

Segeljungs Segeljungs - eBook-Ausgabe
Zwei Freunde, drei Ozeane und null Ahnung
— Inspirierendes und sympathisches Segelabenteuer, dem mehr als 100.000 begeisterte Follower auf YouTube und Instagram folgtenSegeljungs — Inhalt
Einmal mit dem Wind um die Welt
5 Jahre, 40.000 Seemeilen und 38 Länder – einmal mit dem Wind um die Welt
Ohne Segelschein und Erfahrung über die großen Weltmeere? Vincent Goymann und sein Schulfreund Tim Hund haben es gemacht: Nach dem Abitur stachen sie 2018 von Fehmarn aus in See - und brachten sich unterwegs vom Navigieren und Nachtfahren, von Hafenmanövern bis hin zum Reparieren kaputter Segel alles Wichtige bei.
„Eine Reise voller Abenteuer, mit ihrem Boot als Zuhause … zu den aufregendsten und schönsten Orten der Erde.“ Terra X, ZDF
Über 100.000 Menschen haben die ungewöhnliche und mutige Weltreise von den "Segeljungs" Vincent Goymann und Tim Hund auf YouTube und Instagram verfolgt. Nun erzählt Vincent in seinem Buch die Geschichten hinter den Bildern auf ihren Social-Media-Kanälen. Und berichtet von schweren Gewittern und vermeintlichen Piraten; vom Tauchen mit Walen, von glutroten Sonnenaufgängen, einsamen Inseln und Korallenriffen.
„Mit ihrem Abenteuer haben sie den Traum vieler Menschen gelebt: einmal die Welt auf eigene Faust erleben!“ Zervakis & Opdenhövel, ProSieben
Ein zutiefst sympathischer Abenteuerbericht über Freundschaft und Zusammenhalt, Zuversicht und die Verwirklichung eines gewaltigen Traums.
„Dass den Segeljungs die Sympathien zuflogen, mag an ihrem jugendlichen Übermut liegen, aber auch an ihrer authentischen Art zu erzählen.“ Süddeutsche Zeitung
Leseprobe zu „Segeljungs“
Gefangen in tropischen Gewittern
21. Juni 2020, im Ostpazifik vor der Westküste Costa Ricas
Ich sitze im Cockpit und starre abwechselnd ins dunkle Nichts und auf die Navigationsinstrumente vor mir. Tim liegt unten in seiner Koje und schläft. Der Wind ist sehr schwach und die See ruhig. Wir pflügen nur langsam durchs Wasser. Kein Mond, kein Stern oder Licht eines anderen Schiffs ist zu erkennen. Ich drehe mich nach hinten, um meine Augen vom grellen Schein des Kartenplotters zu entwöhnen, aber auch nachdem sich meine Pupillen geweitet haben, bleibt alles [...]
Gefangen in tropischen Gewittern
21. Juni 2020, im Ostpazifik vor der Westküste Costa Ricas
Ich sitze im Cockpit und starre abwechselnd ins dunkle Nichts und auf die Navigationsinstrumente vor mir. Tim liegt unten in seiner Koje und schläft. Der Wind ist sehr schwach und die See ruhig. Wir pflügen nur langsam durchs Wasser. Kein Mond, kein Stern oder Licht eines anderen Schiffs ist zu erkennen. Ich drehe mich nach hinten, um meine Augen vom grellen Schein des Kartenplotters zu entwöhnen, aber auch nachdem sich meine Pupillen geweitet haben, bleibt alles schwarz. So schwarz, dass es wirkt, als wäre hinter der Bordwand nichts. So schwarz, als hätte ich meine Fähigkeit zu sehen verloren.
Schon unzählige Nächte haben Tim und ich auf See verbracht, und ich kann mich nicht erinnern, dass die Dunkelheit jemals derart undurchdringlich war. Die Küste ist mehr als fünfzig Seemeilen entfernt, und so bleibt der Kartenplotter meine einzige Orientierung. Er verrät mir unsere GPS-Position, unsere Geschwindigkeit und die Richtung, in die wir uns bewegen. Mit guten drei Knoten segeln wir entlang der Küste Mittelamerikas Richtung Nordwest.
Knoten ist die gängige Geschwindigkeitseinheit auf See. Ein Knoten entspricht einer Seemeile pro Stunde (circa 1,89 Kilometer pro Stunde).
Unser Ziel ist die südlichste Spitze des mexikanischen Bundesstaates Baja California Sur. Mexiko hatten wir gar nicht ansteuern wollen. Das Land liegt nicht auf unserer geplanten Route um den Globus, aber das eigentliche Vorhaben, von Panama aus zu den polynesischen Inseln im Südpazifik überzusetzen, erledigte sich durch Corona.
Dies ist die vierte Nacht in Folge auf See, und in jeder konnten wir Gewitter in der Ferne beobachten. Hier, in der Nähe des Äquators, hat die Luft aufgrund der Temperaturen eine hohe Kapazität, Wasser zu speichern. In den heißen Stunden des Tages bauen sich große Kumuluswolken auf. Abends, wenn die Sonne untergeht, kühlt es ab, und die Wolken ziehen sich zu noch größeren Formationen zusammen. Diese Bataillone schrauben sich kilometerweit in den Himmel hinauf. Nachts erwachen sie zum Leben und setzen ihre Energie frei.
Für einen kurzen Augenblick wird die Dunkelheit durchbrochen. Ein Blitz bildet sich am Horizont ab und wird wenige Sekunden später von einem tief grummelnden Donner untermalt. Manche der gezackten Lichtpfeile scheinen gar nicht im Wasser anzukommen. Sie wandern sekundenlang über den Himmel und bilden dabei viele Verästelungen. Andere hingegen krachen ohne große Umwege senkrecht in den Ozean.
Mittlerweile bin ich mir sicher, dass die Einschläge näher kommen, und zwar von allen Seiten. Tim ist durch die Stroboskopshow und das laute Donnern aufgewacht. Er kommt aus dem Niedergang und blickt in den Himmel. „Was geht denn hier ab?!“, fragt er.
„Keine Ahnung, Mann … aber die Blitze werden definitiv mehr, und sie kommen näher.“
Tim setzt sich zu mir ins Cockpit, und wir starren beide in die Nacht.
„Was passiert, wenn einer hier einschlägt? Theoretisch ist die Arrya ja ein faradayscher Käfig, oder?“, frage ich.
„Ich weiß es auch nicht … aber gut wäre das mit Sicherheit nicht.“
„Erinnerst du dich noch an den Norweger Thomas aus Panama, den wir damals mit der Eira und den anderen Jungs getroffen haben? Der hatte erzählt, ein Boot kann nicht vom Blitz getroffen werden, solange es in Bewegung ist. Weil die Ladung von unten kommt … oder so …“
„Ja, ich erinnere mich“, antwortet Tim.
Weil der Wind kontinuierlich immer schwächer wird, dümpeln wir nur sehr langsam durch die Gegend. Der Plotter zeigt zwar immer noch fast drei Knoten an, aber es fühlt sich so an, als ob wir nicht vom Fleck kämen.
Wieder erleuchtet ein Blitz den Himmel. Ich zähle: „Eins, zwei, dr…“ Länger dauert es nicht, bis der Donner folgt. „Nicht mal drei Sekunden … das war richtig nah! Fuck, Mann!“
„Sollen wir den Motor anmachen? Dann sind wir schneller, und wenn das, was Thomas damals gesagt hat, stimmt, vielleicht auch sicherer …“, meint Tim.
„Ja, lass machen.“
Wir folgen Thomas’ Rat, schmeißen den Motor an, und die Arrya beschleunigt wieder auf fünf bis sechs Knoten. Einen eindeutigen Ausweg gibt es nicht, denn es blitzt in allen Himmelsrichtungen. Trotzdem fühlt es sich gut an, etwas schneller unterwegs zu sein, und ich klammere mich an den Gedanken, dass jetzt kein Blitz mehr einschlagen kann.
Ich habe Angst. Es ist wohl das erste Mal, dass ich wirklich um mein Leben fürchte, und Tim spürt diese Angst auch. Wir sitzen zusammen im Cockpit und schweigen. Immer wenn es wieder aufblitzt, zucke ich zusammen. Für diesen kurzen Augenblick ist alles erleuchtet, und wir können die grauen Wolkengebilde über uns und die spiegelnde Wasseroberfläche darunter erkennen. Irgendwie passt das nicht zusammen: die friedliche See, darüber dieser bedrohliche Himmel und wir irgendwo mittendrin.
Tim und ich blicken nach Steuerbord, als es plötzlich einen gewaltigen Knall gibt. KRAAACHHH! Das Geräusch ist ohrenbetäubend laut, so als wäre eine Bombe neben uns explodiert. Es folgt ein Knistern. Ich spüre die Hitze im Gesicht, und im gleichen Moment wird alles weiß.
Mit Steuerbord wird, vom Heck Richtung Bug, die rechte Seite eines Schiffs bezeichnet. Die linke Seite mit Backbord.
Die Idee wird geboren
Sommerferien 2015, Bad Tölz im Voralpenland
Tim, Henrik, Tom, Michi und ich packten unsere Sachen, um einmal durch Deutschland zu fahren. Mit dem Fahrrad von Bad Tölz nach Cuxhaven. Ich war davor noch nie wirklich in Norddeutschland, geschweige denn an der Nordsee gewesen.
Wer die Idee hatte, weiß ich nicht mehr genau, ich glaube, Henrik war es. Aber ich weiß heute sicher, dass diese Reise den Grundstein für Tims und meinen weiteren Weg legte.
Wir waren fünf Schulfreunde zwischen fünfzehn und siebzehn Jahren, wollten ein Abenteuer erleben, und dafür zogen wir los, mit ebenden Mitteln, die uns zur Verfügung standen: Fahrrad, ein paar alte Ortlieb-Taschen von Papa, Schlafsack, Isomatte und Zelt. An der Isarbrücke in Bad Tölz verabschiedeten wir uns von unseren Eltern und radelten los. Tim und Henrik waren eindeutig die Fittesten auf dem Rad, und so gaben sie das Tempo vor. Über 110 Kilometer legten wir am ersten Tag zurück – ich war fix und fertig, als wir abends in der Jugendherberge, die wir für die erste Nacht gebucht hatten, ankamen. Bis auf einen Pausentag hielten wir dieses Tempo von um die hundert Kilometer pro Tag durch. Deutschland Richtung Norden ist flach, fiel mir auf. Seit dem Aufbruch wurde es landschaftlich immer monotoner. Bis auf ein paar Hügel in den Mittelgebirgen erinnerte mich nichts an die bergige Vielfalt bei uns zu Hause. Ich war erstaunt, wie wenige dieser Landschaften ich kannte. Und hatte das Gefühl, mehr kennen zu sollen von dem Land, in dem ich aufgewachsen war.
Umso gelegener kam mir diese Reise, und wir erlebten eine Menge, während wir zehn Tage lang als Bikepacker unterwegs waren. Der Begriff war damals noch nicht so präsent, aber ein bisschen Inspiration im Internet und auf YouTube gab es durchaus. Diese Fahrradtour durch Deutschland in den Sommerferien war die erste Reise, die wir als Freunde erlebten und dokumentierten. Henrik hatte einen alten Camcorder von seinem Vater mitgenommen. Das aus den Aufnahmen entstandene Video ist noch heute der erste Film auf unserem YouTube-Kanal „Segeljungs“, der damals noch „Jungs“ hieß.
Auf diese erste Radtour folgte eine nächste im Jahr darauf, 2016. Die Distanz von guten tausend Kilometern war ähnlich wie im Jahr zuvor, aber diesmal standen deutlich mehr Höhenmeter an (um die 20 000). Wir radelten von Stavanger nach Trondheim durchs wunderschöne Norwegen. Eigentlich wollten wir nach Chile. Warum ausgerechnet Chile? Keine Ahnung, aber was ich noch weiß, ist, dass die hohen Flugticketpreise und die Sorge und Skepsis unserer Eltern diesen ersten Plan dann doch ein wenig schwächeln ließen. Zwar wurde es nicht Südamerika, aber wieder brachen wir zu fünft auf, ohne detaillierten Plan, diesmal immerhin in ein fremdes Land. Es regnete an 17 von 23 Fahrtagen. Es war kalt, nass und fantastisch. Ich liebte diese Wochen. Jeder Tag war anders, ich war umgeben von meinen besten Freunden, und wir bereisten Skandinavien. Mit unseren Rädern fuhren wir durch die atemberaubenden Landschaften Norwegens, entlang der blauen Fjorde, über hohe Berge und durch grüne Täler – und wir sahen sogar Nordlichter, obwohl es August war! Vier Wochen waren wir insgesamt unterwegs, und wir hatten die beste Zeit!
Im Jahr darauf, 2017, ging es aufs Wasser. Wir reisten zunächst mit ein paar aufblasbaren Kajaks im Gepäck 23 Stunden per FlixBus nach Barcelona. Von dort aus weiter mit öffentlichen Verkehrsmitteln und am Ende zu Fuß zum Startpunkt des Trips – irgendwo in der spanischen Pampa.
Die Idee: Wir wollten einen Fluss durch die Pyrenäen bis ans Meer runterfahren. Unsere Informationen zu diesem Fluss: Google-Maps-Satellitenbilder. Nach einigen Startschwierigkeiten, weil der Fluss deutlich weniger Wasser führte als erwartet, paddelten wir drei Wochen den Flusslauf hinunter. Wir durchquerten Stauseen, kletterten mitsamt den Booten und dem Gepäck Staumauern hinunter und legten über 200 Kilometer zurück.
Ohne große Planung im Vorhinein erlebten wir wieder ein einzigartiges Abenteuer. Mit wenig Geld, wenigen Erwartungen, aber einer gesunden Portion Selbstbewusstsein. Ganz nach dem Motto „Das klappt schon irgendwie“.
Diese ersten Reisen legten den Grundstein für einen gemeinsamen Traum: nach der Schulzeit ein nächstes, diesmal wirklich großes Abenteuer erleben.
Januar 2018, zu Hause bei Tom
Eines Abends sitzen wir alle zusammen bei Tom. Wir überlegen, wohin die Reise gehen soll und, vor allem, wie … Wir sind alle im Abschlussjahr, und in ein paar Monaten haben wir hoffentlich das Abitur geschafft. Keine Schule mehr und ein weißes Blatt Papier. Die große Freiheit.
„Mit dem Fahrrad?“, schlägt Tom vor. Cool, aber wir sind eine große Gruppe, und die Vorstellung, so lange mit dem Fahrrad zu reisen, sagt eigentlich nur Tom und mir wirklich zu. Tim wirft als Vorschlag das Segelboot in die Runde. Er war mal vor einigen Jahren mit seinem Stiefvater im Segelurlaub. „Eine Woche um Sardinien und Korsika“, erzählt er uns. Weder ich noch die anderen vier Jungs waren je segeln.
Trotzdem muss ich direkt an einen Kurzfilm denken, den ich vor nicht allzu langer Zeit auf einem Filmfestival gesehen habe. Es geht um die Geschichte eines Mexikaners, der 1973 an einer Segelregatta um die Welt teilnimmt. Die Crew besteht vorrangig aus seiner Familie und Freunden. Im Gegensatz zu den anderen Teilnehmercrews hat keiner von ihnen Segelerfahrung. Die breite Öffentlichkeit hält sie für verrückt oder sogar lebensmüde. Die Reise wird dann auch keine Spazierfahrt. Sie kämpfen mit vielen Problemen, aber entgegen allen Erwartungen gewinnt die unerfahrene Crew das Rennen um den Globus. Eine großartige Geschichte, die mich sehr beeindruckte.
Tim zeigt uns einige Videos des YouTube-Kanals „Sailing SV Delos“. Die Crew reist mit ihrer Segelyacht Delos schon seit Jahren um die Welt. Sie überqueren nur mit der Kraft des Windes riesige Ozeane und segeln dabei von einem tropischen Paradies zum nächsten.
Wasser ist kein Element, das mir vertraut ist. Henrik, Tom, Michi und Tim auch nicht.
Wir fünf kennen uns aus dem Gymnasium und sind alle rund um Bad Tölz in Oberbayern aufgewachsen. Henrik, Tom und ich lernten uns in der fünften Klasse kennen. Tim und Michi kamen später dazu, und seit unseren ersten Abenteuern und kleinen Reisen in den Sommerferien sind wir eine feste Clique. In den Bergen wandern, Ski fahren oder klettern sind die Aktivitäten, mit denen wir groß geworden sind.
Wenn ich an Familienurlaube in Italien zurückdenke, mochte ich besonders das Salz im Meer nie. Immer kratzte es unangenehm auf der Haut. Wenn ich beim Schnorcheln im Urlaub zu weit rausschwamm und den Boden nicht mehr sehen konnte, wurde mir mulmig. Alles Mögliche könnte da gleich hochschießen, ging es mir durch den Kopf. Ich habe keinerlei Beziehung zu diesem Element, aber um die Welt segeln, das muss ein unglaubliches Abenteuer sein! Ganz allein da draußen auf dem Meer. Die Vorstellung ist beängstigend und zugleich unglaublich aufregend.
Die Idee von einer Reise per Segelboot schlägt nicht nur bei mir ein, und wir beschließen noch am selben Abend: „Das ist es, Jungs. Wir segeln um die Welt.“
Meine Rolle bei den ersten Schritten des Projekts „Weltumseglung“ ist nicht allzu groß. Ich bin in Gedanken sehr mit dem Abitur beschäftigt. Wir sind in der zwölften Klasse, es ist unser Abschlussjahr, und in wenigen Monaten werden wir die finalen Prüfungen schreiben. Unsere Reiseplanung für danach schwirrt mir zwar die ganze Zeit durch den Kopf, aber meine Priorität ist die Schule.
Tim verschreibt sich von uns allen am meisten der Idee und recherchiert viel im Internet zum Thema Fahrtensegeln. Früh steht für uns fest, dass wir eine volle Weltumseglung machen wollen. Eine Weltumseglung ist es dann, wenn man alle Längengrade durchsegelt und mindestens einmal den Äquator überquert hat. Also: Einmal um die ganze Welt, und am Ende sollten sich die Routen wieder kreuzen.
Tim erstellt früh eine mögliche Route. Nach etwas genauerem Hinsehen verwerfen wir diese aber schnell wieder. Er hat sie ostwärts gezeichnet, doch die vorherrschenden Winde nördlich und südlich des Äquators wehen aus östlichen Richtungen. Gegen Wind und Wellen anzusegeln beziehungsweise anzukreuzen ist mühsam. Von Ost nach West um die Welt zu segeln ist deshalb leichter als andersherum. Zumindest auf einer großen Skala kommen Wind und Welle meist von achtern. Mit dem Passatwind im Rücken bietet sich also viel eher diese Richtung für eine Reise um den Globus an.
„Von achtern“ heißt vom Heck des Schiffs ankommend. Wind oder Welle von achtern bedeuten Rückenwind oder Rückenwelle.
Bei den Recherchen stolpert Tim immer wieder über die sogenannte Barfußroute. Sie verläuft entlang der tropischen Breiten über den Atlantischen, Pazifischen und Indischen Ozean, und auf dem Weg liegen zum Beispiel das Karibische Meer oder der südpazifische Raum. Beide Regionen bieten unzählige Inseln, die potenziell angesteuert werden können. Je mehr wir lesen, desto realisierbarer scheint die Reise übers Wasser. Wir wollen uns Zeit nehmen, aber auch nicht open end unterwegs sein. Circa drei Jahre scheinen realistisch, wenn man etwas von den besuchten Orten und Regionen sehen möchte.
Gestartet aus einer bloßen Überlegung und der Frage nach dem geeigneten Fortbewegungsmittel, entwickelt sich schließlich ein echter Plan.
Zuerst erzählen wir unseren Familien und Freunden davon.
Bei einer kleinen Kinovorführung in Bad Tölz haben wir die Möglichkeit, einen Film über unsere Kajakreise in Spanien zu zeigen. Über 200 Leute sind gekommen, und viele Mitschüler, Freunde und Bekannte sitzen im Publikum. Nach dem Film gehen wir nach vorne und verkünden: „Und als Nächstes segeln wir um die Welt.“
Die meisten Reaktionen fallen ähnlich aus: „Das ist viel zu gefährlich, wenn nicht sogar lebensmüde, Jungs.“ – „Was wollt ihr?! Um die Welt segeln, ohne je gesegelt zu sein?“
Wir werden belächelt, und ich glaube, viele halten unsere Ankündigung für ein Hirngespinst. Klar, an den Einschätzungen ist natürlich etwas dran. Ja, wir sind komplette Segelrookies, und ja, so eine Reise über die Weltmeere kann gefährlich werden. Trotzdem sind gerade die, die zu wissen meinen, dass es völlig lebensmüde sei, selbst keine Segler. Sie haben genauso wenig Ahnung davon wie wir. Der einzige Unterschied: Wir sehen das Glas halb voll und nicht halb leer.
Tim erzählt auch seinem älteren Bruder Marian von unserem Plan, und ihm gefällt die Idee. Vielleicht, weil Marian schon früh auf eigenen Beinen stand, als professioneller Kitesurfer einen Bezug zum Wasser hat und weiß, welches Potenzial in Social Media als Finanzierungsmöglichkeit steckt. Uns ist klar, dass wir die Reise nur dann machen können, wenn wir auf dem Weg Geld verdienen. Um ein Boot kaufen zu können, müssen wir uns aber erst mal Geld leihen.
Marian wird zur Stunde null des Projekts unser Investor. Er hat in den letzten Jahren einiges an Geld zusammengespart und ist bereit, den Großteil davon in uns zu investieren. Das Budget: 35 000 bis 40 000 Euro.
Während wir unsere letzten Abiturprüfungen schreiben, durchsuchen wir die Bootsbörsen nach gebrauchten Segelbooten.
Allzu viele Kriterien haben wir nicht. Wir wollen mindestens drei Jahre lang unterwegs sein, auf dem Schiff leben und damit Ozeane überqueren. Dafür brauchen wir ein ausreichend großes Schiff, und sicher sollte es sein. Schön kann, muss aber nicht.
Es gibt nicht viele Segelboote, die infrage kommen. Zumindest nicht auf den Bootsbörsen, die wir durchforsten, aber schließlich findet Tim ein Schiff auf „Kleinanzeigen“, was all unsere Kriterien zu erfüllen scheint.
Eira heißt die 45 Fuß lange Stahlketsch. Eine Ketsch nennt man ein Segelboot mit zwei Masten, wobei der vordere höher ist als der hintere. Die meisten modernen Segelboote besitzen nur einen Mast. Zwei Masten bieten anscheinend etwas mehr Trimmmöglichkeiten, aber die Frage danach, was besser ist, scheint wohl eher eine Glaubensfrage zu sein. Das dunkelblaue Stahlschiff ist vierzehn Meter lang und vier Meter weit an der breitesten Stelle. Das sollte genug Platz für uns alle sein, und Stahlschiffe gelten als sehr robust und deshalb sicher. Außerdem passt die Eira zu unserem Budget und erfüllt damit das wichtigste Kriterium. Sie liegt auf der Insel Fehmarn und soll 38 000 Euro kosten. Gerade so viel, wie Marian uns leihen kann.
16. Juni 2018, auf in Richtung Ostsee
Vor zwei Tagen hatte ich meine letzte Prüfung, und die anderen sind auch durch. Unser Abenteuer soll bald losgehen, aber noch haben wir kein Boot. Die Eckdaten der Eira stimmen, also mieten wir uns kurzerhand einen kleinen Wagen und fahren am frühen Abend los in Richtung Ostsee. Tim, Tom, Henrik, Michi und ich reisen nach Orth auf Fehmarn, um zu sehen, ob die Eira unser schwimmendes Zuhause werden könnte.
Tim, Tom und Michi wechseln sich mit dem Fahren ab. Henrik und ich dürfen nicht, denn wir haben beide noch keinen Führerschein. Mit siebzehn sind wir die Jüngsten aus unserer Truppe.
Wir fahren in der Nacht einmal durch ganz Deutschland und überqueren frühmorgens die Fehmarnsundbrücke. Es dämmert noch nicht mal, als wir den kleinen Hafen erreichen. Orth ist ein beschaulicher Ort im Süden der Insel. Viel erkennt man in der Dunkelheit nicht, aber es scheint, als wären da nur der kleine Hafen und ein paar Häuser drum herum.
Mit dem Eigner ist acht Uhr morgens für die Bootsbesichtigung vereinbart. Wir haben also noch einige Stunden Zeit, und der Plan sieht vor, dass wir unsere mitgenommenen Schlafsäcke und Isomatten nutzen, um nach der Ankunft noch ein wenig zu schlafen. In unserer Euphorie ist aber an Schlaf nicht zu denken. Wir können es nicht mehr abwarten, die Eira zum ersten Mal zu sehen. Wir kennen sie bisher nur von den wenigen Bildern in der Annonce. Der Hafen wirkt nicht sehr groß, da müssten wir sie schnell finden.
Wir schlendern entlang der Hafenmole und laufen vorbei an kleinen Fischer- und Ausflugsbooten. Schließlich erreichen wir die ersten Segelboote. Am Horizont dämmert es langsam, aber es ist immer noch dunkel. Schwierig abzuschätzen, wie lang die Boote sind, an denen wir vorbeilaufen. Die meisten von ihnen sind weiß und damit schnell auszuschließen. Wir halten nach einem dunklen Rumpf Ausschau.
Ich merke mittlerweile die Übermüdung, aber zugleich wird sie übertönt von Aufregung. Dunkelblauer Rumpf, zwei Masten, der hintere kürzer als der vordere. Das muss sie sein! Der kleine weiße Namensschriftzug am Bug bestätigt uns: Eira.
„Das ist sie!“
„Alter, ist die riesig!“, meint Tom.
Das stimmt. Ich hatte vorher keine Vorstellung davon, wie groß das vierzehn Meter lange Schiff wirken würde. Die einzigen Segelboote, die ich in meinem Leben bisher gesehen habe, waren entweder auf Fotos oder in weiter Entfernung. Die Eira, wie sie da direkt vor uns im Wasser liegt, eingereiht zwischen zwei anderen Schiffen, kommt mir gewaltig vor. Fast am Ende des Stegs angekommen, erkennen wir, dass sie definitiv eins der größten Schiffe im ganzen Hafen ist.
„Sollen wir an Bord gehen?“, schlägt einer der Jungs vor. Ich bin eigentlich dagegen, werde aber schnell überstimmt. Na, was solls, ein kurzer Blick an Deck kann nicht schaden. Außerdem bin ich auch gespannt, wie sich das anfühlt, an Deck zu stehen.
Nach kurzem Hin und Her entscheiden wir also, an Bord zu gehen. Wir klettern nacheinander über den Bugkorb. Vorsichtig laufen wir über das Schiff und schauen uns um. Ich blicke hoch zum Mast. „Haha, wie sollen wir das Ding segeln?“, werfe ich den anderen scherzhaft zu, aber ein gewisser Ernst verbirgt sich doch hinter meiner lockeren Bemerkung.
Wir haben alle ein Dauergrinsen im Gesicht, während wir uns umschauen. „Jungs, das ist unser Schiff!“, ruft Tim voller Freude und lacht. Wir alle sind uns in diesem Moment längst sicher: Wenn uns bei der Besichtigung keine großen unerwarteten Mängel auffallen, dann kaufen wir das Teil. Bisher ist unsere Reise nur eine Idee, aber mit der Eira würde aus unserem vagen Plan auf einmal Realität werden. Dann sind wir committed. Dann müssen wir es durchziehen.
Von der Mitte des Schiffs gehen wir weiter in Richtung Heck. Als Erstes fallen mir die zwei großen Winschen auf. Jeweils eine der breiten Alutrommeln befindet sich seitlich neben dem tiefer gelegenen Cockpit.
Winschen dienen dazu, die verschiedenen Leinen, Fallen und Schoten an Bord (Seglersprech für unterschiedliche Seile) dichter zu holen oder zu fieren (also stärker zu spannen oder mehr Seil zu geben). Durch die mechanische Übersetzung innerhalb der Trommel können so auch Leinen, Schoten und Fallen, auf denen enorme Lasten liegen, sicher gehandelt werden.
Am hinteren Ende des Cockpits angelangt, kommen das Steuerrad und einige Instrumente zum Vorschein – am vorderen Ende des etwa drei Meter langen und zwei Meter breiten Cockpits liegt der verschlossene Niedergang, von dem aus man ins Schiffsinnere gelangt.
„Wir dürfen uns die Begeisterung später nicht so anmerken lassen. Er darf nicht gleich merken, dass wir die Eira auf jeden Fall kaufen wollen. Sonst können wir den Preis nicht mehr drücken“, erkläre ich – und wie in einer schlechten Filmszene vergeht kaum eine Minute, bis auf einmal jemand von innen die Klappe des Niedergangs öffnet und uns ein verschlafenes Gesicht entgegenblickt. Der Eigner.
In unserer Begeisterung hatte keiner daran gedacht, dass er vielleicht auf dem Schiff sein könnte. Jetzt erscheint es mir nur logisch, dass er schon am Vortag angereist ist. Oh Mann, ist das peinlich … ob er uns die ganze Zeit gehört hat?
Zu unserem Glück sieht er den „Bootsfriedensbruch“ gelassen und bittet uns herein. Durch den Niedergang steigen wir in den Salon und sitzen wenig später bei Tee und Kaffee um einen kleinen Tisch auf der Backbord-, also der linken Seite im Salon. Gegenüber, auf Steuerbord, liegt eine der Schlafkojen, dort hat unser Gastgeber Platz genommen.
Die Situation ist nur ganz am Anfang etwas unangenehm, aber schon bald erzählt der Mann von seinem Schiff. Er besitzt es seit über zwanzig Jahren, ist aber nie wirklich weit damit gesegelt. Meist lag die Eira hier auf Fehmarn im Hafen, und an Wochenenden ging es für kurze Törns raus auf die Ostsee. Ich merke, dass er an dem Schiff hängt. Wir quatschen eine Weile, aber nachdem unsere Tassen leer sind, bedanken und verabschieden wir uns wieder: „Bis nachher, und sorry noch mal …“
Ein paar Stunden später …
Wir haben uns noch etwas ausgeruht. Tims Bruder Marian ist inzwischen angekommen. Diesmal zu sechst, laufen wir wieder bis zum hinteren Ende des Stegs.
Jetzt beginnt die eigentliche Besichtigung. Die Eira ist fast dreißig Jahre alt, und bei falscher beziehungsweise fehlender Instandhaltung rostet so ein Stahlboot im Salzwasser natürlich schnell. Wir suchen nach auffälligen Roststellen oder anderen Schäden. Obwohl wir wenig Ahnung von Segelbooten haben, geben wir unser Bestes, um das Boot und seine Probleme zu erfassen. Strukturelle Schäden finden wir nicht. Kein Wassereinbruch. Keine Durchrostungen. Der Dieselmotor ist zwar alt, läuft aber sauber. Auch die Segel scheinen in einem passablen Zustand zu sein.
Bis wir mit der Eira auf große Fahrt gehen können, ist aber definitiv einiges zu tun. Viel Equipment fehlt noch, um aus dem Hafenschiff eine blauwassertaugliche (also für die Ozeane geeignete) Fahrtenyacht zu machen.
Um das Schiff auch mal in Bewegung zu erleben, unternehmen wir eine kurze Testfahrt. Wir legen aus Orth ab und pflügen ein paar Meilen durch die Ostsee. Bis auf Tim ist es für uns alle das erste Mal Segeln. Die sechzehn Tonnen Stahl liegen satt im Wasser, ich fühle mich sicher. Die kleinen Wellen merkt man fast gar nicht, und wir pflügen sehr stabil durch die See. Die Eira gefällt uns, außerdem gibt es aktuell für diesen Preis kein anderes Schiff, das für unser Vorhaben infrage kommt. Eine knappe Stunde später, als wir wieder im Hafen anlegen, habe ich ein gutes Gefühl.
1. Juli 2018, Orth auf Fehmarn
Zwei Wochen später sind Tim und Marian wieder auf Fehmarn. Vor ein paar Tagen war unser Abiball, unsere Schulzeit ist jetzt offiziell vorbei. Tim schickt ein Video in unsere gemeinsame WhatsApp-Gruppe: „Leute, der Kaufvertrag ist unterschrieben. Wir haben ein Boot!“ Es ist der 1. Juli 2018.
Mit dem Kauf der Eira rückt unser Abenteuer in Reichweite.
Wir haben zwar immer noch keine Segelerfahrung und kein Geld, aber ein Schiff. Und eine weitere Komponente ist dazugekommen: Wir haben einen Startpunkt für die Reise, Orth auf Fehmarn.
Noch in diesem Jahr wollen wir in See stechen. Dafür sollten wir spätestens im Herbst aus der Ostsee ablegen. Je früher, desto besser, denn mit den bevorstehenden kalten Monaten wird es stürmischer. Besonders der berüchtigte Golf von Biskaya macht uns Sorgen. Durch Gespräche mit erfahrenen Seglern und aus dem Internet wissen wir, dass besonders diese Passage ein Schlüsselpunkt unserer ersten Wochen auf dem Meer sein wird.
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