Silva & Baal — Inhalt
Entdecke die Macht der alten Magie!
Als die junge Hexe Silva nach ihrem Schulabschluss nach Afrika geschickt wird, um einen alten Dämonenmythos zu erforschen, ahnt sie nicht, dass ihre Reise sie bis in die Unterwelt führen wird – und in die Arme des gut aussehenden Dämons Baal.
Silva ist fasziniert von Baals Leben, der als Fürst mit dem impulsiven und aggressiven Verhalten seiner Untertanen zu kämpfen hat, während er versucht, den schlechten Ruf der Dämonen aus der Welt zu schaffen. Die junge Forscherin möchte Baal und den Kreaturen der Unterwelt eine Chance geben. Zwei vollkommen unterschiedliche Welten prallen aufeinander ...
Ein Roman aus der Welt der erfolgreichen „Bitter & Sweet“-Reihe – dieser Einzelband ist der ideale Einstieg in die Welt von Linea Harris!
Leseprobe zu „Silva & Baal“
1 Silva
„Wir haben keine Zeit für eine Pause!“ Annabell Grants knurrende Stimme drang gedämpft durch das Unterholz, als Antwort auf eine Frage aus dem knackenden und rauschenden Funkgerät.
Silva löste sich seufzend von der glatten Steinplatte, die sie unter dem von Farnen überwucherten Boden entdeckt und eingehend studiert hatte. Auf den ersten Blick hatte es so ausgesehen, als wäre die Platte von Menschenhand hergestellt worden, aber es war nur ein flacher Stein, seine Konturen vom Regen verwaschen, die Farbe verblichen.
Ächzend richtete sie sich auf und [...]
1 Silva
„Wir haben keine Zeit für eine Pause!“ Annabell Grants knurrende Stimme drang gedämpft durch das Unterholz, als Antwort auf eine Frage aus dem knackenden und rauschenden Funkgerät.
Silva löste sich seufzend von der glatten Steinplatte, die sie unter dem von Farnen überwucherten Boden entdeckt und eingehend studiert hatte. Auf den ersten Blick hatte es so ausgesehen, als wäre die Platte von Menschenhand hergestellt worden, aber es war nur ein flacher Stein, seine Konturen vom Regen verwaschen, die Farbe verblichen.
Ächzend richtete sie sich auf und strich sich die schweißnassen roten Locken aus der Stirn. Auch sie hätte eine Verschnaufpause gebraucht, um neue Energie zu sammeln.
Die Wärme und die Luftfeuchtigkeit im Dschungel waren unerträglich. Zum wiederholten Male schlug Silva nach einem Moskito, obwohl sie wusste, dass es zwecklos war, gegen diese Übermacht ankommen zu wollen. Hoffentlich lohnten sich die Strapazen. Alles hing von dieser einen, letzten Mission ab.
Drei Monate dauerte ihre Forschungsreise nun schon und vor etwa zwei Wochen hatte es sie vom Süden Afrikas weiter in die Mitte bis in den tiefsten Dschungel verschlagen. Der Rest des Forscherteams, bestehend aus zwei weiteren Wissenschaftlern, fünf kampferprobten Jägern und zwei Einheimischen, die ihnen den Weg weisen sollten, musste sich irgendwo in der Nähe befinden. Silva konnte das Knacken der Äste unter ihren Schuhen und gedämpfte Stimmen hören. Schon seit den frühen Morgenstunden war der Suchtrupp unterwegs, doch bisher hatten sie nichts als nur Lianen, Giftschlangen und Krabbeltiere gefunden.
Annabell hatte recht, sie sollten keine Zeit verlieren, jetzt, wo sie unbedingt fündig werden mussten, denn die Verborgenenorganisation in London übte zunehmend Druck auf das Forscherteam aus. Ursprünglich waren Annabell und Silva zusammen mit den Wissenschaftlern Jake und Wasil nach Südafrika geschickt worden, um während der dort stattfindenden Ausgrabungen eines Tempels anwesend zu sein und Informationen für die VO, der Organisation der übernatürlichen Wesen in England, zu sammeln. Es handelte sich um ein stinklangweiliges Projekt, denn der Tempel dort war nicht alt genug, um Informationen über alte Magie zu enthalten. Das war von vornherein klar gewesen.
Da die beiden jungen Frauen sich allerdings erhofft hatten, in Afrika neue Erkenntnisse zu ihren eigenen Forschungen zu ergattern, hatten sie ohne mit der Wimper zu zucken zugestimmt. Wann bekam man schon die Chance, für ein paar Wochen nach Afrika zu reisen und Kost und Logis vom Arbeitgeber bezahlt zu bekommen?
Seit zwei Jahren schon beschäftigten sich Silva und ihre Freundin mit der Prana, der Lebensenergie aller Lebewesen und dem Ursprung der Magie, sowie der Herkunft der Hexen, Vampire, Werwölfe und Dämonen.
Dämonen. Sie waren ein umstrittenes Thema und die meisten Menschen schliefen ruhiger, wenn sie die Tatsache ignorierten, dass Dämonen existierten. Schließlich lebten diese in der Unterwelt, einer eigenen Dimension, wenn man es so wollte, und hatten kaum Möglichkeiten, in die Realität zu gelangen. Doch wollte man wie Silva und Annabell den Ursprung der Magie erforschen, kam man einfach nicht daran vorbei, sich auch mit Dämonen zu befassen.
Zunächst war die Forschung der Freundinnen nahezu ergebnislos verlaufen, denn in Europa schien man alles, was an Dämonen erinnerte – oder Informationen, die auch nur ansatzweise mit ihnen zu tun hatten – weitestgehend ausgelöscht zu haben. Die Aussicht auf eine Reise nach Afrika allerdings war ihnen vielversprechend erschienen. Und tatsächlich hatten sie in Südafrika Hinweise gefunden, die darauf hindeuteten, dass die Einheimischen hier viel mehr über Dämonen und die Unterwelt wussten, als in Europa bekannt war. Während der Ausgrabungen des Tempels in Südafrika hatten die beiden jungen Frauen ihre Freizeit genutzt, um mit Einheimischen zu reden und sich alte Sagen und Legenden erzählen zu lassen. In Afrika war es kein Tabu, über Dämonen zu reden, und man versuchte nicht, das Thema totzuschweigen, auch wenn es lange Zeit gedauert hatte, bis Silva und Annabell das Vertrauen der Einheimischen erlangt hatten. Sie waren an allerhand brauchbare Informationen gelangt und beinahe alle Hinweise deuteten auf die Ureinwohner dieses Dschungels hin, die angeblich unendlich viel Wissen über Dämonen horteten.
Es war von einem Stamm die Rede, tief im Dschungel und fernab der Zivilisation. Von ihm wurde mit Ehrfurcht und nur in Verbindung mit inbrünstigen Gebeten gesprochen, denn laut einer Legende war der gesamte Stamm vor vielen Jahrzehnten von Dämonenhand ausgelöscht worden.
Als die Ausgrabungen des Tempels in Südafrika beendet waren, hatten Silva und Annabell mit Engelszungen auf den Leiter der Verborgenenorganisation in London, Mr. Gordon, eingeredet, bis dieser den beiden schlussendlich genehmigt hatte, die Forschungen im Kongo fortzuführen und sich auf die Suche nach Hinweisen zu besagtem Stamm zu machen. Und so hatte es sie tiefer ins Land hineingeführt, so weit in die Wildnis, dass Silva nicht im Traum gedacht hätte, dass jemals menschliches Leben bis hierher gedrungen war. Doch anscheinend hatte sie sich geirrt. Vor einigen Stunden hatte das Team Spuren vergangener Existenzen gefunden – und das keinen Tag zu früh.
Mr. Gordon, der VO-Leiter, war zunehmend mürrischer geworden und hatte ihnen schlussendlich eine Frist gesetzt, bis wann sie Ergebnisse erzielen mussten, bevor er ihnen die Geldmittel für diese, wie er es nannte, „sinnlosen Kinkerlitzchen“ strich. Es war nie geplant gewesen, ein Team in den Kongo zu schicken, und nur Annabells Hartnäckigkeit hatten sie es zu verdanken, dass Gordon sich hatte überreden lassen. Er bereute die Entscheidung längst.
Silva verzog das Gesicht bei dem Gedanken an den festgefahrenen alten Mann, der kaum über den Tellerrand hinausschaute und den es nicht die Bohne interessierte, dass es neben der Realität noch eine weitere Welt gab, über die man bislang so gut wie nichts wusste.
Gerüchten zufolge bereitete sich Gordon bereits seit Jahren auf den Ruhestand vor und seine potenziellen Nachfolger standen Schlange. Insbesondere Henry Cole, ein ehrgeiziger Jungspund, galt als Favorit für den Posten des Leiters der Verborgenenorganisation. Silva war jedoch unsicher, ob dieser andere Ziele verfolgte als Mr. Gordon.
Sie wollte es nicht auf einen Versuch ankommen lassen. Vermutlich war diese Forschungsreise ihre letzte Möglichkeit, brauchbare Ergebnisse zu erzielen und mehr über die Unterwelt herauszufinden, bevor man sie wieder für langweilige Forschungen im Labor einsperren würde. Nach den letzten aufregenden Wochen konnte sie sich kaum vorstellen, wieder unverrichteter Dinge in ihre kleine Wohnung in London zurückzukehren und jeden Tag an die Arbeit zu gehen.
Was hatte sie in den zwei Jahren, die sie nun für Mr. Gordon arbeitete, schon Bahnbrechendes herausgefunden? Nichts! Eine Kerze, deren Duft während der Zeit des Vollmondes entspannend auf Werwölfe wirkte? Das war wohl kaum der Rede wert.
Silva schüttelte den Gedanken ab. Sie und Annabell waren kurz davor, etwas zu entdecken, das die Welt tatsächlich verändern konnte. Wenn die Hinweise, die sie gefunden hatten, wirklich stimmten, hatten sich die Menschen vor vielen Jahrzehnten der Magie der Dämonen bedient, auf welche Weise auch immer. Was das genau bedeutete, konnte sich Silva kaum ausmalen, aber es konnte ein Durchbruch werden, und sie würde versuchen, alles darüber herauszufinden, wenn ihr nur genug Zeit blieb. Und die hatte sie nicht.
Wenn dieser Stamm so viel Kontakt zu Dämonen gehabt hatte, wie die Gerüchte besagten, dann waren vielleicht noch unschätzbare Informationen erhalten geblieben.
Silva kletterte über einen Felsen und versuchte, unter dem lauten Gezwitscher exotischer Vögel und dem Geschrei von Affen auszumachen, wo sich ihre Freundin befand. Sie entdeckte Annabell ein paar Meter weiter. Sie starrte angestrengt auf eine Karte, als versuche sie, zwischen all dem Grün einen Hinweis darauf zu finden, dass sie auf dem richtigen Weg waren.
Silva nutzte den Moment, um ihre Freundin zu betrachten. Annabell war das exakte Gegenteil von Silva. Während Silva mit ihrem zarten Körper, der hellen Haut, den vielen Sommersprossen und den roten Haaren eher einer Porzellanpuppe glich, war Annabell sehnig und braun gebrannt. Ihre dunklen Locken verliehen ihr das exotische Aussehen, das zu ihrem Temperament passte. Nur die grünen Augen teilten sich die beiden Freundinnen, ein Hinweis auf ihre Hexenabstammung. Doch auch in ihren magischen Fähigkeiten unterschieden sich die beiden grundlegend, denn während Silva die Gabe des Feuers angeboren war, beherrschte Annabell den Wind und konnte ihre Magie zudem verwenden wie funkelnden Strom, der aus ihren Fingern floss – eine sehr seltene Gabe.
Annabell war in vielerlei Hinsicht perfekt und zog nicht selten die Blicke der Männer auf sich. Auch jetzt glich sie einer Amazone, als sie in einem bauchfreien Top und einer engen schwarzen Hose dastand und die Hände in die Hüften stemmte. Annabell wusste um ihr Aussehen und ihre magischen Fähigkeiten und nutzte sie nicht selten, um bei Männern Eindruck zu schinden oder schlicht und einfach ihren Willen durchzusetzen.
Sie war manchmal etwas impulsiv, doch Silva wusste damit umzugehen, und so war zwischen ihnen schon während der gemeinsamen Schulzeit an der Winterfold Akademie eine gute Freundschaft entstanden, bevor sie sich gemeinsam der Forschung gewidmet hatten. Silva schätzte es, dass Annabell kein Blatt vor den Mund nahm und ehrlich sagte, was sie dachte. Nicht viele Menschen taten das. In Annabell loderte ein Feuer, das Silva von Anfang an begeistert hatte. Durch ihre gemeinsame Hingabe an die Forschung und den unerschöpflichen Wissensdurst, den sie teilten, hatten sie zueinander gefunden. Annabell gehörte zu den Menschen, die für einen durchs Feuer gehen würden, wenn man einmal ihre Gunst erlangt hatte.
Als Silva jetzt näher kam, hob Annabell den Kopf.
„Wir müssten schon längst etwas gefunden haben“, murmelte sie mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln. „Aber hier ist nichts außer diesem verdammten Gestrüpp!“
Wie zur Bestätigung knackte das Funkgerät an ihrer Hüfte erneut und leise Worte drangen durch das Rauschen. Auch der Rest des Suchtrupps war nicht fündig geworden.
„Wir könnten alle eine Pause gebrauchen, Annabell.“
Silva konnte nur zu gut verstehen, dass ihre Freundin keine Sekunde vergeuden wollte. Sie selbst wand sich bei dem Gedanken, am morgigen Tag abzureisen und vielleicht den größten Fund ihres Lebens zurückzulassen. Aber sie alle waren ausgelaugt von den letzten Wochen, demotiviert von den vielen Stunden ergebnisloser Suche an Orten wie diesem, an denen so viele Gefahren lauerten. Giftschlangen, Spinnen und Leoparden waren nur ihre geringsten Sorgen, schließlich hatte das Forscherteam die Jäger der Verborgenenorganisation nicht ohne Grund zum Schutz bereitgestellt bekommen.
Wie lange war es vertretbar, das Leben aller Mitglieder aus dem Team aufs Spiel zu setzen – für etwas, was es vielleicht gar nicht gab? Trotz der Anzeichen auf zivilisiertes Leben, die sie ausgemacht hatten, hätten sie schon viel mehr finden müssen. Wann war es an der Zeit, loszulassen und sich eine Niederlage einzugestehen?
Annabells Kiefermuskeln zuckten, als sie die Zähne zusammenbiss.
„Na schön, ich rufe alle zu einer Teambesprechung zusammen“, gab sie nach und entfernte sich ein paar Schritte, beschäftigt mit dem Funkgerät.
Kurz darauf fanden sich Silva und Annabell zeitgleich mit den beiden Wissenschaftlern Wasil und Jake auf der Lichtung ein, die sie zuvor als Sammelpunkt vereinbart hatten. Mit einem Kopfschütteln bedeutete Wasil, dass ihre Suche ebenfalls ergebnislos geblieben war.
Jake und Wasil hatten sich Silva und Annabell nach den Tempelausgrabungen im Süden Afrikas freiwillig angeschlossen, als die Reise weiter in den Kongo ging. Silva mochte die beiden Wissenschaftler, mit denen sie sich ein Büro in der VO in London teilte, auch wenn sie unterschiedlicher nicht sein konnten.
Während Wasil die Gabe hatte, Gegenstände mit seinen Gedanken umzuformen, und mit seinen buschigen Augenbrauen und dem düsteren Blick eher mürrisch wirkte, war Jake so etwas wie das Nesthäkchen der Gruppe. Der junge Hexer, der ein Jahr nach Silva zur VO gekommen war, beherrschte die Biokinese und konnte sein Aussehen verändern. Außerdem gehörte er zu den klügsten Köpfen, die Silva je kennengelernt hatte, auch wenn er manchmal etwas unbeholfen wirkte, wenn es um alltägliche Dinge ging. Jake war ein Genie, wahrscheinlich intelligenter als Silva, Annabell und Wasil zusammen, aber hier im Dschungel vollkommen fehl am Platz. Jetzt sahen die beiden Wissenschaftler genauso mitgenommen aus, wie Silva sich fühlte.
Sie ließen die schweren Rucksäcke von ihren Rücken gleiten und Wasil setzte sich ohne zu zögern in das Gras, während Jake den Platz noch nach Ameisen und Spinnen absuchte.
Silva lächelte müde, während sie ihn betrachtete. Allein seine Neugier hatte ihn dazu gebracht, sich der Gruppe anzuschließen, aber er hatte nicht gewusst, worauf er sich einließ. Jake hatte London vor dieser Mission noch nie verlassen. Schon die Reise nach Südafrika war ein großes Ereignis für ihn gewesen, aber dort hatte er sich in einer sicheren Zone befunden. Hier draußen in der Wildnis gab es keine medizinische Hilfe, keinen Supermarkt oder die Möglichkeit, mal schnell nach Hause zu telefonieren, was Jake am meisten zu schaffen machte. Er hatte sich in dieses Abenteuer gestürzt, doch schon am ersten Tag hatte sich die Euphorie in Selbstzweifel verwandelt.
Silva rechnete es ihm hoch an, dass er noch nicht das Handtuch geworfen hatte und sich weiter durchkämpfte, doch insgeheim wusste sie, dass dies seine letzte Forschungsreise sein würde. Keine zehn Pferde würden Jake mehr aus seinem Labor in England hinaus in die Wildnis bringen.
Er hatte in den letzten Wochen etwas abgenommen und dank seiner so schon schmalen Statur in Verbindung mit dem jungenhaften, pausbäckigen Gesicht und den blonden Haaren, die nun lockig in alle Richtungen abstanden, wirkte er sehr viel jünger, als er war.
Silva setzte sich zu den beiden Männern und kramte in ihrem eigenen Rucksack nach einem Verbandskasten.
„Lass mich das säubern, bevor es sich entzündet“, sagte sie und deutete auf einen langen Kratzer, der sich über Jakes Wange zog. Sie tränkte eines der sterilen Tücher mit Desinfektionsmittel und beugte sich zu ihm. Jake zog zischend die Luft ein, als sie über den Kratzer fuhr.
„Es brennt“, verteidigt er sich, als Wasil schmunzelte.
Trotz ihrer Gegensätzlichkeit kamen die beiden gut miteinander aus, schließlich war es schwer, Jake nicht zu mögen. Insgeheim vermutete Silva, dass Wasil einen Beschützerinstinkt ihm gegenüber entwickelt hatte. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, Jake ab und zu wegen seiner übertriebenen Furcht und seinem Gejammer aufzuziehen.
Wasil war ein ruhiger und bodenständiger Mann mittleren Alters, aus dem Silva manchmal nicht so richtig schlau wurde. Die meiste Zeit wirkte er ernst und sein düsterer Gesichtsausdruck mit den zwei Falten zwischen den kräftigen, dunklen Augenbrauen konnte auf den ersten Blick abweisend und einschüchternd wirken. Silva hatte ihn jedoch als einen gutmütigen Menschen kennengelernt, der mit seinem trockenen Humor durchaus gesellschaftsfähig war.
„Bist du auch verletzt?“, fragte ihn Silva, weil sie unter der Schmutzschicht auf seinen Händen ein bisschen Blut erkannte.
„Nicht der Rede wert“, brummte Wasil mit seinem leichten russischen Akzent. „Kümmere dich um Jake, bevor er verblutet.“
„So schlimm ist es doch gar nicht“, antwortete dieser vollkommen verständnislos und Silva presste die Lippen aufeinander, um nicht zu lachen und ihn zu kränken.
Doch während sie erst Jake und dann Wasil behandelte, blieb ihr Blick immer wieder an Annabell hängen, die ruhelos am Rand ihres Lagerplatzes auf und ab ging.
Erst als nach und nach die fünf Jäger der VO eintrudelten, die während der Reise für die Sicherheit der Wissenschaftler sorgen sollten, setzte Annabell sich mit an den provisorischen Lagerplatz und verteilte Wasserflaschen, Fladenbrote und für jeden eine Banane.
Die beiden einheimischen Reiseführer standen stumm am Rande der Lichtung und beobachteten die Gruppe. Annabell hatte sie gut dafür bezahlt, dass sie das Team durch den Dschungel lotsten, denn die Forschergruppe war auf ihre Ortskenntnisse angewiesen. Die Reiseführer warnten vor unbefestigten Hängen, hatten sie schon mehrmals vor giftigen Pflanzen und einmal vor dem Giftstachel eines Skorpions bewahrt und alle sicher wieder zurück in das Dorf gebracht, das das Forscherteam freundlicherweise und natürlich gegen gute Bezahlung aufgenommen hatte.
„Ist rundrum alles sicher?“, erkundigte sich Annabell kühl bei Davin, einem der beiden Werwölfe, die das Forscherteam vor Halbdämonen schützen sollten – sogenannten Mairas, die, durch ihren Futterrausch angetrieben, versuchten, Lebensenergie aus allem zu ziehen, das ein Herz und einen Puls hatte. Der ausgebildete Jäger war Experte darin, Mairaspuren ausfindig zu machen.
Der muskulöse Mann mit dem buschigen Vollbart und den goldgelben Augen nickte düster. „Es deutet nichts darauf hin, dass Mairas in der Gegend sind.“
Annabells Gesichtszüge entspannen sich etwas. „Wie viel Zeit haben wir noch, bis wir zurückmüssen?“
Davin wedelte vage mit der Hand. „Vielleicht zwei Stunden, bis wir den Rückweg antreten müssen, um vor der Dunkelheit ins Dorf zurückzukommen.“
Annabell knirschte mit den Zähnen. „Wenn keine Mairas in der Nähe sind, können wir auch im Dunkeln zurücklaufen“, kommentierte sie harsch. „Dann können wir die Suche noch ein bisschen länger fortsetzen.“
Davin wechselte einen Blick mit Leander, einem großen und breit gebauten Werwolf mit Glatze, langer Nase und verschlagenem Gesichtsausdruck.
„Die Einheimischen brechen auf, wann sie es für richtig halten. Sie werden sich nicht für uns den Gefahren aussetzen, die der Dschungel bei Dunkelheit bereithält“, antwortete Leander mit seiner tiefen Stimme, die Silva Schauer über den Rücken jagte. Die beiden Werwölfe waren fast zwanzig Jahre älter als sie und erfahrene Jäger, deren Urteil sie vertraute, sowenig es ihr gefallen mochte. Aber Annabell war nicht bereit, aufzugeben.
„Wir werden den Weg zurück auch alleine finden“, bestimmte sie.
Davin neigte verständnisvoll den Kopf, blieb aber unnachgiebig. „Ich werde nicht die Sicherheit meines Teams für eine aussichtslose Suche riskieren. Es ist zu gefährlich.“
Wütend stand Annabell auf und ging einige Schritte hin und her. „Wenn wir heute nichts finden, müssen wir abreisen. Dann war alles umsonst.“
„Vielleicht ist es auch einfach an der Zeit, zu akzeptieren, dass es hier nichts gibt“, antwortete Jules vorsichtig. Der junge Vampir mit den dunklen Haaren und den Grübchen gehörte ebenfalls zu den Jägern der VO, doch er mischte sich nur selten in solche Gespräche ein, was sehr viel darüber verriet, wie sehr er nun das Ende der Forschungsreise herbeisehnte. Genau wie die beiden anderen Jäger, Richard und Shane, die zustimmend nickten.
Annabell warf ihnen einen giftigen Blick zu und Silva wusste, dass gleich eine hitzige Diskussion entfachen würde. Sie kannte diese Stimmung bei Annabell.
„Ich weiß, dass ihr alle am Ende eurer Geduld seid und am liebsten nach Hause fahren würdet“, versuchte Silva, die Situation zu entschärfen, „aber uns ist diese Forschung wirklich wichtig.“ Jules unnachgiebiger Blick wurde weicher, als er sich Silva zuwandte. Sie versuchte, sich nicht von dem makellosen Teint und den durchaus hübschen Gesichtszügen des Vampirs ablenken zu lassen, und sagte: „Annabell hat recht, es ist unsere letzte Chance, diese Mission mit Erfolg zu krönen.“
Jules sah aus, als wäre er geneigt, sich von Silva umstimmen zu lassen. Sie schätzt ihn als draufgängerisch genug ein, um den Aufbruch zu verschieben. Annabell wartete mit verschränkten Armen schweigend ab, während ihr Blick zwischen Jules und Silva hin- und herhuschte. Sie überließ Silva das diplomatische Gespräch.
Aber es war Davin, der sich vorbeugte, die Hände verschränkte und mit leiser Stimme sagte: „Bist du schon einmal einem Maira bei Dunkelheit begegnet?“
Silva zögerte, bevor sie stumm verneinte.
„Ich bin seit zwanzig Jahren Jäger“, fuhr Davin ungerührt fort, seine Stimme rau wie Schmirgelpapier. Silva bekam eine Gänsehaut. „In diesen zwanzig Jahren habe ich gegen Dutzende dieser Kreaturen gekämpft. Ich weiß, wie sie sich verhalten, weiß, wie ich sie töten kann, ohne verletzt zu werden.“ Er zog vorsichtig am Kragen seines T-Shirts und entblößte einen Teil seiner Brust. Silva biss sich auf die Lippe und Jake schnappte neben ihr bestürzt nach Luft. Über Davins Brust zogen sich drei wulstige Narben. Die Klauen, von denen sie stammten, mussten das Fleisch förmlich zerrissen haben.
„Nur ein einziges Mal bin ich einem von ihnen im Dunkeln begegnet. Nachdem ich es jahrelang mit mehreren Mairas gleichzeitig aufnehmen konnte, war ich diesem hier weit unterlegen, und er hätte mich getötet, wenn Leander mir nicht zu Hilfe gekommen wäre.“
Silva schluckte hart.
„Diese Kreaturen vereinen sich mit der Dunkelheit. Sie bewegen sich lautlos, verschmelzen mit der Nacht. Sie sind der geflügelte Tod, der dich von hinten angreift, bevor du überhaupt registrierst, dass er da ist. Also brechen wir früh genug auf, um vor der Dunkelheit zurück im Dorf zu sein.“ Selbst Annabell war bei Davins Erzählung erbleicht und wagte es nicht, zu widersprechen.
„Na schön, dann sollten wir die letzten beiden Stunden nutzen und auf ein Wunder hoffen“, gab sie tonlos zurück und kehrte der Gruppe den Rücken, um wieder im Dschungel zu verschwinden.
Davin lehnte sich erleichtert zurück. „Das ist die richtige Entscheidung.“
„Wahrscheinlich“, gab Silva zu. „Aber es macht sie nicht leichter. Wir haben all unsere Hoffnungen in diese Reise gesteckt.“
Jake sackte neben ihr in sich zusammen. „Ich weiß nicht, wieso sich Annabell noch etwas vormacht. Wir hätten längst etwas finden müssen, wenn es hier einmal Menschen gelebt hätten.“
„Der Dschungel ist groß“, gab der etwa fünfundzwanzigjährige Shane zu bedenken. „Vielleicht waren eure Berechnungen falsch.“ Auf den ersten Blick wirkten seine Augen wie von der Dunkelheit geküsst, ein rauchiges und verheißungsvolles Nachtschwarz. Aber bei genauerem Hinsehen erkannte man bei ihm einen veilchenblauen, schmalen Ring, der die Pupille umschloss. Silva fand die Augen der Vampire schon immer faszinierend, wie die glatte Oberfläche eines Sees, in dem sich der Sternenhimmel spiegelte. Der rothaarige Vampir ließ echte Neugier erkennen.
„Ziemlich unwahrscheinlich“, begann Jake sofort, zu erklären. Innerhalb von Sekunden verstrickte er sich in der Erklärung seiner Theorien. Er hatte den Ort durch Angaben von Einheimischen berechnet. Außerdem hatte er die Landschaft analysiert und herausgefunden, dass die Lage aufgrund des stark abfallenden Geländes und des Flusses, der sich in der Nähe befand, im weiten Umkreis die einzige Stelle war, die zur Errichtung eines Dorfes infrage kam.
Silva vertraute seinem Wissen und seinen Analysen. Dennoch hatte die Natur in diesem Gebiet definitiv keinen menschlichen Einfluss erfahren. Sie hatte nichts gefunden außer dieser vom Regen glatt gewaschenen, flachen Steinplatte.
Silva blickte hinauf zu den Baumwipfeln, in denen man, wenn man Glück hatte, manchmal Papageien oder Affen sehen konnte.
Wieso war ihr diese Steinplatte überhaupt aufgefallen? Sie nagte gedankenverloren an ihrem Fingernagel und eine plötzliche Unruhe überkam sie.
„Wo willst du hin?“, fragte Jake, als Silva aufsprang.
„Ich … ich muss nur etwas überprüfen“, antwortete sie geistesabwesend. Irgendetwas in ihr hatte sich verändert. Vielleicht war es dieser kleine Hoffnungsschimmer, der gerade durch die dichte Nebelwand der Enttäuschung geblitzt war. Vielleicht aber auch der letzte, verzweifelte Versuch, der unausweichlichen Rückreise nach London zu entgehen. Die plötzliche Aufregung hatte mit dem glatten Stein zu tun. Aber warum? Er ist mir aufgefallen, weil er der einzige seiner Art hier ist, schoss ist Silva durch den Kopf. Weil keiner der Felsen, die sie bisher gesehen hatte, solch eine Form und so eine glatte Oberfläche gehabt hatte.
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