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Sense of Danger (Section 47 1)

Sense of Danger (Section 47 1) - eBook-Ausgabe

Jennifer Estep
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Roman

— Urban Fantasy mit Spionen, Assassinen und jeder Menge Action
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Sense of Danger (Section 47 1) — Inhalt

Diese Analystin deckt magische Kriminalfälle auf!

Charlotte Locke arbeitet für die Section 47, eine Geheimorganisation der Regierung, die versucht, paranormale Kriminelle und Terroristen dingfest zu machen. Als Analystin hilft ihr dabei ihre magische Begabung, Lügen zu enttarnen. Klingt spannend – aber eigentlich schreibt sie vor allem Berichte, die dann keiner liest. Zumindest dachte sie das immer. Denn jemand hat die Berichte gelesen … und dieser Jemand tut nun alles, um sie aus dem Weg zu räumen. Um zu überleben, muss Charlotte ausgerechnet dem ebenso mysteriösen wie gut aussehenden Special Agent Desmond vertrauen.

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 26.05.2022
Übersetzt von: Vanessa Lamatsch
416 Seiten
EAN 978-3-492-60141-2
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Leseprobe zu „Sense of Danger (Section 47 1)“

1

Charlotte


Die Auftragsmörder erkannte man immer an ihren Anzügen.

Jacketts, Hemden, Krawatten. Die Kleidungsstücke waren aus feinstem Stoff und maßgeschneidert, aber gleichzeitig auch immer dunkel und bedrückend einfarbig. Schwarz auf schwarz, marineblau auf marineblau, vielleicht ein dunkles Grau über noch dunklerem Grau – wenn jemand gerade wirklich gut drauf war. Es war, als hätten die Männer und Frauen, die in der Section 47 als Auftragskiller dienten, genauso leichtfertig beschlossen, jede Farbe aus ihrer Garderobe zu tilgen, wie sie paranormale [...]

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1

Charlotte


Die Auftragsmörder erkannte man immer an ihren Anzügen.

Jacketts, Hemden, Krawatten. Die Kleidungsstücke waren aus feinstem Stoff und maßgeschneidert, aber gleichzeitig auch immer dunkel und bedrückend einfarbig. Schwarz auf schwarz, marineblau auf marineblau, vielleicht ein dunkles Grau über noch dunklerem Grau – wenn jemand gerade wirklich gut drauf war. Es war, als hätten die Männer und Frauen, die in der Section 47 als Auftragskiller dienten, genauso leichtfertig beschlossen, jede Farbe aus ihrer Garderobe zu tilgen, wie sie paranormale Terroristen, Kriminelle und andere gefährliche Magiewirkende umbrachten, die in der ahnungslosen sterblichen Welt Chaos und Unheil anrichteten.

Ich beäugte ein paar der Auftragsmörder in schwarzen Anzügen, die mit Plastiktabletts in den Händen an der Ausgabe der Cafeteria anstanden. Natürlich nannte sie niemand von uns in Section 47 wirklich Auftragsmörder. Zumindest nicht, wenn sie es hören konnten. Nicht, wenn man weiteratmen wollte. Nein, meine geheime Regierungsorganisation bezeichnete diese Männer und Frauen als Cleaner – als könnte das ihre wahre tödliche Aufgabe verschleiern. Sie machten überhaupt nichts sauber. Sie verursachten nur blutige Bescherungen.

So, wie mein Vater es immer getan hatte.

„Ich würde zu gern wissen, was du gerade denkst, Charlotte“, hörte ich eine hohe Frauenstimme sagen, dann erschien eine wedelnde Hand in meinem Blickfeld und lenkte mich von den Killern ab.

Ich sah die atemberaubende Frau mit langem, rotem Haar, braunen Augen und rosiger Haut an, die mir gegenübersaß. Miriam Lancaster, meine Bürofreundin, mit der ich zum Mittagessen gegangen war, erwiderte meinen Blick. Offensichtlich erwartete sie tatsächlich eine Antwort auf ihre Frage. Ich hatte nicht vor, zu gestehen, wie sehr die schwarz gekleideten Cleaner mich an meinen Vater erinnerten, also deutete ich stattdessen auf meinen Laptop.

„Ich denke nur darüber nach, wie viel Arbeit es noch zu erledigen gibt.“

Mitgefühl breitete sich in Miriams Miene aus. „Versuchst du, den wichtigen Bericht fertig zu bekommen, bevor du zu deiner Schicht im Diner aufbrichst?“

Bei der Erwähnung meines ungeliebten Zweitjobs schlossen sich meine Hände um den Laptop. Ich hätte Miriam nie erzählen dürfen, dass ich abends als Kellnerin in einem Diner in der Nähe des Hauptquartiers der Section 47 arbeitete. Aber sie hatte mir die Info bei einem unserer Mittagessen entlockt, weil sie einen Blick auf die lächerliche Uniform in meiner Schultertasche erhascht hatte. Andererseits war Miriam nicht eine einfache Analystin wie ich, sondern eine Charmeurin – jemand, der sich bei ausländischen Spionen, Diplomaten und Geschäftsleuten einschmeichelte, um ihnen subtil Informationen zu entlocken.

Zusätzlich zu ihrem umwerfenden Aussehen besaß Miriam auch die magische Gabe des Charismas. Selbst wenn sie ihre Macht gerade nicht einsetzte – nicht versuchte, mich zu betören oder zu umgarnen –, konnte ich doch trotzdem die Magie spüren, die von ihrem Körper ausging. Das beruhigende Gefühl ließ mich immer an eine warme, weiche Decke denken, die direkt aus dem Trockner kam. Miriam wusste genau, wie sie dieses beruhigende Gefühl bestmöglich einsetzen konnte, wusste, wann sie lächeln, nicken und zustimmende Geräusche von sich geben musste, um den Leuten ihre tiefsten, dunkelsten Geheimnisse aus der Nase zu ziehen. Sie mochte keine Leute umbringen, wie die Cleaner es taten, aber die Section 47 hatte sie trotzdem in eine Waffe verwandelt – eine Waffe, die statt mit Pistolen und Messern mit freundlichem Grinsen und glatten Worten kämpfte.

„Ja“, beantwortete ich endlich ihre Frage, „etwas in der Art.“

Miriam nickte, dann lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück. Ihr Blick huschte von einem Ende der Cafeteria zum anderen, als wäre der Anblick faszinierend statt langweilig.

Die Cafeteria sah aus wie jede andere in Washington, D. C.: ein riesiger, tunnelartiger Raum, gefüllt mit grauen Plastiktischen, passenden Stühlen und Schwarz-Weiß-Fotodrucken von der Hauptstadt in billigen Rahmen an den Wänden. Eine Seite des Raums bestand aus einer riesigen Fensterfläche, hinter der man das geschäftige Treiben auf dem Gehweg und der Straße beobachten konnte – auch wenn der Fußgänger- und Autoverkehr nach dem Gedränge der Mittagszeit ein wenig nachgelassen hatte. Doch obwohl es bald schon zwei Uhr war, traten immer noch Leute von der Straße durch den Torbogen und stellten sich in der Essensschlange an.

Die Cafeteria – die wenig einfallsreich ebenfalls Section 47 hieß – servierte durchaus akzeptables Essen. Die Karte beinhaltete alles vom typischen Burger mit Pommes über Pizza bis zu veganem Salat, frisch gepressten Säften und glutenfreien Keksen. Da die Cafeteria für alle geöffnet war, machte sie zum Frühstück und Mittagessen ein gutes Geschäft – auch wenn die normalen Sterblichen, die das Café betraten, natürlich nicht ahnten, dass sie neben gefährlichen Leuten mit magischen Fähigkeiten und einer tödliche Ausbildung saßen.

Andererseits galt das für die meisten Restaurants in D. C. Man wusste einfach nie, ob die Frau in dem langweiligen beigefarbenen Hosenanzug mit ihrem Selleriesaft die persönliche Assistentin irgendeines CEO war oder die Leiterin einer verdeckten Regierungsorganisation. Oder ob der Kerl mit seinem verknitterten Hemd und dem Fleck auf der Krawatte, der sich mit Käse überbackene Makkaroni in den Mund schob, ein Taxifahrer bei der Mittagspause war oder ein ausländischer Diplomat, der auf amerikanischem Boden einen Spionageauftrag ausführte. Angeblich gab es in Washington, D. C., pro Kopf mehr Spione – sowohl sterbliche als auch paranormale – als in irgendeiner anderen Stadt der Welt.

Miriam nahm einen Schluck von ihrem Eistee, wobei es ihr irgendwie gelang, ihren leuchtend roten Lippenstift nicht zu verschmieren. Das mochte kein magisches Talent sein, aber trotzdem beneidete ich sie um diese Fähigkeit. Mein eigener pflaumenfarbener Lippenstift hatte sich schon kurz nach meiner Ankunft heute Morgen verabschiedet.

„Was ist mit Jensens Beerdigung?“, fragte Miriam. „Gehst du da heute Abend hin?“

Erneut umklammerte ich die Kanten meines Laptops. Gregory Jensen war mein direkter Vorgesetzter und ein überzeugter Umweltschützer gewesen, der ständig über den CO2-Fußabdruck der Section gesprochen hatte und darüber, wie die Cafeteria den Planeten mit Plastiktrinkhalmen vernichtete. Jensen war außerdem überzeugter Fahrradfahrer gewesen, der sich eingebildet hatte, die Straße gehöre ihm und nicht den Autos und Lastwagen. Er war jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit gekommen – bis er letzte Woche bei einem Unfall mit Fahrerflucht ums Leben gekommen war. Jensen hatte gegen den Verkehr gekämpft – und letztendlich hatte der Verkehr gewonnen.

Ich empfand Mitgefühl für seine Frau und seine Tochter, aber Gregory Jensen selbst war mir schrecklich auf den Sack gegangen. Ständig hatte er Befehle geblafft und mich auf angebliche Fehler in meiner Arbeit hingewiesen. Am Tag vor seinem Unfall hatte er mir tatsächlich mitgeteilt, dass die Heftklammer an meinem Bericht schief saß, bevor er mich angewiesen hatte, sie zu entfernen und die Papiere zu seiner Zufriedenheit neu zu tackern.

Außerdem hatte Jensen die unangenehme, nervige Angewohnheit besessen, meine Arbeit als seine eigene auszugeben. Mehr als einmal hatte ich in abteilungsübergreifenden Sitzungen gesessen, in denen Jensen meine Berichte als seine eigene Arbeit präsentierte. Er erwähnte nie, dass ich die gesammelten Informationen zusammengestellt hatte. Stattdessen hatte er die von mir gezogenen Schlüsse als seine eigenen Erkenntnisse ausgegeben. Ich mochte nur eine Analystin sein, aber ich hatte dreimal härter gearbeitet als Jensen. Er war sogar zu faul gewesen, seinen eigenen Job zu machen, denn eigentlich wäre es seine Aufgabe gewesen, meine Berichte zu nehmen, um sie zu analysieren und daraus weitergehende Schlussfolgerungen zu ziehen. Stattdessen hatte er sich damit zufriedengegeben, meine Erkenntnisse zu stehlen.

Jensen hatte mir ständig im Nacken gesessen, so wie es auch unzählige andere unglückliche Manager der mittleren Verwaltungsebene bei ihren Untergebenen taten. Miriam war die einzige Person in unserer Abteilung gewesen, die Jensen gemocht hatte. Und das auch nur, weil sie manchmal seinem Ego geschmeichelt hatte, indem sie überschwänglich betonte, wie wichtig doch die Arbeit war, die wir Analysten und Charmeure leisteten.

Wie bei vielen Spionageorganisationen bestand die hauptsächliche Aufgabe der Section 47 darin, Informationen zu sammeln und damit Terrorangriffe, Unglücke mit vielen Toten und andere bedeutsame, lebensbedrohliche Katastrophen zu verhindern. Nur dass die Section nicht normale, sterbliche Kriminelle ins Visier nahm, sondern diejenigen, die Magie und magisch verstärkte Waffen einsetzten, um ihre Verbrechen zu begehen. Für den unglücklichen Fall, dass es trotz unserer Präventivmaßnahmen zu einem Angriff kam und ein paar Paranormale ihre Mächte einsetzten, um Tod und Verheerung niederregnen zu lassen, war es die Aufgabe der Section, alles zu vertuschen und die magische Katastrophe bestmöglich zu erklären. Und natürlich jagte sie dann die Verursacher – und eliminierte sie, um damit Wahrheit und Gerechtigkeit für alle zu erreichen. Zumindest lautete so der Plan – auch wenn die Ausführung oft zu wünschen übrig ließ.

Jensens wahres Problem mit mir hatte jedoch darin bestanden, dass ich ein Vermächtnis war und er nicht. Meine Großmutter und mein Vater hatten beide für die Section gearbeitet, was bedeutete, dass nach meinem Studienabschluss ein sicherer Job auf mich gewartet hatte. Die Section 47 war in vielerlei Hinsicht ein Familienunternehmen, wenn auch eines, das von Dutzenden verschiedener Familien geführt wurde statt von nur einer Blutlinie. Diese sogenannten Vermächtnisfamilien erzogen ihre Kinder, um Cleaner, Charmeure oder Analysten zu werden, so wie normale, sterbliche Familien Generationen von Ärzten, Rechtsanwälten oder Buchhaltern hervorbrachten.

Angesichts der langen Familiengeschichte gab es natürlich eine Menge Vetternwirtschaft und Druck in der Spionageagentur. Wenn eine Mutter in der Section 47 zu Ruhm gelangt war, dann erwartete man von ihrem Kind, es noch besser zu machen. Wenn ein Bruder im ersten Jahr versagt hatte, wurde vom nächsten Geschwister erwartet, dass es die Sache in Ordnung brachte und die Familienehre wiederherstellte. Und so weiter und so fort.

Der Leumund einer Familie und, na ja, eben das Vermächtnis, konnte den eigenen Erfolg in der Section sowohl befördern als auch behindern. Aufgrund der vorausgegangenen Dienste, Verbindungen und Geschichten stiegen die meisten Vermächtnisse viel schneller durch die Reihen der Section auf als Neuanfänger wie Jensen, der fünf Jahre auf dem gleichen Posten gesessen hatte. Daher seine allumfassende Verbitterung mir gegenüber – obwohl das Vermächtnis der Locke-Familie wirklich alles andere als makellos war.

„Hallo?! Erde an Charlotte!“ Miriam schnippte mit den Fingern vor meinem Gesicht. „Gehst du zu Jensens Beerdigung?“

Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe keine Zeit. Ich muss heute Abend für eine andere Kellnerin im Diner einspringen. Außerdem habe ich schon auf Jensens Karte unterschrieben und mich an den Blumen beteiligt. Das ist mehr, als er für mich getan hätte.“

Miriam nickte zustimmend. Ihr Handy vibrierte und sie las die Nachricht. Dann begann sie, selbst zu tippen. Ihre Daumen flogen förmlich über das Display.

„Neuer Toy Boy?“, fragte ich, womit ich ihre Lieblingsbezeichnung verwendete.

„O ja“, schnurrte sie.

„Wer ist es diesmal? Pete aus der Buchhaltung? Hank aus dem Waffenlager? Oder hast du dir endlich den geheimnisvollen Kerl geschnappt, auf den du seit ein paar Wochen stehst?“

Ein verschmitztes Lächeln verzog Miriams rote Lippen. „Du weißt doch, dass ich genieße und schweige. Zumindest, solange es noch andauert.“

Ich schnaubte. Miriam befand sich immer in irgendeiner Art von Beziehung – vom anfänglichen vorsichtigen Flirten über das erste Date und die langweilige Routine, eine Beziehung aufrechtzuerhalten, bis hin zur unvermeidlichen, unangenehmen Trennung. Vielleicht gehörte das einfach zu ihrer Charmeur-Magie und der Fähigkeit, andere zu bezirzen. Miriam gehörte zu den Leuten, die es liebten, verliebt zu sein – oder Lust für jemanden zu empfinden. Und sie genoss das ganze Drama, das damit einherging, innerhalb der Section eine Beziehung zu führen.

Fraternisieren unter Agenten war nicht unbedingt verboten, aber es wurde definitiv nicht gerne gesehen. Die hohen Tiere wollten, dass die Agenten der Section gegenüber loyal waren, nicht irgendeiner Person. Mehr als eine Karriere, sogar die von Vermächtnissen, war wegen einer schiefgelaufenen Affäre ruiniert worden.

„Du willst mir wirklich nicht erzählen, wer es ist?“

„Diesmal nicht. Ich will nichts beschreien. Außerdem glaube ich wirklich, dass es diesmal der Richtige sein könnte.“

Ich schnaubte wieder. „Das behauptest du von jedem Mann, mit dem du ausgehst.“

Miriam grinste. „Weil es jedes Mal stimmt. Zumindest wirkt es am Anfang immer so. Doch dieser Toy Boy weckt mehr Hoffnungen als gewöhnlich. Tatsächlich ist der hier ein wenig reifer, als es meinem üblichen Beuteschema entspricht, also sollte ich ihn wahrscheinlich Mystery Man nennen, wie du es immer tust.“ Sie dachte eine Sekunde darüber nach, dann grinste sie breiter. „Nö! Es bleibt bei Toy Boy. Weil ich bisher definitiv Spaß daran habe, mit ihm zu spielen.“

Miriam kicherte über ihren eigenen schlechten Witz, dann tippte sie weiter in ihr Handy. Ich schüttelte ungläubig den Kopf, auch wenn ein Funken Neid in meinem Herzen aufflackerte. Ich hatte keine Ahnung, woher Miriam die Zeit und die Energie für ihre ständigen Verabredungen, Affären und Trennungen nahm – zusätzlich zu den Flirts, die zu ihrer Arbeit für die Section gehörten. Außerdem beneidete ich sie um ihre sorglose Attitüde und um den Spaß, den sie hatte.

Ich war seit mehr als einem Jahr mit niemandem ausgegangen. Das schrieb ich größtenteils der Krankheit meiner Großmutter und ihrem daraus folgenden Tod vor ein paar Monaten zu. Doch schon bevor meine Welt in Flammen aufgegangen war, hatte ich nie viele Verabredungen gehabt. Es fiel mir schwer, Leuten zu vertrauen, was wiederum mit den unzähligen Geldprojekten meiner Großmutter und den berüchtigten Schlamasseln zusammenhing, die mein Vater angerichtet hatte. Meine eigene Arbeit für die Section hatte mich nur noch abgebrühter, paranoider und misstrauischer gemacht, was die Wünsche, Motive und Agenden anderer Leute anging. Es war besser, allein zu sein und auf mich selbst zu vertrauen, als mich auf jemanden zu verlassen – der mich wahrscheinlich verraten würde, sobald sich die Chance dazu ergab.

Trotz dieser finsteren Gedanken musste ich bis zum Abend den Hyde-Bericht fertigstellen. Ich nahm einen Schluck Cookies-and-Cream-Mokka, um meinem Hirn einen ordentlichen Schuss Zucker und Koffein zu gönnen. Die Cafeteria servierte herausragende Heißgetränke und der reichhaltige Schokokaffee glitt warm über meine Zunge, während die luftige Sahne in meinem Mund schmolz wie eine nach Vanille schmeckende Wolke.

Ich hatte meine Tasse gerade wieder abgestellt, als ein Farbtupfer meine Aufmerksamkeit erregte. Ein Mann in einem hellgrauen Anzug mit leuchtend blauer Krawatte schritt durch den Raum und schlängelte sich auf dem Weg zur Ausgabetheke zwischen Tischen hindurch. Er hielt sich hoch aufgerichtet und bewegte sich mit geschmeidigen, großen Schritten. Definitiv ein Auftragsmörder, trotz seiner schockierend farbenfrohen Krawatte.

„Wer ist das?“, fragte ich Miriam und deutete unauffällig auf den Mann. „Den habe ich hier noch nie gesehen.“

Ich hatte mir alle Killer, ähm, Cleaner eingeprägt, damit ich ihnen aus dem Weg gehen konnte. Wir mochten für dieselbe Agentur arbeiten, aber sie gehörten nicht zu den Leuten, die man nerven, gegen sich aufbringen oder denen man auch nur im Weg stehen wollte.

Die Section 47 investierte Tausende Stunden und Millionen Dollar in das Training, die Unterbringung und die Verpflegung der Cleaner – und natürlich darauf, sie zu tödlichen Waffen auszubilden. Diese Zeit, Energie und das ganze Geld sorgten dafür, dass Cleaner für die Führungskräfte der Section sehr viel mehr wert waren als andere Agenten – viel mehr wert als einfache Analysten wie ich. Cleaner standen in der Hackordnung ganz oben. Sollte ich je in einen Konflikt mit einem Cleaner geraten oder mich irgendwie mit einem von ihnen anlegen, würde ich verlieren, selbst wenn es nur darum ging, wer in einem Meeting den letzten Blaubeermuffin bekam.

Miriam ließ ihr Handy sinken und sah in die angegebene Richtung. Dann lehnte sie sich vor, der Blick aus ihren haselnussbraunen Augen scharf und interessiert. „Ich habe keine Ahnung, wer der Kerl ist, aber ich würde es auf jeden Fall gerne herausfinden. Wow!“

„Was ist mit deinem Mystery Man?“

„Er ist toll. Aber ich finde immer genug Zeit, um die Bekanntschaft eines gut aussehenden Fremden zu machen.“

Ihr anschließendes Zwinkern entrang mir ein Lachen. Typisch Miriam. Ihr unendlicher Enthusiasmus gehörte zu den Dingen, die ich an ihr mochte. Und die ständigen Geschichten von ihren Verabredungen – ob nun gut, schlecht oder desaströs – lenkten mich eine Weile von meinem eigenen langweiligen Leben ab.

Miriams Handy brummte erneut und sie las die Nachricht. „Auf jeden Fall muss ich jetzt los. Ich habe vor Jensens Beerdigung noch was zu erledigen.“

„Okay. Bis später.“

Miriam stand auf, schob das Handy in die hintere Tasche ihrer Skinny-Jeans, warf sich den Riemen ihrer Designertasche über die Schulter und schlenderte aus der Cafeteria. Mehr als eine Person beobachtete ihren Abgang – unter anderem Diego Benito, der IT-Techniker, den sie letzten Monat abgesägt hatte. Diego bemerkte, dass ich ihn ansah, und senkte eilig den Kopf, um sich wieder mit seinem Laptop zu beschäftigen.

Ich gönnte mir noch einen größeren Schluck Mokka, dann begann ich, an meinem Laptop die neuesten Bankgeschäfte zu analysieren, wie es meiner aktuellen Aufgabe entsprach.

Ich klickte mich durch verschiedene Dokumente und Tabellen, um die Informationen auf offensichtliche Fehler zu untersuchen. Allerdings fand ich nichts, also lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück und betrachtete den Bildschirm in seiner Gesamtheit, bis Worte und Zahlen mein Blickfeld füllten und gleichzeitig in mein Hirn einsanken.

Je länger ich das Display ansah, desto mehr Farben erschienen.

Jeder andere, der meinen Bildschirm betrachtete, hätte lediglich Worte und Ziffern in schwarzer Schrift gesehen. Doch für mich wechselten sie von dunklem Schwarz zu verschiedenen Grauschattierungen, zusammen mit ein paar hellen Pinktönen und sogar verschiedenen Ausprägungen von Dunkelrot.

Mein Blick folgte den changierenden Farben, wobei ich mit der schwarzen Schrift begann – die Punkte, die wahr, korrekt, präzise waren. Im Anschluss sah ich mir die Grautöne an – die Teile, in denen es kleine Tipp- und Rechenfehler gab. Als Nächstes kamen die Pinktöne – die Buchstaben und Ziffern, in denen sich ernsthaftere Fehler verbargen. Und schließlich die Rotschattierungen – die großen, eklatanten Fehler, die nur entstanden, wenn jemand entweder sehr schludrig vorging oder absichtlich falsche Informationen eingegeben hatte, um eine elektronische Lüge zu fabrizieren.

Mein linker Zeigefinger schwebte über dem Bildschirm und folgte der farblichen Veränderung. Mit der rechten Hand machte ich mir Notizen auf einem Block. Fast alle in der Section 47 besaßen irgendeine magische Fähigkeit. Meine offenbarte sich in einer ungewöhnlichen Form der Synästhesie. Ich konnte Fehler entdecken, die Leute gemacht hatten – ob sie nun aus Versehen Zahlendreher verursacht oder eine falsche Telefonnummer aufgeschrieben, absichtlich ihre Reisekostenabrechnung gefälscht oder sich des wissentlichen Betruges durch falsche Angaben beim Finanzamt schuldig gemacht hatten. Meine Synästhesie manifestierte sich noch auf andere Arten, aber überwiegend setzte ich sie ein, um mir meine Arbeit als Analystin zu erleichtern.

Nicht, dass es irgendwen interessiert hätte. Dank Gregory Jensens Abneigung mir gegenüber waren die meisten meiner Berichte allein seinen brillanten Fähigkeiten zugeschrieben worden. Oder jemand hatte sie einmal überflogen, um sie im Anschluss in der Datenbank der Section abzulegen, von wo sie niemals wieder ans Licht der Öffentlichkeit drangen. Jensen war nicht der Einzige, der im mittleren Management festhing. Ich war fünfunddreißig Jahre alt und arbeitete seit ungefähr zehn Jahren für die Section – seitdem ich mein Studium abgeschlossen hatte. Eigentlich hätte ich bereits eine Beförderung zum Senior Analyst erhalten haben sollen, statt seit fünf Jahren auf meinem derzeitigen Posten zu arbeiten.

Teilweise konnte meine ausbleibende Beförderung natürlich etwas mit den Fehlern meines Vaters in der Section zu tun haben, aber Jensen hatte mir auch keinen Gefallen erwiesen, als er mir eine schlechte Personalbeurteilung nach der nächsten verpasst hatte. Er hatte mich unter seiner Knute behalten wollen, um selbst besser dazustehen. Ich wollte nicht schlecht über Tote sprechen, aber vielleicht würde mein neuer Vorgesetzter – wer auch immer das sein sollte – meine Arbeit ernster nehmen und tatsächlich zu schätzen wissen. Oder meine Leistungen zumindest nicht als seine eigenen ausgeben.

Auf jeden Fall musste ich meinen Bericht fertig schreiben und einreichen, also klickte ich mich durch ein paar weitere Dokumente und Tabellen.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

Ich starrte weiter auf den Bildschirm, um der Spur aus Grau, Pink und Rot zu folgen, die nur ich sehen konnte …

Jemand räusperte sich. „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Diesmal wurde die Frage ein wenig lauter und drängender geäußert.

Erst jetzt bemerkte ich, dass jemand auf der anderen Seite des Tisches stand, also riss ich den Blick von meinem Laptop.

Er. Der Auftragskiller, den mir vorhin aufgefallen war. Der Mann mit der leuchtend hellblauen Krawatte. Er hielt eine große Tasse und eine Zeitung in den Händen und starrte mich erwartungsvoll an.

Aus der Nähe betrachtet war der Mann sehr viel attraktiver, als mir bisher bewusst gewesen war – etwa einen Meter achtzig groß und mit glattem, dunkelblondem Haar, das gleichzeitig gestylt und verwuschelt wirkte. Ein goldener Bartschatten glänzte auf seinem kantigen Kinn, sodass er aussah, als wäre er gerade aus dem Bett aufgestanden – auch wenn ich davon ausging, dass er auf seine Gesichtsbehaarung genauso viel Mühe verwendete wie auf den Rest seiner Erscheinung.

Sein hellgrauer Anzug saß perfekt, betonte seine breiten Schultern und den schlanken Körper. Er war nicht so übermäßig muskulös wie viele andere Cleaner. Stattdessen strahlte dieser Mann offensichtliche, mühelose Stärke aus. Außerdem sprach seine Haltung von überzeugtem Selbstbewusstsein, als wüsste er ohne Zweifel, dass er der härteste Typ im Raum war. Dasselbe Selbstbewusstsein leuchtete in seinen Augen, die die gleiche hellblaue Färbung aufwiesen wie seine Krawatte. Miriam hatte recht gehabt: Wow.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“, fragte er zum dritten Mal und riss mich damit aus meiner überraschten Tagträumerei.

Sein lockerer Tonfall und das leise Lächeln sollten wahrscheinlich unschuldig und entwaffnend wirken – ergänzt von Tasse und Zeitung, die er hielt wie Requisiten –, doch trotzdem löste er auf meinem internen Radar ein Warnsignal aus.

Meine Synästhesie erlaubte mir nicht nur, Fehler zu erkennen, sondern sie warnte mich auch vor persönlicher Gefahr. Oft kennzeichnete meine Magie diese Gefahren mit denselben Farben, die ich auch in Dokumenten erkannte. Ein feuchter, rutschiger Boden erschien in hellem Grau, um auf eine leichte Gefährdung hinzuweisen, während ein Auto, das ein Stoppschild überfuhr, vielleicht von einem pinkfarbenen Leuchten umgeben war. Und dieser Kerl? Momentan umgab ihn keine Färbung, doch Cleaner hatten in meinen Augen immer ein rotes Leuchten verdient.

Mein Blick huschte von rechts nach links. Es war inzwischen nach zwei Uhr, was bedeutete, dass die Cafeteria abgesehen von ein paar Mittagessen-Nachzüglern ziemlich leer war. Es gab somit jede Menge freie Tische, an die er sich hätte setzen können, um sein Getränk und seine Zeitung zu genießen. Wieso also wollte er bei mir sitzen?

Er sah mich unverwandt an, offensichtlich immer noch in Erwartung einer Antwort.

„Wenn Sie möchten“, murmelte ich.

„Wunderbar. Vielen Dank.“

Hörte ich da einen leichten Akzent? Nicht englisch, nicht europäisch, sondern – australisch. Ich musste ein verträumtes Seufzen unterdrücken. Ich hatte eine Schwäche für Akzente. Daher auch meine unglückliche Affäre mit einem unwichtigen spanischen Diplomaten, damals, bevor meine Großmutter krank geworden war. Der musikalische Akzent des Diplomaten hatte mich so bezaubert, dass ich erst bemerkt hatte, was für ein verlogener Mistkerl er war, als ich zu früh zu einer Verabredung aufgetaucht war und ihn dabei erwischt hatte, wie er mit einer anderen Frau knutschte.

Der Cleaner legte seine Sachen auf dem Tisch ab und zog den Stuhl mir gegenüber heraus, den Miriam vor ein paar Minuten frei gemacht hatte. In einer einzigen, geschmeidigen Bewegungsfolge öffnete er sein Jackett, schüttelte es von den Schultern und hängte es über die Rückenlehne des Stuhls. Darunter trug er eine Weste, an der eine silberne Taschenuhr mit langer Kette befestigt war. Die hellgraue Weste und das dazu passende Hemd betonten zusätzlich seinen schlanken, muskulösen Körper und ließen ihn noch attraktiver wirken. Neben Akzenten gab es nichts, was ich sexyer fand als einen gut gekleideten Mann – und nicht mal James Bond konnte diesem Kerl das Wasser reichen.

Der Cleaner trat vor, setzte sich und griff nach seiner Tasse, wieder alles in einer einzigen, geschmeidigen Bewegung. Er schien einfach eine natürliche Grazie zu besitzen. Ich fragte mich, ob er sich wohl immer so bewegte, als flösse eine Bewegung in die nächste – egal, ob er etwas so Gewöhnliches tat, wie sich die Zähne zu putzen, oder ob er brutal jemanden zu Tode prügelte.

Die meisten Leute hätten wahrscheinlich von Eleganz gesprochen, doch ich erkannte die Anmut als Eigenschaft eines geborenen Raubtiers. Zweifellos gehörte der Mann zu der Sorte Cleaner, die sich mühelos an ihr Opfer heranschlich und diesem das Genick brach, bevor die Person auch nur wusste, wie ihr geschah. Manchmal, wenn ich mich einer besonders ernsten Gefahr gegenübersah, schickte meine Synästhesie mir ihre Botschaft nicht mithilfe von Farben, sondern in Form einer inneren Stimme. Und im Moment flüsterte diese Stimme immer wieder Gefahr-Gefahr-Gefahr.

Der Cleaner machte sich an seiner Zeitung zu schaffen, dann griff er nach dem Etikett des Teebeutels in seiner Tasse. Er tauchte den Beutel ein paarmal in das dampfende Wasser, bevor er sich zurücklehnte und einen Schluck trank. Ein leiser Dufthauch wehte zu mir herüber, ein warmer, grüner, frischer Geruch. Zweifellos war das die Art von Tee, die total gesund war, dafür aber wirklich widerlich schmeckte.

„Es gibt an einem kühlen Herbsttag doch nichts besseres als eine heiße Tasse Tee, oder?“, meinte er freundlich, als wollte er einfach ein nettes Gespräch beginnen. Sein sexy Akzent sorgte allerdings dafür, dass jede Menge versteckte Botschaften in seinen Worten mitschwangen.

Ich stieß ein nichtssagendes Brummen aus und sah wieder auf meinen Laptop.

Ich musste immer noch meinen Bericht fertig schreiben, also konzentrierte ich mich erneut auf die Worte und Ziffern, in dem Versuch, weitere Grau-, Pink- und Rottöne aufzuspüren. Obwohl ich inzwischen seit mehr als drei Monaten Nachforschungen über meine Zielperson – Henrika Hyde – anstellte und alle meine Berichte brav eingereicht hatte, bekam ich plötzlich das Gefühl, dass ich kurz davorstand, wichtige Informationen aufzudecken. Irgendetwas, was mir genau verriet, wo all das Geld hinfloss und welche schrecklichen Dinge damit finanziert wurden …

„Hey, ich bin neu in der Stadt“, meinte der Cleaner. „Können Sie mir vielleicht ein gutes Restaurant empfehlen?“

Ich hielt den Blick auf meinen Bildschirm gerichtet, um der Farbspur von einem Dokument zum nächsten zu folgen.

„Wenn Sie Grillfleisch mögen, ist Mama Flo’s einen Block entfernt ziemlich gut“, murmelte ich, während ich versuchte, all den Worten und Zahlen auf meinem Laptop ihr falsches, bösartiges Fazit zu entlocken.

„Klingt gut. Wie wäre es, wenn ich Sie dort heute Abend zum Essen einlade?“

Es verging ein Moment, bis seine Worte wirklich zu mir durchdrangen, dann riss ich den Kopf hoch und starrte ihn an. Der Cleaner lächelte immer noch freundlich, doch gleichzeitig wirkte er, als bisse er die Zähne zusammen. Und in seinen Augen funkelte eine neue Wachsamkeit.

Gefahr-Gefahr-Gefahr flüsterte meine innere Stimme, lauter und beharrlicher als bisher.

Während ich dort saß und dieses unerwartete Angebot verarbeitete, drang ein schadenfrohes Kichern an mein Ohr. Ich sah nach links und stellte fest, dass Anthony aus der Buchhaltung sein Handy in der Hand hielt und mich anstarrte. Anthony und ich hatten vor der Krankheit meiner Großmutter ein katastrophales Date gehabt. Uns war sofort aufgefallen, dass wir absolut gar nichts gemeinsam hatten und uns nicht mal mochten – absolut nicht. Seitdem war Anthony mein Büro-Erzfeind, der immer meine Büromaterialbestellungen ablehnte, selbst wenn es nur um ein Paket Druckerpapier ging.

Ich konzentrierte mich wieder auf den Cleaner. Er sah gerade zu Anthony, der seinen Blick erwiderte. Misstrauen stieg in mir auf.

„Hat Anthony Sie dazu angestiftet?“, fragte ich. „Ist das mal wieder einer seiner dämlichen Streiche?“

Anthony hatte die unangenehme Angewohnheit entwickelt, seine Bürokumpel dazu anzustacheln, mich um Dates zu bitten, obwohl sie sich genauso wenig für mich interessierten wie ich mich für sie. Aus irgendeinem Grund fanden Anthony und seine Freunde es zum Schreien komisch, sich zu benehmen, als wären wir noch in der siebten Klasse.

Der Cleaner runzelte die Stirn. Er wirkte verwirrt. „Was? Wer ist Anthony?“

Ich starrte ihn nur an, bis er mit den Achseln zuckte.

„Ich bin neu in der Stadt. Ich versuche, neue Bekanntschaften zu schließen. Anschluss zu finden. Das ist alles.“ Wieder klangen seine Worte unschuldig, auch wenn sein Akzent und die Art und Weise, wie er das Wort Bekanntschaften schnurrte, seine Antwort klingen ließ, als hätte er mir eine Nacht voller wildem Sex angeboten.

„Also dachten Sie, Sie baggern mal die erste Frau an, die Ihnen in der Cafeteria begegnet? Wie romantisch!“, erwiderte ich gedehnt.

Er besaß den Anstand, das Gesicht zu verziehen, aber ihm fehlte der gesunde Menschenverstand, den Versuch abzubrechen. „Ich dachte, wir könnten einfach ein wenig Spaß haben.“

Ich warf einen Blick auf die Uhr an der Wand der Cafeteria. Mir blieb nur noch eine Viertelstunde von meiner Mittagspause. Und ich hatte nicht vor, diesen Idioten noch mehr meiner Zeit verschwenden zu lassen.

„Jetzt hören Sie mal, Crocodile Dundee“, blaffte ich. „Mir ist egal, was Anthony oder irgendwer anders Ihnen über mich erzählt hat. Ich arbeite nicht in der Buchhaltung, also kann ich Ihre Spesenabrechnung nicht aufblähen oder Ihnen einen Parkausweis verschaffen – oder was auch immer Sie von mir wollen.“

Er zuckte zurück, als wäre er vollkommen überrascht, dass ich so mit ihm sprach. Jepp, einen Cleaner zu beschimpfen, weil er mit mir ausgehen wollte – oder was auch immer er vorhatte –, war wahrscheinlich nicht besonders klug. Andererseits war ich nun wirklich nicht für mein diplomatisches Talent bekannt. Wäre es so, hätte ich die Büropolitik geschickter navigiert und stände inzwischen in der Hackordnung um einiges höher, als es tatsächlich der Fall war. Unglücklicherweise ging oft mein hitziges Temperament mit mir durch – eine Tendenz, die ich von meinem Vater geerbt hatte.

Wahrscheinlich hätte ich irgendeine Entschuldigung murmeln sollen, bevor ich mir meine Sachen schnappte und in meine Bürowabe zurückkehrte. Aber er hatte sich an meinen Tisch gesetzt, also war er auch derjenige, der verschwinden sollte.

„Wenn Sie nicht in der Buchhaltung arbeiten, wo arbeiten Sie dann?“, fragte er.

Diesmal zuckte ich zurück. Seine Frage überraschte mich, auch wenn die Tatsache, dass er mir immer noch gegenübersaß und meine Zeit verschwendete, meine Wut nur höher kochen ließ.

„Ich schreibe Berichte, die niemand liest“, blaffte ich wieder. „Und einen davon muss ich noch vor heute Abend fertigstellen. Wieso also nehmen Sie nicht Ihren Tee und die Zeitung, die Sie nicht lesen, und ziehen los, um jemand anderen zu belästigen?“

Ein Funken Wut blitzte in seinen Augen auf, sodass sie silberblau leuchteten. Gleichzeitig begann an seinem Kinn ein Muskel zu zucken. Ich hatte ihn wütend gemacht. Gut. Vielleicht würde er mich jetzt endlich in Ruhe lassen.

Der Cleaner sprang auf, schnappte sich sein Jackett und warf es sich über – wieder in einer einzigen, geschmeidigen Bewegungsfolge. Dann griff er nach seiner Tasse und der Zeitung, wirbelte auf dem Absatz herum und stiefelte davon.

Ich beobachtete, wie er die Cafeteria verließ. Eigentlich hätte ich mich entspannen müssen, sobald er aus meinem Blickfeld verschwunden war. Doch obwohl der Cleaner den Raum verlassen hatte, flüsterte meine innere Stimme weiter, als wüsste sie etwas, was ich nicht wusste.

Gefahr-Gefahr-Gefahr.

Jennifer Estep

Über Jennifer Estep

Biografie

Jennifer Estep ist SPIEGEL- und internationale Bestsellerautorin und immer auf der Suche nach ihrer nächsten Fantasy-Romanidee. In ihrer Freizeit trifft sie sich gerne mit Freunden und Familie, macht Yoga und liest Fantasy- und Liebesromane. Außerdem sieht sie viel zu viel fern und liebt alles, was...

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