Strom Strom Strom - eBook-Ausgabe
Roman
— Der neue Roman des SPIEGEL-Bestseller-Autors„Wie viel Ringen um das limitierte Maß an Macht im Umgang mit Krankheit und Tod jedoch notwendig ist, für diese intensive Darstellung lohnt es sich allein, Schlegls Roman zu lesen.“ - Tagesspiegel
Strom — Inhalt
„Ich musste zwischendurch aufhören zu lesen, weil es mich emotional so gepackt hat.“ Franziska Böhler
Nora ist wie vom Blitz getroffen. Sie steckt mitten in der Ausbildung zur Notfallsanitäterin, als sie bemerkt: Sie ist schwanger. All ihre Pläne lösen sich plötzlich in Luft auf. Um einer Entscheidung zu entkommen, wirft sie sich in das Praktikum auf der Demenzstation. Dort trifft sie Diddy, der alles gibt für seine eigenwilligen Patienten. Und sie begegnet Frank, einem verschlossenen Typen, der selbst mal Sanitäter war und im Notfall über sich hinauswächst. Notfälle hat es hier zuletzt auffällig viele gegeben. Bald erkennen Nora und Diddy, dass Frank für den Rausch des Rettens Leben aufs Spiel setzt …
„Echte Helden tragen keine Capes, sondern Crocs. Ein berührender Roman, ein Zeitzeugnis.“ Ronja von Rönne
„Ich habe lange kein Buch gelesen, das so ein Thema setzt. Die Frage nach dem Wert des Lebens sollte man viel öfter stellen.“ Peter Lohmeyer
„Tobias Schlegl erzählt mit unverstelltem Blick und zuneigendem Ton von Menschen, die am Abgrund stehen. Beeindruckend.“ Thilo Mischke
„Tobias Schlegl hat überhaupt kein Problem damit, dahin zu gehen, wo es weh tut. Und: Man will ihm folgen.“ Sarah Bosetti
Leseprobe zu „Strom“
1
Nora schwankt nach rechts, ihre Schulter rummst gegen die Tür. Sie greift nach einem Mantel an der Garderobe und zieht sich wieder hoch.
Nichts rührt sich. Nur nicht Sonja wecken, das hat sie ganz und gar nicht gern, gesunder Schlaf muss sein. Nora schleicht durch den Flur zum Bad, erleichtert, dass keine Diele knarzt. Sie will bloß raus aus den verschwitzten Klamotten, sich die Haare bürsten und mit einer Paracetamol dem Kater vorbeugen.
Sie tastet nach dem Schalter unter dem Spiegel, da ist er – und da ist sie. Nora blinzelt sich an. Ein paar Strähnen [...]
1
Nora schwankt nach rechts, ihre Schulter rummst gegen die Tür. Sie greift nach einem Mantel an der Garderobe und zieht sich wieder hoch.
Nichts rührt sich. Nur nicht Sonja wecken, das hat sie ganz und gar nicht gern, gesunder Schlaf muss sein. Nora schleicht durch den Flur zum Bad, erleichtert, dass keine Diele knarzt. Sie will bloß raus aus den verschwitzten Klamotten, sich die Haare bürsten und mit einer Paracetamol dem Kater vorbeugen.
Sie tastet nach dem Schalter unter dem Spiegel, da ist er – und da ist sie. Nora blinzelt sich an. Ein paar Strähnen haben sich aus dem Pferdeschwanz gelöst, die Wimperntusche ist ein wenig verschmiert. Sie lässt kaltes Wasser über ihre Hände laufen, taucht das Gesicht ein und trinkt, viele kräftige Schlucke, um den Wodka zu verdünnen, den Schwindel zu vertreiben. Damit der eine freie Tag morgen nicht komplett fürn Arsch ist. Gut, dass sie sich nicht dazu hinreißen lassen hat, mit Tino rumzumachen. Keiner aus dem Jahrgang, lautet die Regel. Außerdem wäre es unfair gegenüber Stefan. Was auch immer das mit Stefan ist. Nora grinst in ihr Handtuch. Wäre er dabei gewesen, wäre sie sicherlich nicht nach Hause gekommen.
Nora wühlt in ihrer Schublade. Fenistil, Nasenspray, Vomex. Keine Kopfschmerztabletten. Egal, Sonja hat bestimmt welche. Sonja hat alles. In welcher ihrer Kisten und Kästchen sind die Medis? In der großen weißen. Yes. Desinfektionsspray, Allergiepillen, Halsschmerztabletten, Hustenlöser, Jodsalbe, Wundheilsalbe, Arnikasalbe, Paracetamol, Ibuprofen, Aspirin. Sogar ein Schwangerschaftstest. Auf Vorrat, man weiß ja nie. Sonja ist echt unglaublich.
Nora lässt sich auf den Klodeckel sinken, in ihrem Bauch gluckert es, die Welt wankt noch immer. Ein Schwangerschaftstest. Seit einer Woche sind ihre Tage überfällig. Aber eine Woche, was heißt das schon? Der Schichtdienst bringt alles durcheinander. Und sowieso, Stefan und sie haben aufgepasst. Da kann überhaupt rein gar nichts passiert sein.
Nora zieht sich den Hoodie samt T-Shirt über den Kopf und stopft ihn in den Wäschesack neben der Dusche. Ab wann kann man so einen Test durchführen? Sie öffnet noch einmal Sonjas weiße Kiste und zieht die hellblaue Packung heraus. Sicherheit ab dem ersten Tag der ausgefallenen Periode. Dann kann sie es doch sofort machen. Dann ist die Sache erledigt. Dann halten sie mit dem RTW am Montag an der Apotheke, und sie besorgt Sonja Ersatz. Also, was sagt der Beipackzettel?
Das Ding sieht aus wie ein Coronatest, eine schmale Plastikkassette mit Sichtfenster, an dessen Rand ein C und ein T. Am unteren Ende der Teststreifen, da muss sie zehn Sekunden draufpinkeln. Sie hält den Test in den Strahl und zählt. Es kann auch Vorteile haben, mal ordentlich einen zu bechern. Mit der freien Hand faltet sie etwas umständlich ein paar Blätter Klopapier und drapiert sie unter dem Test auf dem Spülkasten. Jetzt genau fünf Minuten warten.
Sie löst ihren BH und schlüpft in den Pyjama von Papa. Viel zu groß, aber gemütlich. Papa. Sie will gar nicht dran denken. Während sie die Zahnbürste kreisen lässt, zwingt sie sich, nicht hinzugucken. Was soll schon sein? Wäre doch absurd. Jetzt schwanger, mit dreiundzwanzig, mitten in der Ausbildung.
Gerade als sie die Kappe mit der Mundspülung ansetzt, vibriert das Handy. Sie schielt zum Klo. Zwei Striche. Sie kippt die Spülung in den Mund, stellt die Kappe ab und beugt sich nach vorn. Ja – zwei Striche. Nora schnappt nach Luft, die scharfe Flüssigkeit gelangt in ihren Rachen, sie würgt und prustet, die Mundspülung sprenkelt die Klobrille grünlich. Zwei Striche, einer bei C und einer bei T. Das muss ein Irrtum sein.
Es klopft.
„Nora, alles in Ordnung?“ Sonja. Verschlafen und not amused.
„Ja, alles okay!“
„Bist du grad erst gekommen?“
„Ja, war wild heute.“
Sonja stöhnt auf. „Musst du dich übergeben?“
„Nein, ich hab mich nur verschluckt.“
„Brauchst du Hilfe?“
„Nein, nein – alles gut!“ Warum gibt die nicht auf?
„Kann ich bitte auf die Toilette?“
Hektisch wischt Nora die Klobrille trocken und versteckt die Bestandteile des Tests unter dem Pulli im Wäschekorb. Dann hält sie inne, zieht die Gebrauchsanweisung wieder raus und klemmt sie unter dem Bündchen ihrer Schlafanzughose fest.
Im Bett knipst sie die Nachttischlampe an und liest. Es ist zu berücksichtigen, dass unter bestimmten Umständen der Test einen falsch-positiven Befund ergeben kann. Genau so muss es sein. Wie bei Corona, falsch-positiv. Hier liegt schlicht und einfach ein Fehler vor.
2
„Guten Abend, General Kampa. Hier kommt die Nachtschicht. Haben Sie Ihre Tabletten genommen?“
Frank schließt die Tür und geht auf den alten Mann zu. Seine Crocs knartschen auf dem Linoleum.
Herr Kampa stöhnt leise. Frank greift nach der Tablettenbox und schüttelt. Die blauen Pillen für den Abend klappern in der dritten Kammer.
„Wo bleibt die Disziplin, Herr General? Denken Sie an Ihren Druck!“
Frank prüft die Vitalwerte. Kampa ist verkabelt, bei ihm wird dauerhaft der Blutdruck gemessen. 172/90. Bei einem systolischen Wert von 180 schlägt das Gerät Alarm.
Herr Kampa starrt Frank an. Sein Blick ist schwer zu lesen. Er hat etwas Finsteres, Strafendes und ist doch ausdruckslos. Frank ist sich unsicher, ob der General ihn überhaupt wahrnimmt. Vielleicht betrachtet er schon seit Stunden die Wand, und Frank ist ihm lediglich ins Sichtfeld getreten.
„Hallo? Jemand zu Hause?“ Frank legt den Kopf schief. Vielleicht ahnt der General, dass ihm Großes bevorsteht, und bereitet sich innerlich vor.
Herr Kampa blinzelt, seine trockenen Lippen bewegen sich.
Frank lächelt aufmunternd.
„Docha“, haucht Herr Kampa.
„Wie bitte? Ich kann Sie nicht verstehen!“ Als er sich hinunterbeugt, bemerkt Frank den unangenehmen Geruch, unverkennbar ekelerregend. Er beginnt, durch den Mund zu atmen, und lupft die Bettdecke. Ausgerechnet heute.
„War ja klar! Warum gehen Sie nicht zur Toilette, wenn Sie müssen?“ Frank lächelt in sich hinein.
Er schlägt die Decke zurück. Kaum erträglich wallt ihm der Gestank entgegen. Die Schutzhose des Generals ist verrutscht. Braune Masse quillt auf die Auflage. Am Schenkel ein dunkler Fleck. Oberhalb des Knies endet Kampas Bein, vor einiger Zeit wurde es amputiert. Die Gefäße waren verschlossen, eine Folge der Diabetes.
„Da haben mir die lieben Kollegen aber eine schöne Überraschung hinterlassen. So liegen Sie schon eine ganze Weile, was?“
Frank hat keine Wahl, heute kommt Besuch. Kampa war einmal ein hohes Tier bei der Bundeswehr, jetzt liegt er da. Von draußen holt Frank Tücher und eine frische Auflage. Er packt den General an Hüfte und Schulter, drückt ihn hoch und auf die Seite.
Herr Kampa stöhnt auf. „Tochder!“, krächzt er.
„Ach, Tochter! Was ist mit Ihrer Tochter?“
Frank stützt Herrn Kampas Rücken mit dem Unterarm.
„Tochter! Ich … muss … Tochter!“
Mit einer Hand löst er den Klebestreifen der Schutzhose.
Der General räuspert sich. „Ich muss … meine Tochter abholen, vom Kindergarten.“
Frank wischt über den Hintern. Um die Einfärbung am Schenkel bemüht er sich gar nicht erst.
„Ihre Tochter geht nicht mehr in den Kindergarten. Die ist erwachsen.“
Herr Kampa grunzt. „Doch.“
Frank lässt ihn wieder auf den Rücken rollen. Die Auflage ist gewechselt, die neue Schutzhose sitzt. „Und jetzt nimm endlich deine Pillen.“
Er packt die dünnen Haare und drückt den Kopf nach vorn. Herr Kampa verzieht das Gesicht.
„Komm schon. Nicht so wehleidig!“ Frank steckt ihm eine nach der anderen in den Mund und lässt ihn an der Schnabeltasse saugen.
„Na bitte. Das hätten wir. Nun bist du fein für deinen großen Auftritt.“ Frank lächelt. „Ich lüfte mal, wenn’s recht ist. Nicht, dass sich die hohen Kollegen aus der Intensiv noch ekeln!“
Heute Nacht ist Frank ganz allein auf Station. Mal wieder. Alle krank. Trotzdem wird es gleich voll werden. Gleich kommen sie alle angerannt. Und dann werden sie sehen und staunen.
„Sagen Sie“, flüstert der General, „sagen Sie meiner Tochter, dass ich bald da bin.“
„Ich ruf sie nachher an, versprochen!“, antwortet Frank. Er zieht die Tür hinter sich zu und erstarrt.
*
Happy ist Diddy nicht, als er in den dunkelblauen Kasack schlüpft. Er ist spät dran und hat die Übergabe verpasst, aber das ist nicht das Thema. Eigentlich säße er jetzt mit Olli auf der Couch, bei Netflix, Pinot noir und Zartbitterschoki. Doch gerade, als sie den Tisch abgeräumt hatten, rief Paula an. „Ein absoluter Notfall“, „eine Riesen-Ausnahme“, „richtig was gut“ habe Diddy bei ihr. Ob ihr bewusst ist, dass sie jedes Mal das Gleiche sagt? Wäre er Pflegedienstleiter – aber er ist nicht Pflegedienstleiter, und er will es auch gar nicht sein. Nur noch Orga am Hacken, Mangelverwaltung mit Chef im Nacken. Dabei ist er der Dienstälteste auf Station, fast dreißig Jahre im Beruf, zehn davon hauptsächlich hier in der Geriatrie. Er könnte den Laden mit links leiten. Aber dann hätte er kaum noch Zeit für die Patienten.
Diddy atmet tief durch und schlüpft in die Birkenstocks. Alle Betten sind belegt. Optimalerweise ist die Nachtschicht zu dritt. Tatsächlich arbeiten sie meist zu zweit. Heute hat sich kurz vor Dienstbeginn Anastasia krankgemeldet. Übrig blieb Frank. Keine Frage, Frank ist fit, der kann den Job. Aber ganz allein mit achtzehn Patienten – das ist gemein. Das möchte er selbst Frank nicht zumuten, obwohl der ihm nicht sonderlich sympathisch ist.
Diddy schließt den Spind. An der Tür hängt eine Klappkarte mit der Diddl-Maus, vor einer rosa-lila Wolke reckt sie ihm einen Blumenstrauß entgegen. Ganz liebe Geburtstagsgrüße! Jedes Jahr machen sich die Kollegen einen Scherz draus und schenken ihm eine Diddl-Karte. Er tauscht die alte gegen die neue und trägt es mit Fassung.
Auf der Station ist es still. Nur ein mattes Husten dringt aus dem ersten Isolationszimmer links vom Eingang, rechter Hand hört Diddy Hans und Doris schnarchen. Er mag den Trubel am Tag lieber als die Ruhe der Nacht, die so trügerisch sein kann. Diddy genießt es, wenn Leben in der Bude ist, wenn aus dem Fernseher in der Guten Stube die Kastelruther Spatzen schmettern und die dementen Patienten den Flur entlangmarschieren, immer im Kreis, bis sie müde sind.
„Dann mal los“, murmelt Diddy, greift sich zwei benutzte Tassen von einem Teewagen und eilt den Gang im Osten hinunter zum Cockpit. Vor dem Zimmer von Herrn Kampa bleibt er wie angewurzelt stehen.
„Nicht so wehleidig!“, hört er eine Stimme durch die Tür. Bei allem Respekt, Frank vergreift sich manchmal befremdlich im Ton. Vielleicht sollte er das bei Gelegenheit mit Paula besprechen. Vor knapp einem Jahr ist Frank ins Team gekommen – und seither eine echte Stütze, robust und belastbar. Gerade in brenzligen Situationen funktioniert er wie ein Uhrwerk. Und sein Wissen ist beachtlich – über Medikamente kann er regelrecht Vorträge halten: Dosierung, Kontraindikationen, Wirkweise, die physiologischen Abläufe. Er wäre ein guter Arzt geworden. Außerdem kann Frank reanimieren wie kein Zweiter, von ihm werden sich im Kollegium Heldengeschichten erzählt. Er war wohl mal Rettungssani, da sammelt man natürlich Erfahrung. Diddys letzte Reanimation ist ewig her. Irgendwie kommt er immer drumrum.
Die Tür schwingt auf.
„Ich ruf sie nachher an, versprochen!“, sagt Frank. Als er Diddy sieht, entgleist ihm sein spöttisches Grinsen.
„Hast du mich erschreckt, Diddy! Was machst du denn hier?“
„Ich bin für Anastasia eingesprungen. Hat dich das nicht erreicht?“ Mal wieder typisch, denkt sich Diddy. „Ist alles ruhig so weit?“
Er wendet sich in Richtung Cockpit, Frank folgt ihm.
„Ja, so weit sind alle versorgt. Frau Kurz macht ihr übliches Theater – ›Hilfe, Hilfe!‹. Du weißt schon. Geht man rein, ist nichts.“
„Schmerzmittel hat sie?“
„Der Tropf ist komplett durchgelaufen, aber ich mache mir etwas Sorgen um den General“, sagt Frank und fängt an, in seinem Rucksack zu kramen, der neben einer Tastatur im Besprechungsraum liegt. „Er wirkt völlig weggetreten. Der macht’s nicht mehr lange, glaub ich“, sagt Frank abwesend.
„Hm. Sobald er Besuch hat, ist er das blühende Leben. Frank?“
Frank reagiert nicht, sein Kopf versinkt im Rucksack. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, ärgert sich Diddy.
„Übrigens, die Dokumentation hat noch viele Lücken“, murmelt Frank. „Mit herzlichen Grüßen der Spätschicht. Danke für nichts. Na endlich!“ Er scheint gefunden zu haben, was er gesucht hat.
„Ach, mir reicht schon, dass alle im Bett sind. Wenn du willst, kann ich mich an die Doku setzen.“
„Von mir aus gern. Ich dreh gleich eine große Runde. Und schau auch noch mal bei Frau Kurz rein.“ Frank strahlt. „Aber erst mal das!“ Er hält einen Schokoriegel in die Höhe. „Nie den Blutzucker vergessen. Nicht, dass ich noch eine Hypoglykämie bekomme.“ Er sieht Diddy herausfordernd an.
Du solltest dir besser um deine HYPERglykämie Sorgen machen, denkt Diddy, erbarmt sich aber und grinst zurück.
Lieber Tobi Schlegl, im Mittelpunkt Ihres zweiten Romans „Strom“ stehen zwei äußerst unterschiedliche Figuren – Nora und Frank. Wer sind die zwei und warum wollten Sie gerade sie aufeinandertreffen zu lassen?
Nora und Frank begegnen sich auf der Demenz-Station einer großen Klinik. Sie machen dort dieselbe Arbeit – und doch prallen zwei komplett unterschiedliche Universen aufeinander. Das fand ich spannend. Nora, Anfang 20, steckt mitten in der Ausbildung und genießt ihre Unabhängigkeit. Sie brennt für ihren Beruf, will Menschen helfen, für ihre Patienten da sein, einen Unterschied machen.
Auf der anderen Seite Frank, um die 40, Krankenpfleger. Er ist frustriert, im Job wie im Privatleben. Aufmerksamkeit und Bestätigung holt er sich auf perfide Art – in dem er Menschen an die Schwelle des Todes spritzt, um sie dann zu „retten“. Sie, die alles gibt, um das Leben der Patient:innen zu schützen, trifft also auf denjenigen, der es ihnen nehmen will.
„Strom“ erzählt von der Welt der Pflege, Sie blicken dabei vor allem auf die PflegerInnen. Spielen sich die wahren Dramen gar nicht bei den PatientInnen ab?
Doch auch. Aber die Perspektive der Pfleger:innen wird oft unterschlagen. Auch sie erleben diese Dramen und fühlen mit. Die dauerhafte Konfrontation mit Leid, Tod und Trauer macht etwas mit ihnen. Und leider gibt es aufgrund des Dauerstresses bei der Arbeit wenig Möglichkeiten, diese Erlebnisse psychisch zu verarbeiten. Das ist auch ein strukturelles Problem in den Krankenhäusern: psychosoziale Nachsorge wird kaum angeboten. Hierarchische Strukturen sorgen zudem dafür, dass Kommunikation untereinander schwierig ist. Das führt zu Überforderung,Frust und Abstumpfung. Durchzuspielen, wie die verschiedenen Figuren damit umgehen, fand ich spannend. Im Roman kann man ihnen unglaublich nahekommen. Das schafft echtes Verständnis – und das braucht es: Denn ich bin sehr dafür, dass wir uns besser um alle Menschen in der Pflege kümmern sollten.
Nora erlebt bei ihrer Arbeit im Krankenhaus Fürsorge, Hilfsbereitschaft, aber auch Missstände und menschliche Abgründe. Was hat Sie erzählerisch daran gereizt?
In meiner Ausbildung zum Notfallsanitäter habe ich viele Stunden im Krankenhaus gearbeitet, auch auf der Geriatrie mit Schwerpunkt Demenz – eine eindrückliche Zeit. Schwer berechenbare Patient:innen, die meisten liebenswürdig, einige aggressiv. Ein herausfordernder Bereich, der häufig übersehen wird. Deshalb wollte ich ein Schlaglicht darauf werfen. Auf verschiedenen Ebenen ging es mir auch um die Frage, wann ein Leben lebenswert ist – und ob man sich von außen anmaßen darf, das zu bewerten.
Sie kennen die Arbeit im Krankenhaus sehr gut – wie gehen Sie beim Schreiben mit den eigenen Erfahrungen um? Sie werden ja nicht alles genau so erlebt haben…
Die eigenen Erfahrungen helfen, mich in die Situationen und Menschen hineinfühlen können. Außerdem ist mein Anspruch, ein möglichst realistisches Bild zu zeichnen – das fällt mir leichter,
wenn ich es selbst erlebt habe. Ich finde es toll, die Leser:innen in eine Welt mitnehmen zu können, von der sie in der Regel im Detail nur wenig wissen. Dabei spielt „Strom“ wie schon „Schockraum“ in einem sehr relevanten Bereich, in dem viele berührende, existenzielle Momente entstehen. Es gibt aber natürlich auch Situationen im Roman, die sich in ihrer düsteren Konsequenz und Verdichtung von der Realität entfernen und nur Geschichten sind. Und: So eine Figur wie Frank ist mir im realen Leben Gottseidank nie begegnet.
Als Notfallsanitäter haben Sie sicherlich häufig die Erfahrung gemacht, nicht darüber entscheiden zu können, wie ein Einsatz ausgeht. Beim Schreiben haben Sie alles selbst in der Hand. Ist das Erzählen für Sie ein heilsames Gegengewicht?
Es ist vor allem die Art der Arbeit, die ein Gegengewicht darstellt. Das Schreiben bildet in seiner Zeitlosigkeit und Ruhe den kompletten Gegensatz zu den zeitkritischen Einsätzen im Blaulichtbereich.
Zudem hilft es mir, die intensiven Erlebnisse im Grenzbereich zwischen Leben und Tod zu verarbeiten. Wenn ich diese aufschreibe, verschwinden sie besser aus meinem Kopf. Und gleichzeitig kann ich durch mein Schreiben Einblicke in verschlossene Bereiche geben und damit zur Aufklärung beitragen. Ich will beide Welten nicht mehr missen. Die Kombination der Dinge erfüllt mich sehr.
„Handwerklich gut gemacht und ohne moralischen Zeigefinger, versteht er es, Spannung aufzubauen und mit wenigen Strichen stimmige Psychogramme zu zeichnen. Trotz des harten Stoffes liest sich der Roman mühelos. Immer merkt man, dass hier einer schreibt, der den Betrieb kennt.“
„Wie viel Ringen um das limitierte Maß an Macht im Umgang mit Krankheit und Tod jedoch notwendig ist, für diese intensive Darstellung lohnt es sich allein, Schlegls Roman zu lesen.“
„Sie beschreiben die Menschen auf der Demenzstation mit sehr viel Humor und einer großen Liebenswürdigkeit.“
„Mit wenigen Pinselstrichen so viel auszudrücken, ohne zu psychologisieren, ist eine literarische Qualität. Trotz des harten Stoffes liest sich Schlegls Roman mühelos.“
„Schlegl wirft mit seinem Roman somit ein Schlaglicht auf eine ganze Reihe gesellschaftlich relevanter Themen.“
DATENSCHUTZ & Einwilligung für das Kommentieren auf der Website des Piper Verlags
Die Piper Verlag GmbH, Georgenstraße 4, 80799 München, info@piper.de verarbeitet Ihre personenbezogenen Daten (Name, Email, Kommentar) zum Zwecke des Kommentierens einzelner Bücher oder Blogartikel und zur Marktforschung (Analyse des Inhalts). Rechtsgrundlage hierfür ist Ihre Einwilligung gemäß Art 6I a), 7, EU DSGVO, sowie § 7 II Nr.3, UWG.
Sind Sie noch nicht 16 Jahre alt, muss zwingend eine Einwilligung Ihrer Eltern / Vormund vorliegen. Bitte nehmen Sie in diesem Fall direkt Kontakt zu uns auf. Sie selbst können in diesem Fall keine rechtsgültige Einwilligung abgeben.
Mit der Eingabe Ihrer personenbezogenen Daten bestätigen Sie, dass Sie die Kommentarfunktion auf unserer Seite öffentlich nutzen möchten. Ihre Daten werden in unserem CMS Typo3 gespeichert. Eine sonstige Übermittlung z.B. in andere Länder findet nicht statt.
Sollte das kommentierte Werk nicht mehr lieferbar sein bzw. der Blogartikel gelöscht werden, ist auch Ihr Kommentar nicht mehr öffentlich sichtbar.
Wir behalten uns vor, Kommentare zu prüfen, zu editieren und gegebenenfalls zu löschen.
Ihre Daten werden nur solange gespeichert, wie Sie es wünschen. Sie haben das Recht auf Auskunft, auf Berichtigung, auf Löschung, auf Einschränkung der Verarbeitung, ein Widerspruchsrecht, ein Recht auf Datenübertragbarkeit, sowie ein Recht auf Widerruf Ihrer Einwilligung. Im Falle eines Widerrufs wird Ihr Kommentar von uns umgehend gelöscht. Nehmen Sie in diesen Fällen am besten über E-Mail, info@piper.de, Kontakt zu uns auf. Sie können uns aber auch einen Brief schicken. Sie erhalten nach Eingang umgehend eine Rückmeldung. Ihnen steht, sofern Sie der Meinung sind, dass wir Ihre personenbezogenen Daten nicht ordnungsgemäß verarbeiten ein Beschwerderecht bei einer Aufsichtsbehörde zu. Bei weiteren Fragen wenden Sie sich gerne an unseren Datenschutzbeauftragten, den Sie unter datenschutz@piper.de erreichen.