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Sterne über der Alster (Alsterufer-Saga)Sterne über der Alster (Alsterufer-Saga)

Sterne über der Alster (Alsterufer-Saga) Sterne über der Alster (Alsterufer-Saga) - eBook-Ausgabe

Micaela Jary
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Roman

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Sterne über der Alster (Alsterufer-Saga) — Inhalt

Die große Familiensaga über eine deutsche Reeder-Dynastie
Die Revolution von 1918/19 bringt nicht nur Chaos in das geordnete Leben der Hamburger Reederfamilie Dornhain, sondern auch der Dienstboten: Der Patriarch nimmt sich das Leben, sein Chauffeur gerät unter Mordanklage und Nele Dornhain erwartet ein Kind vom Mann ihrer kleinen Schwester. Indes kämpft die älteste Tochter Ellinor um das wirtschaftliche Überleben des Familienunternehmens und auch um ihr eigenes Lebensglück, dessen Zukunft in den Sternen über der Alster geschrieben steht ...

Die Fortsetzung des Bestsellers „Das Haus am Alsterufer“

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 09.11.2015
432 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-30697-3
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€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 09.11.2015
432 Seiten
EAN 978-3-492-97131-7
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Leseprobe zu „Sterne über der Alster (Alsterufer-Saga)“

Hamburg
1
Die Villa besaß definitiv zu viele Türen.

Jedes Mal, wenn sie durch das Haus ging, um die Schlösser zu überprüfen, dachte Klara Tießen, dass ihre Tätigkeit angesichts der vielen Ein- und Ausgänge völlig sinnlos war.

Neben dem Hauptportal gab es die Dienstboteneingänge auf der Vorder- und der Rückseite, die Terrassen­türen im Hochparterre und in der ersten Etage sowie die Luke zum Kohlenkeller und eine weitere Kellerpforte. ­Darüber hinaus boten auch die hohen Fenster des mehr­stöckigen hochherrschaftlichen Gebäudes am Harvestehuder Weg recht [...]

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Hamburg
1
Die Villa besaß definitiv zu viele Türen.

Jedes Mal, wenn sie durch das Haus ging, um die Schlösser zu überprüfen, dachte Klara Tießen, dass ihre Tätigkeit angesichts der vielen Ein- und Ausgänge völlig sinnlos war.

Neben dem Hauptportal gab es die Dienstboteneingänge auf der Vorder- und der Rückseite, die Terrassen­türen im Hochparterre und in der ersten Etage sowie die Luke zum Kohlenkeller und eine weitere Kellerpforte. ­Darüber hinaus boten auch die hohen Fenster des mehr­stöckigen hochherrschaftlichen Gebäudes am Harvestehuder Weg recht bequeme Einstiegsmöglichkeiten für jedermann, der sich unerlaubt Zutritt verschaffen wollte. Einen wirksamen Schutz vor Raubüberfällen konnte Klara ­daher selbst bei verschlossenen Türen nicht erkennen. Und seit drei Tagen lauerte die Gefahr praktisch überall. Zum ersten Mal in den sieben Jahren, die sie nun bei dem Reeder Victor Dornhain in Stellung war, fühlte sie sich in seinem Haushalt nicht mehr sicher.

Gesetz und öffentliche Ordnung schienen außer Kraft, seit der in Wilhelmshaven und Kiel begonnene Aufstand meuternder Matrosen nach Hamburg gespült worden war. Kriegsmüde Soldaten schlossen sich der Revolution der Seeleute ebenso an wie hungernde Arbeiter, die Krieg und Blockade zu Bettlern gemacht hatten. Die im Hafen liegenden Kriegsschiffe und die Kaserne des Infanterie­regiments sechsundsiebzig an der Bundesstraße sowie das Arsenal des Großkommandos in Altona ­waren erstürmt worden und Gewehre praktisch für jeden greifbar. Unterschiede zwischen einem ehrenwerten Mann und einem Kriminellen wurden keine mehr gemacht und nach der Erlaubnis zum Waffenbesitz fragte heutzutage auch niemand.

Es herrschte Chaos in der einst so wohlhabenden, von ihrem stolzen Bürgertum regierten Hansestadt, die nach vier Jahren wirtschaftlichen Stillstands praktisch ausgeblutet war. Aufwiegler hatten inmitten dieser katastrophalen Verhältnisse leichtes Spiel. Die einfachen Menschen forderten Frieden, ausreichend Nahrung, Arbeit und Mitspracherecht in der Bürgerschaft. Eigentlich verstand Klara diese Wünsche. Doch die Idee, sich den radi­kalen Spartakisten oder wenigstens den gemäßigteren Sozialisten anzuschließen, kam ihr nicht in den Sinn. Politik war ihre Sache nicht. Nichts zog sie zu den Kundgebungen am Heiligengeistfeld, wohin derzeit die Massen strömten. Als bekannt wurde, wie gut die Marodeure ausgerüstet waren, fühlte sich Klara von den Rebellen schließlich sogar eher bedroht als vertreten.

Leider war die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, dass irgendein Aufrührer sein gerade erbeutetes Schieß­eisen benutzte und die Falschen traf. Zwar versuchte der herrschende Arbeiter- und Soldatenrat mittels fast stündlich veröffentlichter Bekanntmachungen, Befehle und Erlasse, gewisse Direktiven aufrechtzuerhalten, doch Klara glaubte nicht so recht an deren Wirksamkeit. Plünde­rungen etwa waren verboten, Plünderern drohte die standrecht­liche Erschießung. Aber das Dienstmädchen der mit den Dornhains befreundeten Bankiers­familie Schulte-Stollberg hatte gestern geläutet und ­berichtet, dass es bereits Raubzüge durch andere Häuser und deren Vorratskammern am Mittelweg gegeben hatte und niemand eingeschritten war. Vielleicht wurden die Überfälle ja auch nur geahndet, wenn es sich um Raubzüge in den Armenvierteln handelte. Für die weißen Landhäuser in Harvestehude galten andere Regeln. Schon immer. Und jetzt wieder.

Klara fand es angesichts der politischen Lage nicht nur sinnlos, die Türschlösser zu überprüfen. Sie mochte es auch nicht, am frühen Abend allein durch das dann meist stille Erdgeschoss zu streifen. Es war Anfang ­November und um diese Uhrzeit natürlich bereits dunkel. Klara hasste es, als Erste in das finstere Esszimmer zu gehen, um die Lichter anzuschalten. Ihre Fantasie spielte ihr dann stets einen Streich, weil die aufgebauschten Portieren wirkten, als verstecke sich dahinter ein Einbrecher.

Doch statt wegzulaufen, wie es ihr Instinkt immer wieder gebot, begann sie auftragsgemäß einzuheizen. Die gnädige Frau legte größten Wert darauf, keine Kohlen zu verschwenden, das hieß, manche Räume gar nicht zu beheizen oder eben erst unmittelbar vor und während ihrer Benutzung. Statt sich räumlich einzuschränken und in ­wenigstens einem ständig warm gehaltenen Salon zu leben, zelebrierte Charlotte Dornhain, die Mutter des verwit­weten Reeders, unverdrossen einen von Traditionen geprägten Alltag. Geradeso, als gäbe es keine neuen Verhältnisse – und als frören die Hausbewohner nicht andauernd, weil es selbst in diesem milden Winter überall stets zu kalt blieb.

Eine Tür schlug. Glas klirrte.

Klara zuckte zusammen.

Der Eimer, randvoll mit Briketts, die sie gerade aus dem Keller geholt hatte, wäre ihr vor Schreck beinahe aus der Hand geglitten. Sie blieb mitten in dem kleinen, nur für das Personal zum Anrichten vorgesehenen Verbindungsraum neben dem Speisezimmer stehen, hielt den Griff fest umklammert und horchte atemlos, um die Herkunft des Geräuschs zu orten.

Doch auf dem Haus lastete die um diese Uhrzeit gewohnte Stille. Klara meinte zwar, über sich Schritte zu ­hören, die darauf hinwiesen, dass Frieda zwischen den Schlafzimmern der Herrschaften hin und her lief, doch diese vertraute, beruhigende Wahrnehmung konnte sie sich auch einbilden. Das erste Hausmädchen, das in der Dienstbotenhierarchie über Klara stand, war am frühen Abend für gewöhnlich in den Schlafgemächern in der ersten Etage unterwegs, schüttelte Bettwaren auf und richtete alles für die Nachtruhe von Victor Dornhain, seiner Mutter und seiner ältesten Tochter Ellinor, die als einzige der drei Töchter noch zu Hause wohnte.

Wieder klapperte es.

Es klang, als hätte jemand vergessen, eine der Terrassentüren zu schließen.

Die gnädige Frau würde schimpfen, wenn sie wüsste, dass kalte Zugluft in den Salon drang. An die Sicherheit der Hausbewohner, den Wert der Einrichtungsgegenstände und vor allem den Inhalt der Speisekammer gar nicht zu denken.

Einen Atemzug später wurde Klara bewusst, dass niemand im Haus ein Fenster oder eine Tür unkontrolliert ­offen stehen lassen würde. Und sie hatte sich selbst vor kaum einer halben Stunde vergewissert, dass im Salon ­alles in Ordnung war.

Waren Fremde durch die Parkanlagen geschlichen und unbemerkt eingedrungen?

Klaras Herz klopfte noch stärker als zuvor, das Pochen schien sich in ihrem Hals zu fangen.

In diesem Moment schallte ein kurzer spitzer Schrei durch den Schacht des Speiselifts, der das Vestibül mit der Küche im Souterrain verband.

Der Schrei kam von unten und nicht aus dem Empfangsraum, auch nicht von der Terrasse. Unverkennbar handelte es sich um die Stimme der Köchin.

Klara brauchte nicht lange, um sich vorzustellen, wie Banditen in die Wirtschaftsräume eindrangen und den weiblichen Majordomus der Dienerschaft bedrohten.

Ida benötigte Hilfe.

Was immer im Salon geschah, es musste warten.

Nach der ersten Schrecksekunde handelte Klara erstaunlicherweise nicht überstürzt, sondern besonnen und ziel­orientiert. Sorgsam stellte sie den Eimer ab, dann schlich sie auf Zehenspitzen die Personaltreppe hinunter. Je weniger Lärm sie verursachte, desto größer der Überraschungsmoment. Vielleicht konnte sie den oder die Täter überrumpeln und Ida sowie deren Vorräte retten. Dass sie nur eine zarte, viel zu dünne junge Frau von dreiundzwanzig Jahren war, deren Körperkraft nichts gegen die Muskeln der Marodeure ausrichten könnte, kam ihr nicht in den Sinn. Mit jedem Schritt festigte sich Klaras Mut.

Spa,Belgien
2
„ Ich stelle die Verbindung her, bitte warten Sie “, flötete Lavinia in den Lautsprecher. Sie stöpselte den Leitungs­stecker in die zu dem gewünschten Anschluss gehörende Buchse. „ Hier kommt ein Gespräch für Sie “, teilte sie dem Empfänger des Anrufs mit.

Einen Moment später leuchtete die Glühbirne über ­einem anderen Klappschalter auf, eine neue Vermittlung wurde gewünscht. Es schien Lavinia, als liefen die Drähte im wahrsten Sinne des Wortes heiß. Sie war als Telefonistin des Nachrichtenkorps heute dermaßen beschäftigt, dass sie kaum die Zeit fand, einmal in Ruhe durchzu­atmen. Und bei all der Hektik legte sich langsam ein sich mit jeder Stunde verschlimmernder Kopfschmerz um ihren Schädel.

Es waren pure Verzweiflung und wohl vor allem verletzter Stolz, die Lavinia Dornhain an die Westfront geführt hatten. Sie wollte weg aus Hamburg, sich darüber hinaus irgendwie nützlich machen, um ihrem verkorksten Leben einen Sinn zu geben. Zunächst war sie von ihrer Freundin verlassen worden, kurz darauf hatte sie erfahren, dass ihr Ehemann ihre Schwester liebte. Selbst nach der langen Zeit konnte Lavinia nicht sagen, welcher Umstand bei ­ihrer Entscheidung schwerer wog: die Trennung von Alice von Finkenstein oder Konrad Michaelis’ Betrug. ­Jedenfalls war es richtig gewesen fortzugehen, davon war sie auch zwei Jahre nach diesen Ereignissen noch restlos überzeugt.

Mit ihrem Wunsch, in den Krieg zu ziehen, war sie anfangs auf Widerstand in ihrer Familie gestoßen. Selbst ihre Schwester Nele, die ihr versprochen hatte, sich für sie einzusetzen, konnte ihr kaum helfen. Denn Lavinia war nicht geeignet, den Weg der meisten vornehmen jungen Damen zu gehen und eine Ausbildung zur Krankenschwester zu absolvieren. Schon beim Gedanken an blutige Verbände und volle Bettpfannen drehte sich Victor Dornhains behütetster Tochter der Magen um. Zwar nahmen Lazarettschwestern in der Gesellschaft inzwischen die Stellung von Engeln auf Erden ein, aber selbst dieses hohe Ansehen brachte Lavinia nicht dazu, sich zu überwinden. Alle wussten das – und deshalb förderte niemand ihre Ambitionen.

Die zweite Möglichkeit, dem Vaterland zu dienen, war im Etappendienst. In der Regel wurden diese Tätigkeiten von Frauen ausgeübt, für die es bei Dornhains Personal gab. Schlimmer noch: Frauen, die ihren Dienst als Erd­arbeiterinnen oder Pferdemusterer, in Munitionsdepots und Feldküchen leisteten, standen sogar meist auf einer – äußerst niedrigen – Stufe mit den Lohndienern zu Hause. Glücklicherweise wurden an der Front jedoch auch Sekretärinnen und Telefonistinnen benötigt, die aufgrund der erwarteten Vorkenntnisse bessergestellt sein mussten. Schreibarbeiten lagen Lavinia nicht, aber sie hatte immer schon gern telefoniert; ihre gebildete Sprache und ihre angenehme Stimme schienen sie für diese Aufgabe zu qualifizieren. Einzig ihre Ehe bedeutete anfangs ein Hemmnis, denn nur unverheiratete Frauen durften den Postdienst aufnehmen. Victor Dornhain erreichte jedoch schließlich eine Sondererlaubnis für seine jüngste Tochter, zumal ­Lavinia keine Beamtenlaufbahn anstrebte und ihren Lohn von knapp tausend Mark im Jahr der Kriegskasse spenden würde.

Also wurde sie im Fernmeldeamt an der Schlüterstraße ausgebildet, wo sie sich ausgesprochen gut machte, und anschließend dem weiblichen Nachrichtenkorps an der Westfront zugeteilt. Dass sie ihren Dienst inzwischen im Großen Hauptquartier Seiner Majestät des Kaisers und Königs bei der Obersten Heeresleitung versah, lag allerdings weniger an ihrem Fleiß oder einer besonderen Geschicklichkeit an der Schalttafel, sondern vor allem wieder einmal an ihrer Herkunft. Sie war zwar nicht adelig, wie dies im Bürgertum der Hansestadt trotz tief verwurzelter Kaisertreue traditionell selbst für die ältesten und reichsten Familien üblich war, aber ihr Stand kam dem eines preußischen Junkers sehr nahe. Der Tochter eines Hamburger Reeders trauten die Offiziere anscheinend mehr zu als vielen anderen jungen Frauen mit gleicher Qualifikation.

Lavinia sollte dies nur allzu recht sein. Da fast alle ihre Kolleginnen zwar auch aus gutem Hause, jedoch aus eher bescheidenen Verhältnissen stammten, befand sie sich in ihrem neuen Kreis in einer gehobenen Stellung. Das war etwas, das sie aus vollem Herzen genoss. Dafür nahm sie militärische Disziplin, strenge Regeln und die Unbeugsamkeit der Aufseherinnen in Kauf, selbst die Kleidervorschriften machten ihr kaum zu schaffen. Sie war grundsätzlich gern mit Frauen zusammen, hatte aber bislang nie das passende Podium gefunden. Ihre einstigen Schulkameradinnen waren längst anderer Wege gegangen, und damals, als sie zu den Damen des wohltätigen Freundinnenkreises um die Fürstin Marie Karoline zu Erbach-Schönberg stieß, war sie zu jung und unerfahren, um die erhoffte Beachtung zu finden. An der Westfront indes galt sie unter den Etappenhelferinnen als etwas Besonderes.

Normalerweise machte ihr die zehnstündige Arbeitszeit nichts aus. Sie litt auch nicht so oft wie ihre Kolleginnen unter elektrischen Stromschlägen, Kopfschmerzen, Ohrensausen und ähnlichen bei der Telefonvermittlung üblichen Krankheitserscheinungen. Heute allerdings fühlte sich ­Lavinia lange vor Ende ihres Dienstes wie gerädert. Das allerdings war kein Wunder nach der Hektik, die bereits seit gestern im Großen Hauptquartier herrschte.
Fast ununterbrochen gingen in der Telefonzentrale des von der Armee besetzten Hotels Britannique Gespräche ein, mussten neue Vermittlungen über das in der benachbarten Villa Buenos-Ayres untergebrachte Telegrafenamt hergestellt werden. Nach Berlin, was zunehmend schwieriger wurde, weil die Leitungen überlastet waren, zu den Feldtelefonen der Truppenkommandeure, zur Station für drahtloses Telefonieren auf einem Anwesen am Stadtrand, auch zur Villa La Fraineuse, wo sich der Kaiser derzeit aufhielt. Lavinia vermied es, in die Telefonate hineinzuhören. Nicht nur weil es verboten war, sondern weil
es sie schlichtweg nicht interessierte, was Politiker und ­Mi­litärs zu besprechen hatten.

Dennoch schnappte sie vor ­allem die Namen des Reichstagsabgeordneten Matthias Erzberger, des Reichskanzlers Max von Baden und des französischen Marschalls Ferdinand Foch auf. Über diese Männer wurde anscheinend in den Verbindungen gesprochen, die Lavinia unter anderem an die Adjutanten von Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg vermittelte. Warum diese Herren über einen in einem Waldstück nördlich von Paris abgestellten Zug debattierten, versuchte sie gar nicht erst zu verstehen. Sie hatte sich noch nie für Politik interessiert und die Anspannung und zunehmende Arbeitsbelastung raubte ihrem Hirn überdies jedes Urteilsvermögen.

Nach einer kurzen Nacht, in der sie traumlos und tief geschlafen, sich aber irrwitzigerweise ständig wach gefühlt hatte, ging es heute nicht besser. Weder Lavinias Gesundheit kam ins Lot – noch der Ansturm auf die Telefonvermittlung ließ nach. Tapfer nahm sie fast ununterbrochen Anrufe entgegen oder schaffte Verbindungen zu den diensttuenden Generaladjutanten, den Militärbevollmächtigten des Königs von Bayern und Sachsen oder den in Spa anwesenden Staatssekretären. Einen speziellen Kopfhörer übergestülpt, hörte sie am späten Nachmittag kaum noch, wer am anderen Ende der Leitung gewünscht wurde. Das unangenehme Rauschen in ihren Ohren, das sie schon den ganzen Tag begleitete, wurde heftiger. Gleichzeitig traten Schweißperlen auf ihre Stirn, kräuselten die Haarsträhnen, die sich aus dem Knoten in ihrem Nacken lösten, die Feuchtigkeit sammelte sich unter ihren Achseln und rann in ihr Korsett, während Schüttelfrost über ihre Arme kroch.

Die junge Frau im Dienst neben Lavinia neigte sich zu ihr. „ Du bist ganz rot im Gesicht. Regt es dich so auf, was in Berlin los ist? “ Friederike warf einen verstohlenen Blick zur Aufsicht, doch die Frau, die jedem Feldwebel zur Ehre gereichte, schien von irgendetwas am eigenen Schreibtisch abgelenkt zu sein.

Lavinia schüttelte unwillig den Kopf und legte den Finger an ihre Lippen. „ Psst! “

„ Also, wenn die Abdankung des Kaisers mal kein Grund ist, sich aufzuregen … “

„ Bitte? “ Lavinia konnte nicht verhindern, dass ihr der Mund offen stehen blieb. Die Hand, die gerade zu einem der Schalthebel greifen wollte, verharrte in der Luft.

„ Uns sagt man wieder einmal nichts! “, stieß Friederike hervor. Eiligst fuhr sie fort: » In Berlin hat der Reichskanzler die Thronentsagung bekannt gemacht und der Staatssekretär Philipp Scheidemann hat von einem Fenster im Reichstag herunter die deutsche Republik ausgerufen und zwei Stunden später hat der Abgeordnete Karl Liebknecht vor dem Schloss die Gründung der sozialistischen Repu­blik verkündet. Stell dir vor, alle Truppen in Berlin sind übergelaufen. Sogar das Garderegiment. Wir leben hier wie hinter dem Mond und wissen nicht einmal, dass daheim der Krieg aus ist. Ich sage dir, Weihnachten sind wir demobilisiert! «

„ Ich glaube dir kein Wort! “

Ein Deutschland ohne Wilhelm II. war für Lavinia unvorstellbar. Sie war kaisertreu erzogen worden, ihr Vater glaubte an die traditionellen Werte Preußens wie die meisten Mitglieder der Hamburger Bürgerschaft. Die Gerüchte über Aufstände und Streiks in deutschen Großstädten hatten zwar auch die Westfront erreicht, aber Proteste gab es immer mal wieder. Sogar hier in den besetzten Gebieten. Lavinia machte sich deswegen keine großen Sorgen. Vor ein paar Jahren war sie beinahe selbst einmal in eine der Hungerrevolten in Hamburg geraten, aber diese Demonstrationen waren schließlich auch niedergeschlagen worden. Es war an dem Tag gewesen, an dem Alice ihre Freundschaft aufkündigte …

Die Birne an der Schalttafel, die Lavinia seit Minuten ­ignorierte, flackerte nervös. Irgendjemand wartete auf eine Verbindung, aber sie wusste nicht mehr, welche Leitung betroffen war. Ihre Gedanken waren abgeschweift – in eine andere Zeit, fern von ihrer nun gar nicht mehr so neuen Welt im Nachrichtenkorps. Allein der Gedanke an ein sorgloses Weihnachtsfest im Kreis ihrer Familie berührte sie mehr als ihr lieb war. Es kam selten vor, dass Wehmut, Heimweh oder der tiefe Schmerz von damals nach ihr griffen …
Sie versuchte, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren, da wisperte Friederike noch einmal: „ Ich wette, dass wir Weihnachten zu Hause sind. “ Und einen Atemzug später rief die Kollegin ins Mikrophon: „ Hier Zentrale, was belieben? “

Aus den Augenwinkeln nahm Lavinia wahr, dass sie von der Aufseherin beobachtet wurde. Die Lampe vor ihr flackerte noch immer. Um endlich etwas zu tun, stöpselte Lavinia an dem Schaltbrett herum.

Sie wollte sich gerade mit der vorgegebenen kurzen ­Redewendung aller Fräuleins vom Amt melden, als eine Männerstimme unerwartet in ihr Ohr drang: „ … von den Verhandlungen ist nichts Gutes zu erwarten. Dennoch muss der Ruf der Heeresleitung so unbelastet wie möglich bleiben. Das versteht sich natürlich von selbst. “

Die Stimme klang sehr tief, sonor und so angenehm, dass Lavinia den Wunsch verspürte, dem Sprechenden noch einen Moment länger zu lauschen als erlaubt. Es war ebenso verrückt wie verboten, aber Lavinia schien es, als könne sie nicht anders. Deshalb schaltete sie nicht um, sondern verweilte als heimliche Zuhörerin in der Leitung.

„ Selbstverständlich “, erwiderte der Gesprächspartner. „ Die Verantwortung für einen möglichen Waffenstillstand und alle weiteren Schritte wird auf die Zivilisten geschoben. Es ist von Vorteil, wenn die Heeresleitung bei diesen unsäglichen Verhandlungen in Compiègne außen vor bleibt. “

Lavinia war egal, was geredet wurde, sie wollte nur zuhören und sich an dem volltönenden Bariton erfreuen. Die Sprache des ersten Mannes erschien ihr so wohltuend wie ein Aspirin, selbst als dieser sagte: » Es wird diskutiert, Seine Majestät den Heldentod an der Front sterben zu lassen. Notfalls könnte man dem ein wenig nachhelfen. Die amerikanischen Angriffe östlich der Maas wurden zwar von dem Brandenburgischen Reserve-Infanterie-Regiment erfolgreich abgewehrt, aber Verluste gibt es immer zu ­beklagen, nicht wahr? «

» Die Notwendigkeit einer solchen Überlegung ist nicht von der Hand zu weisen. Gestern Abend drohte Seine ­Majestät, mit den Truppen nach Berlin zurückzukehren und die Stadt zusammenzuschießen, wenn es sein müsste. Überdies machte er heute Morgen noch einmal klar, dass er keinesfalls abdanken werde. «

Mit einiger Verspätung begriff Lavinia, worum es ging. Es war schockierend und klang nach Hochverrat. Selbst ­einer unpolitischen Frau wie ihr war die Dimension der Äußerungen bewusst. Sie hielt erschrocken die Luft an, verschluckte sich jedoch an ihrem eigenen Atem. Der aufkommende Hustenreiz ließ sie würgen. Sie konnte nicht verhindern, dass sie sich laut räusperte.

Die Antwort war ein rhythmisches Schlagen, das in ­ihrem Trommelfell dröhnte, als würde jemand mit den Fingern auf den Telefonhörer trommeln.

„ Hallo? Hallo! Hören Sie mich noch? “ Der Mann mit der schönen Stimme schien aufgebracht. » Da ist irgend­etwas in der Leitung. Ich hoffe, wir werden nicht abgehört. Wir sprechen uns später. In der Sache ist ohnehin bereits alles entschieden. « Ohne ein weiteres Wort beendete er das Gespräch.

Von Panik erfasst zog Lavinia den Stecker des Anschlusses aus dem Schaltkasten. Der Hustenanfall raubte ihr den Atem, das eben Gehörte wirbelte ihren Verstand durchei­nander wie eine Fahrt im Kettenkarussell – nur dass das ­Gefühl dabei nicht so angenehm prickelnd war.

Es passte nichts zusammen. Friederikes Bericht über die Ausrufung einer deutschen Republik in Berlin ebenso ­wenig wie die Behauptungen des unbekannten Mannes am Telefon zur Weigerung des Kaisers abzudanken. Sicher war nur, dass sie eben mit angehört hatte, wie zwei Männer einen Mord an Seiner Majestät planten. Heldentod – was für ein harmloser Begriff für eine so schändliche Tat. Es war wie in einer der antiken Tragödien, die ein hilfloser Lehrer Lavinia einst in der Milberg’schen Privatschule für höhere Töchter nahezubringen versuchte und von denen sie wenig mehr behielt als die dramatischen Todesumstände der jeweiligen Hauptfiguren. Nun war sie offenbar Zeugin eines vergleichbaren Komplotts geworden. Wie sollte sie damit umgehen? War es nur dummes Gerede gewesen, das sie zufällig belauscht hatte? Oder drohte dem Kaiserreich tatsächlich eine Gefahr unvorstellbarer Dimension?

Schon allein wegen ihres Vaters musste sie etwas un­ternehmen, entschied Lavinia. Victor Dornhain verehrte Wilhelm II. so sehr, dass er für ihn zu sterben bereit wäre. Sie starrte auf die Schalttafel, konnte aber nicht mehr nachvollziehen, in welche Verbindung sie unbeabsichtigt geraten war. Auch konnte sie sich nicht entsinnen, den überaus melodischen Klang der ersten Männerstimme zuvor einmal gehört zu haben.

Wahrscheinlich wäre er ihr aufgefallen. Vielleicht aber auch nicht. Genau genommen befand sie sich in einer Zwickmühle. Sie hatte jemanden belauscht, wusste aber nicht, wen. Sie hatte Schreckliches erfahren, konnte das aber eigentlich nicht zugeben, weil sie einem Verbot getrotzt hatte.

„ Nun lassen Sie doch endlich diese Husterei “, unterbrach die Aufseherin Lavinias Gedanken. „ Man hört Sie bestimmt schon bis ins Arbeitszimmer von Generalfeldmarschall von Hindenburg persönlich. “

„ Ich kann nicht “, japste Lavinia.

„ Bitte melden! “, sprach Friederike neben ihr ins Mikrophon, die Augen neugierig auf Lavinia und die Aufseherin gerichtet. „ Hier kommt ein Gespräch für Sie. “ Friederikes Blicke flogen zwischen den beiden anderen Frauen und der Schalttafel hin und her, als sie die Verbindung herstellte.

„ Gehen Sie besser an die frische Luft und beruhigen Sie sich, bevor Sie Ihre Kollegin von der Arbeit abhalten “, forderte die Aufseherin prompt vorwurfsvoll. „ Ich übernehme solange Ihren Platz. “

Lavinia blieb nichts anderes übrig als zu weichen. Mit wackeligen Knien erhob sie sich. Als sie sich die Hände an der dunklen Kittelschürze abwischte, die alle Telefonistinnen im Deutschen Reich über eine vorgeschriebene Garderobe ziehen mussten, spürte sie, dass sie schweißge­badet war. Ihre Finger klebten an dem Baumwollstoff. Während sie zu dem kleinen Schrank taumelte, in dem sich ihre Uniformjacke befand, fuhr plötzlich mit der Helligkeit einer leuchtenden Erscheinung eine Idee durch ihr Gehirn.

Mit einem Mal wusste sie, was sie zu tun hatte.

Es war eigentlich ganz einfach: Sie musste in die Villa La Fraineuse und den Kaiser warnen. Natürlich würde sie Seine Majestät nicht selbst sprechen dürfen, aber sie konnte den Wachdienst seiner Leibgarde informieren. Sie würde zu ihrer Reputation angeben, dass sie dem Kaiser in der Vergangenheit mehrfach persönlich begegnet war. Sie war Wilhelm zwar niemals vorgestellt worden, sie hatte ihn nur aus relativer Nähe sehen dürfen, aber ihr Vater genoss das Privileg der Vorstellung. Der Kaiser war früher oft zu Besuch nach Hamburg gekommen, manches Jahr bis zu drei Mal. Er war regelmäßig Gast des Galopp-Derbys gewesen und hatte in der Hansestadt Station auf der Durchreise zur Kieler Woche gemacht, er war auch zum Durchstoß des Elbtunnels und zu anderen Großereignissen angereist. Genau genommen gab es also eine Verbindung zwischen ihr und dem Monarchen. Wenn sie diese glaubhaft vortrug, würde gewiss niemand an ihren Worten zweifeln.

Gedankenverloren streifte Lavinia die Kittelschürze ab und zog die graue Uniformjacke über ihre Bluse. Während sie die Knöpfe schloss, überlegte sie, dass sie sich Ärger mit der Aufseherin einhandeln würde, wenn sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzte. Sie würde länger als erlaubt ihrem Platz fernbleiben müssen. Vom Hotel Britannique zur ­Residenz des Kaisers war es eine halbe Stunde Fußmarsch, vielleicht auch etwas weniger, wenn sie quer durch die Parkanlagen auf der Rückseite des Hotels lief. Aber was bedeutete schon ein Verweis, wenn es um das Leben Seiner Majestät ging? Nachdem bekannt würde, was sie alles auf sich genommen hatte, um die Ermordung des Herrschers zu verhindern, würde man ihr bestimmt gratulieren. Dann wären ihr Vater und ihre Großmutter mächtig stolz auf sie. Wahrscheinlich würde man ihr sogar einen Orden verleihen, frohlockte Lavinia still.

Dieser Voraussicht folgend, verließ sie den fensterlosen Bereich der Telefonistinnen. Sie war so übereifrig in der Umsetzung ihres Vorhabens, dass sie beinahe ihre Kopfbedeckung vergaß. Zwei Schritte zurück, dann griff sie nach ihrer Kappe und stülpte diese im Weiterlaufen über. Zum ersten Mal ärgerte sie sich nicht über den Mangel an Spiegeln in den Hinterzimmern des ehemaligen Luxushotels, das erst im vergangenen Frühjahr zum Hauptquartier umfunktioniert worden war. Ihr Aussehen spielte nun eine untergeordnete Rolle. Auch das war eine neue Erfahrung.

Ein paar Schritte weiter und sie betrat das mit klassizistischen Rundbögen und Stuckornamenten verzierte Foyer. Hinter den hohen Fenstern senkte sich die Dämmerung über das uralte wallonische Kurstädtchen. Im Licht der Kronleuchter glänzten die Abzeichen, Knöpfe und Eisernen Kreuze an den Uniformen der Offiziere, denen Lavinia auf ihrem Weg zum Parkeingang begegnete. Sie achtete auf niemanden, folgte forsch ihrem Plan. Sie blieb nicht einmal stehen, um die aufkommende Kurzatmigkeit zu bekämpfen, die ihr vor lauter Aufregung zu schaffen machte.

Erst eine lebende Mauer beendete diese Zielstrebigkeit. Eine nach einem Holz und schwach nach Nikotin duftende Mauer aus demselben grauen Tuch, aus dem ihre eigene Uniformjacke geschneidert war. Lavinia konnte dem Rücken, der plötzlich vor ihr stand, gerade noch ausweichen, aber im Vorbeigehen verlor sie das Gleichgewicht und stieß gegen den Offizier.

„ Was erlauben Sie sich …? “, hob dieser empört an, drehte sich zu ihr um, wirkte kurz verwirrt und fügte dann deutlich galanter hinzu: „ Bei anderer Gelegenheit wäre mir diese Annäherung höchst willkommen. Unter den gegebenen Umständen muss ich aber leider auf ein Kennenlernen verzichten. “

Die Stimme!

Unwillkürlich wich Lavinia einen Schritt zurück. Bevor sie den Mann richtig ansah, erkannte sie seine Stimme. Blankes Entsetzen bemächtigte sich ihrer. Sie blickte zu ihm auf, erwartete, dass sich hinter dem melodischen Tonfall ein Monstrum verbarg. Doch sie erkannte ein gut ­geschnittenes, ungewöhnlich glatt rasiertes Gesicht mit feinen Linien an den Mundwinkeln und um bernsteinbraune, goldgesprenkelte Augen. Er schob seine Mütze über aschblondem, früh ergrautem Haar zurecht, als wollte er einen Hut lüften und es dann doch nicht tun.

Sie öffnete den Mund, traute sich aber nicht, etwas zu ­sagen. Angst griff mit eiserner Umklammerung nach ­ihrem Herzen. Diesmal war es nicht die Furcht vor einem Anschlag auf Seine Majestät, sondern um das eigene ­Leben. Was tat ein Mörder, der einer unfreiwilligen Mitwisserin begegnete?

„ Geht es Ihnen nicht gut, mein Fräulein? Sie wirken, als hätten Sie Feindberührung gehabt. “

So ist es, fuhr es Lavinia durch den Kopf.

Langsam begann ihr Verstand wieder zu arbeiten. Wie ein Rad, das sich ruhig zu drehen begann. Ihr fiel ein, dass er nichts von ihrer kleinen Spionage wusste. Sie hatte am Telefon nicht gesprochen und er konnte nicht ahnen, dass er und sein Gesprächspartner ausgerechnet von ihr belauscht worden waren. Erleichtert holte sie Luft. Zudem sagte sie sich, dass ein Mann, der den Heldentod des Kaisers forcieren wollte, in ihrer Gesellschaft nicht zur Tat schreiten konnte. Sie brauchte ihn bloß aufzuhalten …

„ Ich bin auf dem Weg zu einem Spaziergang “, erwiderte sie in dem neckischen Tonfall, mit dem sie als junges Mädchen ihre Verehrer zur Begleitung aufzufordern gelernt hatte. Auf dem hohen Niveau des albernen Small Talks wohlerzogener junger Damen war Lavinia eine Meisterin.

Der Offizier reagierte prompt: „ Ich würde Sie gerne begleiten, aber leider ruft die Pflicht. “

Seine Antwort alarmierte Lavinia. Als er ansetzte, sich langsam zu entfernen, raffte sie ihren Mut zusammen und benahm sich absolut undamenhaft, um ihn zurückzuhalten:

„ Wie heißen Sie? “

Es war auf jeden Fall natürlich sinnvoll, dass sie seinen Namen kannte, wenn sie sein Vorhaben zur Anzeige bringen wollte. Um ihn herauszufinden, nahm sie auch unkonventionelle Wege in Kauf. Trotz des guten Vorsatzes zog jedoch glühende Röte über ihre Wangen. Ihr Herz begann zu rasen, als hätte sie diese Ungeheuerlichkeit in Gegenwart ihrer Großmutter begangen.

Verblüfft hielt er inne. „ Hauptmann Freiherr von Amann “, erwiderte er nach einer kleinen peinlichen Pause. „ Gernot von Amann. Und mit wem habe ich das Vergnügen? “
„ Lavinia Dornhain. “

Sie nannte ihm automatisch ihren Mädchennamen, wie sie es meistens tat, obwohl sie in den Verzeichnissen des Nachrichtenkorps natürlich unter dem Namen ihres Mannes aufgeführt war. Als Lavinia Michaelis hatte sie an der Westfront jedoch eigentlich nirgendwo Vorteile. Überdies war ihr recht, wenn Gernot von Amann sie später nicht über die Listen ausfindig machen konnte. Vielleicht schwor er ja Rache, wenn sie seinen Plan vereitelte.

Für einen Moment flackerte in ihr der Gedanke auf, dass es schmeichelhaft wäre, wenn er nach ihr suchte. Ein attraktiver Mann mit angenehmer Stimme und einem Adelsprädikat wäre früher ein ernst zu nehmender Kandidat für einen Flirt gewesen. Damals, bevor sie sich eigensinnig in eine Mesalliance stürzte. Glücklicherweise erinnerte sie sich gerade noch vor dem Einsatz eines tiefen Blicks und entsprechenden Augenaufschlags daran, dass ihr Gegenüber anscheinend ein Teufel in der Verkleidung eines ­Galans war.

„ Achtung! “, brüllte in diesem Moment eine Wache von der Tür, die zum Park hinausging.

„ Seine Majestät …! “

„ Großer Gott “, entfuhr es Gernot von Amann. „ Damit hat niemand gerechnet. “
Atemlose Stille senkte sich über die Hotelhalle. Das ­Pochen ihres eigenen Herzens dröhnte in Lavinias Ohren. Jetzt ist er da, durchfuhr es sie. Der entscheidende Moment für ihren Einsatz war gekommen.

Micaela Jary

Über Micaela Jary

Biografie

Micaela Jary wurde als Tochter des Filmkomponisten Michael Jary in Hamburg geboren. Sie wuchs in der Welt des Kinos und der Musik auf und arbeitete als Zeitungsredakteurin, ehe sie sich ganz der Schriftstellerei widmete. Seit vielen Jahren schreibt sie nun erfolgreich Bücher. Sie lebte lange in...

Weitere Titel der Serie „Alsterufer-Saga“

Kommentare zum Buch
Und weiter geht es mit der Familie Dornhain und ihren Bediensteten
Monika F., Thalia Buchhandlung im Elbe Einkaufszentrum am 13.11.2015

Das passiert mir wirklich selten, dass ich Ihnen innerhalb von 3 Monaten zwei Bücher von der gleichen Autorin vorstellen kann, und auch noch beide für sehr gut empfunden habe. Im August durfte ich Ihnen „Wie ein fernes Lied“ von Micaela Jary vorstellen und jetzt folgt „Sterne über der Alster“. „Sterne über der Alster“ ist die Fortsetzung des Titels „Das Haus am Alsterufer“, welches im Sommer 2014 im Goldmann Verlag erschienen ist. Ursprünglich war dieser Titel eigentlich als eine Art Weihnachtsspecial gedacht, aber zu unserem Glück wurde daraus doch ein ganzer Roman.   Im ersten Band haben wir die Familie Dornhain (Großmutter Charlotte, Vater Victor und die 3 Töchter Ellinor, Nele und Lavinia) sowie die Dienstboten (Köchin Ida, die Zimmermädchen Frieda und Klara und den Chauffeur/Kontorboten und Morgenmann Richter) kennengelernt. Der 1. Band spielte in dem Zeitrahmen vom September 1911 bis zum 09. November 1918. Und der 2. Band beginnt just an dem 09. November 1918, allerdings kurz vor dem Epilog des 1. Bandes, was mich persönlich kurzzeitig verwirrt hat. Aber die Verwirrung hat sich sehr schnell gelegt. Der Krieg ist so gut wie zu Ende, stattdessen herrschen in Deutschland und der Schweiz Bürgerkriegsähnliche Zustände. Der Kaiser wurde zum Abdanken gezwungen, und nicht jeder kommt mit der neuen Situation zurecht. Victor Dornhain nimmt sich das Leben und hinterlässt in dieser schwierigen Zeit ein schweres Erbe für seine Schwiegermutter Charlotte und seine älteste Tochter Ellinor, die seine erkorene Nachfolgerin ist. Ellinor muss versuchen ihre beiden Schwestern zurück nach Hamburg zu holen, denn Nele lebt mit ihrer großen Liebe Konrad in der Schweiz und Lavinia ist als Etappenhelferin in Spa in Belgien stationiert. Dazu kommt noch, dass ihre Großmutter ein pikantes Detail aus dem Abschiedsbrief von Victor Dornhain unter den Teppich kehren möchte. Und auch bei der Dienerschaft läuft nicht alles glatt. Der Chauffeur Richter wird plötzlich verhaftet, weil er einen Mord begangen haben soll. Was hat es damit auf sich?   Die Handlung des 2. Romans spielt nur in einer relativ kurzen Zeitspanne – nämlich zwischen dem 09. November 1918 bis zum 21. Juli 1919. Aber diese Zeitspanne hat es geschichtlich in sich. Ganz Deutschland ist im Aufruhr. Die Soldaten haben gemeutert, die Bolschewiken haben die Macht übernommen, überall herrschen Räte. Das normale Leben ist zum Erliegen gekommen. Auch bei den reichen Familien herrschen Hunger und Kälte, wenn auch in weitaus geringerem Maße als bei den armen Menschen. Es steht noch nicht fest, was Deutschland als Kriegsverlierer alles ertragen muss. Es herrschen Kriminalität und Willkür auf den Straßen. Und in dieser schwierigen Zeit hat Micaela Jary ihre Geschichte angesiedelt. Es geht eine Epoche zu Ende, eine neue hat aber noch nicht begonnen. Wie wird es für die Familie weitergehen? Und kommt das für uns Leser gelüftete Geheimnis um das Dienstmädchen Klare jetzt auch bei der ganzen Familie ans Licht?   Mir hat dieser Roman wieder sehr viel Spaß gemacht. Ich habe viel über diese Zeitspanne erfahren, was mir bisher noch nicht bekannt war, u.a. auch so eine entzückende Kleinigkeit wie das Schwanenhaus auf der Aussenalster. Dieser Roman ist spannend erzählte Geschichte und Unterhaltung in einem. Ich hoffe doch sehr, dass die Autorin die Möglichkeit erhält noch weiterhin von den Geschicken der Familie zu erzählen. Immerhin sind noch einige Handlungsstränge offen!   Im wahrsten Sinne ein Hamburgisches Downton Abbey und die ideale Lektüre für Leserinnen, die diese Serie oder gut gemachte Familiengeschichten lieben.

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