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Shalom Berlin – Gelobtes Land (Alain-Liebermann-Reihe 3)

Shalom Berlin – Gelobtes Land (Alain-Liebermann-Reihe 3) - eBook-Ausgabe

Michael Wallner
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Kriminalroman

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Shalom Berlin – Gelobtes Land (Alain-Liebermann-Reihe 3) — Inhalt

In „Shalom Berlin – Gelobtes Land“, dem 3. Band der außergewöhnlichen Politkrimireihe um den jüdischen Ermittler Alain Liebermann (Bd. 1 „Shalom Berlin“, Bd. 2 „Shalom Berlin - Sündenbock“), führt SPIEGEL-Bestsellerautor Michael Wallner seine Leser in einen weiteren atemberaubenden Fall zwischen Berlin und Israel – beklemmend, hoch aktuell, spannend!  

Seit Monaten hält eine Serie von Kindesentführungen Berlin in Atem. Dreizehn Leichen wurden bereits gefunden. Die Mütter der Opfer gehen auf die Straße, der Druck auf die Ermittler steigt. Doch Alain Liebermann hält an seinen ungewöhnlichen Methoden fest, vertraut seinem Bauchgefühl. Allmählich setzt sich ein Täterprofil zusammen, und die Spur führt ausgerechnet nach Israel. Während Alain und sein Team dort selbst Ziel eines Angriffs werden, geschieht in Berlin ein weiterer Kindesmord. Gibt es einen Nachahmungstäter, oder ist das wahre Monster noch auf freiem Fuß?  

„Michael Wallner hat einen packenden Politthriller geschrieben und eine sehr bedrohliche Atmosphäre geschaffen. Dafür braucht er keine blutigen Morde. Es geht um Macht und Einschüchterungen, um Verführbarkeit und Rechtsradikale.“WDR 4 über ›Shalom Berlin‹

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 31.05.2021
288 Seiten
EAN 978-3-492-99861-1
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Leseprobe zu „Shalom Berlin – Gelobtes Land (Alain-Liebermann-Reihe 3)“

1

„Modernes Hebräisch.“ Onkel Chaijm wiegte den Kopf. „Gibt es so etwas wie modernes Hebräisch?“

Die Gesellschaft lachte und erhob die Gläser.

„Dreitausend Jahre ist unsere Sprache alt, aber eines ist sie nie gewesen: modern.“ Chaijms Blick blieb an dem jungen Paar hängen. „Im modernen Hebräisch heißt ›Erusin‹ Engagement. Im Allgemeinen bedeutet das Wort Verlobung. Wir sind hier, um Verlobung zu feiern.“

Einige Gäste nahmen das als Stichwort, die Gläser klingen zu lassen. Die Liebermanns kannten die biblische Länge von Chaijms Ansprachen und warteten erst [...]

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1

„Modernes Hebräisch.“ Onkel Chaijm wiegte den Kopf. „Gibt es so etwas wie modernes Hebräisch?“

Die Gesellschaft lachte und erhob die Gläser.

„Dreitausend Jahre ist unsere Sprache alt, aber eines ist sie nie gewesen: modern.“ Chaijms Blick blieb an dem jungen Paar hängen. „Im modernen Hebräisch heißt ›Erusin‹ Engagement. Im Allgemeinen bedeutet das Wort Verlobung. Wir sind hier, um Verlobung zu feiern.“

Einige Gäste nahmen das als Stichwort, die Gläser klingen zu lassen. Die Liebermanns kannten die biblische Länge von Chaijms Ansprachen und warteten erst mal ab.

„Gemäß rabbinischer Tradition zelebriere ich Erusin als Kiddushin“, fuhr der Rabbi fort. „Das bedeutet Heiligung. Die Braut soll dem Bräutigam geheiligt übergeben werden. Das ist wahrscheinlich der Grund, weshalb die Juden die Eheschließung seit dem Mittelalter gleich nach der Verlobung vollziehen. Sie fürchten wohl, dass die Unberührtheit der Braut in Gefahr gerät, wenn nach der Verlobung zu viel Zeit verstreicht.“

Obwohl wieder Gelächter erklang, entging Chaijm nicht, dass die Aufmerksamkeit der Gesellschaft nachließ. Er ergriff sein Glas. „Und so rufe ich euch zu: Selig, wer zum Hochzeitsmahl des Lammes geladen ist! L’Chaim!“

„L’Chaim!“, echoten sie einstimmig, gerührt und ein wenig erleichtert, weil es gleich etwas zu essen geben würde.

Alain küsste die Braut. „Das wäre geschafft.“

Diana löste sich aus seiner Umarmung. „Ich liebe es, wenn du romantische Sachen sagst.“ Sie hatte den Schalk im Auge, außerdem einen weißen Schleier im Haar, mit Spitze verbrämt, ihr einziges Zugeständnis an den Status der Braut. Im Übrigen trug sie ein knapp sitzendes, knielanges Kleid.

Während die Liebermann-Meute zum Büfett drängte, manövrierte Alain seine Braut in die Gegenrichtung. Im grünen Salon küsste er sie noch einmal.

„Wofür war das?“ Sie wischte ihm Lippenstift vom Kinn.

„Dafür, dass du es wirklich mit mir riskierst.“

„Im Gegenteil. Mit mir hast du dir ganz schön was eingebrockt.“

„Herrliche Zeiten werden das.“ Er warf einen Blick ins Balkonzimmer. „Kümmere dich besser um deinen Vater. Er sitzt ganz allein da drüben.“

„Ich beneide dich.“

„Wofür?“

„Dass du mit deiner wunderbaren Großmutter plaudern kannst, während ich zu meinem miesepetrigen Vater muss.“

„Setz dich später einfach zu uns. Helene freut sich, mit dir über Italien zu reden.“

Diana wechselte ins Balkonzimmer, wo Vater Göring an einem Stück Matze knabberte.

„Das ist ungesalzen“, begrüßte er seine Tochter. „Trocken ist es auch.“

„Es ist Matze, Papa. Es soll trocken und ungesalzen sein.“

Die jüdischen Liebermanns waren in Großmutter Helenes Wohnung auf dem Ku’damm zusammengekommen, um mit der nicht-jüdischen Familie Göring Verlobung zu feiern. Die Görings stammten aus Wuppertal, wo Dianas Vater immer noch lebte. Der Rest der Familie hatte sich in der Nachkriegszeit nach Dänemark abgesetzt. Diana pflegte keinen Kontakt zu ihren dänischen Familienangehörigen und außer zu Weihnachten auch keinen zu ihrem Vater. Aber bei ihrer Verlobung wollte sie nicht die einzige Göring unter all den Liebermanns sein und war das Risiko eingegangen, ihre Familie nach Berlin einzuladen.

„Ich bring dir etwas anderes vom Büfett.“ Sie nahm ihrem Vater den Teller ab.

 

Alain setzte sich vor seiner Großmutter auf den Boden. Der schöne Makartsessel, der während der Weimarer Republik in den Besitz der Liebermanns gekommen war und die Nazizeit überdauert hatte, diente der alten Dame als Thron. Da keine weitere Sitzgelegenheit in der Nähe stand, beugten sich unerfahrene Familienmitglieder zu ihr herunter. Die Klugen wählten den Platz des Hofnarren und saßen zu Füßen Helenes.

„Hast du meine Nachricht gekriegt, Oma?“

„Eine Nachricht, Vegele?“ Um ihn anzusehen, legte sie den Kopf schief. An Weihnachten war der Bügel von Helenes Brille abgebrochen. Im Alter von sechsundneunzig Jahren fand sie, es lohne sich nicht mehr, das reparieren zu lassen. Die Brille saß beängstigend schief. „Ich habe keine Nachricht von dir bekommen.“

„Hast du deinen Laptop überhaupt aufgeklappt?“

Helene nippte am Cognac. „Nicht oft.“

„Ich habe dir den Computer geschenkt, damit wir einander besser erreichen. Du kannst jeden damit erreichen. Die ganze Welt kannst du dir so in die Wohnung holen.“

„Was soll ich mit der ganzen Welt in meiner Wohnung? Mir reicht der Unsinn, den das ZDF verzapft.“

„Das ZDF kannst du auch auf dem Computer gucken.“

„Wozu?“ Helene zeigte zu ihrem Fernseher. Das mächtige Röhrengerät nahm die ganze gegenüberliegende Ecke ein.

Plötzlich kam sich Alain mit seiner Digital-Pädagogik lächerlich vor. In Helenes Gesicht konnte man die ganze Welt, die Geschichte Deutschlands, die Geschichte der Juden ablesen, ihr Gesicht war eine Landkarte, die man auf Google Maps nicht fand.

„Aber jetzt bist du da, Vegele, und kannst mir deine Nachricht persönlich ausrichten.“ Sie hielt ihr leeres Glas hoch. Sofort griff eine dienstfertige Hand danach. Die anderen Liebermanns hielten höflichen Abstand, während Helene im Gespräch war, doch sie stand stets im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

„Noch ein Cognac?“, fragte Alains Cousine Anna.

„Hunger hab ich. Bring mir bitte was von den Kreplach.“

„Kreplach? Sind die nicht zu schwer?“, erwiderte Anna fürsorglich. „Eigentlich solltest du nicht …“

„Hast recht.“ Helene tätschelte die Hand ihrer Enkelin. „Ich sollte nicht. Aber wir feiern Erusin. Also bring mir zwei schöne Kreplach.“

„Ich habe Italien gebucht“, sagte Alain, während Anna zum Büfett loszog. „Das habe ich dir in meiner Mail geschrieben. Aber dann habe ich mir doch Gedanken gemacht.“

„Worüber?“

„Mir sind so Sachen eingefallen.“

„Zum Beispiel?“

„Dass du deine Brille nicht reparieren lassen willst. Du willst den Computer nicht einschalten. Willst du denn überhaupt nach Italien fahren?“

„Was hat das eine mit dem andern zu tun?“ Sie berührte seinen Scheitel.

„Du sagst in letzter Zeit so Sachen … Zum Beispiel, wenn ich dir neue Hausschuhe kaufen will, sagst du: Zahlt sich das noch aus? Oder wenn ich finde, du rauchst mehr in letzter Zeit, antwortest du: Glaubst du, es könnte mich umbringen? Was du sagst, hat oft mit … mit …“

„Mit dem Tod zu tun.“

Er sah sie an.

Sie nickte freundlich. „Womit denn sonst, Vegele? Der alte Freund ist ständig da. Er streicht durch die Zimmer, er schmökert in meinen Büchern. Er kostet von meinem Essen, wir plaudern beim Cognac miteinander. Was denkst du? Dass der Tod irgendwann gewaltsam zupackt, so wie der Mörder im Tatort? In meinem Alter ist der Freund immer um mich, Vegele, auch jetzt. Das ist das Schöne, wenn man so alt wird wie ich. Man hat Zeit, diese Freundschaft zu pflegen.“

„Ich will aber nicht, dass du stirbst.“ Alain war Hauptkommissar, ein tougher Kerl vom Staatsschutz, aber er konnte nichts dagegen tun, dass seine Augen feucht wurden.

„Mein Jingele, ach, mein Jingele.“ Sanft und streng streichelte sie seinen schwarzen Haarschopf. „Frag mich bloß nicht nach der Kehrseite des Alters.“

„Wieso? Ist irgendwas nicht in Ordnung?“

„Ich mag dir solche Sachen nicht erzählen.“

„Was für Sachen?“ Er stemmte sich auf die Knie hoch.

„Letzte Woche hatte ich Durchfall, und diese Woche kann ich überhaupt nicht aufs Klo gehen.“ Sie zwinkerte. „So, jetzt weißt du’s. So sieht das gesegnete Alter aus.“

Alain verstand genau, dass sie ihm solche geriatrischen Fakten nur an den Kopf warf, um ihm seine Sentimentalität auszutreiben. Niemand besaß so viel Gefühl wie Helene, aber Sentimentalität konnte sie nicht leiden.

„Erzähl mir von Italien. Du hast für uns gebucht?“

„Ja, du wirst staunen, ein schönes Haus mit Garten. In der Anzeige schreiben sie rollstuhlgerecht, aber was weiß man schon in Italien? Es liegt am Rande der Amalfiküste, fast auf der Sorrento-Halbinsel. Dort dürfte es mit den Touristen nicht so schlimm sein. Ich frage mich trotzdem, ob dir das nicht zu viel wird.“

„Zu viel? Ich freu mich. Ach, ich freu mich so.“ Temperamentvoll schlug Helene mit der Linken auf die Armlehne, mit der Rechten nahm sie den Teller von Anna entgegen.

„Worüber freust du dich?“, erkundigte sich die Enkelin.

„Auf meinen Urlaub.“

Konsterniert wandte sich Anna an Alain. „Wann hat Oma das letzte Mal Urlaub gemacht?“

„Neunzehnhundertvierundneunzig“, antwortete die Großmutter. „Auf Teneriffa. Eine grässliche Insel. Wer will schon schwarze Strände sehen? An der Amalfiküste sind die Strände weiß, oder?“

Im Balkonzimmer wurde es laut. Alain stand auf. Es sah nach einem Streit zwischen Diana und ihrem Vater aus.

„Entschuldige mich bitte, Oma.“

 

Diana war nicht sicher, ob sie es mit Ignoranz, Demenz oder Antisemitismus zu tun hatte. „Worüber regst du dich auf, Papa? Dir war Religion doch immer egal.“

„Du willst zum Judentum übertreten? Die Görings sind Katholiken. Die Görings waren immer katholisch.“ Der grauhaarige Göring gestikulierte wie ein schlechter Schauspieler.

„Wann bist du das letzte Mal in der Kirche gewesen?“

„Ich bin Spendenmitglied der Laurentius-Basilika Wuppertal!“

„Was hat das mit meiner Verlobung zu tun?“

Wie ein Geier, der das Fliegen verlernt hatte, wedelte Göring mit den Armen. „So war es immer schon! Du machst, was du willst! Alle andern sind dir egal.“

„Komm mir jetzt nicht damit, dass du der vereinsamte Rentner bist, den keiner mag.“

„Ich bin der vereinsamte Rentner, den keiner mag!“

„Und woran liegt das? Sieh dich um. Die Welt dreht sich weiter, Papa, auch wenn du das in deinem beschissenen Wuppertal nicht mitkriegst. Jüdinnen heiraten katholische Deutsche, Türkinnen schlafen mit Männern aus Schleswig-Holstein, agnostische Frauen lassen sich auf Saarländer ein, so läuft es heutzutage. Und das wäre dir aufgefallen, wenn du mal über deinen Tellerrand hinausschauen würdest.“ Diana fauchte. „Du machst mir meine Verlobung nicht kaputt, du nicht!“

Alain war nicht schnell genug im Balkonzimmer, um einzugreifen. Ein kräftiger Mann in mittleren Jahren kam ihm zuvor.

„Di! Bitte beherrsch dich, Di!“, sagte Vizepräsident Ewald Beryll.

Diana hatte Beryll öfter gebeten, sie nicht wie die verstorbene Prinzessin der Herzen anzureden, aber er ließ sich nicht davon abbringen.

„Komm zu dir, Di. Es sehen ja schon alle hierher“, setzte er noch eins drauf.

Die dänischen Görings waren näher gekommen, wohl nicht, um den Streit zu schlichten, sondern um mitzuerleben, wie sich die deutschen Görings zerfleischten. Als Letzter traf der Bräutigam ein. Er fasste Diana am Arm. „Was war los?“

„Sie hat sich aufgeregt“, antwortete Beryll an ihrer Stelle.

Wer bist du, ihr Psychiater?, dachte Alain. Er hatte den Mann mit dem großen Ego und dem unmännlich breiten Hintern noch nie gemocht. Neulich erst hatte man Beryll zum Vizepräsidenten des Verfassungsschutzes ernannt.

„Ich muss was trinken“, knurrte Diana. „Wollen wir was trinken?“ Sie streichelte Alains Hand.

„Darf ich mich anschließen?“, fragte Beryll.

„Wollen wir den Verfassungsschutz mitnehmen?“, seufzte Alain.

Zu dritt betraten sie die Küche.

Die Frau am Büfett war Malaiin, der Mann bei den Getränken Jordanier. Man hätte misstrauisch werden können, ob die Regeln der koscheren Küche von den beiden eingehalten wurden. Doch bisher zeigten sich alle einschließlich des Rabbiners zufrieden.

Alain nahm ein Glas Wein. „Du auch?“

Diana bemühte sich, das Vorgefallene abzustreifen. „Für mich etwas Härteres. Was trinkt Helene?“

„Cognac.“

„Einen dreistöckigen“, bestellte Diana beim Jordanier.

Ausgerüstet mit zwei Chardonnays und einem Napoléon, betraten sie den Küchenbalkon. Schwer brütete der Sommer über Berlin. Als ob man durch Glasfasern gehen würde, so fühlte sich die Hitze an, tagelang, wochenlang. Es war Ende Juni, aber die Natur wirkte vertrocknet wie im August. Die braunen Wiesen, die ausgedörrten Wälder Brandenburgs erinnerten an Urlaub in Griechenland. So, wie er früher war, als Lea noch lebte. Inzwischen war die Hitze weit in den Norden vorangekommen. In London kletterte das Thermometer auf die Werte Barcelonas, in Berlin war es heißer als in Athen. Die große Seuche, die über die Welt gekommen war, hatte den Planeten nur kurz aufatmen lassen. Die Luft war frischer geworden, das Wasser klarer, die Straßen leerer. Der Himmel über Berlin gehörte wieder den Vögeln, weil deutsche Rentner nicht mehr nach Peru oder Myanmar fliegen konnten. Eine neue Genügsamkeit, eine neue Bescheidenheit schien von den Menschen Besitz ergriffen zu haben. In Wirklichkeit war es nur die Angst vor dem unsichtbaren Tod.

Alain war neugierig, was Diana so aus der Fassung gebracht hatte, aber in Gegenwart von Beryll wollte er sie nicht danach fragen. Sein Handy klingelte. Er hätte es abstellen müssen. Am Tag seiner Verlobung durfte man schon mal unerreichbar sein. Doch wegen der Gratulanten aus Übersee hatte er es eingeschaltet gelassen. Die Liebermanns aus Seattle, die Liebermanns aus Reykjavik hielten den Himmel über Berlin sauber und waren nicht angeflogen. Alain nahm das Ding aus der Tasche. Es war kein Gratulant aus Übersee.




2

„Mein Sohn Ghazal ist auf die Erika-Mann-Grundschule gegangen“, sagte Frau Nuraddin. „Er war einer von zehn Schülern in der Begabten-Klasse. Mit fünf Jahren konnte Ghazal die Bürgschaft von Schiller auswendig aufsagen. Während der Pandemie hat ihn unsere Nachbarin, die alte Frau Konopke, gebeten, zu Lidl zu gehen. Ghazal hat das gern getan, er hat für mehrere Leute im Haus eingekauft. Er ist nicht zurückgekommen. Viele Leute waren auf seiner Beerdigung, selbst der Bürgermeister, weil die Tagesschau dort gedreht hat. Niemand wollte die Frage beantworten, wie der Körper eines Achtjährigen so zerbrochen werden konnte, dass man ihn in einen Wartungsschacht stopfen konnte. Ein quadratisches Loch im Beton war das Grab Ghazals. Es gibt keine Antworten auf Fragen, die man nicht einmal denken kann.“

Frau Nuraddin trug kein Kopftuch, keinen Schleier. Sie sprach akzentfreies Deutsch. Ihre Haut war bronzefarben, ihre Augen dunkel, traurig, ausdrucksstark. Sie stand in einer Gruppe von zwanzig Frauen, die am Fundort demonstrierten. Die Polizei nötigte sie nicht, zurückzutreten. Die Frauen trugen Schilder auf der Brust, bemalte Pappdeckel, die die Namen ihrer vermissten, ihrer getöteten Kinder trugen.

„Wir haben darauf gewartet, dass die Polizei die Fälle löst“, sagte Frau Nuraddin. „Wir haben geduldig gewartet, als man zusätzlich das Bundeskriminalamt eingeschaltet hat. Wir haben die Geduld nicht verloren, als der Staatsschutz darauf angesetzt wurde. Wir haben gewartet, und wir haben gebetet. Acht unserer Kinder sind tot, vier weitere werden vermisst. Bis jetzt haben Sie nicht einen einzigen Fall gelöst, Herr Liebermann. Unsere Kinder sterben weiter.“ Die hochgewachsene Frau trat auf Alain zu. „Sie sollten etwas dagegen tun. Aber Sie tun nichts dagegen. Niemand tut etwas.“

Sie überreichte ihm eine Mappe, Lederimitat mit goldverstärkten Rändern.

Er nahm sie entgegen. „Was ist das?“

„Darin ist alles, was wir gesammelt haben. Fotos von den Fundorten der Leichen. Mütter sind hingegangen und haben die Orte fotografiert, wo ihre Kinder gefunden wurden. Sie finden auch Bilder unserer Kinder, so wie wir, die Mütter, die Schwestern, die Großmütter sie in Erinnerung haben. Wir bringen unseren Kindern bei, wie man in dieser Welt auf sich aufpasst und auf andere Rücksicht nimmt.“ Frau Nuraddin wies auf die Frau hinter sich. „Der Sohn von Jamila wird seit einer Woche vermisst. Er könnte noch am Leben sein. Was tun Sie, Herr Liebermann, was tun Sie, um unsere Kinder zu schützen?“

Alain hatte ein Erbe übernommen, das niemand wollte. Die unterschiedlichen Dienststellen hatten zunächst Einzelfälle bearbeitet. Fünf Kinder waren gestorben, bevor jemand auf den Gedanken kam, ihre Tode in Verbindung zu bringen. In einer Stadt wie Berlin starben jährlich viele Kinder, manche gewaltsam. Fünf tote Kinder ergaben noch keinen zusammenhängenden Fall. Nicht die Behörde, die Öffentlichkeit stellte den Zusammenhang her. Die Medien behaupteten. Die Politik erschrak. Die Politik verlangte. Köpfe rollten. Der Bürgermeister forderte. Der Innenminister befahl.

Weil es Kinder waren. Weil tote Kinder die Betrachtungsweise änderten. Ein getötetes Kind war das Schlimmste, was einer Familie geschehen konnte. Inzwischen war der Fall ein rotes Tuch geworden. Keiner wollte ihn. Man konnte keine Lorbeeren damit gewinnen. Alain hätte es in der Hand gehabt, sein Team aus der Sache herauszuhalten. Kindermord in Berlin war eine Aufgabe für das Landeskriminalamt. Doch als Alain von seinem Chef, dem Direktor, auf die toten Kinder angesprochen worden war, zögerte er keinen Moment. Alain war kein Ritter in schimmernder Rüstung, kein Retter der Witwen und Waisen und kein kriminalistischer Kamikazekämpfer. Er wollte nur verhindern, dass Kinder starben.

Nachdem Lea, Alains erste Frau, in ihrem eigenen Haus vergewaltigt worden war, nachdem sie schlimme Erfahrungen mit der Strafbehörde durchmachen musste, nachdem der Täter eine harmlose Bewährungsstrafe bekam und nie ein Gefängnis von innen sah, waren die Liebermanns aus dem Viertel weggezogen und ließen sich in Pankow nieder. Lea wurde schwanger. Ein Kind sei das beste Heilmittel für ihren Zustand, nahm Alain an. Aber Lea war geschwächt. Obwohl sie behauptete, sich auf das Kind zu freuen, schien ihr die Kraft für ein zweites Leben in ihrem Körper zu fehlen. Das Kind starb im fünften Monat. Nicht lange danach wurde bei Lea Krebs festgestellt.

Es gab keine Verbindung zwischen Alains Kind, das nie geboren wurde, und den toten Kindern aus dem Wedding. Aber es gab den Schmerz. Alain hatte sich diesen Schmerz gemerkt, sich mit ihm verbündet, lange bevor er die Frauen kennengelernt hatte. Er hatte sein eigenes Kind sterben lassen müssen, hatte Lea beim Sterben zugesehen. Er wollte keine Kinder sterben sehen.

Alain nahm die Mappe entgegen. Er machte den Frauen keine Versprechungen, verabschiedete sich und betrat das Gebäude, in dem das achte tote Kind in einer aufgelassenen Manufaktur gefunden worden war. Er vermochte nicht sofort, hinaufzugehen. In der zweiten Etage legte er die Mappe auf das Fensterbrett und sah hinaus.

Der Wedding. Hübsche Häuser standen hier, trotzdem zog man lieber nicht in das Viertel. Es gab Gewerbehöfe, die kaum jemand betrat, der Deutsch sprach. In denen sich die Polizei in Corona-Zeiten nicht zu prüfen getraut hatte, ob die Leute Masken trugen. Es gab protestantische Friedhöfe, auf denen Muslimas ihre Kinderwagen schoben. Im Wedding betrat man die Welt einer anderen Religion. Muslime und Christen lebten gemischt, aber die Lebensmittel in den Supermärkten gaben Auskunft darüber, wessen Suppe hier wirklich gekocht wurde. Der Wedding war dabei kein migrantischer Hotspot, keine problematische Randlage, es war ein Bezirk im Herzen Berlins. Vor der Wende war der Wedding die Frontlinie zum Osten gewesen. Man erkannte die Grenze noch, aber nicht wegen des ehemaligen Mauerstreifens, sondern weil im Wedding die Wohnbunker standen, nach dem Krieg hastig hochgezogen, um Wohnraum im zerbombten Berlin zu schaffen. Im Osten waren die Gründerzeithäuser vierzig Jahre lang verfallen. Nach der Wende beendeten sie ihr Dornröschendasein, wurden aufwendig restauriert und boten zahlungskräftigen Bewohnern ein neues Heim. Dort residierten heute IT-Manager, Verleger, Hedgefonds-Jongleure, Russen, Franzosen, Tesla-Fahrer.

Alain nahm die Mappe unter den Arm und ging in den dritten Stock.

***

„Diese Frau Nuraddin ist schon etwas ganz Besonderes.“ Er schaute durch die Schlitze der Jalousie in den verhangenen Himmel. „Statt den Schmerz über den Tod ihres Kindes zu bewältigen, lädt sie den Schmerz über all die ermordeten Kinder auf sich.“

„Dadurch ist es leichter.“ Salma drehte den Rollstuhl in Alains Richtung. „Nichts ist schwerer zu ertragen als Ohnmacht. Frau Nuraddin streift die Ohnmacht ab, sie ist aktiv geworden. Sie bewirkt etwas. Andere schließen sich ihr an.“

Alain hatte den inneren Kreis seiner Einheit in den Konferenzraum bestellt. Die Gäste auf seiner Verlobungsparty waren inzwischen wahrscheinlich zu den Süßigkeiten übergegangen, den Halvaschnecken, den mit Marzipan gefüllten Datteln. Sie feierten ohne ihn weiter. Warum auch nicht? Wenn es brannte, rief man die Feuerwehr, wenn ein Mord geschah, die Polizei. Auch am Tag seiner Verlobung war Alain Polizist.

Er befand sich im Kreis von Menschen, die ihm ans Herz gewachsen waren. Nummer zwei des Mobilen Einsatzkommandos Staatsschutz war Salma Defraui, die Analystin, seit Kurzem verheiratet, durch eine Schussverletzung im Dienst Dialysepatientin ohne Aussicht auf eine Spenderniere. Nummer drei war der Riese, der Zweimeterzehnmann mit dem gütigen Herzen und der Treue einer Taube. Velkan, der Hacker, hatte keine Nummer. Keine Firewall hielt ihm stand, im digitalen Dschungel schwang er sich von Liane zu Liane. Velkan war der frischgebackene Ehemann Salmas. Wenn eine unmögliche Liebe je zu einer unmöglichen Ehe geführt hatte, dann bei diesen beiden. Velkan, das Fluchttier, Salma, die Menschen umarmende Palästinenserin, die nur an Grenzen stieß, wenn sie es mit dem Rollstuhl nicht über den Bordstein schaffte.

„Haben wir die vorhandenen Ähnlichkeiten ausreichend auf Eindeutigkeit geprüft?“, fragte Alain.

Salma hielt dicht vor ihm. „Es ist uns bisher nicht gelungen, aus zwölf unterschiedlichen Fällen einen Fall zu schmieden, weil es keine eindeutigen Ähnlichkeiten gibt.“

„Sechs der Kinder stammen aus dem gleichen Umfeld. Alle zwölf wurden am helllichten Tag entführt. Kann man das nicht als homogenen Opferpool bezeichnen?“

„Du willst es so bezeichnen. Weil die Mütter der Kinder nicht müde werden, das zu behaupten.“

„Ich bin nicht das Sprachrohr dieser Mütter.“

„Aber indem die Mütter die Fälle in Verbindung bringen, schaffen sie es, sie in der öffentlichen Wahrnehmung wachzuhalten“, entgegnete Salma.

„Vergessene Morde werden nachweislich seltener aufgelöst als solche, die die Gemüter erregen“, pflichtete Nummer drei bei.

Alain war müde. Das kam vom Chardonnay. „Die Anzahl mehrerer Morde in relativ kurzer Zeit ist der stärkste Hinweis, den wir haben.“

„Im Schnitt gibt es in Berlin siebzig Kindermorde pro Jahr“, konterte Salma. „Die acht Kinder, so traurig ihr Tod auch ist, stellen statistisch keine Abweichung vom Durchschnitt dar.“

Alain wollte die Müdigkeit abschütteln. „Die meisten Opfer sind Jungs, schlank, sportlich, zwischen acht und dreizehn Jahren alt. Sie stammen aus Familien mit muslimischem Hintergrund. Ergibt sich daraus nicht ein Muster?“

„Keines, das ich erkennen kann.“ Salma rollte zum Tisch. „Im ersten Fall haben wir eine Schießerei mit darauffolgender Strangulation.“ Sie griff zur nächsten Akte. „Beim Tod des kleinen Mahmud kam es zum bisher einzigen sexuellen Übergriff. An dem neunjährigen Yussuf konnte der Pathologe wegen des Zustands der Überreste seines Körpers nicht einmal die Todesursache feststellen. Ghazal, der Sohn von Frau Nuraddin, starb durch Strangulierung. Die Frakturen an seinem Körper wurden ihm post mortem zugefügt.“

Im Humboldthain, verborgen hinter Eibensträuchern, war die fünfte Leiche gefunden worden. Auf einem verlassenen Gewerbehof an der Bornholmer Brücke hatte ein Obdachloser das sechste tote Kind entdeckt. Vergraben nahe der Osloer Straße war die siebte Leiche schon ziemlich verwest gewesen.

Salma setzte den Rollstuhl zurück. „Es bricht mir das Herz, das anzusehen, schon die Vorstellung bricht mir das Herz, trotzdem erkenne ich hier keine Verbindung.“

Velkan hatte bis jetzt nur zugehört, wie meistens, wenn seine Frau den Diskurs bestimmte. Es sollte nicht so aussehen, als ob das Ehepaar gemeinsam Partei ergriff. Jetzt ergriff Velkan Partei, gegen Salma.

„Das Vorgehen eines Serientäters ist manchmal unbeständig.“

Velkan hatte es ausgesprochen, das Wort, das bisher jeder vermied, die Polizei, das BKA und auch der Bürgermeister. Serientäter. Ein Serientäter in Berlin war ein Phantom, das keiner wollte, die Politik nicht, die Tourismusbranche nicht und die ermittelnde Behörde genauso wenig.

„Eine Mordserie ist nicht einmal ansatzweise festzustellen“, widersprach seine Gattin.

Velkan schlang den linken Arm um seinen Nacken, eine Haltung, in die er verfiel, wenn er in Bedrängnis geriet. „Mit den Augen eines weißen Deutschen betrachtet, sehen diese Kinder alle irgendwie ähnlich aus. Dunkelhäutig, schwarzhaarig, schlank und sportlich. Ihre Abstammung ist ohne Ausnahme muslimisch.“

Salma musterte ihn überrascht. „Du hast das Profil deines Serienkillers ja schon deutlich vor Augen: der widerliche Deutsche, der muslimische Kinder entführt und tötet.“

Velkan schlang auch den rechten Arm um seinen Nacken. „Das habe ich nicht gesagt.“

Salma rollte auf ihn zu. „Berlin ist voll von potenziellen Opfern, die in dein Schema passen. Die meisten der getöteten Kinder stammen aus einem sozial schwachen Umfeld. Bei der Aufklärung gibt es ein zusätzliches Problem: das historische Misstrauen der muslimischen Kommune gegenüber der Polizei. Diese Leute fühlen sich verfolgt, sie gehen mit ihren Anliegen nicht zu den Behörden. Sie fühlen sich in Deutschland als Menschen zweiter Klasse.“

„Was hat das mit der Verbindung zwischen den Morden zu tun?“

„Das offizielle Berlin will eine solche Verbindung nicht wahrhaben. Man ist bemüht, den Medienlärm leise zu halten, aus Angst, er könnte Investoren abschrecken und dem Ruf Berlins als Partystadt Europas schaden.“

„Der Lärm ist bereits da“, ging Alain dazwischen. „Er wird nicht aufhören, bis wir den Fall gelöst haben. So lange muss Berlin damit leben, nicht die Partymetropole Europas zu sein.“

Er zog den Aktenstapel heran.

„Ich habe meine Verlobungsparty verlassen, um an einen Ort zu fahren, an dem man die Leiche eines Zehnjährigen in einem schwarzen Müllsack deponiert hat. Wenn ich schon der Spoiler meiner eigenen Verlobung bin, will ich mir jetzt jeden einzelnen Fall noch mal vornehmen.“

„Ich hasse es, das zu sagen.“ Salma griff nach den Akten, die Alain ihr zuwies. „Um Verbindungen zwischen den Taten zu finden, müssen wir möglicherweise auf weitere Leichen warten.“

 

Eine Stunde später, als draußen bereits die blaue Stunde anbrach, läutete Alains Telefon. Er nahm ab.

„Heute Nacht könnte ich Ihre Hilfe gebrauchen, Herr Liebermann.“

„Wer spricht da?“

„Beryll hier.“

„Herr Vizepräsident?“, fragte Alain verwundert. „Ich dachte, Sie sind auf meiner Party.“

„So wie Sie ruft auch mich die Pflicht“, erwiderte Beryll. „Es geht um einen Einsatz gegen Victor DeGroot.“

Victor DeGroot war ein international gesuchter Schwerverbrecher. Dutzende Morde, die Verletzung zahlloser Wirtschaftsgesetze, Korruption, Cyberkriminalität, Geldwäsche, Verrat von Staatsgeheimnissen gingen auf sein Konto.

Alain sah seine Mitstreiter an und schaltete auf Lautsprecher. „Meinen Sie DeGroot, den Schwarzmarkthändler?“

„Er ist in Berlin“, bestätigte Beryll. „Heute Nacht können wir ihn fassen.“

„Warum glauben Sie, dass wir Ihnen dabei helfen können, Herr Vizepräsident?“

„Lassen Sie den Präsidenten mal weg, Alain. Die Aktion ist extrem kurzfristig anberaumt worden. Ihr mobiles Einsatzkommando hat die richtigen Leute und das nötige Equipment. Ich fordere Ihr Team zur Unterstützung an.“

„Sollen wir zu Ihnen rüberkommen?“

„Besser, ich komme zu Ihnen, Alain.“

„Gut. Dann erwarten wir Sie also … ähm, Ewald.“ Alain legte auf und sah in die Runde.

„Wirst du ihn ab jetzt wirklich Ewald nennen?“, erkundigte sich Velkan.

„Ich weiß, das ist hart.“

Salma rollte auf Alain zu. „Was soll deine Braut nur von dir denken, wenn du ihr schon in der Verlobungsnacht davonläufst?“

Michael Wallner

Über Michael Wallner

Biografie

Michael Wallner spielte nach seiner Ausbildung am Wiener Max Reinhardt-Seminar am Burgtheater und am Berliner Schillertheater. 1982 erhielt er den Schauspielerpreis beim Norddeutschen Theatertreffen. Seit 1987 arbeitet er als freischaffender Theater- und Opernregisseur und inszenierte unter anderem...

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