Soldaten im Widerstand Soldaten im Widerstand - eBook-Ausgabe
Die Strafdivision 999 – 1942 bis 1945
— Die unbekannten Schicksale der Regimegegner - reich bebildert und mitreißend erzählt vom SPIEGEL-Bestsellerautor„In seiner lesenswerten Darstellung ›Soldaten im Widerstand‹ schildert der Historiker Joachim Käppner (…) die wenig bekannte Geschichte der Strafdivision 999, anschaulich erzählt anhand ausgewählter Biografien.“ - die tageszeitung
Soldaten im Widerstand — Inhalt
Strafsoldaten in der Wehrmacht
Die anderen Soldaten – das waren all jene, die die Wehrmacht zunächst nicht haben wollte, die den Nationalsozialisten als „wehrunwürdig“ galten. Viele von ihnen waren Widerstandskämpfer, im Zuchthaus oder im Konzentrationslager eingesperrt. Doch Hitlers Heerführer brauchten immer mehr Soldaten, und so wurden die Regimegegner ab 1942 gezwungen, die Uniform des verhassten Nazistaates zu tragen und in den Krieg zu ziehen. Den Kampf gegen die Nazis gaben sie dennoch nicht auf. Joachim Käppner erzählt die Geschichte von Menschen, die sich dem Bösen widersetzten – und zu Unrecht vergessen sind.
Leseprobe zu „Soldaten im Widerstand“
Vorwort
Ich weiß nicht, wie ich aus diesem Krieg kommen werde. Es wäre zu irrsinnig, wenn ich für den Wahnsinn Hitlers sterben müsste. Es müssen Menschen übrig bleiben, die … gegen das Furchtbare, das mit dem Namen Hitler über die Welt kam, kämpften. Die vor 1933 warnten und aufrüttelten. Die es nach 1933 illegal fortsetzten. Wenn auch mit der Hilflosigkeit von Zwergen, die vor einen rollenden Panzer Kieselsteine werfen, um ihn aufzuhalten. Die trotzdem nicht aufhörten mit den Kieselsteinen …
Das schrieb ein heute fast vergessener Schriftsteller, Emil [...]
Vorwort
Ich weiß nicht, wie ich aus diesem Krieg kommen werde. Es wäre zu irrsinnig, wenn ich für den Wahnsinn Hitlers sterben müsste. Es müssen Menschen übrig bleiben, die … gegen das Furchtbare, das mit dem Namen Hitler über die Welt kam, kämpften. Die vor 1933 warnten und aufrüttelten. Die es nach 1933 illegal fortsetzten. Wenn auch mit der Hilflosigkeit von Zwergen, die vor einen rollenden Panzer Kieselsteine werfen, um ihn aufzuhalten. Die trotzdem nicht aufhörten mit den Kieselsteinen …
Das schrieb ein heute fast vergessener Schriftsteller, Emil Rudolf („Erge“) Greulich, im April 1943; er hatte gerade um Haaresbreite einen Angriff britischer Jagdflugzeuge auf die Transportmaschine überlebt, die ihn und seine Kameraden an die Tunesienfront bringen sollte. All diese nicht mehr ganz jungen Männer an Bord trugen die Uniform der deutschen Wehrmacht. Und sie alle hatten nicht freiwillig in dem Flugzeug gesessen, wie sie auch höchst unfreiwillig zu den Soldaten gekommen waren. Ihre Truppe, die 1942 gegründete Strafdivision 999, bestand zu erheblichen Teilen aus Widerstandskämpfern gegen den Nationalsozialismus: Kommunisten und Sozialdemokraten vor allem, aber auch unabhängige Sozialisten, tiefreligiöse Ernste Bibelforscher und bürgerliche Nonkonformisten. Sie hatten Jahre in den Zuchthäusern und Konzentrationslagern der Nazis abgesessen oder waren gar direkt von dort eingezogen worden.
Die NS-Diktatur hatte ihre eigenen Todfeinde bewaffnet.
Und welch eine Geschichte das ist: Auf diese Weise wurden Tausende von Widerstandskämpfern zu Soldaten des Terrorsystems, dessen Uniform sie trugen. Bis heute sind das Schicksal dieser Strafsoldaten, ihr Mut und ihr Eintreten gegen den Zivilisationsbruch der Naziherrschaft erstaunlich wenig bekannt. Diese Menschen und ihr Kampf gegen die Tyrannei und für die Freiheit, den viele von ihnen noch in Uniform wo immer möglich fortsetzten, sind das Thema dieses Buches.
In der Strafdivision 999 mussten insgesamt etwa 28 000 Männer dienen. Als Sträflinge hatten sie jahrelang als „Wehrunwürdige“ gegolten, für nicht wert betrachtet, in der Wehrmacht zu dienen, wie ihnen ein amtlicher blauer Schein bestätigte. 1942 aber, als der Krieg, den Deutschland über die Welt gebracht hatte, tatsächlich zum Weltkrieg geworden war, Hunderttausende gefallen waren und den deutschen Armeen immer mehr Soldaten fehlten, berief sie sogar jene Männer, die sie zuvor gar nicht hatte haben wollen, in eine eilig geschaffene Strafdivision ein. Gut ein Drittel dieser Soldaten hatten als „Politische“ Widerstand gegen das Regime gewagt.
Zu den „999ern“ gehört hatten ein Vizekanzler der Bundesrepublik (Egon Franke, SPD), ein von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichneter Retter von verfolgten Juden (Michael „Mike“ Jovy) sowie der von seinem Schüler Jürgen Habermas als „Partisanenprofessor“ verehrte Philosoph und Mitbegründer der „Marburger Schule“ Wolfgang Abendroth. In der DDR gab es etliche Funktionsträger aus Politik und Kultur, die in der Strafdivision gedient hatten: unter ihnen Emil Rudolf Greulich, der Volksmarine-Admiral Erwin Bartz und, als wohl Bekanntester, Karl-Eduard von Schnitzler, jahrzehntelang Moderator der SED-Propagandasendung „Der Schwarze Kanal“.
Und da waren, in beiden Teilen Deutschlands, so viele andere, deren Namen lange vergessen sind; auch deshalb, weil jenseits der Militäropposition des 20. Juli 1944 und ähnlicher Kreise Resistenz und Widerstand einfacher Soldaten jahrzehntelang ein Tabuthema gewesen sind. So lange bestimmte der Mythos von der „sauberen Wehrmacht“ als Lebenslüge von nicht unerheblichen Teilen der Kriegsteilnehmer das öffentliche Bewusstsein in der Bundesrepublik, dass das Verhalten von Deserteuren, Fahnenflüchtigen und ähnlichen Verweigerern, die nicht im Vernichtungskrieg hatten kämpfen wollen, „als Zeichen von Angst, Feigheit und Verrat gewertet wurde“, so der Zeithistoriker Wolfgang Benz. Und Ähnliches galt für die früheren Strafsoldaten, sofern man überhaupt etwas über sie wusste.
Leider muss man es so hart sagen wie die Historiker Norbert Haase und Gerhard Paul, welche 1995, fünf Jahrzehnte nach Kriegsende, über die Opfer der Nazimilitärjustiz schrieben:
Im Traditionsbild deutscher Volkstrauertage, in den unzähligen Regimentsgeschichten der Kriegervereine haben jene, die sich auf die ein oder andere Weise dem Kriegsdienst in den nationalsozialistischen Angriffskriegen entzogen und dafür verfolgt wurden, keinen Platz. Die deutsche Gesellschaft hat in den zurückliegenden Jahrzehnten den Deserteuren, Verweigerern und „Zersetzern“ Respekt und Anerkennung versagt.
Dabei hätte die Bundesrepublik stolz auf sie sein können – zumindest dem eigenen Anspruch nach. In scharfer theoretischer Abgrenzung zur Wehrmacht gab die Bundeswehr zwar das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform aus. Doch jene, die noch als Hitlers Zwangssoldaten im Herzen verantwortungsbewusste Staatsbürger geblieben waren, werden bis heute kaum gewürdigt. Fast während der gesamten vier Jahrzehnte der deutschen Teilung diente die Erinnerung an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus auch dazu, den jeweiligen deutschen Staat historisch zu legitimieren. Unweigerlich führte dies hier wie dort zu einer Verengung des Widerstandsbildes auf jene Gruppen, die sich am besten dafür eigneten: im Osten natürlich auf die Kommunisten, in der Bundesrepublik lange Zeit auf die Weiße Rose, den mit Namen wie August Graf Galen und Dietrich Bonhoeffer verbundenen kirchlichen Widerstand und die Männer des 20. Juli 1944, also bürgerliche Jugend, christliche Identität und das Militär – was die neue Bundeswehr nicht im Geringsten daran hinderte, ihre Kasernen sehr lange Zeit lieber nach Hitlers Heerführern und Ritterkreuzträgern zu benennen.
Freilich musste auch in der DDR ein früherer 999er wie Emil Rudolf Greulich erfahren, dass wirklichkeitsnahe Sichtweisen nicht erwünscht waren. Sein so anschaulicher wie weltanschaulich nüchterner Erlebnisbericht von 1949 (Zum Heldentod begnadigt) durfte in der DDR nach 1949 kein zweites Mal erscheinen. Es ist zu befürchten, dass genau dies für einen lebenslang Überzeugten wie Emil Rudolf Greulich, der so viel erlebt und erlitten hatte, die schlimmste Strafe von allen war. Aber das ist auch der Grund, warum er eine der Hauptfiguren dieses Buches ist.
Entzog sich also die Geschichte der 999er solchen Kategorien des Kalten Krieges, so waren die Leidtragenden oft die früheren Zwangssoldaten selbst. Johannes Tuchel, der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Berliner Benderblock, überliefert ein typisches Beispiel: Ein Berliner Sozialdemokrat, nach 1933 von den Nazis über Jahre im Zuchthaus eingekerkert, wurde von ihnen zum Dienst in der Strafdivision gezwungen. 1946 trat er in die SED ein, weil er hoffte, der Zusammenschluss der so lange feindlichen Schwesterparteien SPD und KPD sei Deutschlands Rettung und Zukunft, so wie Kommunisten und Sozialdemokraten bei den 999ern oftmals Kampf- und Leidensgefährten waren oder zumindest sein mussten. Durch die brutale kommunistische Machtpolitik in der späten Stalin-Ära verlor der Mann seine Illusionen, er wendete sich ab und wurde schließlich als unbotmäßig und verdächtig aus der SED ausgeschlossen. Der Westen machte es nicht besser. 1955 erkannten ihm auch die Behörden der Bundesrepublik seinen Status – und damit seine Rente – als politisch Verfolgter ab, „weil Sie als Anhänger eines totalitären Regimes betrachtet werden müssen“. Das war der Dank des Sozialismus im Osten und der jungen parlamentarischen Demokratie im Westen an einen Menschen, der sein Leben für die Freiheit riskiert hatte.
So sind die historische Rezeption und der Forschungsstand über die 999er sehr überschaubar. Zwar hinterließen nicht wenige Strafsoldaten Briefe oder, so weit sie heimkehrten, mitunter Berichte ihrer Erlebnisse. Sie schrieben sie für sich selbst, für Freunde, Angehörige oder ehemalige Kameraden auf, mit der Hand oder der Schreibmaschine und vielleicht einigen Kopien auf dünnem Durchschlagpapier. Eine beeindruckende, aber wenig ausgewertete Sammlung davon befindet sich im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn und ist eine wichtige Grundlage für dieses Buch.
Der Spiegel schilderte freilich schon 1951 in einer achtteiligen, sehr dramatisch inszenierten Serie die Geschichte der Strafdivision. Die Beiträge sind heute eine wichtige Quelle, sie beruhten auf Interviews mit früheren 999ern und lösten damals eine erregte Debatte und vor allem wütende Abwehrreaktionen von Veteranen aus regulären Wehrmachtseinheiten aus. Denn was hier hautnah, als wären die Reporter dabei gewesen, geschildert wurde, waren Verbrechen und Morde der Wehrmacht an ihren eigenen Soldaten, jenen in der Strafdivision. Erschossen oder gehängt wurden etliche, die flüchten oder überlaufen wollten oder heimliche Zellen bildeten. Der Zeithistoriker Jörg Echternkamp hat in seiner Habilitationsschrift Soldaten im Nachkrieg den Konflikt aufschlussreich geschildert und Stimmen wütender Ablehnung zitiert, wie den Zugführer einer früheren Strafeinheit, der behauptete, unter den „politischen“ 999ern seien kaum „saubere, anständige Kerle gewesen“. Es bedurfte noch, so der Militärhistoriker Wolfram Wette, „eines großen und konfliktreichen historischen Lernprozesses“ über Jahrzehnte, um die Wehrmacht als Teil des nationalsozialistischen Vernichtungsapparates zu begreifen.
Im selben Jahr wie die Spiegel-Serie, 1951, veröffentlichte der frühere kommunistische Widerstandskämpfer Erwin Bartz Erinnerungen an seine Zeit als „Soldat auf Bewährung“, die trotz aller marxistisch-leninistischen Parteilichkeit ebenfalls eine aufschlussreiche Quelle sind. Im Westen erreichte der frühere 999er-Offizier Ulrich Komm mit seinem Tatsachenroman Im Frühlicht, 1958 in West-Berlin erschienen, sogar ein größeres Publikum. Komm war zwar kein politischer Gefangener gewesen, widmete sein heute leider vergessenes Buch aber „den Kameraden des XI. Bataillons 999, die mir den Weg zur Wahrheit gewiesen haben“.
Über Jahrzehnte prägte freilich ein Trivialroman die Erinnerung an die „Wehrunwürdigen“, der mit dem, was sie erlebt hatten, nur sehr wenig zu tun hatte: Heinz G. Konsaliks Strafbataillon 999 von 1959. Konsalik gilt als Nummer 3 in der Rangliste der meistverkauften deutschen Autoren, nach Karl May und dem Fantasy-Schriftsteller Helmut Rellergerd (Erfinder der Reihe „Geisterjäger John Sinclair“); Konsalik schrieb neben Der Arzt von Stalingrad und Liebesnächte in der Taiga mit Strafbataillon 999 einen weiteren Bestseller, der nicht weniger als 29 Auflagen erlebte und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Damit hatte Konsalik als König des Kitsches, dessen Werk bei aller betonten Distanz zur Nazidiktatur von NS-Klischees durchdrungen war, mit einem einzigen und grässlich banalen Roman über die 999er wohl viel mehr Öffentlichkeit erreicht als alle Überlebenden des Verbandes jemals zusammen. In dem Roman heißt es über sie: „Diese Menschen haben keine Vergangenheit mehr. Sie sind Schützen in einem Strafbataillon. Schützen ohne Gewehre. Die Ehre, Waffen zu tragen, haben sie sich verscherzt. Es bleibt ihnen nur noch die Ehre, sterben zu dürfen.“
Das war ein Pathos, wie es das Herz von Millionen berührte, die das alles nicht so genau wissen wollten und Konsaliks Romane verschlangen, in denen der deutsche Soldat meist als sauber und tapfer geschildert wird, von der Führung perfide in seinen Idealen getäuscht. Der dankbare Verlag bescheinigte seinem gewinnbringenden Starautor, der Roman sei „hart und realistisch“. Mit der Realität freilich hatte das Buch so viel zu tun wie Heinz G. Konsalik mit dem deutschen Widerstand, nämlich nichts. Alles daran war falsch und erfunden. Die 999er hatten eine Vergangenheit, sehr viele von ihnen als kämpferische Antinazis, die für ihren Kampf gegen die übermächtige Diktatur Jahre im Zuchthaus oder in Konzentrationslagern hatten erleiden müssen. Diese Menschen waren, zu einem erheblichen Teil, nicht irgendwelche Verbrecher, die man in letzter Sekunde vom Galgen losgeschnitten hatte, um ihnen eine letzte Chance zu geben. Und nebenbei, Gewehre trugen sie sehr wohl, weil das NS-Regime sie zwang, für das Böse in den Krieg zu ziehen.
Der Nächste, der sich wieder ernsthaft der Geschichte der Strafdivision annahm, war in den Sechzigerjahren der frühere 999er Kurt Netball in der DDR, der andere in Ostdeutschland lebende Veteranen um Erinnerungsberichte bat und diese in Strafdivision 999. Erlebnisse und Berichte aus dem antifaschistischen Widerstandskampf veröffentlichte. Zwanzig Jahre später erschien ein Nachfolgewerk von Hans Burkhardt: Die mit dem blauen Schein. So schwer es mitunter ist, Ideologie und Wahrheit, Wunsch und Wirklichkeit in diesen Texten auseinanderzuhalten: Als Quellenwerke sind sie unverzichtbar, denn sie enthalten Stimmen, die in der DDR systematisch gesammelt wurden, als noch Zeitzeugen Auskunft geben konnten. Im Westen gab es lange nichts Vergleichbares.
Dies änderte sich grundlegend erst Mitte der Achtzigerjahre mit den Forschungen von Hans-Peter Klausch (1954–2016). Klausch, der am Niedersächsischen Staatsarchiv Oldenburg arbeitete und ein Forscherleben dem antifaschistischen Widerstand in den Streitkräften der Nazidiktatur gewidmet hat. 1986 veröffentlichte er das Standardwerk Die 999er und ein Jahr später seine viel ausführlichere, 1194 Seiten umfassende und in zwei Bänden erschienene Dissertation Bewährungsbataillone 999. Als die Idee zu diesem Buch entstand, war er leider bereits verstorben, und ohne diese Grundlagenarbeit hätte ich mein eigenes Buch nicht wirklich schreiben können – niemand, der sich mit den Strafsoldaten befasst, kommt ohne Klauschs Arbeiten aus, der praktisch den Einsatz jedes einzelnen Bataillons an jedem Standort zu rekonstruieren versuchte. Das meiste, was man heute über den Aufbau, die Organisation und die Einsätze der 999er weiß, ist seinen im linken Pahl-Rugenstein Verlag erschienenen Werken zu verdanken sowie den Zeitzeugeninterviews und überaus gründlichen Archivstudien, auf denen sie beruhen. Diese Bücher freilich waren aufgrund ihrer schieren Materialfülle nicht immer einfach zu lesen und fanden leider nur begrenzte Beachtung; heute sind sie bloß noch antiquarisch erhältlich.
Biografien über diese Widerstandskämpfer in Wehrmachtsuniform sind ebenfalls sehr selten. Eine Ausnahme ist das Buch von Antje Dertinger, das sie 1989 dem Leben des Sozialisten Ludwig Gehm widmete. Über Ludwig Gehm, der 1944 in Griechenland zu den Partisanen übergelaufen war, erschien 1983 ein ZDF-Film; er war Vizevorsitzender der Arbeitsgemeinschaft ehemals verfolgter Sozialdemokraten und gab nicht lange vor seinem Tod der Shoah Foundation ein aufschlussreiches Zeitzeugeninterview. Auch ich durfte Ludwig Gehm noch befragen, das ist schon lange her: 1995 sprach der in seiner Würde und moralischen Klarheit sehr beeindruckende alte Herr mit mir über die damals viel diskutierte „Wehrmachtsausstellung“ des Hamburger Institutes für Sozialforschung, die er mit kritischer Sympathie betrachtete. Wenn man so will, entstand damals der Gedanke, dieses Buch zu schreiben, ohne dass er mir bewusst war.
Die genannte Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ hat das Verdienst, die Legende von der „sauberen“ deutschen Armee im „Dritten Reich“ auch in der Öffentlichkeit ins Wanken und weitgehend zu Fall zu bringen (kritische Historiker hatten dies schon lange vorher getan, aber nicht annähernd so viel Resonanz gefunden). Die Strafeinheit und die in ihr versammelten Antifaschisten, die von der Militärjustiz der Nazis verfolgten und zu vielen Tausenden ermordeten Deserteure oder „Kriegsverräter“ kamen selbst in dieser Ausstellung und dem wissenschaftlichen Begleitband kaum vor. Im Zuge der Debatten erschien in dieser Zeit, herausgegeben von Norbert Haase und Gerhard Paul, der wichtige Sammelband Die anderen Soldaten, der sich all jenen Gruppen von Menschen in der Wehrmacht widmete, die sich dem Naziregime verweigerten oder Widerstand leisteten, so weit es ihnen eben möglich war. Klausch verfasste hierfür einen Beitrag über die Sonder- und Bewährungseinheiten der Wehrmacht. Der deutsche Staat rehabilitierte die betroffenen Männer in den folgenden Jahren schließlich doch noch, allerdings so spät, dass viele von ihnen dies nicht mehr erlebten.
Obwohl die Erforschung wie die Akzeptanz des Widerstands gegen das Naziregime heute ungleich größer geworden sind als zu Klauschs Zeit, gilt das kaum für die Beschäftigung mit den Hitlergegnern in der Strafdivision – und das, obwohl viele von ihnen ihren Widerstand dort fortsetzten. Selbst in den jüngeren, ansonsten sehr verdienstvollen Biografien über Michael Yovi (2017) und Egon Franke (2020) werden die Jahre in der Strafkompanie nur nebenbei mit wenigen Zeilen gestreift – darin mag sich eine frühere Unterschätzung jenes Widerstandes fortsetzen, den die „politischen“ Strafsoldaten in der Division leisteten. Der Biograf Karl-Eduard von Schnitzlers erwähnt dessen Einsatz als Strafsoldat in Nordafrika 1943 überhaupt nicht, Schnitzler selbst widmete ihm in seinen 1989 erschienen Memoiren lediglich einige Zeilen. In Einzelfällen sind digital Erinnerungen der Kinder an Väter erschienen, die bei den 999ern dienen mussten. Das Internet bietet heute die Möglichkeit, solche Werke als Book on Demand zu bestellen, doch ist der Leserkreis in der Regel sehr klein.
Das in zehn Bänden erschienene Standardwerk der bundesdeutschen Militärhistoriker, Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, erwähnt die Strafsoldaten ebenfalls nur mit wenigen Sätzen. Selbst der britische Historiker Mark Mazower, dessen Buch Griechenland unter Hitler eines der besten und bedrückendsten Werke über den Besatzungsterror ist, befasst sich kaum mit ihnen, obwohl Hunderte 999er 1944 zu den Partisanen überliefen und diesen vielfach halfen. Erst in allerjüngster Zeit geben zwei Fachaufsätze einen kurzen Überblick dieser Widerstandsaktivitäten.
Dieses Buch hat weder den Wunsch noch den Anspruch, eine militärhistorische Grundlagengeschichte der Strafdivision zu schreiben: Dies hat Hans-Peter Klausch schon vor 35 Jahren bravourös geleistet. Vielmehr möchte es die Strafdivision durch einzelne Menschen und ihre Lebenswege lebendig werden lassen. „Man könnte tausend Geschichten aufschreiben“, hat der frühere 999er und spätere Komponist Kurt Schwaen über die Strafeinheit gesagt.
Nicht tausend, aber einige dieser Geschichten erzählt dieses Buch. Sie mögen für die Breite des Widerstands gegen das Naziregime stehen, den es in dieser Strafdivision gab:
Ludwig Gehm, Frankfurter Sozialdemokrat, der als Häftling aus dem Konzentrationslager Buchenwald zur Strafdivision befohlen wurde, in Griechenland eingesetzt wurde, 1944 zu den Partisanen (Griechische Volksbefreiungsarmee, ELAS) überlief und dort eine bedeutende Rolle spielte.
Falk Harnack, selbst kein 999er, aber 1944 eine ihrer großen Integrationsfiguren. Harnack kam aus dem Umkreis der studentischen Widerstandsgruppe Weiße Rose. Nach deren furchtbarem Ende wurde er ebenfalls in Griechenland bei den 999ern eingesetzt, wo er seiner drohenden Verhaftung durch die Flucht zu den Partisanen entging und dort mit dem Antifaschistischen Komitee „Freies Deutschland“ (AKFD) ein bedeutendes Netzwerk deutscher Hitlergegner begründete. Nach dem Krieg wurde er ein bekannter Filmregisseur.
Ernst Rudolf („Erge“) Greulich, Widerstandskämpfer aus der KPD, der 1943 an der tunesischen Front zu den Briten überlief und nachher eine wichtige Rolle bei der demokratischen Erziehung in den Gefangenenlagern spielte. Er gehörte später zu den populärsten Schriftstellern der DDR, war aber nicht sehr populär in der SED.
Erwin Bartz, Widerstandskämpfer der KPD gegen die Nazis, einer der Hauptorganisatoren des Widerstandes in den Reihen der 999er und 1944 ebenfalls Überläufer zur ELAS. Er stieg in hohe Ränge der Nationalen Volksarmee auf.
Heinz Schröder, genannt „Olle Icke“, Sozialdemokrat und Straßenkämpfer des republiktreuen Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold in der späten Weimarer Republik. Er wurde 1943 in Tunesien eingesetzt und war später eine wichtige Figur der westdeutschen Friedensbewegung.
Egon Franke, Sozialdemokrat und nach 1933 Leiter der Widerstandsgruppe Sozialistische Front. Nach einer Zuchthausstrafe wurde er als Strafsoldat in Griechenland eingesetzt. Er ging nach 1945 in die Politik und war in der sozialliberalen Ära nach 1969 Minister für innerdeutsche Beziehungen und Vizekanzler der Bundesrepublik.
Fred Faatz, Weggefährte des deutschen Offiziers und Widerstandskämpfers Georg Eckert, der Saloniki 1944 vor der Zerstörung durch die abziehende Wehrmacht rettete.
Albert Karrenberg, Waisenkind und gelernter Schleifer, Kommunist aus Velbert und Widerstandskämpfer, bis die Gestapo ihn fasste. Er lief 1943 in Tunesien zu den Alliierten über.
Anhand ihrer Geschichten und auf der Basis ihrer Selbstzeugnisse und teils unveröffentlichter Quellen will dieses Buch die Geschichte der Strafeinheit schildern. Es möchte versuchen, jene ehemaligen Strafsoldaten zu würdigen, die trotzdem widerstanden, obwohl das, was sie taten oder versuchten, selten mehr bewirkte als der Kieselsteinwurf auf einen fahrenden Panzer. In pathetischeren Zeiten hätte man Männer wie jene (oder viele) aus der Strafdivision 999 wahrscheinlich „unbesungene Helden“ oder ähnlich genannt. Ich will sie nun weder besingen noch glorifizieren, sondern sie als Menschen mit all den Fehlern sehen, die Menschen nun einmal machen, wir alle tun das. Aber vielen dieser Strafsoldaten, die versuchten, sich den von Hitlerdeutschland verursachten Kriegen und Verbrechen zu entziehen oder das Regime gar aktiv zu bekämpfen, sollte unser Respekt gebühren. Das Buch möchte ein Beitrag dazu sein.
„Die unfassbaren Berichte und Schicksale, die nun endlich so umfänglich erzählt werden, vermitteln auch heute Hoffnung und Zuversicht.“
„Sein fesselnd geschriebenes Buch dürfte zum Nachdenken und vielleicht sogar zu einer Neubewertung führen.“
„In seiner lesenswerten Darstellung ›Soldaten im Widerstand‹ schildert der Historiker Joachim Käppner (…) die wenig bekannte Geschichte der Strafdivision 999, anschaulich erzählt anhand ausgewählter Biografien.“
„Joachim Käppners beachtenswerte Darstellung lässt den ›999ern‹ die Anerkennung zukommen, die ihnen von offizieller Seite versagt wurde.“
„Unbedingt lesenswertes Buch“
„Geschichte wird (…) fassbar und im Großen und Ganzen spannend erzählt.“
Ich habe das Buch diese Tage gelesen. Es bietet einen guten Einblick, ist in dem vom Autor schon gewohnten etwas emotionalen Stil verfasst. Allerdings fällt wieder mal auf, dass am Lektorat gespart wurde, wenns überhaupt eines gegeben hat. Der preußische Innenminister zu Ende der Weimarer Republik hieß Carl Severing - nicht "Severin". Einmal ist der Kommunistische Jugendverband Deutschlands falsch abgekürzt usw. Und nein, H. Himmler war im Dezember 1943 noch nicht Befehlshaber des Ersatzheeres (wurde er erst 1944, nachdem Friedrich Fromm im Zusammenhang mit dem 20. Juli exekutiert worden war). Ein Personenverzeichnis sparte man sich, während merkwürdigerweise ein Stichwortverzeichnis vorhanden ist (?)
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