Schwindlerinnen - eBook-Ausgabe
Roman
„Mit ›Schwindlerinnen‹ ist Kerstin Ekman wieder ein Coup gelungen, der den Literaturbetrieb auf die Schippe nimmt, aber auch aufrichtig und liebevoll von einer besonderen Freundschaft erzählt.“ - Ostthüringer Zeitung
Schwindlerinnen — Inhalt
Lillemor Troj, die gefeierte 80-jährige Schriftstellerin, sitzt bei ihrem verblüfften Verleger: Er will nicht glauben, dass sie einen Unterhaltungsromanvorgelegt hat. Lillemor selbst aber kennt das Manuskript noch gar nicht –denn wieder hat es ihre jahrzehntelange Freundin Babba geschrieben, wie alle anderen Bücher auch. Nur diesmal enthält es die ungeschminkte, boshafte Wahrheit über die große Autorin Lillemor Troj. Es ist die Geschichte der beiden Frauen, ihrer Schwächen und Verletzungen – und natürlich ist es die Chronik ihres großen Betrugs …Kerstin Ekman nimmt sich selbst und die vornehme Welt der Literatur aufs Korn, wenn sie von der großen Abrechnung der beiden Frauen erzählt, von Aufrichtigkeit und Lügen, Einsamkeit und Nähe, Einbildung und Wirklichkeit.
Leseprobe zu „Schwindlerinnen“
Der Verleger trägt Sakko und T-Shirt. Sie selbst hat eine rosa Jacke aus dünnem Lederimitat an, dazu eine graue Hose und eine weiße Seidenbluse. Zu Hause im Garderobenspiegel sah das gut aus, fand sie, doch als sie den Raum betritt und sieht, wie er gekleidet ist, fühlt sie sich alt und lächerlich.
Vorhin hat sie an einem Fußgängerüberweg am Valhallavägen neben einer Dichterin gestanden, die sie für tot gehalten hatte: Im weinroten Mantel und mit Baskenmütze samt Silberbrosche wirkte sie jedoch höchst lebendig und gepflegt. So haben wir in den [...]
Der Verleger trägt Sakko und T-Shirt. Sie selbst hat eine rosa Jacke aus dünnem Lederimitat an, dazu eine graue Hose und eine weiße Seidenbluse. Zu Hause im Garderobenspiegel sah das gut aus, fand sie, doch als sie den Raum betritt und sieht, wie er gekleidet ist, fühlt sie sich alt und lächerlich.
Vorhin hat sie an einem Fußgängerüberweg am Valhallavägen neben einer Dichterin gestanden, die sie für tot gehalten hatte: Im weinroten Mantel und mit Baskenmütze samt Silberbrosche wirkte sie jedoch höchst lebendig und gepflegt. So haben wir in den Fünfzigerjahren ausgesehen, denkt Lillemor. Und erst vor ein paar Tagen war im Svenska Dagbladet ein Bild von Nelly Sachs: blaues Seidenkleid mit Kragen, silberner Halsschmuck mit kleinen Anhängern. Sicherlich trug sie auch Pumps, doch die waren auf dem Bild nicht zu sehen. Vermutlich solche, wie ich sie anhabe.
Er redet schon eine Weile, und sie hat nicht hingehört. Peinlich, dass das Bewusstsein beim geringsten Anlass so leicht in die Vergangenheit abgleitet. Als sie sich jetzt seiner Beredsamkeit bewusst wird, kommt ihr der Gedanke: Er bittet mich womöglich, meine Memoiren zu schreiben ! Ihr Unbehagen ist nicht weit vom Schrecken entfernt.
„Entschuldigung“, sagt sie. „Ich habe nicht ganz verstanden. “
Taub ist sie nicht. Jedenfalls nicht ganz, noch nicht. Wenn aber die Gedanken abschweifen, muss sie etwas vorschützen.
„Ich habe dein Manuskript bekommen“, sagt er unnötig laut und tätschelt einen dicken Stapel Papier, nein, eigentlich schlägt er mit der Hand darauf. Das ist so seltsam, dass sie lieber schweigt. Merkt sie doch, dass er verärgert ist. Sitzt da hinter seinem Schreibtisch, schlägt Respekt gebietend auf einen Manuskriptpacken und ist dabei gekleidet wie früher die Kerle in den Bierschenken. Dort saßen die Säufer in Sakko und Unterhemd und nahmen auch drinnen ihre Schiebermütze nicht ab. Dreitagebart hatten sie auch, genau wie er.
„Komm bitte mal zur Sache, Max“, sagt sie. „Du hast mich herbestellt, also hast du etwas auf dem Herzen.“
„Aber nicht doch, liebste Lillemor!“ Er steht auf und versucht, jovial zu wirken. Setzt sich sogar neben sie auf das kleine Sofa. Aber er ist verärgert.
„Ich habe dich keineswegs herbestellt! Ich wollte mich mit dir treffen. Die Sache mit deinem Manuskript kann ich doch nicht am Telefon klären.“
„Ich habe kein Manuskript geschickt.“
„Nein. Ich weiß, du hast es nicht hierhergeschickt. Nicht an uns.“
Stille breitet sich aus, ein viel zu langes Schweigen. Er fürchtet wohl, die Situation nicht mehr zu beherrschen, denn er kehrt an seinen Schreibtisch zurück, baut sich in Sakko und Unterhemd auf und blickt sie streng an.
„Du hast es an einen anderen Verlag geschickt“, sagt er. „Und mir will nicht einleuchten, warum.“
Pause. Offenbar Raum für eine Erklärung. Da sie keine hat, schweigt sie.
„Du fragst dich wahrscheinlich, wie ich an dein Manuskript gekommen bin.“
„ Ja, allerdings “, erwidert sie. „ Zumal es gar keines gibt. “
Da legt er wieder die Hand auf den Papierstapel. Seine Fingerrücken sind schwarz behaart. Sie fragt sich, ob seine Brust auch so haarig ist. Das wäre ja gruselig. Sune war jedenfalls glatt. Wie Jakob. Der hier ist ein Esau, aufgeblasen, aber vielleicht nicht böswillig. In diesem Moment vermisst sie ihre vorherige Verlegerin sehr, ja nahezu schmerzlich. Eigentlich alle drei, auch die beiden Verleger, mit denen sie hier schon zu tun hatte. Den Ersten, mit dem sie verhandelt hat, einen schüchternen Rotgesichtigen. Den Zweiten, korrekt und mit trockenem Humor. Und schließlich die gute Sara, die sich in den Ruhestand verabschiedet hat. Die vermisst sie am meisten.
„Komm jetzt bitte zur Sache, Max“, sagt sie und klingt müde, weil sie müde klingen will. „Du hast ein Manuskript, das du andauernd tätschelst, als ob es ein kleiner Hund wäre. Aber du tätschelst es nicht liebevoll.“
„Nein, und ich bin natürlich enttäuscht“, sagt er und schafft es tatsächlich, betrübt zu klingen. „Ich hätte nie gedacht, dass du uns verlassen würdest, nicht nach all den Jahren, die du jetzt beim Verlag bist, über fünfzig schon. “
„ Zweiundfünfzig. “
„Und das, ohne etwas zu sagen! Einfach –“
Sie unterbricht ihn: „Wenn das Manuskript an einen anderen Verlag ging, wie kannst du es dann haben und in einem fort tätscheln?“
„Lillemor, ich verstehe dich nicht, und ich finde auch nicht, dass du das veröffentlichen solltest.“
„Bitte, beantworte meine Frage“, sagt sie. „Wie kannst du im Besitz eines Manuskripts sein, das an einen anderen Verlag ging ? “
Wieder breitet sich Stille aus, sehr lange.
„Wir haben Kontakte“, sagt er schließlich. „Wir – ich meine, nicht wir, sondern der Konzern besitzt Verlage, die, wie du vielleicht gar nicht weißt, den Besitzer gewechselt haben. Du hast es an Rabben und Sjabben geschickt. Und dort hat jemand – der Name tut nichts zur Sache – mal bei uns gearbeitet und möchte wieder hierher. Also hat er angerufen.“
Schweigen. Er zieht mit dem Mittelfinger das Halsbündchen seines T-Shirts herunter und kratzt sich. Er ist tatsächlich fast bis zum Hals schwarz behaart. Ein Schuljunge, denkt sie. Ein Schuljunge mit rauer Stimme und schwarzen Haaren auf Brust und Fingergliedern.
„Und du hast es abgekauft?“
„So könnte man es ausdrücken, ja. Du wirst folglich eine Ablehnung bekommen, du verstehst. Also an dieses Pseudonym und an die Adresse, die du angegeben hast. Einen Brief des Inhalts, dass das Buch nicht zum Verlagsprofil passt, du aber hoffentlich nichts dagegen hast, dass er es an uns weitergeschickt hat.“
„War’s teuer?“, fragt sie und ist jetzt wirklich interessiert.
„Jaa – schon, in der Tat. Aber ich finde, das ist es wert.“
„ Das Manuskript ? “
„Nein, nein. Das ist nichts, was du veröffentlichen solltest. Ich möchte dir nur helfen.“
„ Wobei ? “
Darauf kann er offensichtlich nicht antworten. Er trommelt jetzt auf dem leidigen Papierstapel herum. Der paperasse. Dieses Wort hat sie in ihrem langen Schriftstellerinnenleben so oft gehört, dass sie es irgendwann im Larousse nachgeschlagen hat: papier sans valeur. Doch das kann er nicht wissen.
„Lass es mich lesen“, sagt sie. „Ich werde allmählich wirklich neugierig. “
Als sie sich das Manuskript nehmen will, legt er beide Hände darauf und sagt, das sei Dynamit und sie dürfe es unter gar keinen Umständen mitnehmen. Er scheint jetzt fast zu glauben, dass sie nicht weiß, was drinsteht. Glauben oder nicht glauben. Er bewegt sich vielleicht genau dazwischen, jedenfalls ist er sehr verlegen.
„Ich will es lesen“, beharrt sie.
„Unten im Autorenraum, da kannst du es lesen. Dieses Manuskript darf das Haus nicht verlassen.“
Er trägt den Manuskriptpacken auf dem Weg nach unten. Lillemor tun die Knie weh. Treppab spürt sie die Arthrose. Als sie beim ersten Mal die andere Treppe hinaufgestiegen ist, die sie in das Zimmer des Buchverlegers geführt hat, trug sie Stöckelschuhe. Das geht jetzt nicht mehr. Sie erinnert sich auch, dass ihr das helle Haar wie ein Heiligenschein um den Kopf stand und sich nicht mal mit Pilsner und Lockenwicklern bändigen ließ. Damals gab es wohl noch keinen Haarbalsam, denkt sie, und dann ist sie verlegen, weil er wieder etwas gesagt und sie es nicht gehört hat. Sie muss nachfragen und ihn bitten, stehen zu bleiben und sich zu ihr umzudrehen. Anders versteht sie ihn nicht.
„Ich habe gesagt, du kannst dieses Buch nicht allen Ernstes veröffentlichen wollen. Es käme dann nächstes Jahr heraus. Wenn du achtzig wirst. Das kannst du nicht wollen. Außerdem wäre es einer Lillemor Troj nicht würdig, unter Pseudonym zu veröffentlichen.“
Er scheint doch davon auszugehen, dass sie dieses Manuskript verfasst hat.
„Ist es denn so schlecht?“
„Absolut nicht! Aber es ist so – wie soll ich sagen –, es ist so ganz anders als das, was du sonst schreibst.“
Als sie endlich den Treppenabsatz erreicht haben und die nächste Treppe zum Erdgeschoss hinuntergehen wollen, sagt er: „Das ist ja der reinste Unterhaltungsroman.“
Da steigt sie erneut in den Brunnen der Zeit hinab, und ebenso deutlich wie das Wort paperasse vernimmt sie die Worte: Was ist eigentlich verkehrt an Unterhaltung?
In dem kleinen Autorenraum angelangt, an dessen Wänden Porträts von Nobelpreisträgern und anderen großen Schriftstellern – alles Männer – hängen, legt er den Papierstapel auf den Schreibtisch und sagt: „Meiner Meinung nach solltest du das noch mal durchsehen. Bestimmt kommst du dann zu einer anderen Entscheidung. Ich bin überzeugt davon, Lillemor. Möchtest du ein Tässchen Kaffee ? “
„Ja bitte, gern.“
Wie gut, dass er geht. Er macht sie nervös. Hier, wo sie so oft gesessen und ihre Bücher signiert und mit Widmungen versehen hat, fühlt sie sich zu Hause. Kaum ist er gegangen, nimmt sie den Stapel und beginnt auf der ersten Seite zu lesen.
Jugend Freude List
Dreimal habe ich mich im Oktober 1953 im Engelska Parken an Lillemor Troj herangeschlichen. Bestimmt hat sie mich unter den Bäumen stehen sehen, aber sie tat so, als bemerkte sie mich nicht, weil ich nämlich aus Kramfors bin. Das ist sie zwar auch, aber daran wollte sie nicht erinnert werden. Sie sagte stets, sie habe in Härnösand Abitur gemacht, was ja auch stimmt. Als ich das zweite Mal dort stand, waren wir einander so nahe, dass sie mich eigentlich hätte grüßen müssen. Doch sie schwang sich auf ihr Fahrrad und schaute stur geradeaus.
Ich hatte mir jetzt schon zweimal freigenommen, um auf sie zu warten. So konnte das nicht weitergehen, denn meinem Vorgesetzten passte es nicht, dass ich mir freinahm. Ich arbeitete damals in der Stadtbibliothek von Uppsala. Wo Lillemor wohnte, wusste ich nicht, nur dass sie Literaturgeschichte und Poetik studierte. Wenn ich sie also treffen wollte, musste ich die Zeiten der Prüfungsseminare im Philologischen Institut am Ende des Parks abpassen. Ich sagte, ich müsse zum Zahnarzt, und beim dritten Mal meinte mein Chef, ich hätte anscheinend schlechte Zähne. Da sah ich durch seinen braunen Anzug hindurch. Ich sah, dass sein Baumwollunterhemd so graugelb war wie seine lange Unterhose und geflickte Ärmelbündchen hatte. Seine Brust mit den grauen Haarbüscheln und den pigmentlosen Flecken war über zwei fehlenden Rippen und einem ausgeheilten tuberkulösen Herd eingesunken.
Das ist meine Kunst. Sie ist nicht mal schwierig. Ich kann auch Gebäude durchdringen. Von meinem Aussichtsposten aus sah ich das Haus, in dem ein eierköpfiger kleiner Professor durch das Charmeusefutter der Hosentasche an seinem Schwanz fingerte, als Shelleys Ode an den Westwind durchgenommen wurde. Ich hörte Lillemor etwas sagen. Sie verwendete das Wort frappant. Shelleys Ansicht, dass aus seinen Worten Erneuerung entstehen sollte, während sie gleichzeitig mit Funken aus einem erloschenen Ascheherd und mit einem Wirbelsturm aus Laub verglichen wurden, sei frappant. Sie äußerte sich scheu, wie es sich für eine Angehörige des weiblichen Geschlechts gehörte, dabei aber hoffnungsvoll sicher. Und sie hatte allen Grund der Welt, sicher zu sein, denn der Eierkopf intensivierte sein Gefingere, als er sie ansah.
Ich hatte diese Prüfungsseminare drei Jahre zuvor durchlaufen. Zwar waren die Studenten jetzt noch ganz am Anfang, sprachen also eher über die Antike. Vielleicht über Sappho. Aber dass er fingerte, dessen war ich mir sicher.
Die Fähigkeit, durch Steinwände und Unterhemden zu sehen, war mir damals ein Zeitvertreib. Mehr wurde daraus eigentlich nie. Sie verkürzte mir die Warterei, als ich auf meinen Kreppsohlen dort im Laub stand, das in schwefelgelben, brandroten und schwarz gesprenkelten Haufen unter den Bäumen moderte.
Diesmal, es war das dritte Mal, würde ich mich nicht an der Nase herumführen lassen. Ich hatte mich ganz in der Nähe des Eingangs zum Philogogicum hinter einen Ahorn gestellt. Sowie Lillemor sich auf ihr Fahrrad setzte, wollte ich hervortreten.
Nun schwärmten sie heraus. Ihre Stimmen klangen in dem stillen Park wie Vogelgezwitscher. Sie steckten sich Zigaretten und Pfeifen an. Feuerfliegen glühten unter ihrem eifrigen Gepaffe. Daraus würden Tumoren und Emphyseme entstehen, ich sah ihr Haar ergrauen und ihre Wangen vertrocknen und einfallen. Ich sah auch drei Besoffene auf Pontus Wikners Grab, zwei Männer und eine fette, verbrauchte Frau, deren Schlüpfer auf die Schenkel gerutscht war. Das war aber erst vor ein paar Jahren, denn so ging es damals dort nicht zu, allenfalls in Dragarbrunn. 1953 fiel auf dem Friedhof das Laub still auf unbefleckte Grabsteine herab. Zeiten zu durchdringen ist im Prinzip nicht schwieriger als Gebäude und Körper.
Diesmal war ich gewappnet. Als Lillemor sich auf ihr Fahrrad setzte und ihren grauen Plisseerock um den Sattel drapierte, peilte ich sie an und stapfte durchs Laub. Wir stießen auf dem Kiesweg aufeinander. Sie geriet ins Schwanken und sprang vom Rad. Ich grüßte, und sie tat überrascht. So begann unser gemeinsames Leben.
Es tut weh, wenn ich daran denke, dass sie es mir nehmen wollte. Sie scheint zu glauben, das ginge so einfach. Überlegt sie es sich anders – und wann hat sie das nicht getan! –, packe ich diese Geschichte in den Karton für havarierte Projekte. Diesen Karton bewahre ich ebenso wie alle Karteikästen und Ordner auf dem Dachboden auf. Dort sind auch ihre Tagebücher. Über deren Verlust kann sie sich ja Gedanken machen, sobald sie ihn entdeckt.
Als sie geheiratet hatte, schrieb sie, dass in dem hellhörigen Haus Radioapparate lärmten, Toiletten rauschten und Schranktüren schlügen und dass sie glaube, man werde von wahrer Stille scheu. Weiter schrieb sie, dass sie ihre Volantgardinen in der Küche gewaschen und mit einem Döschen Pulver hellblau gefärbt habe. Sie hätten das Blau des Himmels angenommen, fügte sie hinzu, da sie die Dinge immer von der lichten Seite zu sehen versuchte. In ihre Küche war also der Himmel eingezogen, und sie war ein Engel, der Heringe briet und von Stille scheu wurde. Obwohl ich glaube, dass Stille ihr eher Schrecken einjagte.
Das Präsens ist eine Zeitform, die sie missbilligte. Sogar verbot. Sie sagte, es sei das Tempus der Angst. Doch da übertrieb sie, denke ich. Im Übrigen sollte man mit einem Wort wie Angst nicht leichtfertig umgehen, und das sagte ich ihr auch.
„Na, dann eben Bangigkeit“, sagte sie. „Angst hat man wohl eher in diesen bibbrigen Morgenstunden, wenn man die Rezensionen noch nicht gelesen hat.“
„O nein, das ist bloß Bangigkeit. Gerade du müsstest wissen, was Angst ist.“
„In Übersetzungen ist das Präsens jedoch unmöglich“, erklärte sie. „Besonders im Englischen. Im angelsächsischen Sprachraum scheut man davor zurück.“
Man scheut also vor der Gegenwart zurück. Denn das Präsens ist ja die Gegenwart. Lillemor wollte das Imperfekt haben, wahrscheinlich weil man die Dinge damit hinter sich gelassen hat und sie in einer Erzählform, fest wie Gusseisen, beherrscht. Noch schlimmer wäre natürlich das Plusquamperfekt, von diesem Altmännertempus lässt man klugerweise die Finger. Damit wird das Vergangene nur noch weiter nach hinten verschoben, und es ist, als stakste man in sehr fernen Erinnerungen herum, farblos geworden wie alte Diapositive.
Wenn das Präsens Angst ist, gebe ich es ihr. Das Imperfekt ist für mich, da alles hinter mir zu liegen scheint. Das Leben. Jetzt ist nur noch diese unvermeidliche Ackerei übrig. Aufstehen, Radio anmachen, Teewasser aufsetzen. Weiterackern.
Das nächste Mal traf ich sie dann in einer Konditorei. Ich hatte Landings vorgeschlagen, doch sie zog Güntherska vor, das ein bisschen abseits in der Östra Ågatan lag. Als wir schließlich im Engelska Parken aufeinandergestoßen waren, hatte ich kurzerhand mein Anliegen vorgetragen; sie war verblüfft. Ich hatte mit Entrüstung und Zurückweisung gerechnet, denn sie war konventionell, schließlich war die Familie auf dem Weg nach oben.
„Ich kann das allerdings nicht machen, ohne es gelesen zu haben“, hatte sie gesagt und dafür jetzt zwei Tage Zeit gehabt. Ich musste fast eine Dreiviertelstunde warten, bis sie auftauchte. Ihre Wangen waren rosig, sie war wohl wieder schnell geradelt, und sie steckte sich eine Zigarette an.
„Diese Geschichte ist gar nicht dumm!“, sagte sie. „Du kannst ja schreiben.“
„Ich will den ersten Preis.“
Es roch nach Kaffee, Vanille und Tabak, als ich mir das Foto anschaute, das Lillemor mitgebracht hatte. Es war eine Atelieraufnahme. Das blonde Haar, gescheitelt und mit gelocktem Pony, war ordentlich frisiert. Ihren bis zum Lockenkranz im Nacken flachen Hinterkopf sah man nicht. Ihre Augen waren sehr groß und tief, die gezupften Augenbrauen darüber diskret mit einem Stift nachgezogen. Die Lippen waren sorgfältig geschminkt und glänzten. Sie trug den ausgeschnittenen rosaroten Angorapulli wie auch jetzt, doch auf dem Bild war er hellgrau. Um den Hals hatte sie eine Perlenkette, die adrett auf den zerbrechlich wirkenden Schlüsselbeinen lag.
Die Kellnerin kam, und Lillemor bestellte Kaffee und zwei Schokorollen mit Pistazien und Sahne. Da sie die letzte Zigarette aus ihrer Packung geraucht hatte, ergänzte sie die Bestellung um eine Schachtel Marlboro. Mir war klar, dass ich sie einladen sollte, und ich reduzierte den letzten Teil der Bestellung auf zwei einzelne Zigaretten der Marke Boy. Sie hatte sich die Lippen geleckt. Die Gier, von der sie nichts wusste, lag weit vor dem Gedanken.
„Das mit dem Foto gefällt mir nicht“, sagte Lillemor. „Wozu brauchen Sie das?“
„Zum Veröffentlichen. Ist doch ein Magazin.“
Sie sah mich an, nachdenklich. Ich war nicht hübsch, aber sie war es. Im Güntherska hatte ich mich so gesetzt, dass ich den Konditoreispiegel im Rücken hatte. Normalerweise wäre es mir egal gewesen, aber jetzt war die Frage des Aussehens so wichtig, um nicht zu sagen: schicksalsträchtig, dass ich den direkten Beweis dafür, niemals einen Preis in einem Magazin gewinnen zu können, vermied. Ich hatte mein Abitur in allen Fächern außer Sport mit Eins plus gemacht. Doch darum ging es jetzt nicht.
Wir verabredeten, dass Lillemor die Hälfte der Preissumme von fünfhundert Kronen dafür bekommen sollte, dass sie die Geschichte unter ihrem Namen einschickte und im Restaurant Metropol in Stockholm den Preis entgegennehmen würde.
„Du scheinst dir ja recht sicher zu sein!“
„Ja“, sagte ich. „Ich werde gewinnen.“
Natürlich überlegte sie es sich anders. Schon nach einer Woche rief sie an und sagte, es sei doch bescheuert, bei einem Kurzgeschichtenwettbewerb für einen anderen Menschen einen Preis entgegenzunehmen. Außerdem sei es Betrug. Sie rief mich in der Bibliothek an, was meinen Chef aufbrachte. Wir durften keine Privatgespräche führen. Wie üblich überlegte sie es sich dann doch noch mal. Sie hatte ja auch die Geschichte und das Foto schon eingeschickt.
Die Zuerkennung des ersten Preises beruhte nicht nur darauf, dass ich schreiben kann. Anstatt Lucia wie selbstverständlich zum Opfer zu machen, hatte ich sie in der Wettbewerbskonkurrenz morden lassen. Das war allerhand, und den alten Knackern in der Jury gefiel das sicherlich im gleichen Maße wie die von Lillemor Troj eingesandte Fotografie. Die Mordmethode war natürlich fragwürdig. Von einem Glas Wasser, in dem ein paar Stunden Maiglöckchen gestanden haben, wird einem höchstens schlecht. Aber es ging durch. Es ist zumindest zweifelhaft, ob im Dezember zum Blühen gebrachte Maiglöckchen überhaupt noch Gift absondern, und von der damals führenden Krimiautorin, die in der Jury saß, hatte ich in dem Magazin einen ironischen Kommentar bekommen. Ganz offensichtlich hatte sie nicht für meine Geschichte gestimmt.
Wir saßen in Lillemors Zimmer im Studentinnenheim Parthenon in der Sankt Johannesgatan. Sie erzählte mit Bravour von ihrem Besuch in Stockholm und wie sie den Preis entgegengenommen hatte. Ich weiß nicht, ob ich schon damals an ihre dramatische Ader herankommen wollte. Sie ist eine Schauspielerin. Und die verkümmert ohne Publikum. Dieses Talent ist vielleicht nicht angeboren, aber frühzeitig erworben. Ein süßes Mädchen lernt seine Erlebnisse so aufzubauschen, dass die Schilderung hörenswert wird.
Sie machte in einem Elektrokocher Wasser heiß und bot Tee an. Auf dem Tisch zwischen uns reihte sie die Geschenke auf, die sie und die Luciakandidatinnen erhalten hatten. Sie stammten von Firmen, die in dem Zeitungsbericht erwähnt werden wollten. Ich durfte nun wählen zwischen einem Minifläschchen Parfüm ( Hermès ) und einem Döschen Pancake Make-up, das den Teint glatt und braunrosa machte, zwischen einem Paar nahtloser Nylonstrümpfe und einem rosa Plastikschminktäschchen mit Reißverschluss. Die Strümpfe saßen allerdings schon an Lillemors Beinen. Sie hatte den Scheck mit der Preissumme eingelöst, gab mir jetzt das Geld, und ich gab ihr zweihundertfünfzig Kronen zurück.
Sie saß in einem Korbsessel, den sie mit schwarzer Lackfarbe angestrichen und mit einem roten Kissen bestückt hatte. Hinter ihr an der Wand hing eine Kalebasse neben der ungerahmten Farbreproduktion eines Van-Gogh- Gemäldes: ein Straßencafé am Abend. Von den Straßenlaternen ergoss sich das Licht in die Anilinschatten der Reproduktion. Ich saß auf der Ottomane.
Als ich die Scheine in meine Brieftasche steckte, sagte Lillemor: „Ich finde, du könntest dir einen neuen Mantel kaufen. “
Ich verstand nicht, was an meinem braunen Mantel verkehrt war. Ich hatte ihn zu einer Jacke umgearbeitet.
„Du solltest nicht in so einem abgeschnittenen alten Ding herumlaufen“, sagte Lillemor. „Du siehst darin nur noch größer aus.“
„Es kommt mir nicht zu, mich kleiner zu machen, als ich bin“, erwiderte ich.
Ich hatte nicht erwartet, dass wir Freundinnen würden, aber doch wenigstens in Kontakt blieben. Daraus wurde nichts. Zweimal besuchte ich sie noch im Studentinnenheim, aber sie bot mir keinen Tee mehr an. Und beim letzten Mal erzählte sie, dass sie sich verlobt habe. Das Foto ihres Zukünftigen stand auf der Kommode, und ich hatte das Gefühl, dass er uns bei unserer Unterhaltung beobachtete. Er schien ein dunkler Typ zu sein. Die Fotografie hatte jedoch einen Braunstich, und sein Haar war in Wirklichkeit von der schwedischen Nichtfarbe. Im Lauf der Jahre sollte er einen dicken Bauch bekommen, was im Verein mit seinen kurzen Beinen fatal war.
Da saß Lillemor nun. Sie war mir so gelegen gekommen. Auf dem Bild in der Zeitung war sie vom Blitzlicht geblendet, doch es wurde ein Ausschnitt aus der Lichtflut gemacht: glänzende schwarze Hüften, vom Korsett geformt, während die Rüsche am Busen das gespannt Straffe milderte und Lillemor mädchenhaft verletzlich und verwirrt wirken ließ. Genauso dankbar, überwältigt und durch und durch glücklich, wie ein Mädchen aufzutreten hat, das in einem Kurzkrimiwettbewerb mit Luciathema Siegerin geworden ist. Als ich das Bild in der Zeitung sah, glaubte ich fast selbst an den Betrug. Lillemor war perfekt.
Zuerst war sie die Lucia in der Kurzgeschichte gewesen. („Was geschieht in der dunkelsten aller Nächte? Wer war das weiß gekleidete Mädchen mit dem Blutfleck auf der Brust? Schick Deine Kurzgeschichte bis zum 15. Oktober an unsere Redaktion.“) Dann hatte sie den Preis entgegengenommen und mit schlanken Fesseln auf dem Podium gestanden. Und jetzt war sie also verlobt.
„Warum schreibst du keinen Krimi?“, fragte sie. „Jetzt brauchst du doch keine Komplexe mehr zu haben.“
Sie war der Meinung, dass man zum Schreiben Selbstvertrauen braucht. Doch sie irrte sich. Man braucht Anonymität.
„In einer Phase, in der manche AutorInnen Lebensrückblicke oder Autobiografien schreiben, geht Ekman - wieder einmal - ihren ganz eigenen Weg und schreibt ironische, mit ihrer Branche abrechnende Autofiktion, die - ganz große Literatur eben - auch als Roman bestens funktioniert - oder umgekehrt? Mein Buch des Jahres!“
„Das grandiose Finale einer Schriftstellerin, deren Romane ein halbes Jahrhundert schwedischer Literatur mitgeprägt haben. (...) Melancholisch, weise und überraschend vergnügt.“
„Skurril, spannend, anrührend und voller weiser Sätze ist dieses Finale einer Schriftstellerin, deren Romane ein halbes Jahrhundert schwedischer Literatur mit geprägt haben.“
„Mit "Schwindlerinnen" ist der 80-jährigen Schriftstellerin eine vergnügte Geschichte über Liebe, Literatur und sich selbst gelungen.“
„Packende Lebensgeschichte zweier literarischer Schwindlerinnen.“
„"Schwindlerinnen" widmet sich mit Genuss und Ironie der Schizophrenie des Schriftstellerdaseins.“
„Kerstin Ekman spielt virtuos mit ihrer eigenen Biografie.“
„Eine überaus unterhaltsame wie geschmeidige Satire über die Licht- und Schattenseiten der Literaturwelt.“
„Mit ›Schwindlerinnen‹ beweist Kerstin Ekman ihre Wandlungsfähigkeit als Autorin. Sie spielt geschickt mit der Illusion und verführt die Leser dazu, sich künftig wohl häufiger die Frage zu stellen ob das, was man glaubt, sicher zu wissen, nicht alles nur ein Trugbild ist.“
„Mit ›Schwindlerinnen‹ ist Kerstin Ekman wieder ein Coup gelungen, der den Literaturbetrieb auf die Schippe nimmt, aber auch aufrichtig und liebevoll von einer besonderen Freundschaft erzählt.“
„Ein beinahe kriminalistischer Roman über die Literaturwelt (...) mit der Stimme zauberhafter, lebenserfahrener und ironiefähiger alter Damen erzählt.“
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