahrelang vermieden hatte: Kontaktleute in Anspruch zu nehmen.
Semas Stimme erklang in meinem Kopf. „Wir haben keine Wahl, El.“ Sie in mir zu hören, hatte ich über die Jahre vermisst. Früher hatte sie sogar durch mich Magie wirken können und mir damit gezeigt, wozu mein Körper fähig ist, falls ich all seinen Zauber je meistern sollte. Ihre Stimme bescherte mir ein Gefühl von Nähe, zugleich aber von Schuld. „Vielleicht war ich zu misstrauisch“, sagte ich.
„Dein Misstrauen hat uns jahrelang Sicherheit beschert.“
Immer noch von der Sorge erfüllt, Setterfield und die anderen könnten den Wagen manipuliert haben, startete ich den Motor. Nachdem wir am Parkplatz durch einen schmalen Tunnel gefahren und der sich windenden Küstenstraße ein Stück gefolgt waren, überlegte ich, was ich anders hätte machen können, und sagte schließlich: „Heute Morgen dachte ich noch, wir könnten auf einer der Inseln untertauchen und ein paar Jahre den hübschen Anblick genießen.“
Sema fasste meine Hand, als sie auf dem Schalthebel lag, und die Wärme trieb einen Schauer über meinen Arm. Ich schaute sie kurz an und sah das liebevolle Lächeln. Sie sagte: „Wenn wir wieder mal einen Ort brauchen, an dem uns niemand erwarten würde, kommen wir einfach zurück.“
Die griechische Mythologie umfasst unzählige Geschichten und Legenden, warum haben Sie sich für Ihren Roman gerade für die Sage der Medusa entschieden?
In meiner Kindheit war Medusa für mich erst einmal das, was sie für viele immer noch ist: ein faszinierendes Monster. Schon damals konnte ich jedoch nicht mit Perseus fühlen, aber ich zweifelte noch nicht an der Aufteilung zwischen Helden und Monstern. Durch die Rezeption verschiedener Vampir-Stoffe in den 1990ern öffnete sich mein Blick dann für die Frage „Wer sind eigentlich die wahren Monster?“ Auf dem Hintergrund der griechischen Mythologie stellte sich diese Frage für mich vor allem bei Medusa. Ihr widerfährt von allen Seiten Ungerechtigkeit, und ihr Kopf wird nach ihrem Tod sogar als Waffe missbraucht. Dass Perseus (noch immer) viel zu oft als Held verehrt wird, während Medusa und die anderen Kinder der Keto als Bestien dargestellt werden, widerstrebt mir grundsätzlich. Deswegen freue ich mich jedes Mal, wenn ich auf eine Adaption stoße, die die Geschichte anders erzählt.
In moderneren Adaptionen tritt Medusa oft als eine Art tragische Heldin auf. Wie würden Sie diesen Charakter einordnen?
Für mich ist Medusa vor allem eine marginalisierte Figur, um deren Schicksal herum sich Gemeinschaften bilden. Ich sehe das immer dort, wo ich mich mit anderen über Medusa austausche. Die meisten Leute, auf die ich treffe, sehen die Ungerechtigkeit, die in die Perseus-Sage hineingeschrieben ist und äußern das auch. Manche (auch ich) zählen sich selbst sogar zum #TeamMedusa. In meinem Roman nehme ich diesen verbindenden Gedanken wörtlich. Um jede der Medusenschwestern entsteht eine Gemeinschaft, die sie schützt und alles daransetzt, dass sie sich mit ihren Schwestern verbinden kann. Es steht also weniger das Leid und das Tragische von Medusa im Vordergrund als das Verbindende und Hoffnungsvolle.
In Schlangen und Stein ist Medusa in Form von neun Schwestern wiederauferstanden, deren großes Ziel es ist, wieder eins zu werden. Welche Figur ist Ihnen dabei besonders ans Herz gewachsen?
Da der Roman zu großen Teilen aus der Sicht der Medusenschwester Sema erzählt wird, ist sie meinem Herzen am nächsten. Durch sie erleben wir auch, was den anderen Schwestern widerfährt, denn es gibt eine Art Gedankenverbindung zwischen ihnen. Und falls eine der Schwestern stirbt, geht ein Teil ihres Wesens und ihrer Erinnerung auf sie und die anderen über. Sema ist im Roman unser Blick auf das Wesen Medusas. In ihr finden wir die Hoffnung, sich mit ihren Schwestern zu verbinden und wieder die eine Medusa zu werden; aber auch die Angst davor, was sein wird, wenn das gelingen sollte. Wird das eigene Bewusstsein verschwinden? Wird sie ihre Vertrauten noch erkennen oder aber mit neuem Blick nur Fremde vor sich sehen? Werden die Vertrauten sie ihrerseits noch wiederkennen? Der Zwiespalt, der durch diese Fragen heraufbeschworen wird, ist bei Sema (und ihren Vertrauten) am deutlichsten spürbar.
Elena, neben Sema die Protagonistin, ist selbst keine Medusen-Schwester, sondern eine Gargoyle. Ein Fabelwesen, das erst viele Jahrhunderte später erfunden wurde. Wie kamen Sie darauf, Figuren aus unterschiedlichen Sagen miteinander zu kombinieren?
Ich habe eine Schwäche für Gargoyles, und mir erschien es immer naheliegend, dass Medusa nicht nur ihre Feinde versteinern, sondern auf diese Weise vielleicht auch Verbündete erschaffen kann. Also habe ich meine Faszination für Gargoyles mit der für Medusa verbunden. Die Medusenschwestern, die darauf hoffen, eines Tages zu verschmelzen, erschaffen sich Vertraute, indem sie Menschen in Gargoyles verwandeln, aber auch, indem sie ruhelose Geister an Statuen binden und zum Leben erwecken. Das sind zwei Wege, die den Schwestern zur Verfügung stehen, um sich Verbündete aus Stein zu erschaffen, und die Unterschiede zwischen den verschiedenen Gargoyles spielen im Roman eine Rolle. Die einen können sich an ihre Leben als Menschen erinnern, die anderen wissen nicht, an welches Leben ihr Geist früher gebunden war. In einem sind sie jedoch vereint: in ihrer Hingabe zu ihrer Medusa.
Was war für Sie die größte Schwierigkeit beim Schreiben von Schlangen und Stein?
Die größte Herausforderung bei diesem Roman war die Form. Im Sinne der Progressiven Phantastik hinterfrage ich bei jedem Projekt, auf welche Weise ich einen Stoff erzähle, damit ich eine Form finde, die die Geschichte am besten zur Geltung bringt. Mir schwebte vor, die Geschichte aus zwei Perspektiven zu erzählen – sowohl aus der einer Medusenschwester (Sema) als auch aus der einer Gargoyle (Elena). Es dauerte eine ganze Weile, bis ich die richtigen Stimmen gefunden hatte. Ich hatte mich früh für eine Ich-Erzählung entschieden, aber als mir beide Perspektiven trotz allem zu ähnlich klangen, entschied ich mich dazu, Semas Kapitel im Präsens zu erzählen, um ihren besonderen Blick auf die Wirklichkeit darzustellen. Denn sie kann Erinnerungen so wahrnehmen, als würden sie gerade geschehen. Durch diesen Kontrast zwischen Gargoyle und Medusenschwester unterscheiden sich die Erzählstimmen deutlich, und Semas Perspektive bekommt einen besonderen Zauber.
In Zwischenkapiteln erzähle ich dann Sagen, die ich erfunden habe, um meine Anknüpfungen an die griechische Mythologie zu motivieren. Das alles zusammenzubringen und dabei leicht aussehen zu lassen, das war die größte Herausforderung bei diesem Buch.
Schlangen und Stein spielt an verschiedenen Orten in Europa – vom Süden von Irland, über die Eifel nach Köln, bis hin nach London und nach Südfrankreich. Es ist also viel Bewegung im Roman. Wieso haben Sie sich dazu entschieden?
Medusa wird meistens so dargestellt, dass sie irgendwo haust und von dem sogenannten Helden heimgesucht wird. Im Grunde wartet sie nur darauf, dass Perseus kommt und ihr den Kopf abschlägt. Ich wollte Medusa durch Sema als handelnde, sich bewegende Figur zeigen, die verfolgt wird und auf der Suche nach Zuflucht und Gemeinschaft ist. Und dabei bewegen sie und ihre Vertrauten sich durch Europa, weil sie in Europa untergetaucht sind. Bei den Schauplätzen selbst gibt es meistens einen persönlichen Bezug. Ich lebe in der Nähe von Köln, und die Domstadt ist für mich der perfekte Ort für eine Gemeinschaft der Gargoyles. Der Odenwald als Zuflucht verweist unter anderem auf die Herkunft des deutschen Teils meiner Familie. Ihn verbindet aber auch noch etwas mit einem Schauplatz in Südfrankreich, aber ich würde zu viel von der Geschichte preisgeben, wenn ich sagte, worin diese Verbindung besteht.
Wieso ist die Sage der Medusa immer noch so aktuell für unsere heutige Zeit?
Die Frage, wer das Monster ist, ist immer aktuell, solange Menschen diskriminiert werden. Als Schwarzer Mensch in Deutschland ist mir klar, dass viele mir und meinesgleichen monströse Eigenschaften zuschreiben. Unsere Wut dürfen wir zum Beispiel nie zeigen, weil wir sonst (scheinbar) diese Zuschreibungen bestätigen. Wir brauchen nur zu existieren, um Gefahr zu laufen, rassistisch angegriffen zu werden. Und das gilt natürlich auch für andere Diskriminierungsformen. Auf diesem Hintergrund lässt sich die Gemeinschaft der Medusa als eine der Marginalisierten lesen. Wir alle wissen, dass Rassismus, Misogynie, Queerfeindlichkeit und vieles mehr verachtenswert sind, dennoch werden die alten Erzählungen von Helden und Monstern oft wie gewohnt und ohne zu reflektieren weitertradiert, und eine Möglichkeit, etwas dagegen zu tun, ist, sich an eine andere Tradition zu knüpfen und diese Stoffe neu und anders zu erzählen.
Was möchten Sie Ihren Leser:innen mitgeben?
Mir geht es gar nicht so sehr darum, was ich als Autor den Leser*innen mitgebe, sondern vielmehr darum, was die Leser*innen aus meinen Texten herausholen können. Wir alle lesen Texte auf unterschiedliche Weise, und da ich das als Autor weiß, mache ich mit denselben Worten unterschiedliche Angebote an unterschiedliche Leser*innen. Meine Hoffnung ist, dass ich dadurch Spielraum für vielfältige Lesarten biete. Dabei geht es nicht um Eskapismus, sondern darum, einen anderen Blick auf unsere Welt zu erhalten. Und wenn es mir gelingt, jemanden zu einem anderen Blick auf unsere Welt zu bewegen, dann bin ich mit meiner Arbeit zufrieden.
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