Sommertage im Veneto Sommertage im Veneto - eBook-Ausgabe
Roman
— Starke Frauen und ein zauberhaftes Landgut in ItalienSommertage im Veneto — Inhalt
Von Italien, Träumen und dem Zauber des Lebens: ein Roman über starke Frauen und einen Neuanfang für Fans von Jojo Moyes und Lucinda Riley
„Für seine Träume muss man brennen, wenn du mich fragst. Da muss dir egal sein, was ich davon halte oder sonst jemand.“
Was ist eigentlich aus ihrem früheren Ich geworden, dem frechen Mädchen am Adriastrand? Und was aus ihren leidenschaftlichen Plänen? Das fragt sich die junge Grafikerin Flora, als ihr ein altes Foto in die Hände fällt. Auf der Suche nach ihren verlorenen Lebensträumen bricht sie nach Italien auf und landet in dem verlassenen Landgut Casa Rosa im Veneto. Dort trifft sie nicht nur auf den attraktiven Giorgio, sondern schließt auch unerwartete Freundschaften und stellt fest, dass sie nicht die Einzige mit einem unerfüllten Traum ist. Zusammen mit ihren neuen Freundinnen beschließt Flora, zu handeln: Das Casa Rosa soll zu einer Kreativ-Herberge werden! Aber gerade, als die Eröffnung ins Haus steht, ändert sich alles und sämtliche Pläne und auch die große Liebe drohen zu scheitern.
Leseprobe zu „Sommertage im Veneto“
Prolog
April
Eine Ecke des Fotos war eingeknickt. Behutsam strich Flora sie glatt, dann steckte sie die Aufnahme wieder hinter die Sonnenblende. Das Bild war ihr Landkarte und Reiseroute zugleich. Aber vielleicht hätte sie doch noch eine richtige Karte mitnehmen sollen. Der Akku ihres Handys war leer, damit fiel auch die Google-Earth-Standortbestimmung aus. Kurz gesagt, Flora hatte keine Ahnung, wo sie war. Sie wusste nur, Italien und eventuell Veneto, falls sie nicht unabsichtlich die Grenzlinie zum benachbarten Friaul-Julisch Venezien überschritten [...]
Prolog
April
Eine Ecke des Fotos war eingeknickt. Behutsam strich Flora sie glatt, dann steckte sie die Aufnahme wieder hinter die Sonnenblende. Das Bild war ihr Landkarte und Reiseroute zugleich. Aber vielleicht hätte sie doch noch eine richtige Karte mitnehmen sollen. Der Akku ihres Handys war leer, damit fiel auch die Google-Earth-Standortbestimmung aus. Kurz gesagt, Flora hatte keine Ahnung, wo sie war. Sie wusste nur, Italien und eventuell Veneto, falls sie nicht unabsichtlich die Grenzlinie zum benachbarten Friaul-Julisch Venezien überschritten hatte.
Sie schob ihr Handy, das im Moment völlig nutzlos war, in die Tasche, stieß die Tür des Wagens auf, den sie auf dem unbefestigten Rand der Landstraße hatte ausrollen lassen, und trat hinaus in den strahlenden Nachmittag. Es war kurz nach fünf und die Landschaft aufgeladen mit einem Tag milder südlicher Sonne, die, obwohl erst April, bereits das Versprechen des nahenden Sommers barg. Wie ein Klangteppich hing das Zirpen der Grillen in der Luft, gelbe und lila Blüten säumten die Straße und leuchteten unter Platanen. Die Hügel Richtung Horizont wirkten so diffus verschleiert wie ein Renaissancegemälde und im Hintergrund meinte Flora den bläulichen Schein einer Bergkette zu erspähen.
Ein Schwarm Vögel stob auf, formierte sich und flog zielstrebig davon, während ein wenig entfernt, wo sich ein Kanal durch die Wiesen zog, ein Reiher mit langen Beinen durch das Grün stakste. Der heisere Ruf einer Möwe ließ Flora aufblicken und eine Weile blickte sie der kleiner werdenden Gestalt nach. Sollte das Meer schon so nah sein? Auf einmal hatte sie Herzklopfen.
Das Knattern eines Mopeds war inzwischen lauter geworden und eine verschossen hellblaue Maschine ratterte in einer Wolke an Auspuffgas vorbei. Die Stille, die dem Krach folgte, wirkte fast betäubend. Die junge Frau fühlte sich mit einem Mal sehr allein und begann leise eine Italo-Schnulze, die ihr schon den ganzen Tag durch den Kopf spukte, zu summen, nur um noch etwas anderes zu hören als das Grillenzirpen.
„Sapore di sale, sapore di mare …“
Mit einem Mal war sie sich gar nicht mehr so sicher, ob ihr Aufbruch ins Ungewisse so eine gute Idee gewesen war. Hätte sie nicht einfach Urlaub machen können, wie jeder normale Mensch, statt gleich alle Zelte hinter sich abzubrechen?
„Nein, Flora! Nein, das hättest du nicht! Hier geht’s schließlich um alles. Hier geht’s um dein Leben. Also, steig einfach ein und fahr weiter. Die Straße wird schon irgendwohin führen und früher oder später triffst du auch wieder Menschen, die du fragen kannst, okay? Na also!“, sprach sie sich selbst Mut zu, auch wenn sie sich dabei einigermaßen verrückt vorkam. Aber was soll’s, es war schließlich niemand da, der sie hören konnte. Sie stieg wieder ein und ließ den Motor an. Ja, genau darum ging es, um ihr Leben. Kein Wunder, dass ihr da zwischendurch mulmig wurde.
Kapitel 1
Drei Wochen zuvor: Das Foto
Der Deckel der Truhe fiel mit einem dumpfen Laut zu und ließ eine Wolke an Staubpartikeln aufstieben. Flora unterdrückte den unwillkürlichen Niesreiz und wischte sich über die Augen. Dann erst betrachtete sie ihre Hände und seufzte. Sie konnte sich ungefähr vorstellen, wie sie jetzt aussah. Der trockene Duft nach Sommer und Wespennestern hing selbst jetzt nach dem Winter noch im Gebälk des Speichers. Der Feinstaub von Jahrzehnten hatte sich auf jeder verfügbaren Oberfläche gesammelt und hüllte inzwischen auch Flora ein. Und immer noch gab es Kisten und Koffer, in die sie noch keinen Blick geworfen hatte. Aber für heute reichte ihr dieser Ausflug in die Vergangenheit und ihre Mission dabei konnte sie nicht anders als gescheitert betrachten.
Das alles war die Idee ihrer Tante Lisi gewesen. Du wirst nie wirklich glücklich werden, wenn du nicht mit deiner Vergangenheit im Reinen bist, hatte sie gemeint, als Flora ihr die Beklommenheit bezüglich ihres nahenden dreißigsten Geburtstags gestanden hatte. Um etwas Neues anzufangen, musst du erst mal das Alte ausmisten. Und wenn du mich fragst, Süße, hast du nie richtig Abschied von deinen Eltern genommen.
Abschied? Nein, hatte sie nicht. Wie um alles in der Welt nahm man denn auch als Zwölfjährige Abschied von Eltern, die plötzlich nicht mehr nach Hause kamen, weil sie mit dem Auto tödlich verunglückt waren?
Kluger Rat, hatte sie aber nur gemeint. Und wie sieht das deiner Meinung nach praktisch aus?
Schau, Kind. Mein gesamter Dachboden ist noch voller Sachen von ihnen und wartet darauf, dass du mal durchschaust, was du davon noch gebrauchen kannst oder als Andenken aufheben willst. Wir wollen das seit Jahren schon in Angriff nehmen und ich finde, es ist wirklich Zeit, hm?
Tante Lisi hatte sie damals nach dem Unglück zu sich genommen, mit Floras Schmerz, ihrem Schweigen und ihren Teenager-Eskapaden und war seitdem Floras Zuhause. Deshalb war es Lisi erlaubt, sie immer noch Kind zu nennen. Außerdem hatte sich meistens herausgestellt, dass der Rat ihrer Tante gut war und deswegen kroch Flora gerade halb gebückt hier zwischen dem Gerümpel herum. Um die Vergangenheit zu ordnen.
Bis jetzt hatte sie allerdings noch kein einziges Stück ausgemistet. Die letzte Kiste, die sie durchgesehen hatte, war voller Kleider gewesen, obendrauf ein Abendkleid, aus dem Flora der Duft ihrer Mutter entgegengeweht war. Ihr waren Tränen in die Augen gestiegen, als sie ihre Wange an die Seide gelegt hatte. Nach all der Zeit!
Unter dem Kleid hatte ein Abendtäschchen gelegen. Champagnerfarbene Seide mit kleinen Perlen bestickt, darin in einem Seitenfach ein kleiner runder Taschenspiegel. Flora hob in vors Gesicht, sah ihre Augen, blau, wie die ihrer Mutter, eine Locke ihres dunkelblonden Haars und stellte sich vor, wie ihre Mutter hineingeblickt, sich die Lippen nachgezogen und die Nase gepudert hatte. Behutsam steckte sie den Spiegel zurück in das Täschchen. Wie konnte sie all das in den Altkleidersack packen und zum Caritas-Container tragen?
Und so war es ihr mit nahezu allem gegangen. Nichts, was nicht die Spuren ihrer Eltern oder von Floras Kindheit getragen hätte. Nichts, was nicht Erinnerungen heraufbeschworen hätte. Wie verwoben man als Familie war. Inzwischen fühlte Flora sich richtiggehend verschwitzt, so anstrengend gestaltete sich dieses Bad in der Vergangenheit, dabei hatte sie das Gefühl, überhaupt nicht weiterzukommen. Vielleicht wäre es besser, Lisi würde mitgehen und sich die Dinge ebenfalls ansehen. Und vielleicht käme ihr dabei ja noch eine andere Idee, wie Flora sich dem Geist des frühen Verlustes stellen und Abschied nehmen konnte.
Flora atmete tief durch und schob dabei eine lange Strähne, die sich aus dem nachlässig zusammengebundenen Haar gelöst hatte, zurück unter das Gummiband. Eine Schachtel würde sie noch durchsehen und dann war Schluss. Da, die kleine! Sie zog den Pappkarton unter der Dachschräge hervor. Fotos stand in verblichenen, etwas altmodischen Buchstaben darauf. Die Schrift ihres Vaters. Flora klappte den Deckel auf.
Schwarz-weiß-Fotos … das mussten ihre Großeltern sein, oder nein … die Urgroßeltern. Ihre Großeltern waren ja wohl schon in Farbe abgebildet worden, auch wenn sie gefühlsmäßig alle nahe der Zeit der Dinosaurier gelebt hatten.
Sie blätterte durch die Abbildungen einer jungen Frau in einem etwas unförmigen Pelzmantel am Arm eines jungen Mannes mit Schnurrbart und Hut, danach ein Hochzeitsfoto der beiden, steif aber strahlend. Ein Grüppchen Kinder in einem Leiterwagen. Das musste die Familie ihres Vaters sein.
Flora hatte nie viel Kontakt zu ihren Omas und Opas gehabt. Die Eltern ihres Vaters waren bei seiner Geburt schon relativ alt gewesen und gestorben, als Flora noch klein gewesen war. Floras anderer Großvater wiederum hatte die Familie verlassen, da war ihre Mutter gerade mal zwei Jahre alt gewesen war, kurz nach Lisis Geburt. Er war nie wiederaufgetaucht. Oma lebte inzwischen mit ihrem neuen Partner in den amerikanischen Südstaaten und lief seitdem unter Granny. Sie hätte Flora nach dem Tod der Eltern natürlich ebenfalls aufgenommen, aber der Familienrat, bestehend aus Granny und Lisi, hatte damals beschlossen, dass die Veränderungen für Flora einschneidend genug wären und sie zumindest in der vertrauten Umgebung bleiben sollte. Flora, die sich immer schon gut mit ihrer Tante verstanden hatte, war es recht gewesen.
Sie schob das schmale rosa Seidenband, das einen Packen Briefe zusammenhielt, etwas beiseite, um die Schrift zu betrachten. Steile hohe Buchstaben, Sütterlin, mit etwas Mühe würde sie das eine oder andere Wort entziffern können, aber wirklich lesen konnte das wohl kein Mensch mehr. Darunter kam eine altmodische Pralinenschachtel zum Vorschein, auch sie von rosa Band zusammengehalten.
Floras Blick verlor sich in dem verblassten Blümchendesign. Ein vages Bild tauchte vor ihrem geistigen Auge auf, von ebensolchen Schachteln, die nie weggeworfen wurden, sondern aufgehoben und weiterverwendet, für Fotos, Briefe oder Knöpfe. Sie erinnerte sich an eine Knopfkiste, mit der sie als kleines Mädchen hingebungsvoll gespielt hatte … Das musste bei einer ihrer Omas gewesen sein. Sie hob den Deckel ab und da lag es. Das Foto. Obendrauf. Behutsam nahm sie es in die Hand.
Das zahnlückige Mädchen stand mit einem breiten Lächeln im Gesicht und einer Eistüte in der Hand an einem Strand mit Hunderten Liegestühlen, bunten Plastikrutschen, einem Pizzeria-Schild und endlos blauem Meer. Wohl nur an der Adria schaffte man es, all das auf ein Foto zu bekommen. Die Freude, die das kleine Mädchen ausstrahlte, die Unschuld und die Keckheit in ihrem Lächeln fuhren Flora direkt ins Herz. Als hätte man einen Pfeil auf sie abgefeuert. Brennend.
Langsam setzte sie sich zurück in den Staub, der ihr im Moment egal war. Sie sah nur noch diese kleinere Version ihres Ichs, das sie da vor sich hatte. Das Foto musste im Sommer vor dem Tod ihrer Eltern entstanden sein.
„Hallo, Kleine“, murmelte sie sanft, als hätte sie Angst, das Mädchen zu erschrecken. Zu Recht, schließlich war sie bereits einmal, zusammen mit dieser kühnen Freude, die sie ausstrahlte, aus Floras Leben verschwunden. Dieses Lachen! Sacht fuhr Flora mit ihrer Fingerspitze darüber. Unbesiegbar sah ihr kleines Ich aus … und plötzlich meinte Flora alles wieder spüren zu können … angefangen von der selbstverständlichen Annahme des Alles-ist-machbar, die sie beseelt hatte, der völligen und genussvollen Hingabe an den Moment mit dem Eis und der Sonne, bis zu dem Sand zwischen den Zehen. Dieser Reichtum, den sie in diesem Alter in jedem Augenblick gefunden hatte …
Auf dem Foto trug sie einen Bikini mit Blumenmuster und kleinen Rüschen am Oberteil. Sie hatte ihn geliebt, vor allem, weil er ihren Mangel an Oberweite kaschierte. Sie hatte schmale jungenhafte Linien gehabt als Elfjährige, während andere schon üppige kleine Frauen gewesen waren. Glühend beneidet natürlich! Sie erinnerte sich, wie verliebt sie in den Jungen vom Limonadenstand gewesen war. Es hatte dort auch eine Etagere mit frischen Kokosspalten gegeben, über die stetig ein wenig Wasser gelaufen war. Wenn Gino, so hieß der Verkäufer, mit seinen Kokosnussstücken zwischen den Liegestühlen herumschlenderte und Coco bello! rief, hatte sie immer getan, als würde sie ihn nicht wahrnehmen, bis sie eines Tages allen Mut zusammengenommen, einfach vor ihn getreten und ihn angelacht hatte. Daraufhin hatte er ihr ein Stück Kokosnuss geschenkt. Dieses Herzklopfen würde sie im Leben nicht vergessen! Bestimmt gab es etliche Porträts von Gino in ihrem alten Skizzenbuch, das sie damals schon meistens mit sich getragen hatte. Sie hatte davon geträumt, Malerin zu werden. Später waren die Vorstellungen konkreter geworden und aus der schlichten Malerin eine gefeierte Künstlerin mit einem Atelier über den Dächern von Paris, die unter dem Nordlicht der meterhohen, malerisch verstaubten Scheiben wilde bunte Bilder malte. Die ein aufregendes Bohème-Leben führte, das auch Atelierfeste mit anderen Kreativen, etliche Flaschen Rotwein und laut deklamierte Gedichte beinhaltete.
Ihre Gedanken kamen zurück ins Hier und Jetzt auf den staubigen Speicher. „Und was mache ich jetzt?“, flüsterte sie betroffen. Jetzt sitze ich vor dem Computer statt an der Staffelei und anstelle der großen bunten Bilder entwerfe ich Speisekarten für indische Take-aways, Flyer für italienische Eisdielen und Buchcover.
Flora steckte das Foto vorsichtig in die Brusttasche ihres Hemds, um es nicht zu beschädigen, und schloss nach einem kurzen Blick auf die folgenden Bilder die Pralinenschachtel – nein, ihre glücklichen Eltern am Adriastrand zu betrachten, dazu hatte sie jetzt keinen Nerv mehr! Sie band die Schleife wieder darum und schob alles schließlich zurück unter die Dachschräge.
Was war nur aus diesem kecken Mädchen geworden? Ihren Träumen? Mit einem Mal fühlte sie sich wie eine blasse und höchst unvollkommene Kopie von all dem, was möglich gewesen wäre. Sie erhob sich, streckte, so gut es bei der niederen Balkendecke ging, die schmerzenden Glieder und zog, nach einem Moment des Nachdenkens die Schachtel wieder zu sich. Sie würde die Fotos mitnehmen. Zusammen mit Lisi würde es einfacher sein, sie durchzusehen.
Der Duft nach gebratenen Zwiebeln und Kartoffeln zog bis herauf ins Obergeschoss, wo Flora immer noch wohnte und inzwischen auch ihr Grafik-Atelier eingerichtet hatte. Nachdem das Zusammenleben mit ihrer Tante so gut funktioniert hatte, war sie nie ausgezogen. Lisi dagegen hatte ihr Buchhaltungs-Büro in der Stadt. Sie war der Boss mit fünf Angestellten und alle liebten sie. Auch die Männer beteten sie normalerweise an. Lisi war hübsch, unkompliziert und ein guter Kumpel, trotzdem hatte sie nie den Einen getroffen, mit dem sie es länger ausgehalten hätte. Es schien ihr allerdings auch nicht abzugehen. Sie machte den rundum zufriedenen Eindruck eines Menschen, dem nichts zu seinem Glück fehlte.
Ihren Karton unter dem Arm stieß Flora die weiß lackierte Tür mit dem Milchglaseinsatz auf, die wie üblich leise knarzte. Lisi hatte das Haus vor Urzeiten günstig gekauft, als rundum noch alles grün gewesen sein musste. Inzwischen war die Gegend zu einem schicken Vorort Münchens mutiert und Lisis Hexenhäuschen sah mit seinem rosenumrankten, verwilderten Garten zwischen den neueren Villen mit ihren englischen Rasen direkt exotisch aus.
„Hallo, Süße! Ich hoffe, du hast Appetit auf Bratkartoffeln.“ Lisi winkte ihr mit dem Pfannenwender zu, in der anderen schwenkte sie ein Weinglas. Mit ihrem breiten Grinsen und den kurzen roten Haaren, die ihr wie die Stacheln der Freiheitsstatue um den Kopf standen, sah sie wie üblich alterslos aus.
Flora schob die Salatschüssel beiseite und stellte den Karton auf den Esstisch.
„Na, hast du viel aussortiert?“
„Nein. Aber ich habe hier ein paar Fotos, die ich gern mit dir durchsehen würde.“
Lisis Gesicht wurde ernst. Sie warf Flora einen prüfenden Blick zu. „Vorher oder nachher?“
Flora zuckte die Achseln. „Ich habe eigentlich nicht so großen Hunger.“
„Okay, also vorher. Ich hätte zwar Hunger, aber jetzt bin ich zu neugierig, um in Ruhe essen zu können. Zeig mal her! Ach, magst du auch ein Glas Wein? Den Staub aus der Kehle spülen?“ Lisi schenkte ihnen beiden noch ein kühles Glas Chardonnay ein und Flora trank es fast in einem Zug aus, während Lisi den Tisch abräumte und mit dem Küchentuch darüberfuhr.
Ein paar stumme Augenblicke lang saßen sie vor der Schachtel, die fast bedrohlich mitten auf dem Tisch thronte. Bis Lisi lachte. „Wir starren dieses Ding an, als wäre es eine Bombe, die es zu entschärfen gilt. Na, los! Lass mal anschauen!“
„Ja.“ Seufzend klappte Flora den Deckel auf.
„Schau dir das an! Das ist ja Adria pur! Deine Eltern haben das Veneto immer geliebt. Es gibt ja auch reizende kleine Orte dort, alle haben eine Piazza in der Mitte mit einem romanischen Kirchturm, und wenn man ein bisschen weg ist vom Meer, trifft man kaum noch Touristen. Auf jeden Fall hat deine Mutter das behauptet. Ach, schau mal! Du warst ja wirklich eine süße Maus! Siehst deiner Mutter so ähnlich. Tust du übrigens immer noch. Unglaublich!“
„Schon gut!“ Flora legte ihrer Tante eine Hand auf den Arm. „Du musst nicht so viel reden. Ich halte das schon aus.“
„Ja? Ich versuche auch, mich selbst abzulenken, wenn du es genau wissen willst. Na ja. O Gott! So viele Erinnerungen! Ich wollte, ich würde noch rauchen!“
„Nein, das wolltest du nicht! Iss ein Stück Gurke!“
„Gurke? Okay.“ Lisi sprang auf, fischte sich ein Stück aus der Salatschüssel und wischte sich die Finger an einer Serviette ab.
„Und da ist noch das hier.“ Flora zog das Foto, ihr Foto, hervor und legte es oben auf den Stapel.
Über Floras Schulter gebeugt betrachtete Lisi es lange, ohne es in die Hand zu nehmen, dann schloss sie die Arme um Flora. „Ach, Süße!“
Das war der Moment, wo Flora die Tränen kamen und gar nicht mehr zu stoppen waren. Rotz und Wasser. Und schließlich Schluckauf. Lisi zog ein erschrockenes Gesicht, rannte los, einen nassen Waschlappen zu holen, um Flora damit über die Backen zu wischen. Das hatte sie schon gemacht, wenn sich Flora als Kind wehgetan hatte und natürlich ließ das die Tränen in dem Moment noch heftiger fließen.
„Ich werde dreißig und was habe ich vorzuweisen?“ Flora hickste.
„Ein ganz normal gutes Leben, würde ich sagen.“
„Und was soll das sein, dieses normal gute Leben? Ein Job, der mich ernährt, aber nicht erfüllt? Ein paar halbherzige Beziehungen, die ich für Liebe gehalten habe, aber auch nur, während sie andauerten. Weißt du, dass ich sie alle fast spurlos vergessen habe? Die Männer dazu, meine ich.“ Langsam redete sie sich in Rage und Lisi schob ihr ein Päckchen Taschentücher zu, dann ein Glas.
„Ich glaube, du brauchst etwas Stärkeres“, murmelte sie. „Da trink!“
Flora schnupperte. „Ich mag keinen Whisky.“
„Ich weiß. Trink!“
„Argh. Das brennt!“
„Gut. Das ist der Sinn davon. Also, wir waren bei deinem Leben.“
„Mein Leben. Genau. Ach, verdammt! Und meine Träume … Genau! Was ist mit denen? Ich wollte Künstlerin sein, weißt du noch?“
„Klar. Ich erinnere mich gut.“
„Und was ist mit der großen Liebe? Die gehört doch auch irgendwie dazu, oder nicht?“
Lisi wiegte zweiflerisch den Kopf. „Eventuell.“
„Schon gut. Vielleicht nicht für jeden, aber ich habe mir das eigentlich schon so vorgestellt.“ Anklagend deutete Flora auf das Foto. „Was mit diesem kleinen kecken Mädchen mit der Eistüte geschehen? Ich habe nichts vorzuweisen, Lisi. Rein gar nichts! Und das soll jetzt ewig so weitergehen?“
„Ach, Kind.“ Lisi setzte sich wieder an den Tisch und blickte sie an.
„Habe ich was falsch gemacht?“
„Im Gegenteil! Du hast immer alles so richtig gemacht. Hast immer gute Noten nach Hause gebracht, ordentliche Freunde, ein super Abi, hast dein Kunststudium fast schon eisern durchgezogen. Dabei dachte ich, dass die Kunst und diese ganzen verrückten Studenten vielleicht ein wenig auf dich abfärben würden. Na, egal. Aber, weißt du, Süße, du schienst dir nie eigene Bedürfnisse zuzugestehen.“
„Und wie lange soll das noch so weitergehen? Bis ich auch sterbe? Und das war’s dann, oder wie? Siehst du. Das war falsch! Nein, das ist falsch!“ Lisi hatte ihr kontinuierlich Whisky nachgeschenkt und so langsam begann sie, ihn zu spüren.
„Ach, was heißt schon falsch. Jeder handelt doch immer im Rahmen seiner Möglichkeiten. Das ist doch nicht falsch. Dir hat eben immer der Verlust deiner Eltern in den Knochen gesteckt. Ich nehme an, das war deine Strategie, mit der Tragödie umzugehen.“
„Ja, aber ich will nicht mehr! Ich will endlich dieses große bunte Bild malen, das in meiner Seele schlummert, und ich will sehen, ob es diese Liebe nicht doch noch irgendwo gibt. Alles zusammen!“
„Ach, Kindchen!“ Lisi sprang auf und drückte Flora fest an sich, streichelte ihr über den Kopf und lachte. „Was bin ich froh!“
„Froh? Warum das denn?“
„Dass du endlich aufwachst, Süße!“ Sie schob Flora ein wenig von sich, strich ihr eine tränenfeuchte Strähne aus dem Gesicht, lächelte. „Ich habe da was vorbereitet und eigentlich hättest du es zu deinem Geburtstag bekommen sollen, aber ich glaube fast, jetzt wäre der richtige Zeitpunkt.“
„Geburtstag? Du wirst doch nicht etwa den Kuchen schon in der Speisekammer haben? Ist schließlich noch ein Zeitchen hin.“ Flora bemühte sich um einen leichten Ton. „Aber sag mal. Meinst du wirklich, mein Leben bis jetzt war so … so … Und ich … so … starr?“
„Nein, da war schon alles richtig. Dein Leben nach dem Unfall damals war doch vollkommen entgleist und du hast alles getan, es wieder unter Kontrolle zu bekommen. Erfolgreich und ganz beachtlich, wenn ich denke, wie jung du warst. Nur glaube ich, dass du jetzt auch mal lockerlassen kannst. Du brauchst diesen Schutz eigentlich nicht mehr und Kontrolle und Glück gehen normalerweise nicht Hand in Hand. Glaub mir, ich bin Buchhalterin und weiß, wovon ich spreche. Ich habe ständig mit Leuten zu tun, die versuchen, entweder die Kontrolle über ihre Finanzen zu behalten, oder mit ihrem Geld die Kontrolle über ihr Leben.“ Sie lachte. „Nein, das ist auch nicht das Glück und Geld schon gar nicht, aber es ist ein guter Schlüssel und … Na ja, aber jetzt warte mal. Geh nicht weg!“ Sie verschwand zur Tür hinaus und Flora konnte Schubladen aufschieben, wieder zufallen und allgemeines Geraschel hören. „Eigentlich wollte ich ja noch eine Karte dazuschreiben“, tönte Lisis Stimme von nebenan. „Aber ich kann schließlich sprechen“, tauchte sie wieder auf. „Also, Kind. Das, was ich schreiben wollte, haben wir nun eh schon so ziemlich besprochen. Sogar noch ausführlicher und ich habe hier was, und zwar war das gedacht für genau den Tag, an dem du plötzlich sagen würdest: So, und das ist jetzt, was ich will. Was ich machen will, haben will, egal. Und falls der Moment noch nicht so bald gekommen wäre, nun gut, der Dreißiger ist immer ein Einschnitt.“
„Was?“ Flora war nun ganz schwindlig, immer noch von dem Whisky oder von Lisis kryptischem Gerede. Die Tante hielt einen Umschlag in der Hand und streckte ihn ihr jetzt hin. „Für mich? Mein Geburtstagsgeschenk? Aber wieso denn jetzt schon?“
„Wegen des Fotos. Na los, schau rein!“
„Was ist das?“ Flora zog die Lasche auf, lugte hinein. „Ein neuer Pass? Nein, ein …“
„Du machst es ja spannend! Nun zieh’s schon raus!“ Lisi lachte.
„Ein Sparbuch!“ Flora schlug es auf, blätterte die Seiten um. Ziffern um Ziffern in Reihen. Waren das alles Einzahlungen? Schließlich die Summe. Floras Mund öffnete sich unwillkürlich zu einem stummen Oh! Sprachlos starrte sie ihre Tante an, dann wieder das Sparbuch.
„Also“, setzte Lisi an. „Das ist alles noch aus dem Verkauf von den Sachen deiner Eltern damals. Und ich hatte ja auch eine gewisse Summe für deinen Unterhalt und was ich dafür nicht gebraucht habe, ist eben auf das Konto gewandert und ich bin froh, dass nun die Gelegenheit ist, es dir feierlich zu überreichen, was ich, wie gesagt, an deinem Dreißigsten sowieso vorhatte. Aber so ist es natürlich noch viel besser. Nimm es! Möge es deine Fahrkarte ins Glück sein, mein liebes Kind!“
„Aber das ist doch viel zu viel!“, krächzte Flora.
„Such deine Träume, Süße, tu’s für uns alle“, flüsterte Lisi an ihrem Ohr, denn da lagen sie sich schon in den Armen und weinten beide, während Floras Herz gleichzeitig vor Freude wie verrückt klopfte. Meine Fahrkarte ins Glück! Wie fantastisch ist das denn?
Später lag sie im Bett, immer noch völlig aufgekratzt und gleichzeitig hundemüde von alldem und versuchte, Ordnung in den Tag zu bringen, wenigstens gedanklich, was ihr völlig misslang. Aber ein Gedanke trieb immer wieder zurück an die Oberfläche, poppte herauf wie ein Korken im Wasser. Ich werde es wiederfinden, das kleine Mädchen. Irgendwo musste es noch sein, da bin ich mir sicher. Und mit dem kühnen, frechen Lächeln ihres jungen Ichs vor Augen, fiel sie endlich in einen unruhigen Schlaf.
Kapitel 2
Aufbruch
Auf den feuchten Mopp gestützt, sah Flora sich um. Die Wohnung schien schneller Abschied zu nehmen, als ihre Bewohnerin selbst das schaffte: Die Räume sahen bereits jetzt so fremd und kahl aus, als wäre Flora schon nicht mehr Teil von ihnen. Was genau genommen stimmte. Ihren Computer plus dem Drucker hatte sie einem Studenten verkauft, der stundenweise bei Lisi aushalf. Bis Flora zurückkam, würde es neuere Modelle für ihre Arbeit geben. Der Bursche hatte sich umgeblickt und gefragt: „Wird deine Tante die Wohnung anderweitig vermieten? Oder gibt sie sogar das Haus auf? Ist für einen allein doch zu groß, oder?“ Erst da war Flora der Gedanke gekommen, dass Lisi ebenfalls von der ganzen tragischen Geschichte gefesselt war und auch von ihr, Flora.
Sie hatte lange nachgedacht und daraufhin begonnen, wirklich auszuräumen. Sie wollte nichts zurücklassen und ans Zurückkommen nicht mal denken. Einen Neubeginn konnte man nicht mit Halbheiten starten. Nein, ganz oder gar nicht. Und Lisi hatte lange genug auf sie Rücksicht genommen.
Den Großteil ihrer Kleider zusammen mit den Büchern und sonstigem Krimskrams hatte sie in einen Sozialladen gebracht, ihre CDs und Pflanzen an Freunde verschenkt. Einziger Kompromiss waren ihre Arbeitsunterlagen nebst verschiedenen Belegexemplaren gewesen, die hatte sie in einer Kiste auf dem Dachboden verstaut. Was da nicht hineinpasste, wurde weggeworfen. Natürlich hatte Lisi sich aufgeregt. Flora solle die Wohnung doch einfach lassen, wie sie war, sie würde ja wohl irgendwann zurückkommen und musste doch nicht gleich alle Brücken hinter sich abbrechen!
Aber Flora hatte nur den Kopf geschüttelt. Lisi habe das Ganze ja auch irgendwie ins Rollen gebracht, nicht wahr?, hatte sie nur gemeint, worauf ihre Tante kein Argument mehr gehabt hatte.
Flora räumte die Putzutensilien in die Abstellkammer am Gang und brachte die abgezogene Bettwäsche in die Waschküche im Keller. Ihren Koffer, die Reisetasche und den Beutel mit Schwimmzeug und Schuhen hatte sie bereits in ihrem alten Fiat verstaut, der vor dem Haus parkte. Von Tante Lisi hatte sie sich am Abend vorher verabschiedet, das musste reichen. Lisi hatte Spaghetti gemacht, sie hatten Wein getrunken und dann beide ein paar Tränen vergossen. Abschied eben. Das war gar nicht so leicht.
Etwas hatte Flora allerdings noch wissen wollen. „Und Mum?“, hatte sie gefragt. „Meine Mutter?“
„Deine Mutter …“ Lisi hatte sich die Augen gewischt. „Sie war anders als ich, hat immer von Familie geträumt. Mann, Kinder und ein Hund.“
„Fast hätte sie’s geschafft. Bis auf den Hund und meine Geschwister natürlich. Aber dann war es auch schon vorbei.“
„Die Zeit, die wir haben, ist oft kurz bemessen. Deswegen möchte ich wirklich, dass du es versuchst. Verwirkliche deinen Traum, was immer es ist.“
„Bevor es zu spät ist“, hatte Flora leise hinzugefügt und dabei an ihre Mutter gedacht.
„Ja, bevor es zu spät ist. Tu es für uns alle. Versuch es zumindest, versprichst du mir das? Das Einzige, was passieren kann, ist, dass es misslingt, aber dann hast du es zumindest probiert.“
Nun, am Tag danach, stieß Flora die Haustür auf und trat hinaus in den kühlen Morgen. Es war gerade dabei, hell zu werden, und obwohl die Regenwolken die Sonne gut in Schach hielten, konnte Flora den Frühling in der Luft spüren; alles roch frisch und grün. Es begann leicht zu nieseln. Sie ließ ihre Schlüssel in den Briefschlitz gleiten, warf ihren Rucksack über die Schulter und ging schnell zum Auto. Ein letzter Blick zurück. Lisi stand am Fenster, winkte wie wild, warf eine Kusshand herüber und reckte einen Daumen in die Höhe. Flora erwiderte das Zeichen. Sie musste lachen. Keine Verabschiedung mehr, kein Abschiedsschmerz beim Aufbruch, hatte sie sich ausbedungen. Lisi führte nun eine Art Tanz auf, schwenkte die Arme in der Luft, dann knallte das Fenster zu und sie verschwand, aber Flora wusste, Lisi würde ihr nachsehen, kaum dass Flora im Auto saß. Aber zumindest startete sie lächelnd auf ihre Reise. Sie ließ den Motor an und bog in die Straße hinaus … Leben – ich komme!
Deutschland, Österreich, vorbei an Innsbruck und zum Brenner hinauf. Obwohl der Regen stärker geworden war und die Sicht schlecht, war bis dahin alles gut gegangen und Flora freute sich bereits auf ihren ersten wirklich italienischen Cappuccino und ein Brioche, die hier sogar an den Autobahn-Raststätten eine Offenbarung waren, als der Stau begann. Baustelle.
Der gesamte Verkehr wurde einspurig weitergeführt. Flora seufzte und öffnete die Fenster. In Richtung Süden lichteten sich die Wolken und wie eine Verheißung blitzte helles Blau hervor.
Drei Stunden später stand sie immer noch im Stau, der Himmel hatte endgültig aufgeklart, die Sonne brannte herunter und eine Zeit lang lief der Verkehr etwas flüssiger weiter, nur um schließlich wieder ins Stocken zu geraten. Es schien einen Unfall gegeben zu haben. Nun gut, besser im Stau stehen, als selbst in einen Zusammenstoß verwickelt zu sein. Geduld.
Als Flora bei Trient von der Autobahn abbog, um die Route über die Landstraßen zu nehmen, war es bereits Mittag. Die Straßen wandelten sich bald zu Gebirgsstraßen und gaben den Blick auf spektakuläre Felsformationen und Bergspitzen frei, für die Flora jedoch kaum ein Auge hatte, da sie sich auf die schmalen Fahrbahnen konzentrieren musste. Sie atmete auf, als sie in die Ebene hinunterkam.
Es war Nachmittag, als sie feststellte, dass sie nicht mehr wusste, wo sie eigentlich war. Sie fühlte sich verschwitzt, klebrig und hungrig und das waren nur die körperlichen Aspekte, aber als sie nun aus dem Wagen stieg und die wunderbare Landschaft betrachtete, in der nur das Zirpen der Grillen zu hören war, konnte sie nicht mehr wirklich unglücklich sein. Ein Moped knatterte vorbei.
„Mut, Flora. Das wird schon“, murmelte sie. Sie würde jetzt einfach die Richtung einschlagen, in die das Moped verschwunden war, dann würde sie ja wohl in einem Ort landen. Oder nicht?
Noch ganz gefangen von der Ruhe rundum, dem milden Grün und weiten Himmel fuhr sie los. Was für eine majestätische Platanenallee, die sich da rechts entlangzog. Vielleicht konnte sie zur Untermalung eine andere CD einlegen statt der Italo-Schnulzen, die sie bis hierher begleitet hatten. Etwas Ruhigeres.
Sie nahm nur kurz den Blick von der Straße, um die passende CD zu suchen, doch dieser kleine Moment der Unachtsamkeit genügte … Floras Blick ging zurück zur Straße und da war es, fast unmittelbar vor ihrer Kühlerhaube: ein kleines weißes Etwas. Mitten auf der Straße. Ein Hund. Flora trat hart auf die Bremse und versuchte, gegenzusteuern, während die Hinterräder seitlich ausbrachen, der Wagen hinterherschlitterte, über den Grasstreifen, der sich zum Kanal hin neigte. Mit angehaltenem Atem und zusammengepressten Lidern sah Flora sich im Geiste bereits in der brackigen Brühe strampeln, als der Wagen mit einem Ruck zum Stehen kam und der Motor abstarb. Plötzliche Stille umfing Flora, die langsam die Augen öffnete.
„O Gott! Verdammt! O nein!“ Das Stoßgebet ging in Fluchen über und plötzliche Sorge. Wo war der Hund? Er musste ihr direkt vor die Reifen gelaufen sein. Ein zartes Kratzen von der Fahrertür her ließ sie aufhorchen. Nägel auf Metall. Flora spürte eine Gänsehaut vom Nacken aus über ihren Rücken laufen. Das musste der Hund sein. Lag er da etwa in seinen letzten Zuckungen? Mit bebenden Händen stieß sie die Tür auf. Der Hund hatte eine Pfote gehoben, als wollte er höflich klopfen, und blickte sie aus glänzenden Augen an. Das Maul halb offen und die Lefzen weit zurückgezogen, schien er sie anzulächeln.
„Du meine Güte!“ Plötzlich schwach vor Erleichterung ließ Flora sich in den Sitz zurücksinken und drehte ihm seitlich den Kopf zu. „Ist dir doch nichts passiert! Wohnst du hier in der Gegend, oder wo bist du auf einmal hergekommen? Sprichst du überhaupt deutsch? Ich meine, verstehst du mich? Du liebe Güte, rede ich einen Quatsch! Besser, du verstehst mich nicht!“ Sie lachte.
Der Hund schien das als Aufforderung zu verstehen, nahm kurz Anlauf und sprang mit einem Satz in den Fußraum des Wagens, drängte sich an Floras Beine vorbei und kletterte auf den Beifahrersitz, wo er sich einmal im Kreis drehte, bevor er sich niederließ.
„Hey!“, protestierte Flora. Sie stieg aus und blickte sich um, ob irgendwo ein Haus zu sehen war, konnte aber nichts entdecken. Kurz begutachtete sie auch das Auto, dann ihre Reifenspuren, die sich bis unmittelbar neben dem Kanal in die Erde gegraben hatten. Sie schauderte und musterte das brackige Wasser. Was sich darin wohl alles tummelte? Noch mal Glück gehabt! Aber was sollte sie jetzt mit dem Hund machen? Er war ihr entgegengelaufen, als hätte er auf sie gewartet. Am besten, sie fuhr weiter, bis sie zu irgendeinem Gehöft kam. Direkt wie ein Hofhund sah er zwar nicht aus mit seinen kurzen Beinen. Eher wie ein Jack Russel. Hoffentlich kam sie hier überhaupt wieder weg und hing nicht mit dem Auto fest.
Nach einer Schrecksekunde, in der die Reifen durchdrehten und sie noch ein wenig näher Richtung Kanal rutschte, hatte sie es geschafft. Wieder Asphalt unter den Reifen zu spüren fühlte sich direkt beruhigend an. Flora gab Gas.
Die Straße zog sich in einer langen Kurve Richtung Landesinneres, die kanaldurchzogene Ebene hob sich zu einer sanften Hügellandschaft, erste Weinberge tauchten auf, dazwischen kleine Waldstücke, Sonnenstrahlen spielten auf dem frischen Grün junger Blätter, endlich eine Ortstafel. Muragano al fiume. Aha. Eine schmale Staubpiste bog nach rechts ab, zwischen den dichten Kronen alter Bäume lugte ein Wasserturm hervor und endlich waren auch wieder Gebäude zu sehen. Einfamilienhäuser hinter Büschen und Vorgärten, die in eine kurze Häuserzeile übergingen, die zu einer Kreuzung führte. Weiter vorn zeichnete sich die Silhouette einer Stadt ab, rötliches Ziegelwerk mit Teilen einer alten Stadtmauer, die Rundung eines romanischen Kirchturms. Kurz vor der Kreuzung erspähte sie neben einem Bäcker und den verstaubten Auslagenfenstern eines verwaisten Ladens, endlich ein schmutzig gelbes Gebäude, das einen roten Neonschriftzug trug: Bar-lungo-la-strada. Die Bar an der Straße. Das traf es ziemlich genau. Flora ließ den Wagen bei dem Parkzeichen davor im Schatten eines Baumes auslaufen. Sie merkte plötzlich, wie müde sie war. Und wie hungrig. Der Hund setzte sich erwartungsvoll auf.
„Nichts da! Du bleibst im Auto, du Ausreißer! Erst müssen wir feststellen, woher du kommst. Aber ich lasse die Scheiben ein Stück offen, keine Sorge, und bin gleich wieder da!“
Zwei Metalltischchen mit passenden Stühlen standen verlassen vor dem etwas heruntergekommen wirkenden Eingang. Die gibt es wohl auch schon länger, die Bar, dachte Flora mit einem Blick auf die Messingrahmen von Glastür und Fenstern, den altmodischen gewebten Stoff dahinter und die verblasste Eistafel an der Wand, neben der eine glasgerahmte Sterbeanzeige das stark retuschierte Foto einer alten Dame zeigte.
Hinter dem Tresen stand ein Mann mit asiatischen Gesichtszügen und polierte mit einem Tuch die glänzende Oberfläche. Als Flora eintrat, sah er überrascht auf, gleich den älteren Männern, die an einem Tisch versammelt saßen und angeregt diskutiert hatten und nun großteils verstummten. Hier kamen wohl nicht oft Touristen vorbei.
Flora grüßte in die Runde und wandte sich an den Asiaten. „Am liebsten würde ich einen Kaffee trinken, aber mir ist ein Hund zugelaufen, den ich jetzt im Auto sitzen habe. Er ist aus der Richtung des Ortes gekommen, allerdings war das ein ziemliches Stück entfernt, wo ich ihn aufgelesen habe. Egal … Ich suche den Besitzer. Es ist ein kleiner Hund, ähnlich einem Jack Russell.“ Zum Glück war ihr Italienisch fließend.
„Kleiner Hund?“, wiederholte der Mann und blickte hilflos zu der Herrenrunde hinüber, die aufmerksam zugehört hatte und jetzt wieder in Diskussion und Kopfschütteln ausbrach. No, no, no! Den kannte man nicht! Einen Jagdhund, ja! Oder den großen schwarzen nebenan, aber der hatte einen ja eben noch angebellt, wohlverwahrt hinter dem Zaun, der konnte es auch nicht sein. Ein Kleiner? Ach Gott! Die beachtete man ja gar nicht!
„Aber was mache ich denn jetzt? Gibt es hier eine Polizei, wo ich ihn abliefern könnte?“
Allgemeines Kopfschütteln. Einer im Radfahrdress erhob sich und schob sich ein Käppi auf den kahlrasierten Kopf. „Vielleicht kennt der alte Tierarzt vorn den Hund. Ich fahr in die Richtung. Komm einfach hinter mir her, ich zeig dir, wo er wohnt.“
Ohne weiter auf ihre Zustimmung zu warten, schob er sein Rennrad, das seitlich an die Kühltruhe gelehnt stand, auf den Vorplatz hinaus. Flora nickte kurz in die Runde und folgte ihm. Er wartete am Straßenrand auf sie, während sie wieder in ihr Auto stieg. Der Hund erwartete sie schwanzwedelnd, um dann neugierig aus dem Fenster zu blicken, als sie den Wagen anließ, als würde ihn interessieren, wo die neuerliche Fahrt hinging. Der Radfahrer winkte ihr zu, trat in die Pedale und fuhr vor ihr her in den Kreisverkehr, bog ab und dann gleich noch einmal in die kleinere Straße eines Wohnviertels mit frisch gestrichenen Fassaden und gepflegtem Rasengrün zwischen Blumenrabatten. Er steuerte ein Haus am Ende an. Ein Auto tauchte hinter Flora auf, überholte sie mit Schwung, bog zu genau dem Haus ab und bremste abrupt vor einer Garage. Eine Frau stieg aus und winkte Floras Begleiter zu. „Ciao, Bici!“
Bici mit weichem dsch! Wie die offizielle Abkürzung für bicicletta, also Fahrrad? Das musste wohl sein Spitzname sein. Flora grinste.
„Ciao, cara! Ist dein Mann zufällig da?“ Bici war neben der Frau stehen geblieben.
„Roberto? No! Der ist die ganze Woche im Süden. Rudern mit seinen Kollegen. Warum?“
„Mir ist ein Hund direkt ins Auto gelaufen. Ihm ist nichts passiert, aber ich habe ihn jetzt im Auto und suche seinen Besitzer“, mischte sich Flora in die Unterhaltung.
Die Frau trat näher und lugt in Floras Wagen. „So was! Das ist ja nett, den Kerl nicht einfach seinem Schicksal zu überlassen! Nein, den kenne ich nicht.“
Sie winkte zu einem älteren Mann, der mit seinem Rechen beschäftigt war, während zwei kleine Mädchen mit Barbie-Bikes, an denen rosa Bänder flatterten, auf dem Vorplatz im Kreis fuhren. „Ciao, Ettore! Kennst du den kleinen Hund, den die Signora aufgelesen hat?“
Der Mann und die Kinder kamen langsam näher, den Hund zu begutachten, der auf dem Beifahrersitz saß und aufmerksam zurückblickte.
„Wahrscheinlich braucht er auch dringend Wasser. Er hat keine Leine. Ich …“ Flora brach ab und hob in einer hilflosen Geste die Hände.
Die Frau tätschelte ihr den Arm. „Warten Sie, meine Liebe, das haben wir gleich!“ Energisch eilte sie davon, um wenig später wieder aufzutauchen, ein Brustgeschirr mit Leine in einer Hand, eine Plastikschüssel in der anderen. „Wir haben das in so ziemlich allen Größen, aber das hier müsste eigentlich passen. Da, Mädchen, holt mal ein bisschen Wasser!“ Sie drückte den Kleinen die Schüssel in die Hand, die begeistert davonsprangen. „So, und Sie öffnen jetzt die Tür und ich halte ihn, falls er davonspringen will. Va bene?“
Flora nickte gehorsam.
Der Hund machte keinerlei Fluchtversuche, sondern ließ sich ruhig anschirren, bevor er aus dem Wagen sprang und durstig das Wasser schlappte, das die Mädchen ihm hinstellten.
„Ich sag Ihnen, was wir machen.“ Die Frau übernahm wieder das Kommando. „Meine Tochter ist doch die neue Tierärztin, seit Roberto in Pension ist. Da fahren wir hin. Die haben ein Gerät, mit dem man seinen Chip lesen kann, falls sie ihn nicht sowieso kennt. Ich bin übrigens Valentina. Kommen Sie, kommen Sie! Wir fahren am besten mit meinem Auto. Sie können ruhig hier vor unserer Garage parken. Da passiert nichts.“ Schon hatte sie sich wieder in ihr Gefährt geschwungen und winkte Flora heran.
Die Tochter zeigte sich unwillig. „Er ist zwar gechippt, aber ich kann dir seine Daten nicht geben, Mamma! Das widerspricht dem neuen Datenschutzgesetz.“
„Aber wir brauchen doch nur seine Adresse, dann können wir ihn zurückbringen. Sonst müssen wir ihn dalassen und was willst du denn mit ihm machen?“, jammerte Valentina, aber die Tierärztin verschwand mit einem entschiedenen „No!“ wieder in den Praxisräumen.
Die Assistentin zwinkerte ihnen zu. „Das wird sehr streng kontrolliert mit dem Datenschutz. Die Praxis könnte da in ernste Schwierigkeiten geraten, wenn wir was weitergeben würden“, meinte sie bedauernd. „Zu schade!“ Sie seufzte. „Da muss ich ihn dann wohl nach der Ordination nach Hause bringen. Wo wohnt der Kleine denn?“ Nachdrücklich blickte sie auf ihren Computerbildschirm.
Valentina schlüpfte hinter sie, warf ihr einen kurzen Blick über die Schulter und richtete sich schon wieder auf. „Keine Sorge. Wir nehmen ihn wieder mit! Am besten, wir bringen ihn ins Tierheim, arme Kreatur!“, sagte sie laut Richtung Wartezimmer, während sie der Assistentin zuzwinkerte und leise „Grazie, cara!“ hinzusetzte. „Kommen Sie, Signora!“ Sie schob Flora zur Tür. „Gehen wir!“
„So geht das in Italien“, meinte Valentina, als sie wieder im Auto saßen. „Strenge Gesetze, aber es gibt immer auch eine andere Lösung. Ich bin ja stolz auf mein Mädchen, dass sie noch nicht einmal für ihre Mamma eine Ausnahme macht.“ Sie machte eine sprechende Drehbewegung mit der Hand. „Daran sollten sich unsere Politiker mal ein Beispiel nehmen.“
„Und Sie konnten die Adresse erkennen?“
„Jawohl. Und ich weiß auch genau, wo der Kleine herkommt. Es ist gar nicht weit von hier und wie es da stand, gehört er zu meinem Automechaniker. Ich frage mich nur, warum ich das Tier dann noch nicht kenne?“
Die Fahrt zur Tierärztin hatte sie auf einer Umfahrungsstraße um die Stadtmauern des alten Ortskerns in einen neueren Teil gebracht, die Città nuova. Valentina folgte der Straße nun weiter und bog nach einigen Minuten Fahrt in den Hof einer Officina ein, der vollgestellt war mit Autos, gestapeltem Schrott und alten Mopeds.
Kaum öffnete Flora die Beifahrertür war der Hund nicht mehr zu bremsen, riss sich mitsamt der Leine los und raste in die Werkstätte.
„Pepe!“, tönte es heraus. „Wo kommst du denn her?“
„Rocco! Ich wusste ja gar nicht, dass du einen Hund hast!“ Valentina winkte dem jungen, auffallend attraktiven Mann im Overall zu, der aus der Werkstatt trat, während er sich an einem Fetzen die ölverschmierten Finger abwischte.
„Hab ich ja gar nicht. Der gehört meiner Großmutter, ich bin nur als Besitzer eingetragen, weil ich ihr die Hundesteuer bezahle. Aber wie kommt ihr denn zu Pepe?“
„Er ist der Signora hier vors Auto gelaufen. Auf der anderen Seite vom Ort allerdings, an der Straße zum Meer, wenn ich das richtig verstanden habe. Ein gutes Stück entfernt übrigens.“ Valentina gab ihm eine temperamentvolle Schilderung ihrer Suche, dann machte sie eine wedelnde Handbewegung. „Ihr müsst auf den Kleinen besser aufpassen!“
„Nonna wohnt in Bosco del Fiume drüben.“ Er deutete vage über die Hügel. „Deswegen kennst du ihn wohl auch nicht. Sie ist doch gehbehindert und wenn sie einen Arzttermin in der Klinik hat, bringt sie mir Pepe.“ Er bückte sich und kraulte dem Hund die Ohren. „Ich hatte ihn gar nicht vermisst. Ich dachte, Nonna hätte ihn schon wieder geholt, während ich mit dem Abschleppwagen unterwegs war. Er ist brav, aber sobald einer die Autotür öffnet, ist er drinnen. Wahrscheinlich ist er irgendwo mitgefahren und bis der Fahrer es gemerkt hat, waren sie schon ein Stück weiter. Schrecklich, den Ärmsten dann einfach an der Straße auszusetzen! Ich werde gleich mal nachsehen, wer heute so alles hier war. Der kann was erleben!“ Er richtete sich auf und schien Flora erst jetzt richtig wahrzunehmen. Ein Lächeln blitzte in seinem Gesicht auf. „Vielen Dank! Da haben Sie ja ziemliche Wege auf sich genommen, um mir das Tier zurückzubringen. Leider kann ich Ihnen nicht die Hand schütteln“, er warf einen kurzen Blick auf das schmuddelige Tuch in seiner Hand. „Aber wenn Sie mal etwas für Ihr Auto brauchen oder sonst was, dann denken Sie an mich. Bitte!“
„Danke, das werde ich. Allerdings bin ich nur auf der Durchreise.“ Flora zuckte die Achseln.
„Na ja, man weiß nie, nicht wahr?“
„So, aber jetzt nichts wie zurück. Wir haben schon den halben Nachmittag diesem Hund geopfert, das muss genug sein“, meldete sich Valentina mit resoluter Stimme. „Und Sie wollen ja auch noch weiter. Aber bevor ich Sie wieder Ihrem Schicksal überlasse, müssen wir unser Abenteuer noch im hiesigen Stil zu Ende bringen.“
„Oh. Und wie ist der hiesige Stil in so einer Situation.“
„Gleich wie in jeder anderen Situation, cara! Sie befinden sich hier im Land und Anbaugebiet des Prosecco. Mehr muss ich wohl nicht mehr sagen, oder?“
Die Herrenrunde war inzwischen noch um den einen oder anderen erweitert worden, Flora wusste nun, dass der chinesische Betreiber der Bar Li hieß, seine Frau Bo und dass sie zwei Teenager-Töchter hatten. Außerdem stellte sie fest, dass sie nach dem Prosecco nicht mehr imstande sein würde, viel weiter zu fahren. Ihr Magen knurrte und eine kleine Packung Chips war das Einzige, was die Bar hergab.
Beim zweiten Glas Prosecco hatten sie sich zu den anwesenden Herren gesetzt, i signori, wie Valentina sie nannte, während die Tierarztgattin ihr Hundeabenteuer mit erstaunlichen Ausschmückungen zum Besten gab. Die Herrenrunde – Touristen gegenüber sonst eher kritisch eingestellt – betrachtete la ragazza tedesca mit Sympathie, schlug ihr auf die Schulter und gab noch eine weitere Runde aus, die Flora nicht wagte abzulehnen. Danach war sie zumindest ganz sicher, dass sie heute nicht weiterfahren würde. Valentina war nach dem zweiten Glas nach Hause verschwunden, sie erwartete wohl irgendjemanden zum Abendessen, und Flora wünschte, sie wäre ebenfalls rechtzeitig gegangen. Zu spät.
„Gibt es hier irgendwo ein Hotel?“, fragte sie in die Runde. Hotel? Nun ja. Die Diskussion flammte erneut auf. Also Richtung Meer gab es ein paar Pensionen, aber jetzt im April? Nein, keine Chance. Die hatten alle noch geschlossen. Chiuso! Natürlich gab es größere Orte. Vielleicht dort! Nicht ganz nah, aber doch im Umkreis. Conegliano, Pordenone, Portogruaro. Die Namen flogen nur so hin und her.
Das war ja alles viel zu weit weg, um jetzt noch hinzufahren. Flora hätte am liebsten die Stirn auf die Tischplatte gelegt und eine Runde geschlafen. „Und essen?“, fragte sie zaghaft. „Kann man denn hier irgendwo essen?“
„Essen? Natürlich! Es gibt zwei Pizzerien!“ Der Herr neben ihr hob triumphierend Zeige- und Mittelfinger in die Höhe. Aber heute? Es war noch Vorsaison! Die hatten am Wochenende geöffnet, heute nicht. Der Supermarkt? Sicher gab es den. Hatte sie bestimmt schon gesehen. Hinter der Kreuzung. Nur jetzt?
Ein kurzer Blick auf die Uhr. „So spät schon? Auf jeden Fall hätte der heute Nachmittag sowieso nicht geöffnet gehabt. Morgen wieder!“ Einer nach dem anderen erhoben sich die signori. Zeit zu ihrer Signora nach Hause zu gehen und zur Fernsehshow.
„Habt ihr diese neue Präsentatorin schon gesehen? Das ist ein Feger, was? – Ach, alles künstlich an der! – Na ja, aber von der Bettkante täte ich sie nicht stoßen. Das sage ich dir! – Das würde schon deine Alte für dich besorgen, Giovanni! Und dich hinterher!“
Lachend und zankend verließen die Herren das Lokal, Li polierte die Tische und Flora bestellte bei seiner Frau Bo einen Kaffee. Espresso. Ristretto. So stark wie möglich.
Bo musterte sie sorgenvoll. „Keinen Platz zum Schlafen, hm? Lange Reise?“ Sie schüttelte den Kopf. „An das Hotel al Castello hat wohl keiner gedacht? Ist ja bisschen teuer. Sehr schick eben. Exklusiv. Aber besser als nichts, oder? Ich ruf mal an, ja?“
Flora nickte dankbar, hörte zu, wie die Frau schnell in das Handy sprach und spürte ihr Herz sinken, als Bo den Kopf schüttelte und die Schultern zuckte. „Alles voll. Die haben irgendein Seminar. Viele Gäste. Leider alle in der Hotelbar und nicht hier.“ Sie lachte. „Buona sera, Lucio!“, grüßte sie den Eintretenden und hob vielsagend die Augenbrauen zu Flora hin. „Lucio ist der Briefträger. Der weiß alles!“
„Was soll ich denn wissen? Gib mir mal ein Glas Weißen, während du mir das erklärst, Bo!“ Lucio grinste und ließ seine rundliche Gestalt auf einen Stuhl plumpsen.
Flora betrachtete ihn fasziniert. Mit seinen tätowierten Armen, die das Blau seines Polohemdes fortsetzten, und den langen schwarzen Haaren, die ihm eher dünn über den Rücken hingen, erinnerte er sie mehr an einen amerikanischen Ureinwohner oder einen Maori-Schamanen als an einen italienischen postino.
„Die Signorina hier sucht eine Unterkunft für die Nacht. Sie hat doch den Hund der alten Mimma, drüben aus Bosco del Fiume gerettet, die Großmutter von Rocco aus der Autowerkstatt.“
„Ach!“ Der Postbote betrachtete nun seinerseits Flora voller Interesse, während Bo die Geschichte der Hunderettung noch einmal zum Besten gab.
„Hm.“ Grüblerisch runzelte er die Stirn. „Nicht so einfach um die Jahreszeit.“ Er seufzte. „Wenn Umberto nicht im Winter verstorben wäre. Der hatte immer geöffnet. Sehr schade. So ein netter Mann und noch gar nicht so alt.“
„Möchte seine Witwe das Casa Rosa denn nicht weiterführen?“
Bo schüttelte den Kopf. „Nein, die hat kein Interesse daran. Hat ja auch nie hier gelebt. Sie arbeitet doch in Pordenone. Englischlehrerin. Er ist immer hin und her gefahren, aber sie …“ Lucio machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wer sich nach Umbertos Ableben um alles gekümmert hat, war Olivia. Das Haus endgültig zuzusperren und solche Sachen, weißt du? Olivia hat das Casa zusammen mit Umberto gemanagt. Die Küche und die Zimmer und so, dafür war sie zuständig. Als Hausdame“, setzte er direkt an Flora gewandt hinzu.
„Ja, ja. Dann fragen wir sie doch“, unterbrach Bo. Vielleicht kann sie ja doch … Ich meine … Schließlich hat die Signorina sich so eingesetzt, da kann man doch nicht …« Vor sich hin murmelnd tippte Bo auf ihrem Handy herum. „Ah, da ist die Nummer! Jetzt rufe ich sie einfach an, ja? Olivia?“
Flora lauschte ihrem Redeschwall, der neuerlichen Erzählung der Hunderettung, die immer heroischere Dimensionen annahm, und hatte plötzlich den Eindruck, jeden Moment ohnmächtig zu werden. Ihr niederer Blutdruck! Sie verschränkte die Arme auf den Knien und legte den Kopf darauf, um ihren Kreislauf zu unterstützen. Hoffentlich hatte diese Olivia ein Einsehen.
Eine leichte Berührung an der Schulter ließ sie aufblicken. Bo strahlte auf sie herunter. „Olivia bezieht schnell ein Bett in einem der Zimmer, wenn Ihnen das genügt?“
„Das ist mehr als genug! Danke schön! Das war wirklich freundlich.“ Auch von dieser Olivia, setzte sie in Gedanken hinzu.
Bo wehrte ab. „Das ist doch selbstverständlich. Lucio fährt Ihnen voraus und bringt Sie hin. Es liegt sowieso auf seinem Weg, stimmt’s, Lucio?“
„Genau. Andiamo!“ Lucio kippte den letzten Schluck Wein hinunter und machte Anstalten zu gehen. Mit neu erwachten Lebensgeistern beeilte Flora sich, hinterherzukommen.
Lucios kleiner weißer Wagen mit dem blauen Schriftzug Posteitaliane auf der gelben Banderole brummte los, zurück in die Richtung, aus der Flora ursprünglich gekommen war. An der Abzweigung, von der aus sie den Wasserturm erspäht hatte, hielt er an und deutete ihr mit dem Arm, in die staubige Straße zwischen der Allee von Baumriesen einzubiegen, bevor er mit einem Winken wieder Gas gab.
Zögernd bog Flora in die Staubpiste ein. Gerade noch hatte sie einen spektakulären Sonnenuntergang über den Hügeln erlebt, jetzt fiel bereits die Dunkelheit ein und die dichten Baumkronen über ihr schienen den letzten Rest Licht auch noch zu schlucken.
Nach vielleicht hundert Metern endete der Weg an zwei schmiedeeisernen Toren, die rechts und links zu benachbarten Grundstücken führten. Flora hielt an und stieg aus. Stille umfing sie. Es dauerte einige Momente, bevor Floras Ohren die Geräusche rundum wahrnahm: Insekten zirpten in den Bäumen, Mäuse raschelten unter den Büschen und im Gras huschten Lebewesen umher, an die Flora lieber nicht so genau denken wollte. Ein Vogel schrie heiser und verstummte jäh.
„Hallo?“, rief Flora und hörte selbst, wie dünn ihre Stimme dabei klang. Wo war sie hier nur hingeraten? Überhaupt hatte sie sich ihre Reise ein bisschen anders vorgestellt. Sie wusste nicht genau wie, aber auf jeden Fall nicht so.
Ein Auto bog hinter ihr in die Einfahrt und Flora wurde mit einem Mal noch unbehaglicher zumute. Sie kannte all diese Menschen doch gar nicht. Vielleicht hatte man sie in einen Hinterhalt gelockt, um sie nun in aller Ruhe auszurauben. Später dann würden Polizisten mit hochgezogenen Augenbrauen ungläubig fragen: Haben Sie sich denn nichts dabei gedacht, sich bei Einbruch der Dunkelheit von wildfremden Personen in diese einsame Bucht abseits der Hauptstraße lotsen zu lassen? Und sie würde verneinen und ihre grenzenlose Naivität schamhaft eingestehen müssen.
Das Licht der Scheinwerfer erfasste Flora. Geblendet hob sie eine Hand über die Augen und wich zurück. Ihr Herz klopfte wie ein Hundert-Meter-Sprinter, der auf einer Geröllpiste gelandet war. Weit bin ich nicht gekommen auf der Suche nach meinem kleinen wilden Ich. Noch nicht einmal einen Tag habe ich heil überstanden! Wenn ich überhaupt noch jemandem Rede und Antwort werde stehen können und nicht …
Der Wagen kam hinter ihrem zu stehen, die Tür schwang auf und das Innenlicht erhellte kurz die Gestalt einer Frau, bevor es wieder erlosch.
„Buona sera! Ich bin Olivia und Sie müssen Flora sein!“
Die Stimme klang freundlich. Flora konnte das Gesicht dazu nicht richtig erkennen, aber ihr Herzschlag beruhigte sich umgehend.
„Bo hat mir von ihrer Notlage erzählt“, fuhr die Frau fort. „Warten Sie, ich mache die Taschenlampe an.“ Ein schmaler Lichtkegel blitze auf. „Das Casa wird eigentlich nicht mehr vermietet, ich habe gerade erst die Endreinigung gemacht. Ein wenig hat Ihnen Bo ja schon erzählt, nicht wahr? Auf jeden Fall funktionieren Wasser und Elektrizität noch und ich kann Ihnen schnell das untere Apartment zurechtmachen.“ Sie zog einen Schlüssel aus der Tasche und hantierte mit einer schweren Kette, die die Torflügel zusammenhielt, bevor das Portal aufschwang. „Sie können nachher vorfahren“, Olivia deutete mit der Lampe zu Gebäuden, die schemenhaft weiter vorn zu erkennen waren. „Ich lasse das Auto draußen, ich bin ja gleich wieder weg. Aber erst zeige ich Ihnen, wo es hingeht. Kommen Sie!“
Kies knirschte unter ihren Sohlen, als Flora ihr durch die Dunkelheit des Gartens folgte. Der Lichtkegel tanzte über Büsche und vereinzelte Blüten über einer Steineinfassung, über die schartige Rinde von Baumstämmen, einen gepflegten Rasen und landete schließlich auf einem gepflasterten Weg, der sich vor dem rechten Gebäude, das das Wohnhaus zu sein schien, zwischen Garten und einer überdachten Terrasse weiterzog.
„So, hier ist es!“ Olivia legte einen Außenschalter um und stand unmittelbar im Lichtschein der Terrassenbeleuchtung.
Flora musterte sie mit verstohlener Neugier. Eine Frau in ihren Fünfzigern, das dunkle Haar mit Silberfäden durchsetzt, in einem Knoten zusammengenommen, ein offenes, hübsches Gesicht, das die paar Fältchen nur sympathischer machten. Olivia sperrte eine Terrassentür auf, hinter deren oberen Glaseinsätzen alte Spitzengardinen befestigt waren, und die in eine Wohnküche führte.
Sie reichte ihrem späten Gast die Schlüssel. „Hier, das sind Ihre. Auf dem Tisch liegt eine Liste mit Telefonnummern.“
Flora fiel erst jetzt auf, dass Olivia einen Korb trug, den sie nun mit Schwung auf den schweren Holztisch in der Mitte der Wohnküche vor ihnen stellte.
„Falls irgendetwas sein sollte, erreichen Sie mich also. Ich glaube, Sie werden zurechtkommen, nicht wahr? Ich beziehe schnell ihr Bett und warte noch, bis Sie Ihren Wagen vorgefahren haben. Morgen früh schaue ich dann nach Ihnen. Wie gesagt, die Signora habe ich nicht groß über ihren Aufenthalt verständigt, aber ich nehme an, dass sie nichts dagegen hätte. Schließlich ist es ein Notfall, nicht wahr?“
„Das ist sehr freundlich von Ihnen. Schließlich kennen Sie mich ja gar nicht. Danke. Aber das Bett kann ich mir doch selbst beziehen“, stammelte Flora hinter Olivia her, die bereits in den anschließenden Raum weitergeeilt war und Decken aus einem Schrank zog.
„Ach, dann machen wir es einfach zusammen.“ Die Frau lachte und drückte ihr ein Kopfkissen nebst Bezug in den Arm. „Wissen Sie, ich habe die Geschichte mit dem Hund gehört. Das war wiederum sehr freundlich von Ihnen! Ohne den Umweg wegen Pepe zu machen, wären Sie gar nicht in die Situation gekommen, vero?“
Während Flora noch mit ihrem Kopfkissen kämpfte, hatte Olivia bereits das Betttuch über die Matratze gespannt und knöpfte schon den Bezug der Decke zu.
„Ach, fast vergessen! Ich habe Ihnen etwas von unserem Abendessen mitgebracht. Bo meinte, Sie müssten ausgehungert sein. Ist alles in dem Korb.“ Ein letztes glättendes Über-die-Bettdecke-Streichen. „Aber nun muss ich los! Ich möchte die Fernsehshow nicht völlig verpassen!“
Olivia war fort und Flora umgab absolute Dunkelheit. Sie lauschte einen Moment in die Nacht und fühlte sich plötzlich einsam. Sie ging hastig zurück zu der Lichtinsel, den die Lampe aus der Küche warf, zog die Tür hinter sich ins Schloss und sperrte ab. So fühlte sich das schon besser an.
Gemütlich war es hier, eine heimelige Mischung aus exquisit und lässig. Das Spülbecken war zum Beispiel aus altem Marmor und der Tisch sah aus wie eine antike Klostertafel; da hatte sich jemand richtig Mühe mit den Details gegeben. Noch mehr allerdings interessierte Flora im Moment der Proviantkorb und der verführerische Duft.
Mmmh … Das Fenchelrisotto auf dem abgedeckten tiefen Teller war sogar noch warm, genau wie die in Öl gebackenen Reisbällchen und das Ofengemüse in dem Tontopf. Paprika, Zucchini, Auberginen und ein paar Kartoffelstücke in ihrer zarten Schale zusammen mit knusprigen Zweigen von Rosmarin, Thymian und Salbei. Daneben steckte, eingeschlagen in ein weißes Küchenhandtuch, ein italienisches Weißbrot, von dem Flora sich dicke Stücke abriss, und eine Flasche kühler Weißwein, leicht moussierend, mit einem selbst geschriebenen Etikett. Ein Chardonnay mit dem Datum des letzten Sommers, wohl aus einer hauseigenen Produktion.
„Einfach göttlich“, flüsterte Flora und spießte noch ein Stück Aubergine auf die Gabel.
Todmüde schlüpfte sie schließlich nach einer Katzenwäsche zwischen die Laken, die nach Lavendel dufteten. Ich bin gespannt, wie das Ganze bei Tageslicht aussieht …
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