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Soundtracks - eBook-Ausgabe Soundtracks

Graeme Lawson
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Auf den Spuren unserer musikalischen Vergangenheit

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Soundtracks — Inhalt

Auf der Suche nach der verlorenen Musik

Graeme Lawson nimmt uns mit auf eine fesselnde Reise durch die Geschichte der Musik, die tief in die Vergangenheit der Menschheit eintaucht: Er erkundet die magische Welt der Jagdgemeinschaften vor vierzigtausend Jahren, beleuchtet die Bedeutung der antiken Musik für unsere Vorfahren und zieht Vergleiche zu modernen Popfestivals und Streaming-Musik. Auf seinem Weg entdeckt er musikalische Schätze vom alten China bis zu den peruanischen Anden. Lawson präsentiert eine alternative Menschheitsgeschichte, in der Musik eine zentrale Rolle spielt, und füllt die stille Vergangenheit mit neuen Klängen.

€ 25,99 [D], € 25,99 [A]
Erscheint am 02.05.2025
432 Seiten
EAN 978-3-492-61041-4
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Erscheint am 02.05.2025
432 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-492-07122-2
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Leseprobe zu „Soundtracks“

Prolog:
Gegenwart und erinnerte Vergangenheit

Es ist ein schöner, ruhiger Sommerabend während einer Wärmeperiode in der letzten Eiszeit. Jemand sitzt am Eingang einer Kalksteinhöhle in Süddeutschland und spielt kunstvolle Melodien auf einer langen, schlanken Pfeife aus Schwanenknochen. Die durchdringenden Klänge schallen über das Tal und verlieren sich zwischen den Bäumen, dem Gesang der Vögel und dem endlosen Rauschen des Flusses ganz unten. Spulen wir rund 37 000 Jahre vor: In Zentralchina umringt eine festlich gekleidete Menschenmenge ein riesiges [...]

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Prolog:
Gegenwart und erinnerte Vergangenheit

Es ist ein schöner, ruhiger Sommerabend während einer Wärmeperiode in der letzten Eiszeit. Jemand sitzt am Eingang einer Kalksteinhöhle in Süddeutschland und spielt kunstvolle Melodien auf einer langen, schlanken Pfeife aus Schwanenknochen. Die durchdringenden Klänge schallen über das Tal und verlieren sich zwischen den Bäumen, dem Gesang der Vögel und dem endlosen Rauschen des Flusses ganz unten. Spulen wir rund 37 000 Jahre vor: In Zentralchina umringt eine festlich gekleidete Menschenmenge ein riesiges offenes Grab und sieht zu, wie der Leichnam ihres toten Markgrafen feierlich in sein Grab gesenkt wird. Wir schreiben das Jahr 433 v. Chr., und zwischen den prächtigen Grabbeigaben sehen wir Trommeln, Saiteninstrumente und Flöten verschiedenster Art; ein gewaltiges Gerüst aus lackiertem Holz trägt ein Bianzhong mit 65 prächtigen, schweren Bronzeglocken. Wir überspringen weitere 2000 Jahre und sehen eine wunderschöne Geige auf den Grund der Ostsee sinken, wo sie sich zu den anderen Wrackteilen einer Schiffsschlacht gesellt, die am späten Morgen des 1. Juni 1676 entbrannte. Und noch heute ruhen in der tiefen, kalten Finsternis unter dem Eis des Weddellmeeres in der Westantarktis die Instrumente und Grammophonplatten, die Sir Ernest Shackletons „Imperial Trans-Antarctic Expedition“ zurückließ, als ihr Schiff Endurance an einem Novemberabend des Jahres 1915 vom Packeis zerdrückt wurde und sank.

Shackletons musikalische Memorabilien müssen noch geborgen werden, aber alle anderen Instrumente wurden bereits ausgegraben und bilden Teile eines außergewöhnlichen musikalischen Puzzles, das von Archäologen in aller Welt zusammengesetzt wird.

Archäologische Belege für Musik sind ausschließlich menschlichen Ursprungs. Es stimmt, dass auch Tiere Musik machen oder zumindest Klangmuster erzeugen, die wir als Musik wahrnehmen, und dass ihre Klangerzeugung manchmal physische Spuren hinterlässt. Ein hohler Ast oder ein Telefonmast weist vielleicht Schrammen auf, wo ein Specht getrommelt hat. Der Boden im Regenwald mag kurzzeitig den Auftrittsort oder „Hof“ eines Nacktkopf-Paradiesvogels bewahren. Doch die meisten tierischen Lautäußerungen sind vergänglich. Sofern die Gesänge und Töne von Vögeln eine eigene physische Substanz besitzen, findet man diese in ihrer Anatomie: in der Syrinx, dem Stimmkopf in der Luftröhre eines Singvogels, die ihm das Singen ermöglicht, im Zischen der Flügelfedern eines fliegenden Schwans, im Schwirren der Schwanzfedern einer Schnepfe im Sturzflug. Störche klappern mit dem Schnabel. Kraniche tanzen. Anatomische und kognitive Anpassungen haben die kunstvollen Rufe und Gesten von Lemuren, Brüllaffen, Wölfen, Walen, Fröschen und Zikaden ermöglicht. All diese Formen der Kommunikation sind zwar ausgesprochen eindrucksvoll und zeugen in unseren Augen von der Schönheit und Dramatik der Natur, aber sie existieren nur für den Augenblick. Wenn das Lied oder der Tanz vorbei ist, ist es vorbei.

Wir Menschen sind anders. Wir haben Methoden entwickelt, um unseren Stimmen, unseren Worten und unserer Musik eine dauerhafte physische Existenz zu verleihen: durch die raffinierten Systeme, die wir für ihre Aufzeichnung und Wiedergabe ersonnen haben, und durch die ausgeklügelten Geräte, die wir entwickelt haben, um unsere musikalischen Fähigkeiten und Vorlieben auszudrücken. Diese Dinglichkeit hat über die Zeit hinweg eine deutliche archäologische Spur hinterlassen. Um diese deuten zu können, sollten wir am besten mit einigen lehrreichen Beispielen aus unserer jüngsten Vergangenheit beginnen.


Klangaufzeichnung

An erster Stelle steht die bescheidene Notenrolle. Es war kein Zufall, dass unsere Vorfahren Methoden entwickelten, um Klänge zu erfassen und zu speichern: Sie taten dies ganz bewusst. Vor vielen Jahrhunderten begannen sie, Musik in Worte zu fassen, indem sie den Längen und Höhen von Tönen Namen gaben und diese als Symbole auf Pergament, Papyrus und Bambus niederschrieben oder in Stein gravierten. Manchmal wurden Punkte und wellenförmige Linien eingezeichnet, um das Ansteigen und Abfallen von Melodien darzustellen. Erst in jüngerer Zeit wurden mechanische Verfahren entwickelt, um den physischen Klang direkt auf Wachszylindern festzuhalten oder Tastenanschläge mittels Lochkarten aufzuzeichnen und verfügbar zu machen. Wenn man diese alten, vorsintflutlich anmutenden Aufnahmen heute auf einem aufziehbaren Phonographen oder einem mechanischen Klavier abspielt, kann man auf besonders magische und intime Weise in die Geschichte hineinhorchen.

Ein Wachszylinder, wie er von Thomas Edison entwickelt und hergestellt wurde, ist ein ausgesprochen haptisches Objekt. Die ursprünglichen Schallwellen, von einem kegelförmigen Mikrofon aufgefangen und gebündelt, wurden direkt auf einen scharfen Stichel übertragen. Dieser ritzte die rotierende Wachsoberfläche und hinterließ eine wellenförmige, analoge Rille, die beim Abspielen den (mehr oder weniger) ursprünglichen Klang wiedergab. Man kann einen solchen Zylinder sogar mit dem Fingernagel abspielen.

Im Gegensatz dazu verwendet der Konkurrent des Phonographen, das Pianola, ein „digitales“ System, das Anfang des 18. Jahrhunderts entwickelt wurde, um die industrielle Textilproduktion zu beschleunigen. Wenn die Notenrolle in den Mechanismus eingelegt und in Bewegung gesetzt wird, sorgen die Perforationen im Zusammenspiel mit einem Luftunterdrucksystem dafür, dass einzelne Hämmer die Saiten in der Reihenfolge anschlagen, in der sie auf der Aufzeichnung festgehalten wurden, wobei jeder Ton genau die richtige Zeitspanne lang gehalten wird. Der besondere Reiz dieses Wiedergabesystems liegt nicht nur darin, dass es die ursprüngliche Darbietung reproduziert, sondern auch, dass es dabei einen authentischen Klavierklang erzeugt. Trotz seines komplexen Wiedergabemechanismus ist ein Pianola immer noch ein richtiges Klavier mit Hämmern und Saiten. Die Wiedergabe erfolgt daher ohne Oberflächengeräusche, Rumpeln oder Zischen, wie sie bei Wachszylindern auftreten. Im Großen und Ganzen klingt es genau wie eine Live-Darbietung.

Heute sind die bemerkenswerten technischen Möglichkeiten der Klavierrolle weitgehend in Vergessenheit geraten, doch am 17. September 1988 rückte die Technologie für einen kurzen Zeitraum von nur 35 Minuten noch einmal ins Rampenlicht. An jenem Abend wurde in der „Last Night of the Proms“-Sendung der BBC das Klavierkonzert in a-Moll von Edvard Grieg von dem australischstämmigen Pianisten Percy Grainger zwar „live“, aber ausgesprochen geisterhaft vorgetragen. Zu diesem Zeitpunkt war Grainger bereits 27 Jahre tot, doch seine Fingerbewegungen lebten auf der Notenrolle weiter. Begleitet vom BBC Symphony Orchestra und unter der Leitung von Rex Lawson, einem Kenner der Notenrolle, verblüffte und begeisterte die Aufführung die Konzertbesucher und Zuschauer in aller Welt.

Heutzutage halten wir diese Art von Festkörperspeicher für selbstverständlich, aber vor etwas mehr als einem Jahrhundert muss es geradezu magisch erschienen sein, dass Stimmen und Musik auf diese Weise festgehalten und manipuliert werden konnten. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit konnte man einer musikalischen Darbietung oder einer Rede lauschen, die nicht in der Gegenwart gehalten wurde. Sie konnte Stunden, Wochen, Monate oder sogar Jahre zurückliegen.

In dem Versuch, Musik zu definieren, heißt es oft, dass sie wie die anderen darstellenden Künste im Wesentlichen vergänglich und flüchtig sei. Es ist sicherlich wahr, dass sie für den Gelegenheitshörer vorübergeht und nur eine Erinnerung hinterlässt. Man kann sie nicht im Blick behalten wie ein Gemälde oder eine Skulptur. Doch das bedeutet nicht, dass sie grundsätzlich immer körperlos ist. Wenn der Schneidestichel des Phonographen seine spiralförmige Bahn um die Oberfläche eines frischen Wachszylinders zieht, hinterlässt er eine Tonaufnahme, aber gleichzeitig auch eine physische Spur. Wie die Reifenspuren eines Jeeps, der durch den Wüstensand fährt, oder eines Schneemobils im Winter hat der Klang den unsichtbaren Charakter seines Verlaufs, die Form seiner vergangenen Reise, in die sichtbare Matrix aus Wachs übertragen. Wenn man eine typische Notenrolle abwickelt, erstreckt sich ein ähnlicher Zeitverlauf vor einem. Der erste Satz des Grieg-Konzerts dürfte etwa 30 Meter lang sein. Die rechteckigen Perforationen wandern dabei über die gesamte Breite des abgerollten Papiers wie unzählige kleine Fußabdrücke.


Die Macht der Verstärkung

Ein weiteres Beispiel ist unsere Faszination für Lautstärke. Einer der großen technischen Fortschritte unserer Zeit war die Erfindung der Signalverstärkung. Im 20. Jahrhundert ermöglichte die Entwicklung der Glühkathodenröhre und des Halbleitertransistors die Konstruktion elektronischer Verstärker, die uns in die Lage versetzten, die Kraft der Musik zu bündeln und sie in bisher unvorstellbarem Maße zu verstärken. Wenn wir uns auf die Suche nach den Anfängen der Musik begeben, mag es etwas ungewöhnlich erscheinen, dass ein modernes elektronisches Gerät wie der Verstärker einen Hinweis auf den Weg geben könnte, den wir dabei einschlagen sollten. Doch bei genauerer Betrachtung bietet der Verstärker durchaus einen geeigneten Ausgangspunkt. Der Schlüssel liegt nicht so sehr in der zweifellos beeindruckenden Elektronik, die für die Erzeugung hoher Lautstärken erforderlich ist, sondern in den Auswirkungen, die derartige Systeme auf uns haben, und was sie uns über unsere musikalischen Gewohnheiten und Vorlieben verraten.

Insbesondere scheinen sie etwas über unsere Vorliebe für drei starke musikalische Kräfte zu verraten: für starke Resonanzen, für sehr hohe und sehr tiefe Frequenzen und für extreme Lautstärken. Seit jeher übt der Nachhall eine stete Faszination aus, vom sechssekündigen Echo in der Kathedrale Notre-Dame de Paris bis hin zum ausgleichenden Effekt des Tonhaltepedals am Klavier. Die hohen Töne eines Koloratursoprans und das tiefe Grollen eines 20 Meter hohen Orgelregisters erzeugen ihre ganz eigenen Wonneschauer. Und schon 600 v. Chr. ließen donnernde Klänge bronzezeitlicher Trompeten die Wälder und Ebenen Nordeuropas erzittern. Obwohl wir in der Regel annehmen, Lautstärke sei ein modernes musikalisches Phänomen, ist dies eindeutig nicht der Fall. Aber was genau macht ihren Reiz aus?

Manchmal nutzen wir Lautstärke, um unseren Status und unsere Macht zu demonstrieren, sei es als Einzelpersonen oder als Gruppen und Institutionen. Mithilfe immer größerer Lautsprecher verbreiten wir unsere Stimmen und Musik, um uns unserer Umgebung aufzudrängen. Fußballfans skandieren lauthals Parolen, um ihre kollektive Identität zum Ausdruck zu bringen und ihre Gegner einzuschüchtern. Im 16. Jahrhundert machten die spanischen Invasoren auf die Azteken vor allem durch den Lärm ihrer Musketen und Kanonen Eindruck, und auch heute noch werden bei staatlichen Anlässen Kanonen abgefeuert, etwa anlässlich des Platinjubiläums der verstorbenen Königin Elisabeth II. im Jahr 2022. Damals gab es Salutschüsse aus 124 Rohren. Offenbar gehen Lautstärke und Macht häufig Hand in Hand.

Sie kann aber ebenso viel Vergnügen bereiten. Freilich ist es nicht jedermanns Sache, aber für viele Menschen scheint die Freude an lauter Musik, vor allem an Tanzmusik, zumindest teilweise darin zu liegen, dass sie in die Musik eintauchen und sich von der Alltagsnormalität lösen können. Mitunter ist diese Distanzierung ziemlich extrem. Ihre Wirkung lässt sich am besten anhand chirurgischer Experimente im 18. Jahrhundert veranschaulichen, die zeigten, dass es für Patienten bei Zahnextraktionen und anderen schmerzhaften Eingriffen hilfreich sein konnte, wenn Trommeln geschlagen oder Schüsse abgefeuert wurden – sofern die Trommelschläge und Schüsse nahe genug erfolgten, um den Patienten zu erschrecken und abzulenken (und natürlich vorausgesetzt, dass der Chirurg schnell arbeitete).


Grüne Musik

Am anderen Ende des technischen Spektrums findet sich ein weiteres Kernelement der Musik, und zwar bei einer Gruppe der unscheinbarsten aller heute gebräuchlichen Musikinstrumente. Man bezeichnet sie allgemein als „Baumrindenflöten“. Wenn Sie noch nie eine in einem Musikgeschäft gesehen haben, gibt es dafür einen sehr guten Grund. Es liegt an der Biologie: Sie können nur zu einem bestimmten Zeitpunkt im Frühjahr hergestellt werden, wenn mit dem wärmeren Wetter der Saft in den Laubbäumen zu steigen beginnt. Während der kalten Monate bleibt die Rinde der neuen Zweige des vergangenen Jahres fest mit dem Holzkern verbunden, aber bei bestimmten Arten löst sie sich im Frühjahr und lässt sich für kurze Zeit als dünner, lederartiger Schlauch in einem Stück abstreifen. Mit einem kleinen Schallloch an einem Ende und einem kurzen, aus dem Kernholz herausgeschnittenen Mundstück erzeugt man einen der süßesten und zauberhaftesten Instrumentenklänge, die Sie je gehört haben.

Leider dauert es meist nur ein paar Tage oder gar Stunden, bis eine Rindenflöte austrocknet, schrumpft und Risse bekommt. Aber in dieser kurzen Zeit offenbart sie eine der fundamentalsten und universellsten Eigenschaften der Musik, die in der einfachen und sparsamen Form des Instruments verkörpert ist. Es gibt keine Grifflöcher, um die Stimmung zu verändern. Stattdessen ermöglichen Länge und Enge des Rohrs, die „Luftsäule“, eine ganz andere Art des Spiels, die auf der sogenannten „Naturtonreihe“ basiert, einer präzisen Abfolge von Tönen oder Obertönen, die eine ganz bestimmte Tonleiter bilden. Die Naturtonreihe ist ein Phänomen, das nur den Gesetzen der Physik gehorcht und spontan zum Leben erwacht, wenn Luft in einer Röhre zum Schwingen gebracht wird. Die ansteigende Tonskala, die durch die Zunahme des Luftstroms in der Röhre erzeugt wird, ist immer dieselbe, und sie ist ziemlich unveränderlich. Sie war schon immer da und wird immer da sein. Sie entsteht wie durch Zauberei aus dem Gefüge des physischen Universums und lässt eine wichtige Schlussfolgerung zu.

Wenn Sie sich jemals gefragt haben, wie oder warum wir Menschen uns mehr oder weniger darauf einigen, Melodien innerhalb von Oktavrahmen zu verorten, die auf Intervallen basieren, die mehr oder weniger den Wert (und die Anzahl) von Tönen und Halbtönen haben, dann gibt es hier einen ersten Anhaltspunkt: Sie stellen Elemente der Naturtonreihe dar. Und die Rindenflöte hat noch eine weitere Überraschung für uns auf Lager. Legen Sie eine Fingerspitze über das hintere Ende des Rohrs, während Sie in das Mundstück blasen. So entsteht eine zweite Reihe von Obertönen, die sich von der ersten unterscheidet. Durch abwechselndes Öffnen und Schließen des Rohrs entsteht eine neue kombinierte Tonleiter, die sowohl melodischer als auch vielseitiger ist. Es handelt sich nicht um eine unserer üblichen Dur- oder Moll-Tonleitern oder Modi; sie besitzt vielmehr eine übermäßige Quarte und eine verminderte Septime. Aber sie ist herrlich ausdrucksstark. Diese Tonleiter ist in der traditionellen Musik auf der ganzen Welt wohlbekannt. Man kann sich durchaus fragen, wie lange die Menschen schon ihrem Einfluss ausgesetzt sind.

Da Baumrinde in feuchter Erde naturgemäß schnell zerfällt, haben Archäologen so gut wie keine Spuren solcher Flöten gefunden. Wir wissen jedoch, dass ihre Herstellung einst weit verbreitet war. Von Skandinavien bis Schottland und von Sibirien bis in die Türkei wurde die Tradition mindestens bis ins 20. Jahrhundert hinein aufrechterhalten, sodass es zur Zeit unserer Großeltern nicht ungewöhnlich war, in einem anatolischen Dorf im Frühling einen Chor von Weidenpfeifen zu hören, der wie Vogelgezwitscher von den Stellen am Wasser widerhallte, wo die Kinder spielten. So bleibt die Rindenflöte mit ihrer schlichten Eleganz und Einfachheit einerseits ein Anschauungsbeispiel dafür, wie ein primitiv anmutendes Werkzeug unerwartete Schönheit und kreatives Potenzial freisetzen kann; andererseits führt sie zu der Überlegung, wie selbst der Einfluss eines kindlichen Zeitvertreibs zur Herausbildung der Klang- und Musikwahrnehmung unserer Vorfahren beigetragen haben könnte.

Die weltweiten Rindenflöten-Traditionen sind nur ein Beispiel für das, was mein schwedischer Kollege, der Prähistoriker Cajsa Lund, Grön Musik oder „Grüne Musik“ nennt. Solche lebendigen Traditionen können uns vielleicht nicht direkt sagen, wie in unserer fernen Vergangenheit Musik gemacht wurde, aber ihre Unbeständigkeit ist für uns eine frühzeitige Warnung: Die Schätze, auf die wir in diesem Buch stoßen werden (so erstaunlich die meisten davon auch sind), stellen vielleicht nur einen kleinen Teil der verlorenen Musik der Menschheit dar – nicht mehr als die sichtbare Spitze des sprichwörtlichen Eisbergs. Es ist schlicht eine Frage des Überdauerns: Die meisten gefundenen Objekte wurden aus härteren, widerstandsfähigeren Materialien wie Stein und Keramik, Metall und Knochen, Geweih oder Elfenbein hergestellt. Um die tieferen und potenziell aussagekräftigeren Schichten des musikalischen Lebens unserer Vorfahren zu verstehen, müssen wir natürlich die Objekte erforschen, die uns zur Verfügung stehen, aber wir müssen auch erkennen, wo dabei die Grenzen liegen.


Ursprünge und Erfindungen

Eine weitere Art von Indizien, die man sorgfältig prüfen muss, betrifft die Ursprünge musikalischer Ideen und Traditionen. Wenn wir an Innovationen in vergangenen Musiktechnologien denken, sind wir natürlich versucht, uns deren allmähliche Verbesserung im Laufe der Zeit vorzustellen. Vor allem Prähistoriker sind so sehr daran gewöhnt, langsame Veränderungen in winzigen Schritten über Tausende, ja sogar Millionen von Jahren hinweg zu beobachten, dass dies beinahe als die normale, natürliche Ordnung der Dinge erscheinen mag. Dies ist jedoch keineswegs immer der Fall. Die moderne Welt zeigt uns, dass eine musikalische Idee oft nur wenige Jahrzehnte braucht, um sich vom ersten Entwurf zu einem der beliebtesten Musikinstrumente der Welt zu entwickeln.

In den 1930er-Jahren versuchte die britische Kolonialverwaltung auf der Karibikinsel Trinidad, die beliebte Trommeltradition des Tamboo Bamboo mit der Begründung zu unterdrücken, sie gefährde die öffentliche Ordnung, insbesondere während des Karnevals. Als die Bambustrommeln schließlich verboten wurden, waren die Karnevalisten gezwungen, sich nach einer Alternative umzusehen. Der Zufall wollte es, dass die Lösung direkt vor ihrer Haustür lag. Trinidad, berühmt für seinen Asphaltsee (La Brea Pitch Lake), war bereits ein großer Ölproduzent und spielte in den 1940er-Jahren eine wichtige Rolle bei den britischen und amerikanischen Kriegsanstrengungen. Infolgedessen stapelten sich dort Unmengen leerer Ölfässer aus Stahl, die zu musikalischen Experimenten einluden, weil sie bei jeder Bewegung und jedem Schlag einen deutlichen Nachhall erzeugten. Die Musiker entdeckten, dass das abgesägte Ende einer solchen Trommel eine hervorragende, wenn auch etwas ungewöhnlich klingende Tambour abgeben konnte und dass man sie noch besser zum Klingen brachte, wenn man sie zunächst temperierte. Schon bald stellten sie fest, dass sie durch Dehnen des Metalls zu einzelnen Vertiefungen und Wölbungen aus verschiedenen Teilen einer einzigen Trommelfläche unterschiedliche Tonhöhen herausholen konnten. Diesen bescheidenen Anfängen folgten weitere Verfeinerungen, einschließlich der Entwicklung verschiedener Arten von Klöppeln und Möglichkeiten der Feinstimmung, die uns schließlich den einzigartigen Klang der Steeldrums bescherten, den wir heute so gut kennen.

All dies ereignete sich innerhalb einer Generation. Das erste Mal, dass eine Steel Band im Vereinigten Königreich auftrat, war, soweit ich weiß, 1951, als das neu gegründete Trinidad All-Steel Pan Percussion Orchestra (TASPO) beim Festival of Britain ein sensationelles Debüt gab. Von da an war der Aufstieg der „Pfannen“ zu Bekanntheit und weltweiter Beliebheit geradezu kometenhaft. Obwohl man erwarten könnte, dass allmähliche, ruhige Veränderungen in der traditionellen Musik die Norm sind, gibt es offenbar auch genügend Raum für einen gelegentlichen Urknall.


Funde verstehen

Auch Zeit und Umstände spielen eine Rolle dabei, wie wir die physische Präsenz von Musik erleben und interpretieren, und nirgendwo wird dies deutlicher als im tragischen Fall der Klaviere von Prypjat. Ein Unglück wie das von Prypjat kann man wohl kaum als Glücksfall bezeichnen, und doch können die beklagenswerten Folgen einer Katastrophe mitunter Aufschluss darüber geben, wie die Stofflichkeit der Musik den Übergang in die Archäologie schafft. Beunruhigenderweise zeigt sich dabei, dass man nicht alles für bare Münze nehmen kann.

Als sich in den frühen Morgenstunden des 26. April 1986 im Kernkraftwerk von Tschernobyl eine Explosion ereignete, schliefen die meisten Bewohner der benachbarten Stadt Prypjat noch. Da die Explosion selbst offensichtlich nur das Kraftwerk beschädigte, dauerte es etwa 36 Stunden, bis die Menschen aufgefordert wurden, ihre Häuser zu verlassen. Doch als sie erst einmal fort waren, kehrten sie nie mehr zurück, und Prypjat wurde zu einer der vielen menschlichen Siedlungen, die infolge einer plötzlichen und unvorhergesehenen Veränderung der Umstände aufgegeben wurde. In diesem Fall war es der dunkle Schatten tödlicher Strahlung. Eine Besonderheit von Prypjat, die es von vielen anderen verlassenen Orten unterscheidet, besteht jedoch darin, dass wir heute genau nachvollziehen können, was dort geschehen ist und was dort weiterhin geschieht. Die Geschichte besitzt außerdem eine seltsame musikalische Komponente.

Wenn eine Stadt von ihren Bewohnern verlassen wird, überlässt man offenbar nicht einfach der Natur das Feld. Gewiss spielt die Natur eine wichtige Rolle, aber eben auch Plünderungen, Vandalismus und erstaunlicherweise sogar der Tourismus. Auf den ersten Blick scheint Prypjat eine eher ungewöhnliche Touristenattraktion zu sein, doch bis zum Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine im Februar 2022 wurden offiziell genehmigte Touren für alle angeboten, die den Schauplatz der Katastrophe bequem in einem Luxus-Minibus besichtigen wollten. Auf Tripadvisor finden sich noch immer Fotos und Berichte über die Erlebnisse der Besucher. Zu den eindringlichsten und bewegendsten Bildern im Internet gehören Fotos, die das zerstörte und entweihte Innere der Musikschule von Prypjat zeigen.

Die Bilder zeigen insbesondere das Schicksal zweier Flügel. Einer wurde in die Knie gezwungen, ein anderer brutal ausgeweidet. Zusammen mit vielen anderen beweglichen Teilen fielen die Tastaturen Plünderern und Vandalen zum Opfer, sodass nur noch der eiserne Rahmen mit einigen Metallsaiten sowie eine Reihe von Hämmern und Dämpfern übrig blieben. Für einen Archäologen stellt sich natürlich die Frage: Welche Lehren können wir aus dem Zustand dieser einst schönen und geschätzten Instrumente ziehen? Und was können sie uns über unseren Umgang mit der Musik vergangener Zeiten sagen? Ziemlich viel, wie es scheint.

Vor der Katastrophe berührten Dozenten und Musikschüler die glatten Elfenbein- und Ebenholztasten jeden Tag vermutlich genau so, wie es vorgesehen war. Heute ist das ganz anders. Das wenige, was von ihnen übrig ist, kann immer noch Töne erzeugen. Tatsächlich haben Komponisten elektronischer Musik Aufnahmen davon als Klangquelle genutzt. Andere Besucher haben versucht, die Saiten wie Harfensaiten oder in der modernen Tradition des „präparierten Klaviers“ zu spielen. Aber obwohl diese qualvollen Klänge zweifellos stimmungsvoll sind, haben sie kaum eine erkennbare Ähnlichkeit mit dem ursprünglichen Klang eines Klaviers, und sie verraten fast nichts über die Musik, die auf den Instrumenten einst gespielt wurde. Darin liegt vielleicht eines der ungewöhnlichsten musikalischen Vermächtnisse von Prypjat. Hier können wir ein bekanntes Musikinstrument vor seinem Zerfall mit dem vergleichen, wozu es später wurde: Wir vergleichen den Zustand einer Sache, wie wir sie vorfinden, mit ihrer bekannten historischen Vergangenheit. Für Musikarchäologen ist dies eine wichtige Lektion. Äußere Beeinträchtigungen und Eingriffe stellen immer ein Risiko dar.


Gräber, Schätze – und Zufall

Es gibt noch eine andere Möglichkeit, wie Unbekannte ein musikalisches Phänomen für die Nachwelt versiegeln – indem sie es vergraben. In diesem Buch werden wir uns häufig auf die eher zufälligen Aspekte archäologischer Entdeckung und Konservierung konzentrieren – auf Objekte, die verloren gegangen sind oder zurückgelassen und sogar absichtlich zerstört wurden. Diese sind ein wesentlicher Teil des Handwerks moderner Archäologen. Bei unserer Suche nach den Ursprüngen der Musik müssen wir aber auch musikalische Objekte berücksichtigen, die möglicherweise absichtlich vergraben oder bestattet wurden und sich so in archäologische Zeitkapseln verwandelten. Dies hat seine eigenen Vorteile, birgt aber auch besondere Herausforderungen. Die größten und reichhaltigsten dieser „Zeitkapseln“ sind Grabstätten – seien es die Gräber gewöhnlicher Menschen oder die Grabkammern von Königen, die meist die größten und eindrucksvollsten Funde bergen. Allerdings sollten diese stets mit einem Vorbehalt betrachtet werden: Ein Gegenstand, der versehentlich verloren gegangen ist, ist wahrscheinlich ein ehrliches Zeugnis dafür, wie die Dinge einst waren, aber Gegenstände, die wir in Gräbern finden, transportieren gezielt bestimmte Informationen. Wir müssen uns also immer fragen, wer sie dort hineingelegt hat – und warum.

Aus diesem Grund werden wir auf unserer Spurensuche sowohl einfache, marginale und vergessene als auch zeremonielle musikalische Handlungen in unsere Arbeitsdefinition von „Musik“ einbeziehen. Dabei geht es nicht darum, auch den allerkleinsten Hinweisen nachzugehen oder eine Relevanz für bestimmte Gemeinschaften und Interessengruppen zu konstruieren. Es ist einfach eine Frage des gesunden Menschenverstands. Wenn wir eine Antwort auf die grundlegende Frage „Woher kommt die Musik?“ finden wollen, müssen wir uns darüber klar werden, was genau Musik ist, und dazu müssen wir offen und unvoreingenommen bleiben.

Wie alle archäologischen Museen der Welt stellt auch dieses Buch eine Sammlung archäologischer Fundstücke zusammen und präsentiert sie. Ich habe einige Funde ausgewählt, auf die ich im Laufe meines Lebens auf der Suche nach unserer musikalischen Vergangenheit gestoßen bin und die meiner Meinung nach einen wichtigen Beitrag zur archäologischen Darstellung der Ursprünge unserer Musik leisten. Es hätten auch andere Objekte gewählt und andere Geschichten erzählt werden können: Wir haben die Qual der Wahl. Ich hoffe jedoch, dass diese spezielle Zusammenstellung zumindest eine Richtung vorgibt und dabei auch einen neuen Blick auf das Menschsein unserer Vorfahren eröffnet.

Graeme Lawson

Über Graeme Lawson

Biografie

Graeme Lawson ist Archäologe, Prähistoriker und Künstler aus Cambridge. Seine Passion ist die Erforschung der fossilen Spuren der Musik. Er ist Autor vieler wissenschaftlicher Publikationen und spielt auf nachgebauten antiken Instrumenten aller Art.

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