Schwester Schwester - eBook-Ausgabe
Roman
„Krügel schreibt mit Gefühl, schwarzem Humor und Wucht.“ - emotion
Schwester — Inhalt
Zwei Schwestern, zwei Leben. Ein Unfall stellt die entscheidende Frage: Welches ist das richtige?
Iulia lässt sich aufs Sofa ihrer Schwester fallen. Sie hat nicht allzu oft darauf gesessen, viel zu selten eigentlich. Wo ist sie in letzter Zeit gewesen, warum haben Lone und sie sich nicht viel öfter getroffen? - Die Antworten auf diese Fragen muss sie allein finden. Lone liegt nach einem Unfall im Koma, und Iulia ist gezwungen, einige ihrer Aufgaben als Hebamme zu übernehmen. Sie beginnt nachzudenken, über ihre Familie und die Männer, über Vertrauen und die gemeinsamen Erlebnisse - nicht zuletzt auch über das Leben, das sie selbst seit Jahren führt: als Frau des Pastors und Angestellte in einer Sparkasse.
„Schwester“ erzählt von dem schmerzlichen Abgleich zweier Leben und einer Heldin, die zunächst tastend, dann immer entschlossener ihren Weg sucht.
Leseprobe zu „Schwester“
Prolog
Sie mussten es anfangs ganz schön eng gehabt haben. Das Haus war ein Reihenhaus – weiß, die Fensterrahmen braun, dahinter gemusterte halbe Gardinen. Iulia hatte nur die Wohnung kennengelernt, die aus den ersten Jahren. Die Tür hatte einen Einsatz aus geriffeltem Glas in der Farbe von schwarzem Tee. Der Vorgarten war klein und bestand aus gemähtem Rasen und einem Plattenweg, ein niedriger Holzzaun grenzte alles zum Bürgersteig hin ab. Eine Zypresse stand dicht an der Hauswand, darunter ragte ein Hundehintern aus Plastik in die Luft. Iulia [...]
Prolog
Sie mussten es anfangs ganz schön eng gehabt haben. Das Haus war ein Reihenhaus – weiß, die Fensterrahmen braun, dahinter gemusterte halbe Gardinen. Iulia hatte nur die Wohnung kennengelernt, die aus den ersten Jahren. Die Tür hatte einen Einsatz aus geriffeltem Glas in der Farbe von schwarzem Tee. Der Vorgarten war klein und bestand aus gemähtem Rasen und einem Plattenweg, ein niedriger Holzzaun grenzte alles zum Bürgersteig hin ab. Eine Zypresse stand dicht an der Hauswand, darunter ragte ein Hundehintern aus Plastik in die Luft. Iulia umklammerte die Tasche. Ihre Füße standen fest auf der Erde, sie war ein Baum.
Die Klingel ein kleines Knöpfchen in einem Messingkreis, daneben ein ovales Schild mit den Namen aller Bewohner – Mutter, Vater und drei Kinder, die inzwischen natürlich nicht mehr hier lebten und sicher längst schon selber Familien hatten. Hinter dem geriffelten Glas wurde ein Schemen sichtbar.
Der Mann, der die Tür öffnete, war lang und hager, hatte eine Glatze und einen weißen, gestutzten Vollbart. Sie hatte Mühe, ihn zu erkennen, er aber wusste sofort, wer sie war.
„Iulia. Endlich.“
„Guten Tag“, sagte sie und atmete tief ein. „Ich möchte gern meine Mutter sprechen.“
1 Mrs. Robinson
Bevor Iulia sonntags zum Gottesdienst ging, wusch sie sich die Haare. Pastorenfrauen saßen in der ersten Reihe, viele Menschen starrten ihnen auf den Hinterkopf, und ihrer sah jedenfalls nur mit frisch gewaschenem Haar wirklich ordentlich aus. Heute war selbst in der Kirche die hochsommerliche Hitze zu spüren. Aus den Bankreihen stieg der Duft von erwärmtem Holz auf. Wie immer war der Gottesdienst gut besucht, was vor allen Dingen an Niels lag, der jetzt am Ende des Orgelvorspiels seinen Auftritt hatte.
Vorhin hatte Iulia wie üblich einmal in der Sakristei vorbeigeschaut und war vor der Tür beinahe mit der neuen Chorleiterin zusammengestoßen. Die hatte ihr einen seltsam komplizenhaften Blick zugeworfen, einen Blick, der leicht verächtlich Männer sagte. Iulia hatte freundlich gelächelt. Sie war keine Komplizin in irgendeinem Frauen-Komplott, das den Männern die Weltherrschaft neidete. Niels war gerade dabei gewesen, sich sein Hemd auszuziehen, es war so heiß unter dem Talar. Dabei hatte er sonderbare Grimassen geschnitten. Die Chorleiterin musste sie ihm gezeigt haben. Es lockere die Gesichtsmuskulatur, hatte er behauptet. Iulia hatte nichts dazu gesagt und ihm einfach viel Glück gewünscht.
An Sonntagen beneidete sie ihren Mann. Seine Arbeitskleidung war festgelegt und ließ keinen Zweifel an seiner Rolle. Sie hingegen musste selbst entscheiden, welche Bluse, welche Hose, welche Schuhe angemessen waren und die richtige Botschaft aussandten. Die Botschaft sollte lauten: Ich bin keine typische Pastorenfrau, also kommt nicht und fragt, wann der christliche Handarbeitskreis sich trifft, aber ich weiß trotzdem, was sich beim Kirchgang gehört.
Für ihre Arbeit in der Bank gab es immerhin einen Dresscode, an den sie sich halten konnte und der sogar einer der Gründe gewesen war, weshalb sie sich damals für diese Ausbildung entschieden hatte. Jede Art von Ordnung war ihr verlockend erschienen. In ihrem Schrank hatte sie Kleidung für Beerdigungen, Theaterbesuche, Feiertage, sie hatte etwas fürs Kranksein, für Wanderungen, die Gartenarbeit. Und dann besaß sie noch einen kleinen Rest an Freestyle-Kleidung, aus dem sie ihre Gottesdienst-Outfits immer neu zusammenstellen konnte. Wenn sie sich dabei einmal vertat, kam die Rückmeldung zuverlässig bei Niels an: Herr Richter, Ihre Frau hatte aber einen ziemlich tiefen Ausschnitt letzten Sonntag.
Sie wünschte, es wäre ihr egal, was die Leute dachten.
Die Blicke, die sie auf ihrem Hinterkopf spürte, ignorierte sie, stattdessen konzentrierte sie sich auf ihren Atem. Inzwischen beherrschte sie alles, was im Gottesdienst erforderlich war – das Aufstehen, das Kopfsenken, das Händefalten –, quasi vollautomatisch, sodass sie die Zeit anderweitig nutzen konnte. Im Internet gab es Yogalehrerinnen, die nützliche Techniken erklärten, und Iulia war neuerdings fasziniert von den Möglichkeiten ihres eigenen Ventilationssystems. Wenn man es richtig anstellte, konnte man seine Pulsfrequenz verlangsamen, die Verdauung anregen, die Durchblutung des Gehirns verbessern – alles durch Atmung. Da sie an Schlafstörungen litt und seit einiger Zeit auch an unerklärlicher Reizbarkeit, war die Aussicht, durch simple Atemtechnik innere Ruhe herzustellen, verlockend. Also ergänzte sie damit ihre altbewährten Gottesdienst-Routinen. Die Ujjayi-Atmung konnte sie während des Orgelspiels praktizieren. Auch die yogische Vollatmung eignete sich für die Gottesdienst-Teile, in denen die Geräuschkulisse gelegentliches Schnaufen übertönte – Löwen- oder Feueratmung sparte sie sich für zu Hause auf. Wenn gesungen wurde, übte sie, sich ganz auf den Moment einzulassen, eine Achtsamkeitsaufgabe mit Gesang. Beim Vaterunser schob sie im Stehen eine kleine Einheit Beckenbodentraining ein. Anspannen und Loslassen, Mikrobewegungen der Füße mit unsichtbarer Gewichtsverlagerung. Und wenn Niels für die Predigt auf die Kanzel stieg, machte sie autogenes Training. Angefangen beim rechten Arm, reichte die Zeit meistens genau, um bis zur Gesichtsmuskulatur zu kommen. Währenddessen hörte sie zu und registrierte dabei ihre Gedanken, ohne sie zu bewerten. Das war von allem das Schwerste: zuhören und sich nicht verlieren in der inneren Welt, nicht an gestern und morgen denken, sich keine Sorgen machen, keine Angst haben und auch kein schlechtes Gewissen. Viel zu oft fand in Iulias Kopf ein Jahrmarkt statt. Er lärmte dann ununterbrochen, spuckte eigenartige Ideen aus, ließ die Gedanken Achterbahn und Karussell fahren. Es war das Gegenteil von Ordnung. Wenn dann gar nichts anderes mehr half, formulierte sie Berichte, verwandelte Menschen, Situationen und Gedankenfolgen in sachliche Erzählungen. Am besten war es, das sogar schriftlich zu tun. Schreibend war sie eine andere, mutig und scharfzüngig, eine, die sich traute, die Dinge auszusprechen. Leider ließ sich das kaum noch in ihrem Alltag unterbringen, und manchmal war es, als würde diese Person, die sie schreibend war, ihr auf einmal im richtigen Moment Sätze auf die Zunge legen. Böse, zynische Sätze, die verhinderten, dass die Menschen ihr zu nahekamen. Es war ihr jedenfalls lieber, wenn sich das Ganze auch einfach durch Atmung regulieren ließ.
In der Bank hielten die ewig gleichen Vorgänge die Fahrgeschäfte und verrückten Gedanken in Schach. Sie liebte es, Risiken zu erkennen und zu minimieren, war gut darin, Menschen zu beraten, die das Prinzip von Ursache und Wirkung zwischen all den Summen nicht erkannten, sie hatte einen Blick für Muster und Abweichungen. Letztlich wurde sie dafür bezahlt, die Ordnung zu bewahren und Zufälle zu Fehlern zu erklären. In der Bank brauchte sie weder autogenes Training noch Ujjayi-Atmung. Und die Zahlen standen zuverlässig und unanfechtbar zwischen ihr und den Kunden, ohne jemals andere zu beleidigen.
Während des Gottesdienstes hatte sie ihr Telefon in den Flugmodus gestellt. Hinterher, als Niels noch am Kirchenausgang stand und die Schäfchen einzeln verabschiedete, schlenderte sie über den Friedhof und stellte es wieder um. Sofort wurde sie darüber informiert, dass sie fünf Anrufe ihres Vaters verpasst hatte. Sie seufzte. Seit über sechzehn Jahren war sie sonntags zwischen zehn und elf Uhr nicht erreichbar, aber er hatte es bis heute nicht geschafft, aus dieser Tatsache eine einfache Konsequenz zu ziehen.
Sie sah Niels, von einer Damentraube umgeben. Wo immer er still stand, versammelten sich die Frauen. Er war der Hirte, er musste sie alle beachten. Iulia hingegen durfte sich davonmachen, von einer Bankangestellten erwartete im echten Leben niemand etwas. Sie war nicht gut darin, Small Talk zu machen, und sie fühlte sich unwohl zwischen den Frauen, die offenbar stets so viel besser aufgepasst hatten als sie und nun über jeden Aspekt des Lebens Bescheid wussten und sofort sahen, wenn sie etwas falsch machte. Sie umrundete die Kirche, bis sie sich unbeobachtet fühlte. Einige Gemeindemitglieder fanden Handynutzung auf Friedhöfen ungehörig: Herr Richter, Ihre Frau hat neulich neben dem Grab von Brodersen telefoniert.
Eine Krähe hoch oben in einer der Buchen beschwerte sich lautstark über Iulias Anwesenheit. Die Kirchenwand strahlte Wärme ab, und der Kies knirschte unter ihren Schritten, während sie zwischen den Gräbern auf und ab ging und die Freizeichen mitzählte. Schließlich nahm ihr Vater ab.
„Iulia, bist du das?“, fragte er. Er hielt es nie für nötig, sich mit seinem eigenen Namen zu melden.
„Du hast angerufen“, sagte sie. „Ist was passiert? Wie geht es deinem Fuß?“ In der vergangenen Woche war ihm ein gefüllter, Gott sei Dank aber noch nicht erhitzter Wasserkocher heruntergefallen und hatte ihm einen Mittelfußknochen gebrochen.
Im Hintergrund hörte sie ihre Stiefmutter brüllen: „Werner, ich bin dann weg.“
„Ist gut“, rief er ebenso laut zurück.
„Weiß Monika eigentlich, dass sie klingt wie das schlimmste Klischee einer norddeutschen Ehefrau, wenn sie so durch die Gegend brüllt? Und ist dir klar, dass du gerade mein Trommelfell hättest ruinieren können?“
„Jetzt lass zur Abwechslung mal deine Sprüche und hör zu“, sagte er. „Es geht um deine Schwester. Sie hatte einen Unfall.“
Natürlich fuhr Iulia sofort ins Krankenhaus. Sofort nachdem Niels wieder ansprechbar war. Nachdem sie zu Hause ein Glas Orangensaft getrunken hatte. Nachdem sie mit Aaron, der noch immer im Bett lag, die Lage besprochen und ihm einen Platz im Auto seines Freundes Mattis organisiert hatte, damit er später auch ohne sie zur Kletterhalle kam. Sofort nachdem sie ihre Ersatzbrille, ihre Tasche, das Telefon, das Aufladekabel, das Navi, ein Buch und den Autoschlüssel zusammengesucht hatte. Nachdem sie Niels einen Kuss gegeben und sich von ihm tief in die Augen hatte schauen lassen, so als könnte er ihr Energie übertragen, eine Art Gott-Channeling via Augenkontakt mit ihm als Relaisstation. Niels hielt viel von solchen Gesten. Ein fester Händedruck, eine schweigende Umarmung, eine segnende Hand auf dem Scheitel zum rechten Zeitpunkt – früher hatte sie das unwiderstehlich gefunden, inzwischen beneidete sie manchmal Paare, die sich zum Abschied durch geschlossene Fenster zuwinken durften. Sie war in letzter Zeit so undankbar geworden. Oder einfach zu unruhig, um während der pastoralen Zuwendung still stehen zu bleiben.
Dann fiel ihr nichts mehr ein, was noch zu erledigen gewesen wäre, und sie fuhr los.
In der Stadt gab es überhaupt keine Parkplätze. Mehrmals fuhr sie in konzentrischen Kreisen um das Krankenhausgelände herum. Schließlich musste sie aufgeben und doch auf den Klinikparkplatz einbiegen, an dessen Schranke sie ein Kärtchen zog. Sie parkte so weit vom Eingang entfernt wie möglich. Von der Rückbank nahm sie ihre Handtasche, stellte sicher, dass das Lenkradschloss eingerastet war, putzte ihre Brille und überprüfte ihr Aussehen im Rückspiegel – irgendwie war das Gottesdienst-Make-up verblasst, und ihre weißblonden Wimpern waren so wenig zu sehen wie eh und je. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass die Radionachrichten fast zu Ende sein mussten, und sie schaltete gerade noch zum Wetterbericht ein. Regen würde weiterhin ausbleiben, sie musste unbedingt daran denken, gelegentlich den Vorgarten zu wässern. Die Schäfchen kommentierten mit Vorliebe den Zustand des Pastoratsgartens, aber vielleicht war das auch ihr gutes Recht, sie zahlten schließlich Kirchensteuer.
Iulia stieg aus. Es roch nach aufgeheiztem Asphalt, als sie zwischen den Autos entlangging. Vor dem Eingang des Hauptgebäudes hielt sie inne. Dort drinnen würde es angenehm kühl sein. Der Geruch von Desinfektionsmitteln würde wie kein anderer erzählen, dass man in guten Händen war, in Sicherheit. Sie befahl ihren Füßen, vorwärtszugehen. Sie würde sich auf die Desinfektionsmittelluft und die Kühle konzentrieren. Es würde sein wie in der Bank, wo die Klimaanlage alles auf die richtige Temperatur regelte, egal, ob es draußen warm oder kalt war. Wo es vertrauenerweckend nach Teppich und Computern roch, nach dem Feinstaub der Laserdrucker, nach Kaffee und Lufterfrischern der diskreteren Sorte.
Die automatische Tür öffnete sich, und sie machte einen Schritt hinein in das Mikroklima des Klinikfoyers. Ohne Vorwarnung wurde sie von einem Bild überwältigt. Sie sah blauen Stoff, ganz genau, wie durch ein Mikroskop. Sie sah die Struktur des Gewebes, das Muster der Kett- und Schussfäden. Sah die Oberfläche eines Handrückens, Haare auf Fingern und Poren, aus denen diese Haare wuchsen. Übelkeit stieg in ihr auf, in ihrem Kopf sirrte ein Alarm, sie musste etwas sagen, sich in Sicherheit bringen. Dann war es vorbei. Sie stand im Foyer, etwas zittrig, aber stabil. Sie hob die Füße an, und die gehorchten.
Ab jetzt blieb sie lieber nicht mehr stehen. Sie schaffte es, am Tresen, der einem Hotelempfang ähnelte, nicht zu verweilen, die Frau am Computer rief ihr den Namen einer Abteilung hinterher. Der Fahrstuhl war schon da und öffnete seine Türen, sobald Iulia den Knopf drückte. Er nahm sie mit auf die Intensivstation der Neurochirurgie. Dort atmete sie das Aroma von Gummihandschuhen, Alkohol, Pappe und Styropor, Spülmaschinendunst und Schuhsohlenabrieb auf Linoleum ein. Über allem lag ein wässriger Geruch nach Kräutertee.
Vor der Station musste sie klingeln. Sie war erleichtert, dass es eine Pflegerin war, die ihr öffnete. Sie hatte mit einem Arzt gerechnet.
„Guten Tag“, sagte Iulia. „Meine Schwester liegt hier irgendwo. Lone Fabricius.“
Die Frau gab ihr die Hand mit einem festen Druck, der das Beste war, was sie seit dem Telefonat mit ihrem Vater erlebt hatte. Er brachte sie beinahe aus der Fassung. Sie bekam einen Kittel und musste sich die Hände desinfizieren, danach durfte sie auf den Flur treten, und das schafften ihre Füße auch.
„Kommen Sie einfach mit“, sagte die Frau. „Ihre Mutter ist schon da.“
„Stiefmutter“, sagte Iulia.
Sie war sich nicht sicher, was von ihr erwartet wurde. Alles, was sie über Intensivstationen und Autounfälle wusste, hatte sie aus Filmen. Sie überlegte, ob man nicht doch nach einem Arzt fragte. In den Filmen waren es immer Männer, die Bescheid wussten, in einem eigenen Raum mit Regalen voller Fachliteratur. Eine Pflegerin war die Richtige, wenn es um Bettpfannen ging. Aber Iulia wollte mit keinem Arzt sprechen müssen. Sie wollte hinter dieser Frau mit dem guten Händedruck hergehen, am liebsten für immer.
Als sie vor einer Tür mit Sichtfenster stehen blieben, richtete Iulia ihren Blick fest auf die Frisur der Pflegerin. „Darf ich Sie noch etwas fragen, bevor ich da reingehe?“
Die Frau drehte sich um und schaute ihr mitten ins Gesicht, ohne Angst und ohne irgendeine kosmische Energie zu channeln. „Natürlich dürfen Sie.“
Iulia brauchte lange für die richtige Formulierung. Sie sollte höflich sein, aber auch nicht dämlich oder so vorsichtig, dass man meinte, sie bei der Antwort schonen zu müssen. Außerdem natürlich möglichst unironisch und irgendwie der Ungeheuerlichkeit der Situation angemessen. Schließlich fragte sie:
„Was ist eigentlich alles kaputt?“
Lone lebte noch. Wirklich am Leben aber war sie nicht. Es hatte sie im Schlaf erwischt – davon war jedenfalls auszugehen. Wenn jemand morgens um fünf auf der Landstraße ungebremst in einen Traktor hineinraste, lag die Vermutung nahe, dass derjenige entweder lebensmüde oder fest eingeschlafen war. Ob es einen letzten Moment des Bewusstseins gegeben hatte? Einen Augenblick, einen Wimpernschlag, in dem sie begriffen hatte, was gerade passierte? Iulia hatte sich das immer gefragt – spürte man, wenn etwas zu Ende ging und man Abschied vom Leben, das man führte, nehmen musste? Erkannte man diesen Moment?
Ihre Schwester dort liegen zu sehen, war einfach nur schockierend. Monika sprang von ihrem Stuhl auf, kaum dass Iulia das Zimmer betreten hatte, und umarmte sie, bis sie keine Luft mehr bekam, nur um sie ganz plötzlich loszulassen und wie ein Wasserfall auf sie einzureden. Iulia hörte zu, ohne die Worte zu verstehen.
Sie war sich nicht sicher, ob sie Lone je vorher in dieser Position gesehen hatte, liegend, schlafend. Die Augen waren geschlossen, die Lider wirkten wie aus Wachs gefertigt. Früher hatte es Zubettgehzeiten gegeben, gestaffelt nach dem Alter der Kinder. Monika hatte die Regeln aufgestellt und durchgesetzt, sie hatten selbst für Justus gegolten, als die beiden älteren Schwestern schon ausgezogen waren. Monika wusste, wie man eine Familie war. Selbst wenn Lone krank gewesen war, hatte sie zwischen Büchern und Taschentüchern auf dem Sofa gesessen. Aber flach auf dem Rücken hatte Iulia sie nie gesehen. Flach auf dem Rücken war falsch. Das Lone-Muster war aktiv und aufrecht, das flache Liegen war die Abweichung.
„Ist sie bei Bewusstsein?“
„Unter Narkose“, sagte die Pflegerin, die Iulia in den Raum begleitet haben musste.
Schweigend betrachteten sie alle drei die Schlafende.
„Wie Schneewittchen“, sagte die Pflegerin versonnen.
Iulia sah, wie recht sie hatte – rot wie Blut, weiß wie Schnee und schwarz wie Ebenholz. Wunderschön, beinahe übernatürlich, schlief sie: entrückt und tief und unerreichbar. Nur lag sie nicht in einem gläsernen Sarg, sondern auf einem höhenverstellbaren Bett. Kein Apfelstück steckte in ihrem Hals, stattdessen führte ein Schlauch zur künstlichen Beatmung in ihren Mund. Statt roter Wangen hatte sie blaue Flecken und Abschürfungen am Kinn. Runde Pflaster hielten Kabel auf dem Brustkorb, unter der dünnen Decke ragten Katheter hervor. Auf Lones Kopf klebte eine Kompresse, aus der eine Art Antenne herausstand. Sie hatten die Stelle rasiert, natürlich.
Die Beatmungsmaschine machte ein leises Geräusch. Auf einem Monitor sah man Kurven und Zahlen, aber nichts piepte oder tickte, es war ganz anders als im Fernsehen und doch genauso.
Unwillkürlich streckte Iulia die Hand aus. Sie berührte Lones Arm, die kühle, weiche Haut, und erspürte den tiefen Abgrund, über dem ihre Schwester schwebte. Da passierte es erneut. Ihr Gesichtsfeld verengte sich, in ihren Ohren begann es zu rauschen, sie sah ein Gerät vor sich, eine Art Drucker, das sich nicht hier im Zimmer befand, es stand in Iulias Kopf. Die Oberfläche war von grünlichem Beige mit winzigen Einbuchtungen, so winzig, dass sie normalerweise mit bloßem Auge nicht zu erkennen waren. Sie roch Blut und Gummi, sie spürte eine Gefahr, der sie nicht entkommen konnte, sie sah wieder Hände, Poren, Haare, Fingernägel so flach wie Spaten. Die Übelkeit kam und schüttelte sie, sie wollte rufen, aber es ging nicht. Dann war das Bild verschwunden. Lone lag da wie zuvor, durch die Beatmung hob und senkte sich ihr Brustkorb. Zitternd hielt Iulia sich am Stiefmutterstuhl fest. Frische Luft wäre gut gewesen, aber so etwas gab es hier nicht. Nur Desinfektion und Jodtinktur und fürchterliche schwarze Abgründe.
Sie spürte, dass jemand sie unterhakte und mit sich zog. Sie ließ sich auf den Gang führen und zum Aufenthaltsraum schräg gegenüber dirigieren.
„Sie sollte etwas trinken“, sagte die Pflegerin.
„Ganz genau“, sagte Monika und übernahm das Unterhaken. „Ich kann an ihrer Haut sehen, dass sie heute noch nicht genug getrunken hat.“
Iulia fasste sich ins Gesicht. Sie hatte die Falten bisher nicht mit Flüssigkeitsmangel in Verbindung gebracht. Immerhin ging sie auf die vierzig zu. Und bei ihrer unglaublich hellen Haut, die immer sofort einen Sonnenbrand bekam, würde sie im Alter vermutlich wie eine Dörrpflaume aussehen. Die trockene Luft in der Bank würde ihr Übriges tun und sie nach und nach mumifizieren.
Am Wasserspender holten sich beide etwas zu trinken – die Pflegerin war verschwunden – und setzten sich an den Tisch am Fenster. Die gedämpften Farben des Flanierparks draußen zeigten an, wie heiß es war. Iulia zitterte, die Gedanken sausten in ihrem Kopf rundherum, jagten einander und verschwanden, um nach einer schnellen halben Runde wieder aufzutauchen. Was war mit Lone geschehen? Was war es, das sie dort drinnen gespürt hatte? Iulia sehnte sich danach, ihre Gedanken anhalten zu können. Sie wollte den Anfang finden und das Ende, begreifen, was das für eine Geschichte war, die sich ihr hier präsentierte. Warum zur Hölle war Lone morgens um fünf mit ihrem Hebammobil, ohne zu bremsen, in einen Traktor gefahren?
„Was ist mit dem Auto?“, fragte sie und erkannte an Monikas verblüfftem Gesichtsausdruck, dass sie ihr offenbar mitten in einen Satz hineingesprochen hatte.
„Das hat ihr das Leben gerettet, hat Schwester Miriam gesagt. Das ist angeblich besonders stabil.“
„Hast du schon mit einem Arzt gesprochen?“
„Ja, direkt nach der Operation. Er meint, der Airbag sei nicht ausgelöst worden. Das habe er bei dieser Automarke noch nie gehört. Sie war bewusstlos, als man sie da rausgeholt hat. Dann gab es hier ein paar Untersuchungen, um innere Verletzungen zu erkennen, danach die OP. Die ist offenbar gut verlaufen.“
„Was immer das heißt.“
„Wie meinst du das?“
„Man kann ja nicht wissen, was in so einem Fall gut bedeutet. Hätte Lone eine Blinddarmentzündung, wüsste ich ungefähr, was es heißt, die OP sei gut verlaufen.“
„Sie hat ein schweres Schädelhirntrauma, ein Thoraxtrauma, einen Leberriss. Lass mich nachdenken – was noch?“ Monika tippte zu jeder Diagnose eine Fingerkuppe an.
„Wacht sie wieder auf?“
„Natürlich“, sagte Monika empört.
Und dann? Würde sie ihre Schwester wiedererkennen, würde sie noch immer Lone sein? Iulia wusste, sie durfte ihre Stiefmutter nicht mit solchen Fragen quälen. Monika liebte die praktische Seite des Lebens. Wenn es etwas gab, das sie buchstäblich hasste, dann war es Grübeln, Kopfzerbrechen und jede Art von Was-wäre-wenn-Spiel. Iulia wiederum hatte in diesem Bereich ihre Talente, das hatte sie von ihrer leiblichen Mutter geerbt, und ihr Vater – klug geworden aus Erfahrung – hatte sich beim zweiten Versuch lieber eine Frau mit Grübelphobie genommen.
„Man muss optimistisch bleiben.“ Monika trank ihren Becher leer. „Außerdem habe ich gebetet.“
„Dann ist Gott ja bereits informiert.“
„Dass du aber auch nie ernst sein kannst. Komm, trink aus, wir müssen zurück.“
Iulia nahm kleine Schlucke, sie musste Zeit gewinnen. Sie spürte wieder das große Zittern. Ihr Oberteil, die Pastorenfrauen-Bluse vom vormittäglichen Kirchgang, war durchgeschwitzt. Unter keinen Umständen konnte sie erneut in dieses Zimmer gehen. Wenn sie noch einmal in den schwarzen Abgrund sähe, noch einmal Lones Haut berührte und eine Ahnung davon bekam, wo sich ihre Schwester gerade befand, sie würde den Boden unter den Füßen verlieren, im Chaos versinken und sich nie wieder erholen.
Beim Aufstehen hielt sie sich an der Stuhllehne fest. „Weißt du was?“, sagte sie munter, als sei ihr gerade etwas Gutes eingefallen. „Ich könnte doch zu Lone nach Hause fahren und ein paar Sachen holen. Zahnbürste und Handcreme. Für später, wenn sie aufgewacht ist.“
„Ja, mach das – sehr praktisch gedacht, Iuli-Kind.“
„Und jemand sollte ihren Frauen Bescheid sagen. Wann und wo gibt sie denn ihre Kurse?“
Monika runzelte die Stirn. „Das weißt du nicht? Ihr redet doch sonst so viel.“
„Nicht über so was. Nicht im Detail.“ Iulia fühlte sich ertappt und wusste gar nicht genau, warum. „Ich erzähle dir doch auch nichts über Kontoeröffnungen und Dispokredite.“
„Ich denke immer, sie hat ja dich zum Reden“, sagte Monika. „Das hat mich ruhig schlafen lassen. Mir hat sie ja noch nie viel von sich erzählt.“
Für einen Moment waren sie beide still. Tatsächlich hatte Iulia schon länger davon abgesehen, ihre Schwester mit eigenen Problemen zu belästigen. Aber wann eigentlich hatte Lone damit aufgehört?
„Auf jeden Fall weiß ich, dass sie Rückbildungskurse im Gemeindezentrum bei sich im Ort gibt“, sagte Monika. „Vielleicht findest du eine Telefonliste. Ihr Ersatzschlüssel liegt unter dem Blumentopf.“
„Ha, das wusste ich.“
„Und bring gleich auch ein Paar von den warmen Socken mit, die ich ihr zu Weihnachten geschenkt habe, ja? Das Schlimmste im Krankenhaus sind doch kalte Füße. Danke, dass du das übernimmst. Ich kann hier einfach nicht weg. Selbst wenn sie nicht bei Bewusstsein ist – stell dir vor, du bist in so einer fremden Umgebung ganz allein.“ Monika bekam feuchte Augen. Der Satz verursachte Iulia Übelkeit. Und die feuchten Augen auch.
Sie murmelte: „Ich hätte eigentlich gar nichts dagegen, mal für eine Weile allein zu schlafen.“
„Ach du“, sagte Monika und stieß sie mit dem Ellbogen an. „Morgen kann ich gleich nach der Visite kommen. Ich muss mal rausfinden, wie das hier geregelt ist.“
„Und was ist mit Papa? Kommt der klar, mit seinem kaputten Fuß und allem?“
„Natürlich. Werner kriegt doch immer alles hin. Kennst ihn ja. Allerdings riechen seine Füße, weil er glaubt, er müsse auch den ungeschienten nicht waschen. Dieser Mann kann sich nur symmetrisch pflegen. Möge Gott ihm und uns niemals einen Schlaganfall zumuten.“
„Amen.“
„Außerdem ist Justus da. Der kann einkaufen.“
„Wieso ist er da?“
„Habe ich dir das noch gar nicht erzählt? Justus hat sich von Sarah getrennt oder umgekehrt, das durchschaue ich nicht ganz, und jetzt ist er wieder in sein altes Zimmer gezogen. Vorübergehend. Es ist so schwer, eine geeignete Wohnung zu finden. Und wir brauchen es so gut wie nie.“
„Ich dachte, du hast dir da ein Nähzimmer eingerichtet.“
„Wir haben viel zu viel Platz für zwei Personen“, sagte Monika. „Die Nähsachen sind jetzt in deinem alten Zimmer.“
„Aber Justus hätte doch auch dahin gehen können, dann hättest du nicht alles umräumen müssen.“
„Jaja, du hast immer so gute Ideen. Aber wenn eines Tages Aaron vor deiner Tür steht, krank vor Liebeskummer und völlig am Ende, weil die Welt ihn so fertigmacht, dann schickst du ihn bestimmt nicht ins Gästezimmer, sondern sorgst dafür, dass er genau dahin kommt, wo er sich am wohlsten fühlt. Männer brauchen ihre Höhlen. Nähen kann ich nun wirklich überall.“
Monika nahm ihr den Becher ab, steckte ihn in den eigenen und trug beide zum Papierkorb neben dem Wasserspender. Dabei sagte sie: „Ich will jetzt auch endlich das mit der Linde in Angriff nehmen. Die muss weg. Jeden Sommer ärgere ich mich, und damit muss Schluss sein. Hast du mal gesehen, wie klebrig die Einfahrt wird von dem Zeug, das dieser Baum absondert?“
Den Rest hörte Iulia nicht mehr. Ihre Gedanken waren zu laut.
2 Lone
- Versuch
Lone Fabricius konnte nicht schlafen. Selbst nachts war es in letzter Zeit zu heiß. Sie wälzte sich im Bett, und schließlich stand sie auf, als das erste Licht des Morgens dämmerte und die Vögel vor dem gekippten Fenster wie aufgezogen zu singen anfingen. Es gab eine Stelle in der Nähe, an der man mit dem Auto bis fast an die Steilküste heranfahren konnte. Die Ostsee hieß schließlich so, weil sie im Osten lag. Es musste also möglich sein, einmal im Leben einen anständigen Sonnenaufgang über dem Meer zu sehen.
Schon lange nicht mehr war sie freiwillig so früh auf den Beinen gewesen. Die Schichten im Krankenhaus seinerzeit hatten das natürlich erfordert, aber wie oft war sie in den frühen Morgenstunden nach dem Schichtwechsel durch die Ortschaften gerast, weil sie es nicht hatte erwarten können, endlich nach Hause in ihr Bett zu kommen. Einmal war sie dabei geblitzt worden. Sie hatte am Ortsschild kaum abgebremst, und später im Bußgeldbescheid hatte gestanden, dass sie über achtzig Stundenkilometer gefahren war. Sie bekam Punkte in Flensburg und musste ihren Führerschein für einen Monat abgeben. Einen Teil der führerscheinlosen Zeit legte sie in die kostbaren Ferien. Aber die restlichen Tage fuhr sie einfach trotzdem und hoffte, dass niemand sie erwischte. Sie hatte in diesen Dingen meistens Glück. Nur Blitzautomaten waren neutral, in der Bahn, bei Verkehrskontrollen oder am Zoll hatte sie kaum je etwas zu befürchten. Weder von männlichen noch von weiblichen Personen – alle lächelten, wenn sie Lone sahen, nickten freundlich, winkten sie weiter, machten eine Lass-gut-sein-Geste, wenn sie nach der Handtasche griff, um Ticket, Fahrzeugpapiere oder Ausweis hervorzuholen. Es war immer schon in Ordnung. Sie sah aus wie die Madonna aus einem Renaissance-Gemälde und war dadurch auffällig wie ein Mensch im Hühnerkostüm. Polizisten, Beamte, Kontrolleure trauten ihr keine Vergehen zu, manche waren wie geblendet.
Sie stieg ins Auto, ohne sich zu schminken oder auch nur die Haare zu kämmen. Sie trug praktische Kleidung, eine Sweatjacke warf sie auf den Beifahrersitz zu ihrer schwarzen Tasche, denn sie wusste, das Wetter im Norden war selten wie erwartet.
Eigentlich sollte man Sonnenaufgänge mit anderen Menschen zusammen ansehen. Am besten mit einem Partner, einem Herzensmenschen, einem Mann, wenn man, wie sie, heterosexuell war. Aber in letzter Zeit war ihr niemand über den Weg gelaufen, den sie bei einem Sonnenaufgang hätte dabeihaben wollen. Es würde auch alleine schön sein.
Die Straßen waren frei, niemand anders war unterwegs. Wie früher, wenn sie von der Schicht gekommen war, gab es um diese Zeit nichts außer hinterhältigen Blitzanlagen und Rehen, worauf man achtgeben musste. Sie gab Gas. Täglich hatte sie auf so vieles achtzugeben. Eine Hebamme konnte sich keine Fehler erlauben, musste stets alles im Blick behalten, durfte niemals nachlassen, niemals nur mit halbem Ohr zuhören. Eine Frau klagte über geschwollene Füße, das war nichts Ungewöhnliches am Ende einer Schwangerschaft. Aber wenn sie eine halbe Stunde später in einem Nebensatz auch noch Sehstörungen erwähnte, die sie am Vortag in der Schlange vor der Bäckereitheke gehabt hatte, musste Lone blitzschnell diese beiden Informationen zusammenbringen. Dann wurde ein Urintest nötig, und wenn Eiweiß nachweisbar war, musste sie eine Gestose ausschließen. Meistens aber wusste sie schon vor einem Test, was herauskommen würde, denn sie hörte gut zu. Es wurde immer alles Wichtige gesagt, nur eben selten dann, wenn man fragte, und oft nicht einmal im Bewusstsein, dass es wichtig sein könnte.
Die Frauen hier waren dazu erzogen worden, niemals zu viel von sich zu reden. Und nötigte man sie dazu, wie Lone es tat, wie jede Hebamme es tat, wichen sie aus oder wurden oberflächlich. Vielleicht war es anders in der Stadt oder weiter im Süden, aber in dieser Gegend musste man den Frauen die Dinge aus der Nase ziehen und wissen, dass jede echte Antwort auf eine Frage nach dem eigenen Befinden, wenn überhaupt, verzögert kam. Sie war ja selber so. In ihrem Fall wollte auch ohnehin niemand zuhören. Wenn man aussah wie eine Renaissance-Madonna, beklagte man sich am besten gar nicht. All die Menschen, die sonst so höflich und freundlich waren, wenn es darum ging, sie an der Grenze durchzuwinken oder ihr vor allen anderen den Kaffee zu servieren, stellten die Ohren auf Durchzug, wenn Lone über sich selbst sprach. Niemand wollte Madonnenprobleme hören.
Wenn sie die Sonne noch aufgehen sehen wollte, musste sie sich beeilen. Das Radio bot keinen passenden Soundtrack, es ließen sich überhaupt nur zwei Sender einstellen, und auf beiden verbreitete ein Moderator auf ungehobelte Weise gute Laune. Im Internet, wo es wirklich alles gab, hätte sich bestimmt ein Sender finden lassen, der Sonnenaufgangs-Soundtracks bereitstellte, freundliche Begrüßungen und gewaltfreie Lebensfreude. Aber damit kannte Lone sich nicht aus. Und ihr CD-Spieler im Auto war seit ein paar Wochen kaputt. Sie hatte es noch nicht geschafft, ihn reparieren zu lassen. Oder einen neuen zu kaufen, darauf lief es ja inzwischen immer hinaus. Sie verbrachte viel Zeit im Auto, weil die Frauen so weit auseinanderwohnten, sie würde bald etwas wegen des CD-Spielers unternehmen müssen. Diese Fahrten über Land, die seit ihrer Entscheidung, freiberuflich zu arbeiten, dazugehörten, waren ohne die richtige Musik schwerer zu ertragen.
Jetzt also Radio. Aber die Beats der Popmusik waren zu nah an ihrer Herzschlagfrequenz, sie wirkten einlullend statt anregend. Zusammen mit dem Klangteppich, den die elektronischen Instrumente und die verzerrte Stimme der Sängerin erzeugten, glichen sie Geräuschen, die ein Fötus im Mutterleib hörte.
Lone merkte, wie ihr die Augen zufielen. Es war unmöglich, sich dagegen zu wehren, aber sie musste sich zusammennehmen. Sie riss die Augen auf, es war schwer einzuschätzen, wie viel Strecke sie in ihrer Wahrnehmung gerade verpasst hatte. Hier, jenseits der Ortschaften, sah alles so gleich aus. Die Straße ohne Mittelstreifen, voller Risse, rechts und links Felder, in denen der Mais mannshoch stand, darüber ein fahler wolkenloser Morgenhimmel. Die orangefarbenen Innenseiten ihrer Augenlider.
Das ist ein sehr gutes und Einfallsreiches Buch zum Lesen eignet es sich perfekt
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