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Seenebel (Iwersen und Hansen ermitteln 3) Seenebel (Iwersen und Hansen ermitteln 3) - eBook-Ausgabe

Stefanie Rogge
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Ein Föhr-Krimi

— Spannender Nordsee-Krimi mit jeder Menge Inselflair

„Spannend und unterhaltsam von der ersten Seite an und mit viel Föhrer Lokalkolorit. Beste Urlaubslektüre – nicht nur für alle Fans der nordfriesischen Insel.“ - Ruhr Nachrichten

Alle Pressestimmen (4)

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Seenebel (Iwersen und Hansen ermitteln 3) — Inhalt

Hochspannung auf der Urlaubsinsel Föhr

Unausgesprochenes drängt ans Licht

Als der Milchbauer Heiko Mommensen ermordet aufgefunden wird, sind die Bewohner der Insel Föhr entsetzt. Kommissarin Kerrin Iwersen reist aus Flensburg an, um mit dem Inselpolizisten Hark Hansen zusammenzuarbeiten. Die Ermittlungen nehmen gerade Fahrt auf, da verschwindet eine junge Frau. Kurz darauf ist auch sie tot. Doch erst als Nele, die Tochter des ersten Opfers, ebenfalls verschwindet, überwindet sich seine Witwe Anne, die Polizei in ein lang gehütetes Geheimnis einzuweihen. Ist es bereits zu spät? Ist auch Nele tot, oder verfolgt der Täter mit ihrer Entführung ein ganz anderes Ziel?

Die Bände der Reihe „Iwersen und Hansen ermitteln“:

Band 1: Dunkelmeer

Band 2: Gischtgrab

Band 3: Seenebel

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 30.03.2023
352 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31891-4
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€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 30.03.2023
352 Seiten
EAN 978-3-492-60384-3
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Leseprobe zu „Seenebel (Iwersen und Hansen ermitteln 3)“

Prolog

Ungewöhnlich behutsam für sein Alter öffnete er die Wohnzimmertür. Obwohl er den Türgriff nur knapp überragte, wusste er ganz genau, was die geschlossene Tür bedeutete. Vorsichtig streckte er seinen kleinen Kopf in das dunkle Zimmer hinein. Die Vorhänge waren zugezogen, schemenhaft konnte er ihre Gestalt auf dem Sofa erkennen. Sie lag ganz still unter einer flauschigen Wolldecke und rührte sich nicht.

Mit tastenden Schritten, um ja keinen Lärm zu machen, schlich er zu ihr. Er wusste, dass er sie nicht stören durfte, damit sie schnell wieder gesund [...]

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Prolog

Ungewöhnlich behutsam für sein Alter öffnete er die Wohnzimmertür. Obwohl er den Türgriff nur knapp überragte, wusste er ganz genau, was die geschlossene Tür bedeutete. Vorsichtig streckte er seinen kleinen Kopf in das dunkle Zimmer hinein. Die Vorhänge waren zugezogen, schemenhaft konnte er ihre Gestalt auf dem Sofa erkennen. Sie lag ganz still unter einer flauschigen Wolldecke und rührte sich nicht.

Mit tastenden Schritten, um ja keinen Lärm zu machen, schlich er zu ihr. Er wusste, dass er sie nicht stören durfte, damit sie schnell wieder gesund würde, aber er hatte es wieder einmal nicht ausgehalten. Seine Sorge trieb ihn zu ihr. Vielleicht gab es doch etwas, was er tun konnte, damit sie sich dieses Mal schneller erholte.

Er kniete neben ihr nieder, griff ein wenig zögernd nach ihrer schlaffen Hand und streichelte sie unbeholfen. Dabei beobachtete er aufmerksam ihr zur Decke gewandtes Gesicht, in dem die Augen noch immer geschlossen waren. Als sie seine Berührung spürte, zuckten sie. Er hielt den Atem an. Würde sie sich gleich aufsetzen, ihn anlächeln, ihm über den Kopf streichen und fragen, ob er einen Keks wollte?

Tatsächlich öffnete sie die Augen und wandte ihren Kopf in seine Richtung. Hoffnung machte sich für einen winzigen Moment in ihm breit, verschwand aber jäh, als er sah, dass ihr Blick durch ihn hindurchging und sie ihn gar nicht wahrnahm. Eine lautlose Träne rann ihre Wange herunter, doch sie wischte sie nicht weg.

Er richtete sich trotzig auf und sammelte all seinen Mut. Früher hatte sie immer gelacht, wenn er vor ihr getanzt hatte und über seine stämmigen Beinchen gestolpert war. Ein wenig ermutigt bemerkte er, dass ihre Augen ihm folgten. Mit zaghaften Schritten begann er, sich erst um sich selbst zu drehen und dann zu hüpfen und zu springen. Schneller und schneller ging es, er verlor sich ganz in den Bewegungen. Die feste Klammer in seiner Brust löste sich ein kleines bisschen, für einen Augenblick war er ein Kind, das ausgelassen und sorgenfrei herumtollte.

Als er schließlich atemlos vor ihr niedersank, fühlte er sich seltsam getröstet. Ein Blick auf sie zerstörte dieses Gefühl jedoch sofort wieder. Sie sah ihn noch immer nicht, in ihren Gesichtszügen war keine Regung zu erkennen. Niedergeschlagen kletterte er auf das Sofa, kuschelte sich dicht an sie und streichelte ihre Haare. Ob sie es wahrnahm, wusste er nicht.

Er erwachte, als eine Hand ihn sanft an der Schulter rüttelte. Dicht an sie gedrängt, musste er eingeschlafen sein.

„Was machst du denn hier?“, raunte ihm sein Vater leise zu. „Komm mit, wir gönnen ihr noch ein wenig Ruhe, dann geht es ihr morgen bestimmt wieder besser.“

Ein wenig widerwillig löste er sich von ihr. Sie war wach, ihr Kopf zur Decke gerichtet. Als er sich langsam erhob, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen, drehte sie sich nicht zu ihm um. War es möglich, mit offenen Augen zu schlafen? Wenn es so wäre, konnte sie ihn gar nicht bemerken. Es wäre dann nicht seine Schuld, und sie würde ihn vielleicht doch lieben. Er beschloss, ihr in den nächsten Tagen noch mehr als sonst zu zeigen, wie sehr er an ihr hing und dass er alles für sie tun würde.

Sein Vater griff nach seiner Hand und drückte sie fest. „Lass uns nach draußen gehen, das Wetter ist herrlich. Ich könnte ein großes Schokoeis vertragen.“

Er nickte und folgte ihm langsam zur Tür. Warum sein Vater kein Wort an seine Mutter richtete, verstand er nicht.


1

Mit großen Schritten eilte Tobi Lange über den Hof. Er hatte gestern bis nach Mitternacht auf dem Traktor gesessen und den Mais gedroschen. Da der Wetterbericht für den heutigen Tag Regen angesagt hatte, hatten sie fertig werden müssen, und so hatte er nur wenige Stunden geschlafen und prompt den Wecker überhört. Nun war es schon fast halb sechs, er war ungeduscht, hatte noch keinen Kaffee getrunken und kam zu spät zum Melken.

Seit zwei Monaten war er als Auszubildender auf dem Hof der Mommensens in der Midlumer Marsch. Es war bereits sein zweites Lehrjahr. In seinem ersten Jahr auf einem Hof auf Amrum hatten sie nur Milchvieh gehabt. Das Zusammenspiel hier zwischen Landwirtschaft und den Tieren gefiel ihm gut. Er liebte die Kühe, aber er genoss es ebenso, auf einem Traktor über die Äcker zu heizen. Auch wenn er zurzeit am laufenden Band Überstunden schob und der Seniorchef, Heiko, nicht immer ganz einfach war. Er konnte das Donnerwetter wegen seiner Verspätung bereits hören. Aber das würde an ihm abprallen. Er wusste, was er konnte. Und dass sie ihn brauchten.

Normalerweise begann sein Dienst erst nach dem Frühstück um 7 Uhr. Das Melken um 5 Uhr war Aufgabe von Heiko Mommensen und seinem Sohn Klaas, der den Hof eines Tages übernehmen würde. Aber da Klaas’ jüngster Sohn heute zwei Jahre alt wurde, hatte Tobi angeboten, für ihn zu übernehmen. Er tat das nicht ganz uneigennützig, sondern spekulierte im Gegenzug auf ein ruhiges und entspanntes Wochenende ohne einen weiteren Extraeinsatz. Am letzten Wochenende hatte er im Olympic, der Inseldisco in Föhrs Hauptstadt Wyk, ein Mädchen kennengelernt, das er gerne ungestört und ausgiebig treffen wollte.

Als Tobi die Tür zum Stall öffnete, stellte er verwundert fest, dass kein Licht brannte. Auch aus dem Melkstand am anderen Ende des Gebäudes drang kein Schein nach draußen. Sollte Heiko ebenfalls verschlafen haben? Er musste schmunzeln. Wenn das rauskäme, würde es Klaas eine wunderbare Steilvorlage für künftige Auseinandersetzungen mit seinem Vater liefern. Tobi hatte in der kurzen Zeit hier schon viel zu oft mitbekommen, dass der Alte seinem Sohn vorwarf, seine Arbeit nicht ernst zu nehmen, zu weich für die harte Tätigkeit als Landwirt zu sein und auf ein laues Leben zu spekulieren.

Oder wollte Heiko Mommensen Strom sparen? Jetzt Anfang Oktober ging die Sonne erst nach 7 Uhr auf, und so war es noch dämmerig, eigentlich zu dunkel zum Melken.

Tobi tastete nach dem Lichtschalter. Doch als er ihn drückte, geschah nichts. Verwundert blickte er sich um. War der Strom ausgefallen?

„Chef!“, rief er laut, bekam jedoch keine Antwort. Nur ein paar Kühe glotzten ihn wiederkäuend an.

Langsam machte Tobi einige Schritte nach vorn. Eine ungewöhnliche Stille lag über dem Stall. Als seine Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten, meinte er am Ende der langen Stallgasse, deren Tor jetzt im Herbst wegen des steifen Nordseewindes nachts meist geschlossen war, einen dunklen Schatten auszumachen. Eigentlich sollten zu dieser Zeit der Melkstand geöffnet und die Boxen der Kühe entriegelt sein. Die Tiere würden sich dann gemächlich an der geräumigen Box der Zuchtbullen hinten rechts vorbeischieben, um ihre Milch loszuwerden.

Aber nichts davon geschah. Die Gatter an den Boxen der Kühe waren verschlossen, aus dem Melkstand drang kein Licht nach draußen. Keine einzige Kuh war unterwegs. Tobi fröstelte. Irgendetwas war hier nicht in Ordnung.

Plötzlich hörte er ein Scharren von Klauen. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Der Schatten bewegte sich. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Sollte es einem der Bullen gelungen sein, aus der Box herauszukommen? Er schüttelte langsam den Kopf. Das war nicht möglich, das Gatter war immer fest verschlossen, darauf achteten sowohl Heiko als auch Klaas peinlich genau. Und auch ihm und der anderen Auszubildenden Fenja hatten sie dies seit ihrem ersten Arbeitstag auf dem Hof im August immer wieder eingebläut. Auch wenn die Mommensens ihre sechs Bullen von Geburt an kannten und einmal in der Woche ihre Box ausmisteten, hielten sie immer Abstand zu ihnen. Wenn es zu einem gefährlichen Zwischenfall mit einem Bullen kam, wollte das Tier meist nur spielen und handelte nicht bösartig. Aufgrund der Masse und des Gewichts der Tiere war das für den menschlichen Spielpartner jedoch lebensgefährlich. Um dies zu verhindern und die natürliche Distanz der Bullen zu den Menschen aufrechtzuerhalten, wurden sie, anders als die Kühe, nicht gestreichelt und liebkost.

Tobi öffnete vorsichtig das Gatter zu der rechten langen Box der Kühe und schob sich an den Tieren vorbei. Eine gewisse Unruhe machte sich unter ihnen breit, sie waren daran gewöhnt, um 5 Uhr gemolken zu werden. Als er sich dem Ende der Stallgasse näherte, sah er, dass das Gatter zur Bullenbox auf dem Boden lag. Eines der Tiere stand in der Stallgasse, stupste ein Bündel vor sich an, blickte dann auf und verharrte reglos. Die anderen fünf starrten ihn aus der Box heraus an.

Tobi stockte der Atem, er spürte plötzlich die Gefahr, die in der Luft lag. Wie in Trance ging er Schritt für Schritt weiter, immer in der Sicherheit der geschlossenen Kuhbox, und blieb schließlich stehen. Sein Gehirn weigerte sich zu verarbeiten, was seine Augen sahen. Nach einer gefühlten Ewigkeit entfuhr ein gellender Schrei seiner Kehle.


2

Als der Wyker Polizeichef Hark Hansen zusammen mit seinen Kollegen Tom Pahl und Christian Jensen auf den Hof der Familie Mommensen fuhr, ahnte er nicht, welch grausamer Anblick ihn erwartete. Er war gerade erst in der Dienststelle am Hafendeich eingetroffen, als Ida Sander, die gute Seele der Inselpolizei, in einem bunt gebatikten Baumwollkleid auf ihn zugestürmt gekommen war.

„Gut, dass du da bist“, hatte sie schon von Weitem gerufen. „Es gibt einen Notfall auf dem Hof der Mommensens bei Midlum. Die Bullen sind ausgebüxt, und der Alte liegt im Stall, ob tot oder verletzt, habe ich nicht verstanden. Die Anruferin, so ein junges Ding, war völlig durch den Wind. Ich habe mit dem Tierarzt in Alkersum, der auch schon von der Familie angerufen worden war, gesprochen. Er hat sich für den Fall, dass die Tiere noch frei herumlaufen, bereits mit einer Betäubungspistole auf den Weg gemacht. Außerdem sollte dort mittlerweile ein Rettungswagen eingetroffen sein. Tom und Christian sitzen auf dem Parkplatz im Streifenwagen und warten auf dich, ihr müsst sofort hinfahren.“

„Vielen Dank, Ida, gute Arbeit“, hatte Hark gesagt und ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz kehrtgemacht. Adrenalin war durch seinen Körper geschossen.

„Moin, Chef“, hatte Christian ihn begrüßt und den Wagen gestartet. „Auf nach Midlum.“

Da niemand gewusst hatte, was genau geschehen war, war die kurze Fahrt über Wrixum und Oevenum schweigend verlaufen. Der grau verhangene Himmel hatte zu der angespannten Stimmung im Auto gepasst. Nach dem Jahrhundertsommer, der bis Ende September angedauert hatte, war Hark fast froh über die abgekühlten Temperaturen. Ein strammer Wind aus dem Westen blies die Wolken über die Insel. Für ihn das typische Inselwetter. Gerne hätte er sich jetzt, bekleidet mit dicker Jacke, Mütze und Gummistiefeln, bei einem ausgiebigen Strandspaziergang ordentlich durchpusten lassen. Aber er hatte geahnt, dass daraus heute nichts werden würde.

Der Rettungswagen parkte mit Blaulicht vor dem großen Stallgebäude. Die beiden Rettungssanitäter standen daneben und blickten ihnen stumm entgegen. Eine Frau saß zusammengesunken auf einer Bank, neben sich ein junges Mädchen, das ihr immer wieder über den Rücken strich.

„Moin“, begrüßte Hark die Anwesenden. „Was ist los? Wo ist Herr Mommensen?“

Einer der Sanitäter zuckte bedrückt mit den Schultern. „Im Stall. Er scheint tot zu sein. Die Zuchtbullen sind wohl aus ihrer Box ausgebrochen und haben ihn totgetrampelt. Sein Sohn Klaas ist mit dem Tierarzt und zwei Nachbarn im Stall, seine Frau Anne sitzt dort drüben. Wir haben ihr ein Beruhigungsmittel gegeben“, murmelte er leise. „Dr. Jannen betäubt gerade den noch frei herumlaufenden Bullen. Sobald das Medikament wirkt und alle Tiere eingeschlossen sind, gehen wir rein.“

In diesem Moment stürmte ein kräftiger Mann in den Dreißigern aus dem Stall. „Sie können jetzt kommen!“, schrie er. „Schnell, beeilen Sie sich!“

Die Sanitäter griffen sofort nach ihren schweren Taschen und liefen los. Als sich auch die beiden Frauen erheben wollten, wurde die Stimme des Mannes ruhiger. „Fenja, bleib bitte mit meiner Mutter hier draußen. Ich bin gleich zurück.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand wieder hinter der schweren Holztür. Von Hark und seinen Kollegen hatte er keinerlei Notiz genommen.

„Ihr wartet hier“, raunte Hark Tom und Christian zu. „Ich verschaffe mir mal einen Überblick.“

Im Stall war es mittlerweile hell. Aufmerksam sah Hark sich um. Die Kühe in den Boxen an der langen und geräumigen Stallgasse waren unruhig und stapften hin und her. Sie müssen dringend gemolken werden, dachte er mitleidig. Er kannte sich in der Milchviehwirtschaft nicht aus, konnte sich aber vorstellen, dass es für eine Kuh unangenehm sein musste, mit einem übervollen Euter herumzulaufen.

Am Ende der Stallgasse knieten die Rettungssanitäter neben einem dunklen Bündel auf dem Boden und führten Untersuchungen durch. Fünf Männer standen stumm daneben.

Langsam ging Hark auf sie zu. Er war noch nicht ganz bei der Gruppe angekommen, als einer der Sanitäter aufblickte und den Kopf schüttelte. „Es tut mir sehr leid“, sagte er in Richtung des jungen Mannes, „aber wir können nichts mehr für Ihren Vater tun.“

 

Die Rettungssanitäter hatten eine Decke über dem Toten ausgebreitet. Der Anblick, der sich ihnen allen geboten hatte, war schlimm gewesen. Die Bullen mussten den Landwirt wie einen Spielball benutzt haben. Heiko Mommensen lag auf dem Rücken, sein blaues Sweatshirt war nach oben gerutscht und erlaubte den Blick auf ein großflächiges Hämatom auf der linken Hüfte. An den Unterarmen waren blutige Abschürfungen zu erkennen. Vielleicht hatte das Tier ihn über den Stallboden geschleift, und er hatte verzweifelt versucht, sich an irgendetwas festzuhalten und hochzuziehen, um dem Angriff nicht mehr ganz so wehrlos ausgeliefert zu sein. Augenscheinlich ohne Erfolg. Am schlimmsten aber war der durch den eng anliegenden Pullover deutlich zu erkennende eingedrückte Brustkorb. Es schien, als hätte der Bulle sich mit seinem Gewicht von ungefähr tausend Kilogramm auf ihn gestützt.

Hark hatte sich vorgestellt und darum gebeten, dass alle den Stall verließen. Tom und Christian würden neben der Leiche Wache halten und Andreas Schneider, den Inselbestatter, informieren.

Als er mit den fünf Männern zurück ins Tageslicht trat, sahen ihnen Anne Mommensen und Fenja mit angstvollen Blicken entgegen. Klaas trat stumm zu seiner Mutter und zog sie in seine Arme. Ihr Rücken bebte, aber außer einem leisen Schluchzen war kein Laut zu vernehmen.

Nach einer Weile lösten sich Mutter und Sohn voneinander. „Ich bin Klaas Mommensen.“ Der junge Mann streckte Hark die Hand entgegen und kniff die Augen zusammen, um die Tränen zurückzudrängen. „Das sind meine Mutter Anne und unsere Auszubildende Fenja.“

„Mein aufrichtiges Beileid“, sagte Hark mit einem Kloß im Hals. „Es tut mir furchtbar leid.“ Er wandte sich an die anderen vier Männer. „Und wer sind Sie?“

„Unser Tierarzt Dr. Jannen und unsere Nachbarn Meik Schwattke und Timo Hellmann“, antwortete Klaas mit leiser, aber gefasster Stimme. „Sie haben Dr. Jannen und mir geholfen, den betäubten Bullen zurück in seine Box zu wuchten. Und das ist unser anderer Auszubildender Tobi. Er hat meinen Vater heute Morgen gefunden.“

Hark räusperte sich. „Kann ich Ihnen trotz dieses Schocks ein paar Fragen stellen?“

Anne starrte ihn stumm an. Lautlose Tränen liefen ihre Wangen herunter. Ihre blonden Haare waren zu einem lockeren Dutt hochgesteckt und ihr Gesicht kaum geschminkt. Verwundert bemerkte Hark den großen Bluterguss unter ihrem Auge. Er nahm sich vor, später in Erfahrung zu bringen, wie es dazu gekommen war. Jetzt war nicht der richtige Moment für derartige Fragen.

Fenja hatte wieder Annes Hand ergriffen. Sie war ein zierliches Mädchen mit kurz geschnittenen braunen Haaren und wachen dunklen Augen, dem man nicht ansah, dass es sein Geld im Leben mit harter körperlicher Arbeit verdienen wollte. Ihre Gesichtszüge waren fein, und sie blickte voller Mitgefühl zu Anne.

„Selbstverständlich.“ Auch Klaas hatte erneut Tränen in den Augen, aber er wischte sie mit einer schnellen Geste beiseite. „Was wollen Sie wissen?“

„Was ist heute Morgen geschehen?“

Mit stockender Stimme berichtete Klaas Mommensen, dass er wegen des Geburtstages seines Sohnes erst gegen 6 Uhr auf den Hof gekommen war. Er hatte Tobi zitternd vor dem Stall vorgefunden und ein paar Minuten gebraucht, bis er verstanden hatte, was wohl geschehen war. Seine Mutter, die zu der Zeit wie jeden Morgen das Frühstück vorbereitet hatte, hatte den Aufruhr auf dem Hof mitbekommen und war mit Fenja nach draußen geeilt. Nachdem sie verstanden hatte, was geschehen war, hatte sie in den Stall stürmen wollen, um bei ihrem Mann zu sein. Nur mit Mühe war es Klaas gelungen, sie davon abzuhalten. Nachdem er seinen Bruder, einen Tierarzt, nicht erreicht hatte, hatte er Fenja gebeten, Dr. Jannen und den Rettungsdienst zu verständigen.

„Können Sie sich vorstellen, wie es zu diesem tragischen Vorfall gekommen ist?“

Klaas schüttelte langsam den Kopf. „Wegen Ennos Geburtstag war alles anders heute Morgen“, erwiderte er langsam. „Meine Frau und ich wollten mit ihm vor der Arbeit Bescherung machen. Unsere Kinder sind Frühaufsteher, sie schlafen nie länger als bis halb sechs. Tobi war so nett und hat meinen Melkdienst übernommen.“

„Ich war leider etwas zu spät und bin davon ausgegangen, dass Heiko bereits mit dem Melken begonnen hatte“, erklärte Tobi mit leiser Stimme. „Aber im Stall war es dunkel, und als ich Licht machen wollte, ging es nicht.“

„Vielleicht sind die Sicherungen rausgeflogen“, mutmaßte Hark.

„Das sind sie in der Tat, ich habe schon nachgesehen und sie wieder eingeschaltet“, sagte Klaas. „Das ist hier aber noch nie passiert. Außerdem lag das Gatter der Bullen am Boden.“

„Haben Sie dafür eine Erklärung?“ Hark sah ihn ernst an.

„Nein, gar nicht. Wir achten penibel darauf, dass es immer sicher verschlossen ist. Unsere Zuchtbullen sind keine bösen Tiere, aber trotzdem können sie für Menschen äußerst gefährlich werden. An unserem Hof fahren so viele Touristen mit ihren Fahrrädern vorbei, es wäre nicht auszudenken, was passieren könnte, wenn sie auf unsere Tiere treffen würden.“

„Verstehe. Haben Sie erst einmal vielen Dank. Wir schauen uns jetzt noch einmal genauer im Stall um. Vielleicht wollen Sie mit Ihrer Mutter ins Haus gehen? Wir kommen dann gleich nach.“

„Ich will zu meinem Mann, wir dürfen ihn nicht allein lassen.“ Anne erhob sich mühsam.

„Das halte ich für keine gute Idee“, widersprach Hark schnell. „Meine Beamten passen auf ihn auf, und wir sagen Ihnen Bescheid, wenn er abgeholt wird. Dann können Sie sich von ihm verabschieden.“ Bittend sah er zu Klaas hinüber, der sofort verstand.

„Das klingt vernünftig, so machen wir es“, sagte er mit weicher, aber unnachgiebiger Stimme, hakte seine Mutter unter und stützte sie, als sie langsam, zusammen mit Tobi und Fenja, in Richtung des Hauses gingen. Anne drehte sich zwar noch einige Male um, ließ sich aber von ihrem Sohn ohne weiteren Widerstand wegführen.

Beklommen blickte Hark ihnen hinterher. „Was denken Sie über diese Sache?“, fragte er dann die beiden Bauern und den Tierarzt, die noch immer unschlüssig im Hof standen.

„Ich kann leider nicht viel beitragen“, erwiderte Dr. Jannen, dem der Schock über die Ereignisse noch deutlich ins Gesicht geschrieben stand. „Als ich ankam, stand der Bulle ruhig in der Stallgasse. Es war kein Problem, ihn zu betäuben. Was vorher geschehen ist, weiß ich nicht, es ist einfach grauenvoll. Ich kann mich an keinen derart tragischen Fall auf Föhr erinnern.“

„Ich auch nicht, aber hier ist etwas nicht ganz koscher“, meldete sich Meik, ein kräftiger Mann Anfang sechzig, zu Wort. „Die Bullen haben das Gatter nicht allein aufbekommen. Der Eisenstift, der eingeschoben wird, um es zu schließen, war herausgehoben, genau so wie man es macht, wenn man es öffnet. Auch wenn das jetzt erschütternd ist: Da hat jemand vergessen, das Tor zu schließen.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass es vergessen wurde“, widersprach Timo. Er war jünger als Meik und hatte ein wettergegerbtes, tief gebräuntes Gesicht. „Du kennst doch Heiko. Man kann ja einiges über ihn sagen, aber fahrlässig im Umgang mit den Tieren hat er sich nie verhalten. Und Klaas auch nicht.“

„Was ist mit den beiden Auszubildenden?“ Hark sah ihn fragend an.

Timo zuckte mit den Schultern. „Fenja ist ein toughes Mädchen. Ihr erstes Lehrjahr war sie bei einem Freund von mir in Niebüll, und der hätte sie am liebsten behalten, aber normalerweise wird ja während der Ausbildung nach jedem Jahr gewechselt. Das Mädel weiß, was es tut. Und von Tobi hat Anne auch immer gut gesprochen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass einem von den beiden ein so schlimmer Fehler unterlaufen ist.“

Ein Kribbeln machte sich in Hark breit. Sollte diese Vermutung zutreffen, könnte jemand das Gatter mit Absicht geöffnet haben. „Wir brauchen Ihre Fingerabdrücke, mein Kollege wird sich gleich darum kümmern. Haben Sie alle das Gatter angefasst, um es zu schließen?“

„Nein, nur ich“, entgegnete Meik langsam. „Heiko war ein Mistkerl, aber so etwas hat selbst er nicht verdient“, fügte er leise hinzu.

Hark hatte diesen letzten Satz gedanklich notiert und würde später darauf zurückkommen. Jetzt musste er sich erst einmal selbst einen Eindruck im Stall verschaffen, um zu entscheiden, ob es sich hier um einen Fall für die Flensburger Kriminalbeamten handelte. Sein Sohn Nils würde jubeln, wenn Kerrin Iwersen, die für die Kriminalfälle auf Föhr zuständig war, für ein paar Tage auf die Insel käme. Nils hatte bei Kerrins ersten Ermittlungen im Sommer sein Herz an die attraktive und tüchtige Beamtin, die ebenfalls auf Föhr aufgewachsen war, verloren.

„Ich werde mich jetzt drinnen umsehen und mich später bestimmt noch einmal bei Ihnen melden.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Hark von den dreien und ging zurück in den Stall.

„Soll ich in Flensburg anrufen und Kerrin informieren?“ Christian sah ihn gespannt an, nachdem Hark ihn und Tom über die ersten Erkenntnisse informiert hatte. Es war kein Geheimnis, dass er sie bewunderte.

Hark schüttelte unwirsch den Kopf. Von Zeit zu Zeit störte er sich an dem übermäßigen Ehrgeiz des Jüngsten in seiner Truppe, und heute war so ein Tag. „Einen Schritt nach dem anderen, mien Jung. So weit sind wir noch nicht. Und außerdem ist das Chefsache.“

Langsam liefen die drei Beamten ans Ende der Stallgasse. Links von ihnen ging es zum Melkstand, rechts war die Box der Bullen. Fünf der sechs Tiere standen am Gatter und beobachteten jede ihrer Bewegungen interessiert, das sechste lag betäubt auf der Seite im Stroh. Was mochte in ihren Köpfen vor sich gehen?, fragte Hark sich unwillkürlich. Spürten sie, was einer oder mehrere von ihnen getan hatten?

Das Gatter war nun ordnungsgemäß verschlossen. Hark besah es sich gründlich, konnte aber nichts Außergewöhnliches feststellen. Meik Schwattke hatte recht: Die Bullen wären nicht in der Lage gewesen, es allein zu öffnen, da musste jemand entweder nachgeholfen oder vergessen haben, es zu schließen.

„Ist das hier ein tragischer Unfall gewesen oder ein kaltblütiges Verbrechen?“ Er sah Tom und Christian an. „Was hätte ein Täter, der die Bullen mit Absicht freilässt, gewollt? Er konnte doch nicht sicher sein, dass sie Heiko Mommensen töten würden. Er hätte auch verletzt überleben können. Oder sich unverletzt retten. Und hätte nicht auch eine andere Person den Stall betreten und in Lebensgefahr geraten können? Klaas oder Tobi? Nach einer sicheren Mordmethode hört sich das für mich nicht an.“ Er fuhr sich durch die Haare. „Vielleicht ein Verrückter, der mal schauen wollte, was passiert?“

„Das kann ich mir nicht vorstellen. Dann doch eher ein furchtbarer Unglücksfall“, schlussfolgerte Tom. Hark schätzte den erfahrenen Kollegen und seine ruhige und besonnene Art. Er war das Gegenstück zu dem jungen Christian, der oftmals übermotiviert handelte, bevor er nachdachte. Aber dann erstaunlich oft richtiglag, wie Hark zugeben musste. Wenn er in den nächsten Jahren ein bisschen mehr Gelassenheit entwickeln würde, könnte ein sehr guter Polizist aus ihm werden. „Auch wenn jetzt alle beteuern, dass sie niemals das Gatter unverschlossen gelassen hätten, kann es trotzdem passiert sein. Fehler zu machen, ist schließlich menschlich.“


3

Klaas Mommensen und seine Mutter saßen stumm am Küchentisch, als Hark eintrat. Fenja hatte ihm geöffnet und blieb unschlüssig an der Tür stehen.

Vor Mutter und Sohn standen zwei Tassen Kaffee, die sie jedoch nicht angerührt hatten. Die große Küche war funktional eingerichtet, Dekoartikel gab es nicht.

„Ich bin über ein paar Ungereimtheiten gestolpert, über die ich mit Ihnen sprechen muss“, begann Hark die Befragung.

„Klar.“ Klaas nickte müde.

„Zunächst eine ganz praktische Frage: Sollen wir uns um jemanden bemühen, der die Kühe melkt?“

„Das machen Tobi und ich“, antwortete Fenja schnell. „Er ist oben in seinem Zimmer, ich sage ihm gleich Bescheid.“ Mit diesen Worten verließ sie fast fluchtartig den Raum, wahrscheinlich froh, der gedrückten Atmosphäre entkommen zu können.

„Wir haben uns ein wenig im Stall umgesehen“, fuhr Hark dann fort. „Das Gatter scheint geöffnet worden zu sein. Die Bullen jedenfalls haben es nicht aufgestoßen. Können Sie sich vorstellen, dass jemand vom Hof vergessen hat, es zu schließen?“

„Niemals“, flüsterte Anne kaum hörbar. „Jeder hier weiß ganz genau, wie gefährlich das sein kann. Auch Fenja und Tobi.“ Sie wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. „Außerdem darf außer meinem Mann und Klaas niemand in die Bullenbox, und für die beiden lege ich meine Hand ins Feuer.“

Klaas nickte. „Mein Vater und ich haben das letzte Mal vor vier Tagen ausgemistet. Das machen wir immer zu zweit und immer mit dem Viehtreiber in Griffweite. Zur Sicherheit. Danach ist das Gatter nicht mehr geöffnet worden.“

„Was ist ein Viehtreiber?“ Hark beugte sich interessiert nach vorn.

„Ein langer Stab, mit dem man einen elektrischen Impuls abgeben kann. Das Tier bekommt also einen Stromschlag“, erklärte Klaas.

„Ist so etwas überhaupt noch zugelassen? Es wird heutzutage doch viel mehr auf das Tierwohl geachtet als früher.“

„Das ist richtig“, gab Klaas zu. „Erlaubt sind Viehtreiber, die sich automatisch nach zwei Sekunden abschalten. Sie werden aber tatsächlich nicht mehr von vielen Bauern genutzt, eher von Viehhändlern und Schlachtunternehmen. Aber mein Großvater ist einmal von einem Bullen angegriffen worden, als mein Vater noch ein Kind war, und seitdem gehört er für unsere Familie dazu. Tierschutz hin oder her. Wir haben noch den alten meines Vaters, der muss bestimmt dreißig Jahre alt sein. Allerdings kann ich mich an kein einziges Mal erinnern, dass wir ihn benutzt hätten. Er ist eher eine psychische Stütze, zur Abwehr der Tiere nehmen wir die Forke, die wir beim Ausmisten eh in der Hand halten.“

„Und wo befindet sich dieses Gerät jetzt? Ich würde mir das gerne einmal ansehen.“

„Er hängt an einem Haken direkt vor dem Bullenstall, damit er im Notfall immer in Griffweite ist.“

„Hätte Ihr Vater einen Grund haben können, den Stall der Bullen heute Morgen zu betreten?“

Klaas und Anne schüttelten beide den Kopf. „Er hätte das nicht allein getan. Es war eine unumstößliche Regel bei uns auf dem Hof, dass wir in diese Box nur zu zweit gehen oder zumindest jemand in Rufweite ist“, entgegnete Anne mit brüchiger Stimme. „Heiko wusste, wie gefährlich es werden konnte, und wäre das Risiko nicht eingegangen.“

„Verstehe. Wenn wir einmal davon ausgehen, dass jemand anderes, aus welchem Grund auch immer, das Gatter geöffnet hat“, überlegte Hark weiter, „würden die Bullen ihre Box verlassen?“

Klaas wiegte den Kopf. „Nicht unbedingt sofort. Aber irgendwann würde ihre Neugier sie bestimmt raustreiben.“

„Hätte heute Morgen auch jemand anderes als Erster im Stall sein können?“

„Ich nicht“, erwiderte Anne leise. „Ich stehe erst kurz vor 6 Uhr auf und bereite das Frühstück für alle vor. Wir haben uns die Arbeit auf dem Hof aufgeteilt, und das hat immer gut funktioniert, weil …“ Ihre Stimme brach.

„Meine Mutter ist für die Aufzucht der Kälber und den Haushalt zuständig, mein Vater und ich für die Kühe und die landwirtschaftlichen Flächen. Und unsere Auszubildenden müssen überall ordentlich mit anpacken“, sprang Klaas seiner Mutter bei. „Theoretisch hätte ich früher da sein können, weil wir zusammen melken. Aber praktisch fängt er immer vor mir an. Tobi hätte heute natürlich ebenfalls vor ihm im Stall eintreffen können, aber auch das ist schwer vorstellbar, zumal er gestern bis weit nach Mitternacht gearbeitet hat.“

„Werden Sie den Hof eines Tages übernehmen?“, wechselte Hark das Thema.

Klaas nickte. „Ich bin der Älteste und der Einzige, der das will. Landwirt zu sein, ist heutzutage kein Zuckerschlecken, aber ich könnte mir nichts anderes vorstellen.“

„Was ist mit Ihren Geschwistern?“

„Sina betreibt zusammen mit ihrem Mann den Ponyhof unserer Familie bei Nieblum. Olaf ist erst im Sommer nach Abschluss seines Studiums in Kiel als Tierarzt zurück auf die Insel gekommen und arbeitet in einer Praxis in Süderende. Und unsere jüngste Schwester Nele ist eh nie infrage gekommen. Sie hat jahrelang als Aussteigerin auf La Gomera gelebt und ist erst seit wenigen Wochen wieder auf Föhr.“

„Zum Glück wird Klaas’ Frau Antonia ihn dabei unterstützen“, ergänzte Anne, die sich wieder gefangen hatte. „Allein kann man so einen Hof nicht betreiben, da muss die Familie schon mitziehen.“

„Wir wohnen mit unseren kleinen Jungs in einer lütten Reetdachkate in Midlum, da habe ich es mit dem Rad nicht weit.“

Hark nickte. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Handelte es sich bei dem Tod von Heiko Mommensen um einen tragischen Unglücksfall oder um eine vorsätzliche Tat? Sollte er Kerrin anrufen? Auch wenn das Gatter nicht absichtlich geöffnet worden war, konnte es sich um eine fahrlässige Tötung handeln. Oder würden die Flensburger ihn auslachen? „Können Sie mir im Stall den Viehtreiber zeigen?“, fragte er Klaas. Vielleicht würde ihn das bei der Beurteilung weiterbringen. Sollte er nicht am Haken hängen, sondern im Bullenstall liegen, könnte das dafürsprechen, dass Heiko Mommensen allen Beteuerungen seiner Familie zum Trotz doch allein in die Box gegangen war.

„Klar.“ Der junge Mann stand auf. „Ich bin gleich zurück“, versprach er Anne, die ihn dankbar ansah. Hark konnte verstehen, dass sie im Moment nicht gerne allein blieb.

 

Im Stall war es nun nicht mehr ruhig. Die Gatter der Kuhboxen waren geöffnet, und die Tiere drängten sich in Richtung des Melkstandes. Tom und Christian standen schützend vor der Leiche von Heiko Mommensen und sorgten dafür, dass keine der Kühe ihm zu nahe kam.

„Sie kommen hier vorn rein, gehen durch, werden gemolken, verlassen den Stand danach auf der anderen Seite und können dann entweder von hinten zurück in ihre Boxen oder durch eine offene Stalltür auf unsere Hausweide laufen. Viele machen davon allerdings keinen Gebrauch, sondern bleiben lieber im gemütlichen Stall und lassen sich das Futter vor die Nase legen“, erklärte Klaas auf dem Weg zur Bullenbox. Hark bemerkte, dass er sich angestrengt bemühte, nicht zu dem zugedeckten Bündel auf dem Boden am Ende des Stalles zu blicken. Vor der Box blieb er stehen und schaute sich verdutzt um. „Das verstehe ich nicht“, sagte er langsam und zeigte auf einen leeren Haken an der Wand. „Hier sollte er sein.“ Er sah sich suchend um, entdeckte aber nichts. „Fenja, Tobi, wisst ihr, wo der Viehtreiber ist?“, schrie er rüber in den Melkstand, in dem die Auszubildenden gerade dabei waren, die Kühe zu melken.

„Nee, keine Ahnung!“, brüllte Fenja zurück.

„Genommen haben wir ihn nicht, warum auch?“, rief Tobi hinterher.

„Das ist merkwürdig.“ Hark schaute Klaas prüfend an. „Ich würde gerne sichergehen, dass er nicht in der Bullenbox liegt.“

„Tja.“ Klaas fuhr sich wenig begeistert durch die Haare. „Allein gehe ich da heute bestimmt nicht rein, aber wir müssten ihn ja eigentlich auch von außen sehen können.“ Er trat in die angrenzende Kuhbox und ließ seinen Blick schweifen. Hark kletterte auf das Gatter und tat das Gleiche von der anderen Seite aus. Ohne Erfolg. Kein langer Stab war zu entdecken.

Hark seufzte. Der Täter könnte den Viehtreiber benutzt haben, um die Bullen aus der Box zu treiben, und ihn dann mitgenommen haben, um keine Spuren zu hinterlassen. Immer mehr Indizien sprachen für eine vorsätzliche Tat. Ihm wurde plötzlich heiß. Wenn es tatsächlich so wäre, dann wäre dies hier ein Tatort und sie müssten ihn absperren, um eventuelle Spuren nicht zu zerstören. Aber gleichzeitig mussten die Kühe auch von ihrer Milch befreit werden. „Können Sie sich vorstellen, dass jemand absichtlich die Bullen aus ihrem Stall getrieben hat, um Ihren Vater zu verletzen oder gar zu töten?“, fragte er dann.

Klaas sah ihn erschüttert an. „Sie meinen, dass jemand ihn umbringen wollte?“

Hark nickte. „Es sind zu viele Ungereimtheiten, als dass wir eindeutig von einem Unfall ausgehen könnten. Das geöffnete Gatter, der verschwundene Viehtreiber, die herausgeflogenen Sicherungen. Ich werde meine Kollegen in Flensburg anrufen, die sollen entscheiden, ob sie auf die Insel kommen.“

Als er die Nummer von Kerrin wählte, machte sich plötzlich trotz der schrecklichen Ereignisse dieses frühen Morgens ein erfreulicher Gedanke in ihm breit. Es zeichnete sich immer mehr ab, dass er mit ein wenig Glück heute noch Elena Bruckner, die Rechtsmedizinerin aus Kiel, sehen würde.

Stefanie Rogge

Über Stefanie Rogge

Biografie

Stefanie Rogge, Jahrgang 1973, ist in Kiel aufgewachsen und hat als Kind und Jugendliche alle Ferien auf Föhr verbracht. Die studierte Juristin arbeitet seit einigen Jahren in einer Anwaltskanzlei und widmet sich in jeder freien Minute dem Schreiben. Mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern lebt sie...

Pressestimmen
Ruhr Nachrichten

„Spannend und unterhaltsam von der ersten Seite an und mit viel Föhrer Lokalkolorit. Beste Urlaubslektüre – nicht nur für alle Fans der nordfriesischen Insel.“

Neue Presse

„›Seenebel‹ ist ein gut lesbarer Krimi mit Föhrfeeling, der auch einen Blick auf die besonderen Probleme der Insulaner wagt.“

magazin-koellefornia.com

„Hochspannung auf der Urlaubsinsel. (…) Dieser Roman ist sehr lesenswert und macht seiner Bezeichnung als ›Föhr-Krimi‹ alle Ehre.“

buechereien.ekir.de

„Unterhaltsames Lesefutter für Schiet-Wetter-Tage, das Lust auf einen Urlaub auf einer friesischen Insel macht.“

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