Stille Wasser sind fies Stille Wasser sind fies Stille Wasser sind fies - eBook-Ausgabe
Roman
— Von der Meisterin humorvoller Familien-Komödien„sehr humorvoll gestaltete Geschichte mit einigen gruseligen Elementen.“ - Westfälischer Kurier
Stille Wasser sind fies — Inhalt
Familie hält zusammen, egal was kommt!
Eva und Moritz Ellenhans machen wie jedes Jahr Urlaub auf Schloss Oberwerries – allerdings zum ersten Mal ohne die Familie. Ein wahrer Luxus! Bisher waren immer die inzwischen erwachsenen Kinder sowie Oma mit von der Partie. Doch es kommt alles anders als gedacht, denn im Schlosskeller machen die beiden eine entsetzliche Entdeckung: ein Skelett! Sie glauben sogar zu wissen, wer dort unten sein Leben ließ. Nur eines ist ihnen klar. Die Familie Ellenhans hängt tief in der Sache drin. Das Skelett muss also weg, ehe es jemand anderes findet! Allerdings ist es gar nicht so leicht, ein Skelett verschwinden zu lassen. Und so dauert es nicht lange, bis die gesamte Familie wieder auf dem Schloss vereint ist und alle tatkräftig mit anpacken …
Ein beschauliches Wasserschloss in Westfalen, eine Großfamilie mit Geheimnissen und ein Skelett, das einfach nicht verschwinden will
Gisa Pauly, die Meisterin humorvoller Familienstoffe, legt mit ihrem neuen Roman „Stille Wasser sind fies“ eine turbulente Verwechslungskomödie vor. Im Zentrum stehen eine Großfamilie mit Konfliktpotenzial sowie ein Skelett, das im Laufe der Handlung so einiges mitmachen muss. Treue Leser:innen der Autorin werden den neuen Handlungsort vielleicht wiedererkennen, denn Gisa Pauly hält jedes Jahr die Premierenlesung für ihre Mamma-Carlotta-Reihe in wunderschönem Ambiente auf Schloss Oberwerries.
Leseprobe zu „Stille Wasser sind fies “
Eins
„Natürlich, Mama! Wir werden dich sicherlich sehr vermissen, aber …“, setzte Eva Ellenhans an.
Doch sie wurde von der aufgeregten Stimme ihrer Mutter Annelore unterbrochen, die sich lang und breit darüber ausließ, was sie von Kindern hielt, die ihre arme Mutter allein ließen.
„Du bist doch nicht allein …“
Aber auch diesen Satz brachte sie nicht zu Ende. Ob Eva etwa der Ansicht sei, dass die Aufsicht über eine verwöhnte Enkelin, die nicht ohne Grund den Beinamen Xanthippe trug, mit der Gesellschaft vernünftiger Erwachsener zu vergleichen sei? Wenn sie [...]
Eins
„Natürlich, Mama! Wir werden dich sicherlich sehr vermissen, aber …“, setzte Eva Ellenhans an.
Doch sie wurde von der aufgeregten Stimme ihrer Mutter Annelore unterbrochen, die sich lang und breit darüber ausließ, was sie von Kindern hielt, die ihre arme Mutter allein ließen.
„Du bist doch nicht allein …“
Aber auch diesen Satz brachte sie nicht zu Ende. Ob Eva etwa der Ansicht sei, dass die Aufsicht über eine verwöhnte Enkelin, die nicht ohne Grund den Beinamen Xanthippe trug, mit der Gesellschaft vernünftiger Erwachsener zu vergleichen sei? Wenn sie Ricarda, wie die Enkelin eigentlich hieß, zu Gesicht bekommen wolle, könne sie frühestens gegen Mittag bei ihr vorbeischauen und hoffen, dass sie dann schon aus dem Bett sei, oder aber zu einer Zeit, in der sich eine Großmutter, wenn sie auch noch so rüstig war, zu Bett begab. Dann erst bräche Ricarda zu irgendeiner Party oder in einen Club auf, und die Stunden davor habe sie mit stundenlangem Duschen und exzessivem Schminken verbracht.
„Das weiß ich, Mama! Aber du hättest ja die Seniorenreise …“
„Seniorenreise?“ Dieses Reizwort hatte einen ähnlichen Effekt auf Annelore Quenzer wie der Vorschlag, den ihr Schwiegersohn leichtfertig gemacht hatte. Kurzzeitpflege! Danach war stundenlang von drohendem Herzanfall, Enterbung und lebenslanger Kontaktsperre die Rede gewesen. Jetzt schnappte Evas Mutter am anderen Ende der Leitung wieder hörbar nach Luft. „Ich bin zweiundachtzig und keine hundert.“
Diesmal war es Eva, die ihre Mutter unterbrach. „Du hättest dich auch selbst um eine Reise kümmern können. Wozu hast du den Internetkurs in der Volkshochschule gemacht? Das Netz ist voll von interessanten Angeboten für Senioren.“
„Das sagst du mir, nachdem ich seit Jahren mit euch nach Schloss Oberwerries fahre? Für die Kinderbetreuung im Urlaub war ich jahrzehntelang gut genug, aber jetzt, wo die Kinder erwachsen sind …“
Eva wurde von einer sehr laut vorgebrachten und extrem deutlich artikulierten Frage abgelenkt: „Wo muss ich abbiegen? Links oder rechts?“
„Hast du gehört, Mama?“ Eva warf ihrem Mann einen anerkennenden Blick zu, zeigte ihm den erhobenen Daumen und rief ebenso laut und vernehmlich ins Telefon: „Sorry, Mama! Ich muss Moritz helfen. Er weiß nicht weiter.“
Sie beendete das Telefonat, ehe ihre Mutter auf den Navigator hinweisen konnte, mit dem ihr Auto ausgestattet war, und steckte ihr Handy weg. „Puh! Mama ist immer noch stocksauer.“
Moritz blinkte links und entschloss sich zu einem so waghalsigen Überholmanöver, als wollte er in Wirklichkeit seiner Schwiegermutter zeigen, dass die Pferdestärken unter seiner Motorhaube mit der Kraft seiner Entschlossenheit zu vergleichen waren. „Ich finde, es ist unser gutes Recht, allein Urlaub zu machen. Seit unserer Hochzeitsreise das erste Mal!“ Er tätschelte Evas linken Oberschenkel, was sie nicht besonders mochte, weil sie ihre Schenkel schon früh zur Problemzone erklärt hatte, die, wenn sie sich bequem auf den Beifahrersitz lümmelte, noch problematischer wurde. Sie warf einen neidischen Blick auf ihren Mann. Athletische Oberschenkel, flacher Bauch, trainierter Oberkörper, muskulöse Arme. Dass er täglich Sport machte, sah man ihm an. Und ihr sah man leider an, dass sie täglich am liebsten auf ihrem Bürostuhl und anschließend auf dem Sofa saß.
Mit einem Mal beschlich sie Sorge. Würde das gut gehen? Oder würde es zum ersten Mal ein Problem geben, weil sie nicht gern Sport trieb? Während ihrer bisherigen Urlaube hatte Moritz mit den drei Kindern die Kanu- und Paddeltouren unternommen, war mit ihnen vor dem Frühstück zwanzig Kilometer mit dem Rennrad gefahren oder durch die Lippe geschwommen. Würde er jetzt von ihr erwarten, dass sie Radfahrerhosen mit dem Sitzpolster anzog, das sich wie eine Inkontinenzeinlage anfühlte? Und würde sie mit ihm Ausflüge machen müssen, die Ähnlichkeit mit Survivaltraining hatten? In diesem Jahr würde sie sich nicht damit herausreden können, dass die Enkelkinder betreut werden mussten. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, dass sie immer versucht hatte, den Eindruck zu erwecken, sie opfere sich als Mutter und Großmutter bereitwillig auf. Womöglich hatte Moritz sich vorgenommen, nun endlich dafür zu sorgen, dass auch seine Frau zu dem kam, was ihr in seinen Augen zustand. Wie genau wusste er eigentlich, dass sie liebend gern den Radfahrern, Wanderern, Schwimmern und Kanuten nachwinkte und sich, sobald sie außer Sicht waren, einen guten Kaffee kochte, ein Stück Torte aus dem Kühlschrank nahm und den Kindern beim Spielen zusah?
Sie bogen von der A2 ab, und Eva wies wie jedes Jahr zu den hässlichen Schloten des Kraftwerks und sagte dabei wie jedes Jahr: „Schrecklich.“ Und wie jedes Jahr nickte Moritz nur.
Aber bald schon ließen sie das Kraftwerk und seine wuchtigen Kühltürme hinter sich und hatten nur noch Augen für die behäbige westfälische Landschaft, die sie als Jugendliche langweilig genannt hatten, als nur das Ziel von Bedeutung gewesen war, das ebenso gut in der Antarktis wie in Westfalen liegen durfte. Hauptsache, dort gab es ein Bett, von dem die Eltern nichts wussten.
Ein Bett war es dann zwar nicht, aber immerhin eine Luftmatratze, die ihnen nicht weniger komfortabel erschien. Eva hatte damals schnell begriffen, dass sie Moritz, dem sie bis dahin nur von Weitem schöne Augen gemacht hatte, im Zeltlager von Schloss Oberwerries nahekommen konnte. Die beste Chance, wenn man sich in einen Sportler verguckt hatte! Dafür wurde sie Mitglied des Turnerbunds, obwohl sie jede Art von sportlicher Betätigung schon damals gehasst hatte, tat ihr Bestes, um sich vor Ballspielen, Kanu-Touren und Schwimmwettkämpfen in der Lippe zu drücken, und konzentrierte sich stattdessen darauf, den Sieg im Kampf um Moritz Ellenhans’ Gunst zu erringen. Dort gewann sie erheblich schneller und viel leichter als beim Speerwerfen auf der großen Spielwiese oder beim Tischtennisturnier in der Sporthalle.
Von der besagten Luftmatratze in einem Zelt auf der großen Wiese hinter Schloss Oberwerries hatten sie gelegentlich aufs Schloss geschaut und sich vorgestellt, irgendwann dort in einem Himmelbett zu übernachten. Und so war es ihnen folgerichtig erschienen, ihre Flitterwochen Jahre später genau dort zu verbringen. Sie hatten eben ihre Träume bis zum Tag ihrer Hochzeit nicht vergessen. Im folgenden Jahr war dann schon der kleine Ingo mit von der Partie gewesen, und wieder war ihre Wahl auf Schloss Oberwerries gefallen, als sie sich ausrechneten, ob sie sich einen Urlaub leisten konnten. Andere Familien fuhren an die Ost- oder Nordsee, flogen nach Italien oder Spanien, sahen sich als Pauschaltouristen die Welt an … die Familie Ellenhans blieb dabei, dass es auf Schloss Oberwerries am schönsten war.
Das wurde Eva mal wieder bewiesen, als sie von der Heessener Straße abfuhren und in die Allee einbogen, die zum Schloss führte. Wie romantisch es hier doch immer war! Der Lärm der Straße blieb hinter ihnen zurück, der Drängler von vorhin war im selben Moment vergessen, alle riskanten Überholmanöver waren nicht mehr wichtig. Die Ruhe, die immer über dem Schloss lag, war schon auf diesen Metern deutlich zu spüren. Die Ruhe, die aus einer Zeit zu stammen schien, in der es noch keine Motoren gab. Jedes Mal dachte Eva, dass sie sich nicht wundern würde, wenn ihnen eine Pferdedroschke entgegenkam, darin zwei Damen mit Reifröcken und weißen Spitzenschirmen, die sie gegen die Sonne schützen sollten.
„Es spricht nicht gerade für unsere Flexibilität“, murmelte Moritz, „dass wir es nicht geschafft haben, Nägel mit Köpfen zu machen. Endlich mal Urlaub ohne Familie! Aber was machen wir? Wir fahren trotzdem wieder nach Schloss Oberwerries.“
„Weil es hier schön ist“, antwortete Eva schlicht.
Moritz bestätigte es prompt. „Diesmal können wir zu einer Radtour aufbrechen, ohne erst klären zu müssen, wer Lust hat, mitzukommen, wer ungern allein zurückbleibt, ob derjenige dennoch dazu bereit ist, oder ob wir eigentlich zum Babysitten eingeteilt waren.“
Ich, korrigierte Eva insgeheim, immer war ich es, die zum Babysitten eingeteilt worden war. Aber sie schwieg, um nicht darüber reden zu müssen, wie gern sie sich an die Tische auf der Terrasse gesetzt und den Kindern beim Spielen im Schlosshof zugesehen hatte.
„Und paddeln“, fuhr Moritz fort, „ohne erst zu besprechen, wie viele Boote wir brauchen, und dann zu verzichten, wenn der Verleih ein Boot zu wenig hat.“ Wieder tätschelte er ihren Oberschenkel, und diesmal machte es ihr nichts aus. „Oberwerries ist für uns genau richtig.“
Zwei
Sie fuhren auf den Parkplatz, auf dem zurzeit wenige Autos standen. Nur, wenn das Schlossrestaurant geöffnet war, füllte es sich dort. Gelegentlich wurden Hochzeiten auf dem Schloss gefeiert, es gab sogar einen Trausaal, sodass nicht nur die Feier hier stattfand, sondern auch die Zeremonie auf Oberwerries abgehalten werden konnte. Für Familienfeste wurde der herrliche alte Schlosssaal ebenfalls gern gebucht, dann wurden die Parkmöglichkeiten manchmal sogar knapp. Das kleine Hotel, das es im Torbogenhaus gab, hatte nur fünf Zimmer, für seine Gäste reichte der Parkplatz allemal.
Eva betrachtete die Fenster, die zur Gräfte hinausgingen. „Hoffentlich bekommen wir wieder unser Zimmer. Und hoffentlich sind die anderen Hotelgäste nett.“
Moritz lud sich so viel Gepäck wie möglich auf, solche Kavalierspflichten nahm er sehr ernst. Sie überquerten die kurze steinerne Brücke, die über den Schlossgraben führte, und stellten die Koffer ab, kaum dass sie das Schlossgelände betreten hatten. So machten sie es seit dreißig Jahren. Jedes Mal sahen sie sich nach ihrer Ankunft erst gründlich um, als erblickten sie alles zum ersten Mal. Dazu gehörten tiefes Durchatmen, als wären sie gerade nach langer Zeit des Eingeschlossenseins wieder ans Tageslicht gekommen, sowie das Lächeln, das sich Sonnenanbetern schon aufs Gesicht legte, kurz bevor sie sich zurücklehnten, die Augen schlossen und das Gesicht dem Licht hinhielten.
Moritz zog sein Smartphone aus der Tasche und filmte erst Eva, dann das Schloss mit seinen rot-weißen Fensterläden, die wie Prunkstücke auf dem dunklen Backstein leuchteten, die große steinerne Freitreppe, die in den Winkel der beiden Gebäudeschenkel führte, hinauf auf das Podest, wo es zwei schwere Holztüren gab, die ins Haupthaus und den südlichen Flügel des Gebäudes führten. Darunter duckten sich die Zugänge zum Schlosskeller.
Moritz rief die WhatsApp-Gruppe „Familie“ auf, gab „Wir sind da!“ ein und schickte das Video ab.
Evas Mutter war die Erste, die antwortete. Seit sie gelernt hatte, mit WhatsApp umzugehen, lauerte sie auf Nachrichten und antwortete umgehend, egal, ob sie gerade beim Friseur, beim Zahnarzt oder mit ihrer Freundin im Café Helene saß. Im letzten Fall besonders eifrig, weil ihre Freundin Doris ihr neidete, über WhatsApp ständig mit der gesamten Nachkommenschaft in Verbindung zu stehen. Dass es noch eine weitere WhatsApp-Gruppe gab, die „Ellenhans“ hieß, in der sich nur Eva und Moritz mit ihren Kindern austauschten, ohne dass Annelore mit ihren Emojis ihre Gefühlslage dazumischte, wusste Evas Mutter nicht. Das wurde gehütet wie ein altes Familiengeheimnis. Dumm nur, dass sich Ingo, der älteste Sohn, gelegentlich vertat und sich im falschen Gruppen-Chat über Annelores Neugier oder ihre Bekanntschaft mit der Witwe eines vor vielen Jahren bekannten Schlagersängers lustig machte. So was führte schnell zu familiären Spannungen. Dann wurde er heftig von allen anderen in der Gruppe „Ellenhans“ ausgeschimpft, weil er nicht gemerkt hatte, dass er in der Chat-Gruppe „Familie“ behauptet hatte, der neue Nachbar sei scharf auf Oma, er habe die beiden gewissermaßen in flagranti ertappt, wie sie in der Vinoteca da Pasquale sehr dicht beieinandergesessen und am Rosé genippt hätten. Dass Oma davon kein Foto gemacht und in die Familien-Gruppe gestellt hatte, bewiese doch wohl die Zweideutigkeit dieser Angelegenheit. In der Gruppe „Ellenhans“ war Ingo hastig aufgefordert worden, umgehend diesen Post zu löschen, aber meist war es zu spät, weil Oma Annelore sich von dem Eingehen einer WhatsApp-Nachricht mit einem so schrillen Pfeifton informieren ließ, dass sie immer die Erste war, die etwas las.
Auch in diesem Fall. Moritz Ellenhans hatte sein Smartphone noch nicht wieder zurückgesteckt, als seine Schwiegermutter mit einem weinenden Emoji kundtat, was sie davon hielt, allein in Recklinghausen zurückgeblieben zu sein.
Eine der Schlossangestellten kam über den Hof gelaufen. Lachend winkte sie mit den Schlüsseln, die sie in der Hand hielt. „Da sind Sie ja! Herzlich willkommen!“, begrüßte sie Eva und Moritz freundlich. „Die anderen reisen später an? Wie immer?“
Eva lachte sie an. „Wir machen in diesem Jahr allein Urlaub! Ohne Familie! Zum ersten Mal!“
Die junge Frau betrachtete die Schlüssel in ihrer Hand. „Mir wurde gesagt, dass ich alle Zimmer herrichten soll. Für die Familie Ellenhans. Wie jedes Jahr.“ Ratlos betrachtete sie die fünf Schlüssel. „Das ganze Hotel ist für Sie reserviert.“
Nanu? Eva und Moritz sahen sich ratlos an. Sie hatten doch diesmal ganz sicher nur nach ihrem Lieblingszimmer gefragt.
Ein Telefongespräch, das die Schlossangestellte mit dem Büro der Stadtverwaltung in Hamm führte, sorgte schnell für Klarheit. Der gehörte nämlich das Schloss, und von dort war die richtige Information weitergegeben worden, an Ort und Stelle jedoch in der Rubrik „So wie immer“ gelandet und somit falsch verarbeitet worden.
Moritz und Eva suchten sich den Schlüssel „ihres“ Zimmers heraus. Seit dem Umbau vor einigen Jahren erstrahlten alle Zimmer in ihrem eigenen Stil, sie waren nun nach den Partnerstädten von Hamm benannt. Schon immer kamen Eva und Moritz am liebsten im Erdgeschoss unter, im „Chattanooga“. Die dunklen, modernen Massivholzmöbel strahlten viel Ruhe aus und sorgten dafür, dass Eva sich besonders wohlfühlte.
Schnell wurde klar, dass sie das Hotel nun die nächsten beiden Wochen für sich allein haben würden. So kurzfristig würden wohl keine neuen Gäste buchen.
„Ein herrlicher Gedanke“, schwärmte Moritz. Er zog seine Frau an seine Seite und ging mit ihr gemeinsam zur Eingangstür des Torbogenhauses. Davor gab es einen Terrassenbereich mit einigen kleinen Tischen und Stühlen, wo sie sich kurz niederließen, weil auch das zur Zeremonie auf Schloss Oberwerries gehörte. In den letzten Jahren hatten sie darauf geachtet, immer als Erste einzutreffen und eine kurze Weile die Ruhe zu genießen, die der Anblick des Schlosses dem Betrachter schenkte. Diese behäbige Ruhe, die von dem ehrwürdigen, dickwandigen, unerschütterlichen Bauwerk ausging, würden sie nun also wieder tagtäglich genießen können. Und das, ohne von der Frage aufgescheucht zu werden, wo um Himmels willen das Nackenstützkissen geblieben sei, ohne das Ingo nicht in den Schlaf und nicht ohne Verspannungen wieder herauskam, wer Omas Rosamunde-Pilcher-Roman versteckt oder wer den Hirsebrei aufgegessen habe, der für Mareikes Drillinge vorgesehen war. Eva schloss genüsslich die Augen. Niemand würde sie in den nächsten beiden Wochen mit Fragen und Forderungen, mit Wutgeschrei oder dem Lärm des Montessori-Musikinstrumenten-Sets bedrängen. Vorsichtshalber versicherte sie sich selbst, dass sie ihre Familie über alles liebte, ehe sie sich eingestand, dass sie dennoch froh war, für eine Weile weder ihre Mutter noch den Nachwuchs sehen und hören zu müssen. Der einzige Wermutstropfen, der ihre Vorfreude trübte, war die Tatsache, dass sie der alleinige Sportpartner ihres Mannes war. Sie würde sich nicht beklagen, wenn das Wetter nicht hielt, was es versprach, wenn es so viel regnete, dass sie nach Münster fahren mussten, zum Besuch des Landes- oder Picasso-Museums oder einfach zum Shoppen.
Eva blickte zum alten Marstall, der schräg gegenüber lag und in dem heute das Café untergebracht war. Davor, auf einer großen Rasenfläche, standen Tische und Stühle unter großen Sonnenschirmen. Oberwerries wurde häufig von Radfahrergruppen angesteuert, die sich dort gern niederließen. Gegenüber, direkt im Anschluss an das Torbogenhaus, war ein Neubau angefügt worden, den der Turnerbund benutzte, der auf Schloss Oberwerries Kurse abhielt. Dort war Moritz, nachdem sie das erste Mal die Luftmatratze in einem der Zelte geteilt hatten, vorstellig geworden, um eins der einfachen Zimmer für eine Nacht zu bekommen. „Dann können wir wenigstens nicht überrascht werden!“
Eva hatte gesehen, dass er heimlich sein Taschengeld zählte und dann wohl zu der Ansicht kam, dass es reichen musste. Doch er hatte vergeblich gezählt. Sämtliche Zimmer waren besetzt, und sie hatten weiterhin mit der Luftmatratze vorliebnehmen müssen. Später war Moritz mit den Kindern manchmal, wenn das Wetter zu schlecht zum Kanu- und Fahrradfahren war, hinübergegangen und hatte darum gebeten, beim Sport in der Turnhalle mitmachen zu dürfen. Das hatte ihnen so viel Spaß gemacht, dass sie sich auch oft an den Kursen beteiligt hatten, wenn sie bei gutem Wetter auf dem Rasen zwischen Marstall und Neubau abgehalten wurden.
Moritz hatte in der Zwischenzeit die Fahrräder vom Autodach geholt und auf die Terrasse gestellt, jetzt bezogen sie endlich ihr Hotelzimmer. Der große Raum im Erdgeschoss bot sowohl ein Fenster zur Schlossgräfte als auch den Blick in den Schlosshof.
„Als ich die Idee hatte, einen Roman zu schreiben, der im Münsterland, meiner Heimat, spielt, folgte sehr schnell der Gedanke, ein westfälisches Wasserschloss als Handlungsort zu wählen. Als das feststand, brauchte ich nicht mehr lange zu überlegen. Für mich kam nur Schloss Oberwerries infrage, das mir seit Jahren vertraut ist.
Sämtliche Sylt-Krimis um Mamma Carlotta erleben dort Jahr für Jahr, meist in den ersten Maitagen, ihre Premiere. Dann übernachte ich in dem kleinen Hotel im Torbogenhaus, so wie die Familie Ellenhans in diesem Roman, und habe morgens immer das Gefühl, in einer Welt aufzuwachen, die nichts mit der Hektik der Jetztzeit zu tun hat. Oberwerries ist ein Sinnbild des Friedens. Es sei denn, es findet sich im Schlosskeller ein Skelett …“
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