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Standing Ovations Standing Ovations - eBook-Ausgabe

Charlotte Runcie
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Roman

— Vielschichtiges Debüt über Misogynie, Kunst und Macht
Hardcover (25,00 €) E-Book (21,99 €)
€ 25,00 inkl. MwSt. Erscheint am: 04.07.2025 In den Warenkorb Im Buchshop Ihrer Wahl bestellen
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Standing Ovations — Inhalt

Zwischen Applaus und Abgrund: Von der mutigen Rache einer Frau

Als Hayley Sinclair auf die Bühne tritt, hofft sie auf tosenden Applaus. Doch am nächsten Morgen kassiert die Performerin eine vernichtende Kritik. Nicht weiter schlimm, denkt sie, wer liest schon noch Zeitungen? Bis sie erfährt, dass der Mann, den sie nach der Premiere in einer Bar ansprach, der ihr so wohlwollend zuhörte und die Nacht mit ihr verbrachte, ausgerechnet ebenjener Starkritiker Alex Lyons ist. Hayley macht ihn und seinen Verrat zum Thema ihrer Show, die bald zum Phänomen wird: Immer mehr Frauen erheben die Stimme und rechnen ab. Doch wohin führt ihre Wut?

Mit „Standing Ovations“ gelingt Charlotte Runcie ein bestechend vielschichtiges Debüt über Misogynie, Kunst und Macht, die die Seiten wechselt – Gegenwartsliteratur im besten Sinne.

„Scharfsinnig, klug und authentisch – was für eine starke, wunderbar witzige Lektüre!“ Claire Lombardo

„Ein hinreißendes Debüt. Dieser Roman, den man nur so verschlingen will, vermisst unsere Obsessionen, unseren inneren Kritiker und das, was wir im echten Leben und auf dem Papier zu sein glauben. Intim, wahrhaftig und wirklich komisch. Dieser Text hat es in sich.“ Kiley Reid

„Ein verblüffendes Debüt über das angespannte Verhältnis von Künstler und Kritiker, Wahrheit und Werbung, Männern und Frauen. Standing Ovantions erinnert uns daran, wie unklug es ist, vorschnelle Urteile über Menschen oder Kunst zu fällen – was mich nicht davon abhält, Charlotte Runcie fünf von fünf Sterne zu geben.“ Nathan Hill

€ 25,00 [D], € 25,70 [A]
Erscheint am 04.07.2025
Übersetzt von: Katharina Martl
336 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-492-07402-5
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€ 21,99 [D], € 21,99 [A]
Erscheint am 04.07.2025
Übersetzt von: Katharina Martl
320 Seiten
EAN 978-3-492-61089-6
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Leseprobe zu „Standing Ovations“

1

Alex Lyons klappte direkt nach der Vorstellung seinen Laptop auf und schrieb die Kritik innerhalb einer Dreiviertelstunde. Er vergab einen Stern. Die Bewertung bereitete ihm kein Kopfzerbrechen – ich hatte noch nie erlebt, dass er sich über irgendetwas den Kopf zerbrach. Die Performerin, Hayley Sinclair, hatte in ihrer Soloshow einiges über die Klimakrise zu sagen, über das Patriarchat und das baldige Ende der Welt – alles schön und gut, nur war ihr Auftritt leider so grauenhaft gewesen, dass Alex nach einer halben Stunde beschlossen hatte, die Welt [...]

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1

Alex Lyons klappte direkt nach der Vorstellung seinen Laptop auf und schrieb die Kritik innerhalb einer Dreiviertelstunde. Er vergab einen Stern. Die Bewertung bereitete ihm kein Kopfzerbrechen – ich hatte noch nie erlebt, dass er sich über irgendetwas den Kopf zerbrach. Die Performerin, Hayley Sinclair, hatte in ihrer Soloshow einiges über die Klimakrise zu sagen, über das Patriarchat und das baldige Ende der Welt – alles schön und gut, nur war ihr Auftritt leider so grauenhaft gewesen, dass Alex nach einer halben Stunde beschlossen hatte, die Welt dürfe ruhig so schnell wie möglich untergehen. Immerhin liefe er dann nicht mehr Gefahr, sich jemals wieder eine ihrer Darbietungen ansehen zu müssen. Die Formulierung gefiel ihm, also nahm er sie in seine Kritik auf. Er schrieb über eine niedrige Mauer gebeugt draußen vor dem Veranstaltungsort und überlegte, wo er danach noch etwas trinken gehen könnte.

Alex war Chef-Theaterkritiker bei der überregionalen Zeitung, für deren Kulturressort ich als Junior-Redakteurin arbeitete. Wir schrieben beide schon seit Jahren für das Blatt, aber in diesem Jahr waren Alex und ich erstmals gemeinsam außerhalb von London unterwegs und berichteten vom einmonatigen Kulturfestival The Fringe in Edinburgh.

Den Namen der Zeitung kann ich nicht verraten. Nur so viel: Sie wird von einigen als letzte Bastion der Vernunft wahrgenommen und von anderen als unverzeihlich voreingenommenes Schundblatt. Ich werde sie hier einfach „die Zeitung“ nennen, wie alle, die dort arbeiten, es sowieso tun.

Alex las seine Kritik Korrektur und fand keine Fehler, also mailte er sie an den diensthabenden Redakteur, die Bewertung der Klarheit halber in Großbuchstaben ganz oben – EIN STERN –, und schob den Laptop zurück in seine kastanienbraune Umhängetasche aus italienischem Leder, ein Geburtstagsgeschenk seiner Mutter. Er steckte sich eine Zigarette an und lief die Rose Street entlang, wo überall grölende Junggesellenabschiede in den Rinnstein kotzten.

Edinburgh war eine Stadt, die Alex nur im August kannte. Ich kenne sie etwas besser, weil ich nach dem Studium eine Weile dort gelebt habe. Ich habe sie schon in ruhigen, endlosen Wintern gesehen, entblößt bis auf ihr hinreißendes Gerippe aus dunkelfeuchten Wohnhäusern der Aufklärungszeit, kenne die Hefeschwaden der Brauerei in windstillen Nächten, die Meeresnebel über Holyrood, die hohen Glasfassaden der Luxushotels und die Drogenabhängigen, die in ihrem Schatten auf dem Leith Walk für Methadon Schlange stehen.

Edinburgh war für Alex, wie für die meisten Festivalbesucher, kein realer Ort, sondern eine Illusion, aus dem Boden geschossene Plakate und Banner, mobile Kaffeewagen, Foodtrucks und Straßenkünstler, das Knistern brutzelnder Burger und der schwere Duft nach Lagerbier.

Es war kurz nach elf und die Straßen immer noch voll. Eine Ratte huschte neben Alex die North Bridge entlang und jagte zwischen dem über den Gehsteig verstreuten Müll dieser Nacht hindurch. Anzugträger, Fernsehjournalistinnen oder in Ungnade gefallene Politiker eilten mit wehenden Jacketts von einer späten Sendung in den BBC-Studios nach Hause. Aus den Theaterhäusern strömten die Zuschauer.

Von all dem ging für Alex ein Glanz aus. Wie er so durch die Straßen mäanderte und Festivalluft atmete, versöhnte ihn die Stadt nach der schlechten Show, und falls er doch für einen Augenblick an seiner Meinung zweifelte oder sich selbst der Grausamkeit verdächtigte, konnte er seine Arbeit als Beitrag zur Kultur rechtfertigen. Er hielt die Messlatte hoch, in einer Stadt voller Menschen auf der Jagd nach dem nächsten Genuss. In einer Stadt, die auf Vergnügen aus war, nicht auf Mittelmäßigkeit. Wo Menschen stets das Beste vom Leben forderten, was sie ehrlich machte und frei.

Es schien, als wären auf der Royal Mile, im klaren Mondlicht der nie ganz dunklen schottischen Sommernacht, überall Schauspielerinnen und Schauspieler nach ihren Auftritten unterwegs. Das verlieh Alex einen Energieschub. Zu Schauspielerinnen fühlte er sich immer hingezogen. Theatermenschen mit ihrer oberflächlichen Eitelkeit und tiefen Verunsicherung waren leicht zu umgarnen. Und besonders Schauspielerinnen boten ihm etwas Tiefgehendes, das er nicht immer benennen konnte und das ihn in eine angenehme Unruhe versetzte. Schauspielerinnen und Schauspieler hatten etwas an sich, was normalen Menschen fehlte. Sie hatten große, ausdrucksstarke Augen. Sie konnten meistens singen. Sie strahlten eine Wärme aus, nach der Alex seine kalten Hände ausstrecken wollte. Immer war in ihnen die Energie potenzieller Veränderung. Durch ihre Fähigkeit, sich in andere Menschen zu verwandeln, wussten sie, wie schrecklich es ist, von einem fremden Leben zu kosten.

 

Als ich im Kulturjournalismus angefangen habe, musste ich einen Haufen Clickbait-Listicles für unsere Website schreiben, auf die sonst niemand Lust hatte: „13 Dinge, die du noch nicht über Picasso wusstest“, so etwas. Das wurde eine Art Spezialgebiet von mir. Deshalb an dieser Stelle drei Dinge, die ihr über Alex wissen müsst. Erstens: Viele Frauen hatten eine Schwäche für ihn.

„Die Sache ist die, Soph“, hatte Alex zu mir gesagt, als wir zwei Tage zuvor im Zug von King’s Cross nach Edinburgh Waverley saßen. Er machte sich gerade eine Himbeer-Lucozade vom Snackwagen auf und lehnte sich über den grauen Kunststofftisch zu mir, als wollte er mich in eine allumfassende spirituelle Wahrheit einweihen. „Seit ich dreißig bin, ist es lächerlich einfach, flachgelegt zu werden.“

„Ach ja?“, sagte ich. „Du Glückspilz.“

Er setzte ein kleines Lächeln auf und trank seine Lucozade. Es ist dieses Bild von Alex, vor Beginn des Festivals, das mir jetzt wieder in den Sinn kommt: die Unbekümmertheit, mit der er aus dem Fenster unseres Zugs auf das bewegte Meer hinausblickt.

Früher schlank, an der Grenze zur Schlaksigkeit, wie ein Windhund nach seiner aktiven Zeit auf der Rennbahn, hatte er dank des extrem gut ausgestatteten und gratis zugänglichen Fitnessstudios der Zeitung, in das ich nie einen Fuß gesetzt habe, in den letzten Jahren an Muskeln zugelegt. Alex sah jetzt aus wie ein Mensch, den man im Menschheitskatalog abbilden könnte: Groß, kräftig, mit guten Zähnen und leicht gelocktem dunklen Haar, frei von körperlichen Beeinträchtigungen, ohne Mängel. Ohne sichtbare Mängel.

Alex las, was er als „anständige Bücher“ bezeichnete. Er hatte stets einen Satz zu Adorno, Derrida oder Stanislawski parat, und was machte es schon, wenn es immer derselbe war? Es blieb auch nicht nur bei Männern. Voller Ehrfurcht konnte er feministische Aussagen über Germaine Greer und Judith Butler treffen und aus dem Stegreif einen Vortrag über Sarah Kane halten. Auch an weniger Hochgeistigem hatte er Spaß. Er mochte Pantomime. Er mochte Figuren, die zum Buhen und Pfeifen animierten.

Die Frauen, auf die Alex stand, waren gebildet, kunstaffin und ehrgeizig. Sie waren Autorinnen und Regisseurinnen, Redakteurinnen, Agentinnen. Und Schauspielerinnen. Er hatte, wie er mir erzählte, vor Kurzem beschlossen, nicht mehr mit Frauen unter vierundzwanzig zu schlafen, nachdem eine von ihnen ihn als „Softboi, nur in alt“ bezeichnet hatte, was ihm vorgekommen war, als würde er in einer völlig fremden Sprache beleidigt.

Im Allgemeinen hatte er eine Vorliebe für Frauen seines Alters, die eben noch in einer Langzeitbeziehung mit nicht wertschätzenden Männern gefangen gewesen waren und die sich nun, mit etwa dreißig, aus ihren Kokons der Sexlosigkeit schälten und, nachdem sie ihre Flügel getrocknet hatten, a) geil und b) auf der Suche nach einem ihnen intellektuell gewachsenen Gegenüber waren, das sie in Alex zu finden hofften.

Immer war er vorübergehend mit irgendwem liiert. Sein Verhalten gegenüber Frauen machte es mir schwer, in Alex einen Freund zu sehen, ließ sich bei einem Kollegen aber gerade noch tolerieren.

 

Das ist die zweite Sache, die ihr über Alex wissen müsst: Er war ein guter Kollege. Er brachte mich zum Lachen. Er warf mir in einem Planungsmeeting ein verschwörerisches Augenrollen zu, während er sich in seinem Stuhl zurücklehnte, einen Kugelschreiber im Mund. Er besaß die entwaffnende Fähigkeit, die Vorlieben anderer Leute zu bemerken und im Gedächtnis zu behalten: Wenn er für die Kulturredaktion Kaffee holen ging, wusste er ohne nachzufragen, dass Graham seinen Flat White mit Hafermilch trank und Nicky vom Veranstaltungskalender immer einen Doppio nahm.

Außerdem konnte ich nicht anders, als seine Arbeit zu bewundern. Er produzierte genauso saubere Texte wie ich, aber doppelt so schnell. Wo meine Beiträge manchmal zaghaft und etwas gefällig daherkamen, waren Alex’ Kritiken scharf, schwungvoll und pointiert.

Vor ein paar Jahren hatte ich einmal ein Feature über die Biennale in Venedig verfasst, das nichts taugte. Das wusste ich, weil Paul Ellis, der leitende Redakteur, den ich am wenigsten mochte, mir mitgeteilt hatte, es sei scheiße und ich müsse noch mal von vorne anfangen. Dabei hatte ich es schon viermal umgeschrieben. Ich saß also an meinem Schreibtisch, kämpfte gegen die Tränen und wünschte mir, Graham, der Feuilletonredakteur, wäre nicht krankgeschrieben, als Alex einen Drehstuhl zu mir herüberzog und sich daraufplumpsen ließ.

„Du darfst Journalismus nicht so ernst nehmen, Soph“, sagte er. „Kann ich?“

Er griff nach dem Ausdruck meines Entwurfs, der jetzt mit Streichungen von Pauls rotem Kuli übersät war, ganze Absätze so energisch durchkreuzt, dass das Papier fast gerissen war, und überflog ihn ungefähr vier Sekunden lang. Dann zeigte er auf einen Satz in der Mitte.

„Hör nicht auf Paul. Fang mit dem Teil hier an. Diese Beobachtung über die Stadt, in der sie selbst wie eine Figur ist. Das ist eigentlich ganz schön. Zieh das hoch, damit der Anfang Farbe bekommt, bring schnell die Einleitung hinter dich, pack den Rest darunter und lass es von jemand anderem absegnen. Entspann dich, es ist ein guter Artikel.“

Dann schlenderte er davon, um eine zu rauchen. Im Journalismus sind Komplimente rar. Bis heute war das das einzige Mal, dass jemand bei der Zeitung meine Arbeit ausdrücklich gelobt hat.

 

Alex riet mir, Journalismus nicht so ernst zu nehmen, aber ich war mir nie ganz sicher, ob er diesen Rat selbst befolgte. Und das ist der dritte Fakt über Alex. Er schrieb voller Begeisterung über Theater. Das Theater war ihm wirklich wichtig.

Theater, erklärte mir Alex einmal, als ich den Fehler beging, zuzugeben, dass ich gar nicht so sehr darauf stand und Ausstellungen eher mein Ding waren, unterscheidet sich von allen anderen Kunstformen. Es ist ganz anders als ein Film oder eine Serie, wo alles aufgezeichnet, geschnitten und aufbereitet wird und irgendwer es immer schon vor einem gesehen hat. Ganz anders als ein Gemälde, das einen einzigen Moment aus einer bestimmten Perspektive festhält. Theater geschieht dir im Hier und Jetzt, durch leibhaftige Menschen, etwas, das so noch nie jemand gesehen hat und auch danach nie genau so sehen wird. Theater ist die einzige Kunstform, die Geschichten im Präsens erzählt. Diese Leute auf der Bühne sind zu allem fähig. Sie können dich alles fühlen lassen. Ist das nicht fantastisch? Ist das nicht beängstigend?

Wie bei allem, was wir lieben, machte Alex seine ersten Erfahrungen mit dem Theater als Kind. Es war eine Kinderaufführung über Pinguine, in die seine Mutter, die Schauspielerin und Regisseurin Judith Lyons, ihn als Sechsjährigen mitgenommen hatte. Sie wusste von dem Stück, weil sie sich gelegentlich mit dem künstlerischen Leiter des Theaters in Hammersmith traf, wo es aufgeführt wurde. Hier wurde Alex in die Rituale des Theaters eingeführt, die wie die Rituale jeder Religion auf Verführung abzielen.

Da gab es, noch bevor der Abend richtig begann, das Ritual der Eintrittskarte. Für Alex glich sie einem papierenen Schlüssel zu einer Tür, die er schon lange hatte aufstoßen wollen, weil er vermutete, sie könnte ihn an den Ort führen, wo seine Mutter wirklich lebte. Die Karte war ein Versprechen, dass er willkommen war, in diesem Theater, zu dieser Zeit, und dass dort ein Sitzplatz auf ihn wartete, ein Licht in der Dunkelheit.

(Als Erwachsener konnte Alex sich endlos über den Tod der papierenen Eintrittskarten im Zeitalter des E-Tickets aufregen. Wenn wir freitagabends noch auf ein paar Drinks in den dunklen, holzvertäfelten Pub um die Ecke gingen, legte er richtig los, seine Augen leuchteten im Zwielicht, und mit einem Pint Oyster Stout in der Hand fing er wieder und wieder damit an, was mit den gedruckten Überresten einer vergangenen Zeit preisgegeben worden und für immer verloren sei, einer Zeit, in der Magie noch echte Spuren in der Manteltasche hinterlassen habe.)

Der sechsjährige Alex war damals am Kartenschalter, an dem man überhaupt nichts an- oder ausschalten konnte, von einer Assistentin der Vorderhausleitung in einer goldenen Weste begrüßt worden. Sie trennte den perforierten Teil seines Tickets ab und beugte sich zu ihm herunter, um Alex einen violetten Tintenfleck in Form eines Pinguins auf die ausgestreckte Hand zu stempeln.

Das war, bevor seine Mutter zur Dame ernannt wurde. Aber auch damals war sie schon eine Erscheinung, mit ihrer pelzbesetzten Jacke, hohen Lederstiefeln und einem bekannten Gesicht. Sie sprach deutlicher als andere Menschen. Sie kaufte ihm eine gestreifte Packung mit grünen und roten Bonbons, ein saurer Kern, umhüllt von Zuckerkristallen. Er solle sie leise essen, ohne zu rascheln. Im Foyer wurde sie von zwei höflich aufgeregten Frauen angesprochen und kam deren Bitte um ein Autogramm mit dem Füllfederhalter aus ihrer Handtasche nach.

„Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.“ Sie verpasste dem J in Judith einen langen Schwung, setzte eine horizontale Linie über das i. „Ich bin mit meinem Sohn hier.“

Das gab Alex das Gefühl, besonders und wichtig zu sein. Das ganze Interieur war aus Samt, von den Teppichen über die Sitze und Vorhänge bis hin zu seinem eigenen Körper, der ihm an diesem seltsamen Ort ganz anders vorkam. Alles tiefrot und goldfarben, geschwungen und auf sein Vergnügen ausgelegt.

Im Foyer kaufte seine Mutter ein Programm. Die Broschüre war größer als alle seine Bücher zu Hause und voll mit glänzenden Schwarz-Weiß-Bildern der Schauspieler bei den Proben – wie sie Purzelbäume schlugen, gestikulierten und lachten, die Skripte in der Hand. Sein Daumen stieß auf eine Seite, die dicker schien als die anderen, und da war ein Bogen mit Aufklebern, Pinguine und Schneeflocken, und daneben eine Quizseite mit einem Wortsuchrätsel zur Antarktis.

Das Theater war voll mit Kindern wie ihm, nur dass sie eben nicht waren wie er, weil sie nicht seine Mutter hatten. Alex und Judith nahmen in einer der vorderen Reihen des Parketts auf scharlachroten Klappsesseln Platz. Er hatte gerade mit ihrem Füller die Wörter KALT, SÜDPOL und PINGUINE eingekreist, als das Saallicht erlosch wie eine Kerze.

Seine Mutter roch nach einem Hauch von Blütenblättern und Whisky. Sie drückte seine Hand, und er drückte ihre. Der Vorhang öffnete sich, die Scheinwerfer gingen an, und da oben waren Leute, echte Erwachsene, selbstbewusst, laut und lebendig, und auf der Bühne fiel Schnee, während sie vorgaben, etwas anderes zu sein, als sie wirklich waren. Nichts trennte ihn von diesen Schauspielern. Wenn sie versucht hätten, ihn anzufassen, hätten sie es gekonnt, und er hätte sie gelassen. Alles, was sie dafür wollten, war sein Beifall. Das heißt, sie wollten seine Liebe. (Dass er die Macht hatte, ihnen diese Liebe vorzuenthalten, entdeckte er erst viel später.)

An das Stück selbst erinnerte er sich kaum mehr. Nur noch an den Moment, in dem die Welt seiner Mutter auch zu seiner wurde. An die Angst und das Staunen. So erzählte er es mir, als alles zusammenbrach. Er erinnerte sich an den Applaus, der Publikum und Darsteller in einem heiligen Pakt des Vergnügens verband. Daran dachte er jedes Mal, wenn er eine Aufführung besprach.

 

Als ich das erste Mal die Verbindung zwischen Alex’ Nachnamen und dem seiner Mutter herstellte, fragte ich mich, warum er nicht wie sie ein richtiger Theatermensch geworden war. Als Kritiker hatte er sich für ein Außenseiterdasein entschieden, mit einem Fuß im Showbusiness, mit dem anderen außerhalb. Und ich fragte mich, ob er vielleicht ein Quäntchen Groll gegen eine Welt hegte, von der er wusste, dass sie weniger magisch war, als es den Anschein hatte. Die ihn aber dennoch, trotz allem, immer wieder in ihren Bann zog.

Judith ist jetzt über siebzig und, wie es der BBC-Beitrag anlässlich ihrer Ernennung zur Dame formuliert hatte, eine der herausragendsten lebenden Shakespeare-Schauspielerinnen des Landes. Sie war alleinerziehend, und Alex war als Einzelkind in einem Haus voller Stars aufgewachsen. Die berühmten und semiberühmten Liebhaber und Freunde seiner Mutter kamen und gingen. In der Welt seiner Mutter, erzählte mir Alex, pflegte man selbstbewusst das eigene Künstlertum, war dem Rest der Gesellschaft enthoben, sie war ein Ort gewesen, an dem man sich frei über alles hatte äußern dürfen, solange es unterhaltsam war. Seine Mutter und ihre Freunde hatten Geld, waren aber keine Geschäftsleute. Sie grenzten sich moralisch von Menschen ab, die ihren Lebensunterhalt auf konventionelle Art und Weise bestritten. Seine Mutter hatte immer gesagt, sie seien wie die Opernsänger des 19. Jahrhunderts, geboren in der Gosse, aber dazu bestimmt, aufzusteigen und mit Königen zu speisen.

Ich mochte Alex. So schwer es fällt, das jetzt zuzugeben, damals konnte ich nicht anders, als ihn zu mögen. Und wenn das defensiv klingt, dann aus gutem Grund. Aber etwas an ihm zog mich an, berauschte und ängstigte mich.

 

Alex durchquerte die Stadt. Als er an einem Straßenübergang warten musste, nutzte er die Zeit, um eine der Dating-Apps aufzurufen, auf denen er sich seit seiner Ankunft in Edinburgh herumtrieb. Während des Festivals explodierten die Apps immer. So viele ungebundene, begeisterungsfähige und kreative Menschen an einem Ort. Er scrollte durch ein paar Bilder, überlegte, wem er später schreiben würde. Das Licht veränderte sich. Weil er Hunger hatte, bog er ab und steuerte die Bar des Traverse Theatre an, wo man vielleicht noch etwas zu essen bekam.

Die Bar befand sich in einem Souterrain in der Nähe der Wohnung, die die Zeitung Alex und mir für den Aufenthalt angemietet hatte. Sie hatte noch geöffnet, war aber schon halb leer. Man konnte spüren, dass sie gerade noch voller Menschen gewesen war, die zur nächsten Veranstaltung, in eine andere Bar oder ein fremdes Bett weitergezogen waren. Er bestellte ein Guinness und eine Steak Pie bei einem Typen, der ein T-Shirt mit dem Logo der Bar trug und aussah, als wäre er fünfzehn, der jedoch sagte, es tue ihm leid, die Küche sei seit einer halben Stunde dicht.

Alex spürte ihre Anwesenheit ein paar Meter weiter. Hayley Sinclair, die Performerin, deren Show er vor nicht einmal einer Stunde in seiner Kritik auseinandergenommen hatte, die Adressatin seines vernichtenden einzelnen Sterns. Sie trank Gin, den Körper halb zum Raum hin geöffnet, die Tür im Blick.

„Ein Guinness, ganz allein?“ Ihre Stimme war tiefer als vorhin auf der Bühne. Wie er während ihrer Show bemerkt hatte, klang sie wie eine Amerikanerin, auch wenn sie britische Wendungen benutzte und die Konsonanten überbetonte, als lebte sie schon eine Weile hier. Sie war bereits heiser. Diese Stimme würde nicht den ganzen Monat lang durchhalten. „So schlimm?“

„Ich komme grade aus einer nicht besonders tollen Show.“ Er hatte so weit im Schatten des Zuschauerraums gesessen, dass sie ihn unmöglich hatte sehen können, geschweige denn sich an sein Gesicht erinnern. Später, als er mir alles erzählte, dachte er darüber nach, dass er das Gespräch an dieser Stelle hätte beenden können. „Und du?“

„Ich trete hier auf. Hatte eben meine erste Show. Man weiß nie, wie es laufen wird, aber es war wohl ganz okay. Ich war auch zu spät dran für die Pies.“

Hayley saß sehr aufrecht und tippte mit dem Fuß gegen den Barhocker. Sie sprühte vor überschüssigem Adrenalin, vibrierte beinahe. Und sie war allein. Ein Soloprogramm barg eine gefährliche Form der Einsamkeit. Es bedeutete, nach der Vorstellung keine Gesellschaft zu haben, die einem beim Runterkommen half. Alex konnte ihr den Gefallen tun, diese Lücke zu füllen. Sie musste nicht wissen, wen sie vor sich hatte. Nicht einmal, dass er im Publikum gesessen hatte, musste sie wissen.

Was er auf der Bühne für abgekupferte, affektierte Überdrehtheit gehalten hatte, eine bewusste Aneignung der Manic-Pixie-Dream-Girl-Ästhetik, war aus der Nähe betrachtet etwas Fragileres, keine künstlerische Entscheidung. Jeder einzelne Muskel ihres Körpers stand unter Spannung und sehnte sich nach Erlösung. Sie roch nach Alkohol und ein bisschen nach Erdbeere. Die beiden unterhielten sich über die Shows, die sie in den letzten Tagen gesehen hatten. Sie waren sich einig, dass Edinburgh während des Fringe ein eindrucksvoller, verblüffender Ort war, die ganze Stadt ein Fest, ein Raum außerhalb der Zeit. Unter Hayleys grünem Satin-Top konnte er die Konturen einer Brustwarze ausmachen.

„Und?“, fragte sie und nippte an ihrem Drink. „Was hast du heute noch vor?“

Na also. Lächerlich einfach. Alles, was er über sie auf der Bühne geschrieben hatte, war jetzt vergessen, irrelevant, nur Zeugnis eines künstlichen Moments, verblasst mit dem letzten Licht dieses Sommerabends. Abseits der Bühne war sie warm, nahbar und unkompliziert. Die beiden standen in einer Ecke, sie hatte ihre Jacke über den Arm gehängt, und er küsste sie. Das Gefühl von Verliebtheit für eine einzige Nacht ergriff von ihm Besitz, hüllte ihn ein wie ein warmer Flor aus Trunkenheit. Das Gefühl des erlöschenden Saallichts, der aufflammenden Scheinwerfer, vor ihm ein Körper mit seiner Präsenz und die Nacht, die ihn an einen unbekannten Ort entführen würde.

In dieser Nacht, die sie miteinander verbrachten, wurden Alex’ vernichtende, boshafte, persönliche, karrierezerstörende Worte über Hayley gedruckt, schwarz auf cremefarbenes Zeitungspapier. Ganz oben stand Alex’ Name, daneben eine großformatige Nahaufnahme von Hayleys Gesicht, hunderttausendfach vervielfältigt. In den Räumen der Zeitung in London richtete der Nachtredakteur es so ein, dass Alex’ Worte am kommenden Morgen um sechs online gehen würden. Und weil Hayley eine hübsche junge Frau war, platzierte er die Kritik mit ihrem Foto schön groß auf der Startseite, wo Millionen von Menschen sie gleich nach dem Aufwachen auf ihren Handys lesen konnten, darunter all jene, die Hayley jemals zu beeindrucken gehofft hatte.



2

Ich wachte früh auf, weit weg von zu Hause, nachdem ich am Vorabend lange wach geblieben war, um eine mittelmäßige Kunstinstallation mit einer Kopfhörerdisko zu besprechen. Ich war den Schlafrhythmus eines Kleinkinds gewöhnt. Es fühlte sich seltsam an, in einer ruhigen Stadt voller Erwachsener aufzuwachen, statt vom hartnäckigen Schreien eines kleinen Menschen in seinem Bettchen im Nebenraum geweckt zu werden. Kurz nach halb acht würde ich zu Hause anrufen, nach meinem Kaffee und nachdem Josh in unserer winzigen Wohnung in Leytonstone Arlo schon seine Weetabix gefüttert hatte.

Als ich mich am Freitag mit einem Kuss von den beiden verabschiedet und Richtung King’s Cross aufgemacht hatte, um dort Alex zu treffen und in den Zug nach Edinburgh zu steigen, war auch gerade Frühstückszeit gewesen. Arlo hatte nach meinen Schlüsseln gegriffen, um mit ihnen zu klimpern, und kreischte, als ich sie in die Tasche steckte. Er hatte den Ernst der Lage nicht begriffen, verstand nicht, dass seine Mutter über drei Wochen weg sein würde, länger, als sie je von ihm getrennt gewesen war. Er hatte einfach mit den Schlüsseln klimpern wollen.

Ich legte mein Handy auf den schwarzen Kunststofftresen in der Küche in Edinburgh. Es leuchtete auf, als eine E-Mail einging.

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Ich wischte die E-Mail in den Archivordner. Mein Redakteur reagierte nie so euphorisch auf meine Rezensionen. Zufällig hatte ich den Schlafanzug letzte Nacht getragen. Er war okay, aber nicht mehr.

Die Wohnung war absurd geräumig und lag in einem Altstadthaus in der Spittal Street, hatte gigantische Fenster, an denen der kalte schottische Augustwind rüttelte, mit dünnen Scheiben und Rahmen, von denen die Farbe abblätterte. Die Zeitung mietete die Wohnung seit den Neunzigern jedes Jahr, vor allem, weil die verantwortliche Person vom Redaktionsmanagement so nichts anderes zu tun hatte als in unserem internen Logistikportal das Datum zu ändern. Es war dieselbe Wohnung, die sie schon gemietet hatten, als das Budget noch ausreichte, um jedes Jahr ein sechsköpfiges Reporterteam zum Festival zu entsenden. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, den tatsächlich benötigten Platz mit dieser Wohnung abzugleichen, jetzt, da zum ersten Mal nur Alex und ich fuhren und ich obendrein eine der billigsten Vollzeitkräfte war.

Graham, der Feuilletonchef zu Hause in London, rief uns meistens um kurz nach zehn zum Planungsmeeting an. Er hatte nur noch den Schatten grauer Haare auf dem Kopf, eine sanfte Stimme und einen walisischen Akzent. Er war stets der Letzte, der in einem Meeting noch etwas sagte, und der einzige wirklich freundliche Journalist, den ich je kennengelernt hatte. Weil er selbst seinen vier inzwischen längst erwachsenen Kindern immer so gerne vorgelesen hatte, rezensierte er die Kinderbücher obskurer Debütantinnen, nie die mit berühmten Namen auf dem Cover. Wenn er sich nicht die Mühe machte, sie aufzuspüren, und ihnen Raum gab, kümmerte sich schließlich niemand bei der Zeitung um sie.

Die Einrichtung der Wohnung, die von einer apathischen Immobilienverwaltung vermittelt wurde und von der Eigentümerin, der Witwe eines alten Gutsherrn in Angus, vermutlich längst vergessen worden war, bewegte sich irgendwo zwischen schottischem Kaufmannshaus aus dem 18. Jahrhundert und kassenärztlicher Praxis. Überall waren Brandschutztüren, Feuermelder und Löschdecken installiert, und die schweren Messingbeschläge der Möbel waren mit cremefarbenem Hochglanzlack überpinselt. Der für Comedy zuständige Kritiker der Zeitung, Mehdi, war ebenfalls in Edinburgh und hätte die Wohnung eigentlich mit uns teilen sollen, hatte aber einen reichen Freund, der ihn stattdessen in seinem riesigen Haus am Royal Circus wohnen ließ, und so waren Alex und ich zu zweit.

An unserem ersten Nachmittag öffnete ich, nachdem ich mein Schlüsselband mit dem Festivalpass vom Pressebüro geholt hatte, den riesigen braunen Kleiderschrank in meinem Zimmer – alles an dieser Wohnung war irgendwie überdimensioniert – und eine Motte von der Größe eines Tennisballs schoss mir entgegen. Sie sah genauso erschrocken aus, wie ich mich fühlte, als sie auf dem Boden einschlug wie eine scharfe Granate. Ich habe keine Ahnung, was scharfe Granaten genau machen, aber so sehr fürchtete ich mich vor dieser Motte. Gut möglich, dass sie seit Jahrzehnten ungestört in diesem Kleiderschrank lebte und vor sich hin wuchs. Ich wich zurück und schob den Rahmen des uralten Fensters hoch, um sie zum Abflug zu animieren. Eine regennasse Brise wehte ins Zimmer, und mit ihr der Lärm der Fußgänger und der penetrante Gestank der überquellenden Gemeindemüllcontainer drei Etagen unter uns. Die Motte blieb jedoch auf dem alten Teppichboden liegen, anscheinend verwundet, und ihre wie wild schwirrenden Flügel bildeten einen verschwommenen Fleck um ihren flauschigen grauen Kopf.

„Alex!“, rief ich.

Mit dankenswerter Geistesgegenwart schnappte er sich den Flyer einer Hip-Hop-Adaption von Was ihr wollt und ein Pint-Glas aus den Tiefen des Küchenschranks – das einzige Glas, das annähernd groß genug war –, fing die Motte ein und schleuderte sie aus dem offenen Fenster.

Es hatte sich unfeministisch angefühlt, mich für die Entfernung eines Insekts an meinen männlichen Begleiter zu wenden, aber ich war erleichtert, dass die Motte damit weg war.

 

Ich hatte mir vorgenommen, jeden Tag als Erstes rauszugehen, Zeitungen zu kaufen und sie auf unserem Küchentisch auszubreiten. Nicht nur unsere Zeitung, sondern alle. Das werde ich vermissen, wenn die Printmedien endgültig tot sind: dieses Ausbreiten von Wissen und Provokation, greifbar und chaotisch zugleich, das Papiergeraschel. Ich löse gern die Kreuzworträtsel und hinterlasse Kaffeeringe auf dem Kommentarteil.

Wir hatten nicht viel zu essen im Haus, und als ich vom nahe gelegenen Sainsbury’s zurückkam, wünschte ich mir, ich hätte irgendwo noch ein Croissant mitgenommen. Ich breitete unsere Zeitung auf dem hölzernen Küchentisch aus, glättete mit der flachen Hand den Falz.

Das Fringe findet über vier Wochen im August statt, aber aus unerfindlichen Gründen wird die erste Woche schon immer als Woche null bezeichnet, gefolgt von den Wochen eins, zwei und drei. Das ist eines dieser Details, die dem ganzen Festival die Aura einer Parallelwelt verleihen. Noch befanden wir uns in Woche null, aber die Zeitungen waren längst voller Kritiken. Meine Besprechung der Installation hatte der diensthabende Redakteur von sechshundert Wörtern auf knapp die Hälfte eingedampft. Sei’s drum – ich hatte unentschiedene drei Sterne vergeben. Der Beitrag war an den Fuß der Seite gequetscht, unter Alex’ spektakuläre Kritik von Climate Emergence-She. Links davon, noch bevor er zu seinem Verriss ansetzte, prangte Alex’ Urteil in Form eines einsamen stacheligen Tupfers, der bestätigte, dass die Darbietung nur einen von fünf möglichen Sternen verdient hatte. Null Sterne zu vergeben erlaubte die Zeitung nicht. Sonst hätte Alex es andauernd getan.

Seine Texte wurden immer in voller Länge gedruckt, mit ausführlichem Vorspann und riesigem Bild. In diesem Fall zeigte das Foto die Performancekünstlerin und Aktivistin Hayley Sinclair, ihr Gesicht in Nahaufnahme, feines blondes Haar, das sich auf beiden Seiten ihrer kantigen Wangenknochen bauschte wie Zuckerwatte, ein Nasenring und mehrere Piercings im Ohr, das verlaufene Make-up als Inszenierung der Trauer um eine Welt kurz vor dem tödlichen Siedepunkt. Sie war ein paar Jahre jünger als wir. Der Redakteur hatte das Bild mit einem fett gesetzten Zitat aus Alex’ Beitrag untertitelt:

Öde und einfallslos: Hayley Sinclair

Ich las die Kritik, die auf die Art gemein war, wie Alex’ Kritiken es immer waren und an die ich mich gewöhnt hatte.

„Klarheit ist Gnade“, sagte Alex immer. Zu Beginn, vor vielen Jahren, hatte er, wenn ihm etwas nicht gefiel, drei oder vier Sterne vergeben und versucht, ausgewogen zu urteilen und differenzierte Verbesserungsvorschläge zu machen. Aber das hatte die Theaterleute nur in Rage gebracht. Das hatte sie wirklich verletzt. Denn wie konnte er es wagen, einer Sache unentschlossen zu begegnen, die ihnen so viel bedeutete? In die sie ihr ganzes Herzblut gesteckt hatten? Es führte dazu, dass seine Mutter ihn anrief, besonders wenn die Leute, deren Arbeit er besprochen hatte, Freunde von ihr waren. „Ach Liebling“, sagte sie dann. „Hättest du nicht netter sein können?“

Nein, er war zu dem Schluss gekommen, dass das Netteste, was man tun konnte, manchmal darin bestand, nicht nett zu sein. Und so war Alex Lyons jetzt nicht mehr nett. Ganz und gar nicht.

Außerdem, sagte Alex immer, würden die Leser schlechte Kritiken mögen. Zu viele Lobeshymnen langweilen sie, und eine lauwarme Drei-Sterne-Bewertung will wirklich niemand lesen. Drei Sterne sind nicht einmal eine schlechte Kritik! Drei Sterne sind gut! Er hatte es satt, den Leuten das zu erklären. Denn heutzutage, vor dem Hintergrund von Massenkultur und Bewertungsportalen für Onlineshopping, sind fünf Sterne für die meisten Menschen der Normalfall, nicht die Ausnahme. Alex wurde nicht gern missverstanden, und so waren seine Kritiken sukzessive extremer ausgefallen. Irgendwann hatte er dann beschlossen, wenn möglich nur noch fünf oder einen Stern zu vergeben. Alles dazwischen war heiße Luft.

Der Seltenheitswert der Fünf-Sterne-Bewertungen, die er gelegentlich schrieb, machte sie kostbarer, das war ihm bewusst. Wenn Alex Lyons für etwas fünf Sterne vergab, drehte die Theaterwelt durch. Sein Name und sein Urteil prangten dann auf Veranstaltungsplakaten an allen Londoner U-Bahn-Stationen. Und das gefiel auch ihm sehr gut. Je rarer sein Lob, desto wertvoller. Also wurde es immer seltener.

 

Ich blätterte gerade weiter zur Zusammenfassung des Comedy-Programms, als ich die surreale Erfahrung machte, das Gesicht aus dem eben gelesenen Beitrag in der offenen Tür zu erblicken.

„Tschuldigung?“, sagte es mit amerikanischem Akzent. „Das Bad?“

Ich schluckte meinen Kaffee herunter. „Geradeaus, am Ende des Flurs.“

Das Gesicht verschwand. Ich blätterte zurück. Ja, eindeutig. Das war Hayley Sinclair. Bevor ich diese Erkenntnis verarbeiten konnte, leuchtete mein Handy. Eine E-Mail von der Redaktion mit dem Auftrag, den Nachruf auf eine bekannte ältere Fernsehschauspielerin zu schreiben, die zwar noch am Leben war, aber nach ihrer jüngsten Scheidung einen Schlaganfall erlitten hatte und jeden Moment sterben konnte. Dann erschien plötzlich Joshs Gesicht auf dem Display. Ein Videoanruf von ihm und Arlo.

„Es war unmöglich, ihn zum Einschlafen zu bringen“, sagte Josh, unmittelbar nachdem ich abgehoben hatte. Im Vordergrund ein finster dreinblickender Arlo.

„O nein. War das Rollo unten?“

„Ja, und das weiße Rauschen an.“

„Ich meine nur, weil du es manchmal wieder hochmachst.“

„Man muss es jeden Tag aufmachen, wegen der Kondensation. Ich hab’s wieder zugemacht.“

„Vielleicht wieder die Zähne. Hast du den Artikel gelesen, den ich dir geschickt habe?“

„Nein. Ich habe versucht, irgendwie mit der Wäsche hinterherzukommen. Worum ging’s denn?“

„Egal. Ich fand ihn nur witzig.“

Als ich gerade „Tschüss“ und „Du fehlst mir“ und „Hab dich lieb“ zu Arlos klebrigem mürrischen Mondgesicht sagte und er mit „Bah!“ antwortete, kam Alex im Bademantel in die Küche und machte sich am Wasserkessel zu schaffen. Er bedachte mich mit einer hochgezogenen Augenbraue, die ich erwiderte. Ich beendete das Telefonat.

Hayley Sinclair drehte die Dusche auf, und das Rauschen des Wassers brachte die ganze Wohnung zum Beben. Als ich das Geräusch zwei Tage zuvor zum ersten Mal gehört hatte, hatte ich angenommen, etwas Schreckliches sei mit den Leitungen passiert. Bestimmt würde das Wasser gleich aus den Wänden schießen. Als ich dann aber Google zurate zog, fand ich heraus, dass das bei der Kombination aus elektronischem Durchlauferhitzer und maroden Wasserrohren völlig normal war.

Alex hatte Wasser gekocht und öffnete die Milch.

„Ich lese gerade deinen Verriss“, sagte ich. „Irgendwo habe ich dieses Gesicht schon mal gesehen.“

Alex kam herüber, stützte sich mit einer Hand neben mir auf die Tischplatte und fuhr sich mit der anderen über das stoppelige Kinn. Er bedachte mich mit einem verschwörerischen kleinen Lächeln, einem Auf-frischer-Tat-ertappt-Lächeln, einem Ups-und-jetzt-Lächeln. Nina von der Feature-Redaktion hatte nach zu viel kostenlosem Weißwein und einem Tanz mit Alex auf der Betriebsweihnachtsfeier vor ein paar Jahren einmal gesagt, jeder habe doch irgendwo eine Schwäche für Alex. Selbst die Menschen, die ihn hassten.

„Das gibt Ärger“, sagte ich.

„Sie wird schon drüber hinwegkommen. Sie ist erwachsen.“

Wenn er nicht betrunken war, war seine Stimme meist eher sanft und leise, sodass man sich zu ihm beugen musste, um ihn zu verstehen, und als ich das tat, roch ich die Zigaretten vom Vorabend und den Hauch von etwas Fruchtigem. Ich bemühte mich, nicht auszusehen, als würde ich gerade an einem Kollegen schnuppern.

„Seht ihr euch wieder?“

Er warf mir einen Blick zu, der so viel heißen sollte wie: Wo denkst du hin? Dann fragte er: „Kaffee?“

Als er gerade eine zweite Tasse mit der AeroPress machte, hörte das Wasserfallrauschen auf. Ich schlug die Zeitung zu und faltete sie zusammen.

„Ich wusste gar nicht, dass es Leute gibt, die die noch lesen“, sagte Hayley beim Reinkommen. Sie war in ein Handtuch gewickelt. Ich an ihrer Stelle wäre so schnell wie möglich mit eingezogenem Kopf wieder in der Privatsphäre des Schlafzimmers verschwunden, aber Hayley schien kein bisschen verlegen. Ihre Schultern waren knochig und nach hinten und unten gezogen, die Haltung einer Frau, die viele Atemübungen machte. Obwohl sie frisch geduscht war, verströmte sie einen intensiven Geruch nach etwas, das nicht aus unserem Badezimmer kam. Es erinnerte an würzigen Früchtetee und einen Hauch von Schweiß, als hätte sie überhaupt nicht geduscht oder als wäre ihre Präsenz so intensiv, dass nicht einmal Seife dagegen ankam. Alex schwieg, und Hayley schien auch nichts anderes von uns zu erwarten und ging zurück ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.

„Vielleicht versteckst du die besser“, sagte Alex.

Er war kein bisschen in Panik, was mir im Nachhinein unglaublich vorkommt. Er reichte mir eine Tasse Kaffee, und ich warf die Zeitung in die Wertstofftonne mit dem roten Deckel, wie es die laminierte Mappe mit den Anweisungen der Hausverwaltung auf der Anrichte im Flur vorschrieb. Alex ging duschen und nahm seinen Kaffee mit, eine seltsame Angewohnheit, wie ich fand. Ich klappte meinen Laptop auf, um mich an den Nachruf zu machen.

Seit ich ein paar Monate zuvor meinen Job wieder aufgenommen hatte, hatte ich immer mehr Aufträge von der Nachrufredaktion bekommen, obwohl das streng genommen nicht in meinen Aufgabenbereich fiel. Für Nachrufe erhielt man kein zusätzliches Honorar, und kaum jemand wollte sie schreiben. Allerdings hatte ich nach meiner Elternzeit das Bedürfnis, mich möglichst nützlich zu machen, als eine Art Buße für meine Abwesenheit. Der Dienst an den Toten kam mir da gerade recht, zumal ich festgestellt hatte, dass ich den Spagat zwischen elegisch und makaber ganz gut beherrschte. So etwas interessierte mich neuerdings. Ich hatte gelesen, dass die Gehirne frischgebackener Mütter sich durch hormonelle Veränderungen so stark umstrukturieren, dass sich völlig neue Muster ausbilden. In meinem Fall hatte das neue Leben, das ich hervorgebracht hatte, Arlos Leben, mein Gehirn auf Tod gepolt.

Die Personen, über die ich meine Nachrufe schrieb, lebten häufig noch, und ich musste etwas vorbereiten, das dann in der Schublade darauf wartete, schnell veröffentlicht zu werden. Ich schrieb also in der Vergangenheitsform über Menschen, die sich noch bester Gesundheit erfreuten und nichts von meiner Existenz ahnten. Manchmal beschlich mich beim Schreiben das Gefühl, ich sei der Tod und lauerte den Berühmtheiten in Erwartung ihres Ablebens auf. Es war ein mächtiges Gefühl, die wichtigsten Momente eines Menschenlebens festzuhalten und die Verantwortung dafür zu tragen, das unüberschaubar komplexe Wirrwarr in eine kohärente Geschichte zu überführen.

Mir gefiel auch, dass die Nachrufe nicht unter meinem Namen veröffentlicht wurden, sondern als Stimme der Zeitung daherkamen. Anonym Lebensgeschichten zu schreiben glich einem Undercover-Job. Als ich im Journalismus angefangen hatte, war ich jedes Mal ganz aufgeregt gewesen, wenn ich eine Verfasserzeile bekam. Dieses besondere Gefühl, den eigenen Namen in der Zeitung abgedruckt zu sehen. In den zehn Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte die Aufregung nachgelassen, und irgendwann war es mir wirklich egal geworden. Du willst deinen Namen gedruckt sehen? Dann würde ich vorschlagen, du kaufst dir einen Drucker. Sophie Rigden ist sowieso ein langweiliger Name. Ich kann ihn eigentlich nicht mehr sehen, vor allem, wenn er über Berichten zu Veranstaltungen auftaucht, die sonst kein Schwein rezensieren will. Manchmal bezeichnete ich mich als Kunstkritikerin, was im Grunde zutraf, aber meine eigentliche Berufsbezeichnung, die auf den Gehaltsabrechnungen und in meiner Personalakte, lautete Junior Culture Writer. Im Prinzip bedeutete das, dass ich über alles schrieb, außer über wichtige Dinge. Denn die wurden immer nur an etablierte Kollegen vergeben.

 

Ich schrieb ein paar hundert Wörter des Nachrufs und machte mir Notizen zur weiteren Recherche. Die Arbeit ging mir leicht von der Hand. Bis zu meiner nächsten Veranstaltung, der Installation einer schon einmal für den Turner Prize nominierten Künstlerin, waren es noch ein paar Stunden. Ich konnte kaum glauben, wie viel Zeit so ein Tag hatte, wenn ich mich nicht um Arlo kümmern musste, so sehr hatte mich der Alltag mit ihm verschlungen, während Josh arbeitete.

Ich staunte auch, wie viel Schlaf ich zwei Tage am Stück bekommen hatte. Meine Haut wirkte reiner. Meine Muskeln fühlten sich kräftiger an. Es war, als hätte sich mir ein Tor zur Welt aufgetan, als ich nach vierzehn Monaten Mutterschaft in den Zug nach Edinburgh gestiegen war. Eine Welt, die ich vor Arlos Geburt gekannt hatte und die mir zurief: Siehst du? Du bist noch da. Du warst die ganze Zeit da.

In den nächsten Wochen konnte ich in dieser Stadt alles tun und lassen, was ich wollte, überall hingehen und essen und trinken, wann es mir passte, statt jeden Morgen zur selben Zeit zu frühstücken, weil es eben die Zeit war, zu der Arlo wach wurde und nach mir schrie. Jeder Tag in Edinburgh umfasste zehn, nein, hundert zusätzliche Stunden, nur für mich.

Und was für eine Bereicherung sie waren! Wie ging es wohl Menschen wie Alex, die sie immer zur Verfügung hatten? War ihm das überhaupt bewusst? Womit füllte er seine endlosen, kostbaren, glänzenden Stunden? Wir waren gleich alt, beide vierunddreißig, aber ich konnte mich nicht erinnern, jemals wie er gewesen zu sein.

Hayley tauchte wieder aus seinem Schlafzimmer auf, inzwischen angezogen. Sie hielt ihr Handy in der Hand. „Die Zeitung, die du gerade hattest, darf ich mal kurz?“

„Tut mir leid, die habe ich weggeworfen.“

„Meine Agentin hat mir geschrieben und will wissen, ob ich sie schon gesehen habe. Ist sie noch im Papiermüll?“

Scheiß Recycling. Ich dachte an die Zeit, bevor alle damit angefangen hatten, als man eine Zeitung noch direkt in den Restmüll werfen konnte, zusammen mit allem anderen, dem Kaffeesatz, verschmierten Essensverpackungen und Wollmäusen aus den Ecken des Wohnzimmers. Als kein Mensch auf die Idee gekommen wäre, nach einer versifften Zeitung zu wühlen. Heute aber waren Zeitungen im Papiermüll gar nicht richtig weggeworfen, sondern nur vorübergehend an einem sauberen, trockenen Ort mit gleich gesinnten Dingen abgelegt.

Hayley zog sie heraus und warf einen Blick aufs Datum, um sie von den beiden letzten Ausgaben zu unterscheiden, die ebenfalls dort lagen. Natürlich hätte ich sie ihr aus der Hand reißen können, aber sie strahlte eine Energie der Entschlossenheit aus. Also sah ich nur zu, wie sie die Zeitung zurück zum Tisch trug und neben ihrem Handy ausbreitete. Sie setzte sich mir gegenüber, in einem dünnen kakifarbenen Top und ohne BH, die Beine auf dem Stuhl unter sich angewinkelt, wie ein Grundschulkind beim Morgenkreis und wie meine Knie es mir vermutlich nicht mehr erlauben würden. Wie alt mochte sie sein, sechsundzwanzig? Sie benetzte den Finger mit Spucke, blätterte zum Feuilleton und hielt inne, die Hand noch in der Luft, über der Seite mit dem großen Foto von ihr. Das Wasser im Bad rauschte und rauschte.

Sie ließ die Hand sinken und las schweigend. Am liebsten wäre ich aufgestanden und gegangen, aber jede Bewegung hätte die Sünde meines Wissens preisgegeben. Ich starrte auf meinen Laptop, als konzentrierte ich mich auf etwas sehr Wichtiges, und musterte sie weiter aus dem Augenwinkel. Ihre Miene veränderte sich kaum. Langsam atmete sie durch den Mund aus.

Ich überlegte, ob ich versuchen sollte, sie irgendwie aus der Wohnung zu befördern, bevor sie ihre Wut an dem Mann auslassen konnte, der gerade ihren Geruch von sich abduschte, fragte mich dann aber, was ich Alex eigentlich schuldig war. Das Schweigen zog sich so sehr in die Länge, dass ich es schließlich füllen musste.

„Keine guten Nachrichten?“

„Ziemlich beschissene, ehrlich gesagt.“

„Du darfst das nicht persönlich nehmen. So ist Alex eben – er übertreibt. Für ihn gibt es nur fünf Sterne oder einen. Meistens einen. Das ist so eine Art Image. Es bedeutet nicht …“

Ich hörte auf zu reden, weil sie mich ansah, als hätte ich mich gerade vor ihren Augen gehäutet.

„Alex?“

Sie wusste es nicht. Er hatte ihr nichts verraten. Nicht seinen ganzen Namen, nicht seinen Job. Sie hatten sich nicht kennengelernt, weil sie wusste, dass er als Kritiker in ihrer Show gesessen hatte. Sie hatte bis zu diesem Moment keine Ahnung gehabt, wer er war.

Sie schaute wieder auf die Zeitung, das Gesicht so nah, dass sie die Seite fast mit der Nase berührte, und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen das Autorenfoto neben Alex’ Namen, aufgenommen vor Jahren und in billigster Qualität gedruckt, fast nicht zu erkennen. Fast.

„Alex Lyons?“

Wie von einem Inspizienten auf die Bühne gerufen, erschien Alex in der Tür. Mir war entgangen, dass das Donnern der Dusche aufgehört hatte. Jetzt beherrschte die Stille die ganze Wohnung. Er hatte sich ein zu kleines weißes Handtuch um die Hüfte gebunden und sah zugegebenermaßen umwerfend aus, das feuchte Haar zerzaust wie in einer Hochglanzwerbung für einen neuen Duft pour homme.

„Du hast das geschrieben?“, fragte Hayley.

Alex erstarrte.

„Du hast das geschrieben?“, wiederholte sie, lauter jetzt.

Er verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern, fasste an sein Handtuch, um es an Ort und Stelle zu halten. „Ja“, sagte er. „Aber …“

Sie stand auf, schob ihren Stuhl mit einem schrillen Kratzen über den Vinylboden. Sie bebte. Dann verschwand sie in Alex’ Schlafzimmer und kam sofort wieder heraus, stopfte Sachen in eine zerschlissene Leinenumhängetasche. Zog sich auf einem Bein hüpfend die erste zerschlissene Sandale an, dann die zweite.

„Hayley …“

„Fick dich einfach.“ Sie schob sich an ihm vorbei.

In einem kurzen Anflug schuldbewusster schwesterlicher Solidarität stand ich auf, um ihr hinterherzulaufen – keine Ahnung, was ich hätte sagen können –, doch sie war längst an der Wohnungstür. Als sie die Tür hinter sich zuknallte, sprang die wieder auf, und das Klappern ihrer Schuhe auf der Wendeltreppe hallte durch den Hausflur und verebbte.

Alex sah mich an, die Augen geweitet vor Erleichterung darüber, dass sie weg war und der Vorfall schon bald eine gute Abenteuergeschichte abgeben würde, die er unseren Kollegen in der Redaktion würde erzählen können. Wie letztes Jahr, als Nina ein kritisches Porträt über eine schwedische Ballerina geschrieben hatte und die, statt sich telefonisch oder per Mail bei der Redaktion zu beschweren, ein Fax (ein Fax!) geschickt hatte, in dem sie schrieb: Ich hasse euch bitte sterbt einfach. Wir fanden überhaupt erst heraus, dass wir noch ein Faxgerät besaßen, als ein Kasten ganz unten im Büroschrank plötzlich ein Geräusch von sich gab, das niemand unter fünfundzwanzig je gehört hatte.

„Immerhin hat sie Bitte gesagt“, hatte Alex damals kommentiert.

Wir gingen zurück in die Küche. Ein aggressives Vibrieren erfüllte den Raum. Alex deutete auf ein leuchtendes Handy, das neben der verwaisten Zeitung auf dem Tisch lag.

„Ist das deins?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Oh“, sagte er. „Fuck.“

Charlotte Runcie

Über Charlotte Runcie

Biografie

Charlotte Runcie ist Autorin und Journalistin. Als Kulturkolumnistin beim Daily Telegraph schrieb sie über Radiofeatures, Podcasts und Theater. Ihr Essayband Wie Salz auf der Zunge über Frauen und das Meer war Buch der Woche bei BBC Radio 4. Nun legt sie mit Standing Ovations ihren allseits...

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