Suche impotenten Mann fürs Leben — Inhalt
Per Annonce sucht Carmen einen „impotenten Mann fürs Leben“ – und landet damit einen Knüller. Doch keiner der Bewerber, mit denen sie sich trifft, erfüllt ihre Erwartungen. Bis sie David kennenlernt. Und bei ihm wünscht sie sich, dass das mit der Impotenz wie ein Schnupfen wäre, der von allein vergeht. Die zahlreichen Versuche, ihn von seinem Leiden zu heilen, führen zu den komischsten Verwicklungen … – „Drei Wochen Impotenz würden vielen Männern guttun“ (Gaby Hauptmann).
Leseprobe zu „Suche impotenten Mann fürs Leben“
Stumpf klebt sein Blick an ihren Beinen. Es dauert eine Weile, bis Carmen das bemerkt. Zunächst denkt sie, es ist Zufall: Er denkt an irgend etwas und starrt dabei eben ihre Beine an. Dann merkt sie, daß er nicht an irgend etwas, sondern exakt an ihre Beine denkt. Sie sitzt ihm in den U-förmig aufgestellten Bänken des Seminarraumes genau gegenüber. Vorn erläutert der Seminarleiter eine Strategie, wie man zu höheren Verkaufszahlen kommen könnte, und ihr gegenüber sitzt ein Mensch, den dies ganz eindeutig nicht interessiert. Er hat zwar diesen Kurs [...]
Stumpf klebt sein Blick an ihren Beinen. Es dauert eine Weile, bis Carmen das bemerkt. Zunächst denkt sie, es ist Zufall: Er denkt an irgend etwas und starrt dabei eben ihre Beine an. Dann merkt sie, daß er nicht an irgend etwas, sondern exakt an ihre Beine denkt. Sie sitzt ihm in den U-förmig aufgestellten Bänken des Seminarraumes genau gegenüber. Vorn erläutert der Seminarleiter eine Strategie, wie man zu höheren Verkaufszahlen kommen könnte, und ihr gegenüber sitzt ein Mensch, den dies ganz eindeutig nicht interessiert. Er hat zwar diesen Kurs gebucht und bezahlt, bekommt aber offensichtlich nichts davon mit. Carmen Legg beginnt, ihn zu testen. Sie stellt die Beine parallel; neigt sie leicht schräg, reibt dann die Nylons aneinander, so daß es ein leises, erotisches Geräusch gibt. Ihrem Gegenüber schießt die Röte ins Gesicht. Sie verändert die Position, wippt ein bißchen mit ihren hohen Absätzen, streckt die Füße etwas nach vorn, unter dem Tisch hervor, in seine Richtung. Er knetet seine Hände, lockert seinen Krawattenknoten. Blödes Spiel, denkt Carmen, gleich läuft ihm auch noch der Speichel aus den Mundwinkeln. Sie konzentriert sich wieder auf den Seminarleiter. Schließlich kostet die Schulung viel Geld, und wenn der da drüben nichts mitbekommt – bitte! Sie jedenfalls will in ihrem Beruf etwas erreichen.
Leicht angesäuert fährt sie an diesem Abend nach Hause. Sie könnte sich ja geschmeichelt fühlen, daß jemand ihren Beinen so viel Aufmerksamkeit schenkt. Aber im Gegenteil: Es ärgert sie. Wie im Zoo angestarrt zu werden. Von so einem widerwärtig geilen Typen. Carmen knallt Genesis in ihr Autoradio. Und mit der Kassette ändert sich langsam ihre Laune. Eigentlich urkomisch, findet sie, da fährt so ein Mann weiß der Himmel wie viele Kilometer, um an einem Seminar teilzunehmen, und legt dafür auch noch ordentlich Bares auf den Tisch, und wenn er dann wieder nach Hause fährt, hat er nichts außer unausgegorenen Gelüsten im Hirn und fragt sich, auf welchem Seminar er eigentlich war.
Carmen Legg hat es bisher immer genossen, wenn sie gut ankam. Sie ist groß, schlank, hat lange Beine und langes, rötliches Haar – mit ihren 35 Jahren ist sie der Prototyp einer selbstbewußten, selbständigen Frau. Sie fährt einen schnellen BMW mit Lederausstattung und Klimaanlage, hat ihr eigenes, kleines Versicherungsbüro und ihre 100-Quadratmeter-Altbauwohnung mit Parkettboden. Sie fliegt zweimal im Jahr in Urlaub, ist eine gute Sportlerin und läßt nichts anbrennen. Aber solche Typen gehen ihr auf den Geist. In letzter Zeit verstärkt. Manchmal empfindet sie den bewundernden Blick eines Mannes schon als Zumutung. Soll er sie doch in Ruhe lassen mit seinem Jagdinstinkt. Ein guter Jäger findet immer seine Beute, hat ihr kürzlich ein neuer Kunde gesagt, als sie ihn am Telefon fragte, wer sie denn empfohlen habe. Wenn Sie bei mir eine Versicherung abschließen, sind doch wohl eher Sie die Beute, hat sie darauf geantwortet. Das fand der Herr am anderen Ende nun überhaupt nicht witzig.
Carmen ist zu Hause angekommen. Sie muß aussteigen, das Garagentor ist von irgendwelchen freundlichen Nachbarn mal wieder vorzeitig geschlossen worden. Sie ist noch nie für Gemeinschaftsprojekte gewesen und schon gar nicht für eine Gemeinschaftsgarage. Aber in dem kleinen Altstadtviertel geht es eben nicht anders. Ein leichter Herbstregen hat eingesetzt, und Carmen friert in ihrem dünnen Leinenkostüm. Hastig steigt sie wieder ein, fährt in ihre knapp bemessene Parklücke, nimmt Aktenkoffer, Tasche und Mantel und eilt über das Kopfsteinpflaster zu ihrem Haus auf der anderen Straßenseite, das fast nahtlos in die andern Altbauten übergeht. Sie ist froh, endlich im dritten Stockwerk anzukommen. An hohe Absätze haben die Herren Architekten bei der Konstruktion dieser unendlichen Holztreppen nicht gedacht. Carmen kickt die Schuhe weg, wirft Mantel, Aktentasche und Tasche auf den nächsten Sessel und geht zum Anrufbeantworter. Sie schaltet ihn ein und geht zur Küche, einen Raum weiter. Aha, Marlene wollte mir ihr essen gehen. Aber das war schon gestern abend, also passe. Fritzi erzählt wieder eine Liebes- und Leidensgeschichte. Auch abhaken. Fritzi hat immer Liebes- und Leidensgeschichten. Und das, was war das? Sie kehrt vor dem Kühlschrank um, geht zurück, läßt den Apparat zurückspulen. Herr wie war das? Sie drückt nochmals auf Rewind. Wer soll das sein? Herr Schrade? Kenne ich nicht. Was will er?
„Ich möchte Ihnen einen Bekannten vorstellen, Herrn Hermann, der eine große Fabrik besitzt und sich und die Firma besser absichern möchte. Herr Hermann ist aber nur heute in der Gegend. Vielleicht könnten Sie sich ja doch heute mit uns treffen, vielleicht zum Abendessen? Ich würde mich freuen. Bitte rufen Sie uns unter 01712557900 zurück. Es ist Sonntagabend, 18 Uhr. Danke.“
Nachdenklich setzt sich Carmen auf die Lehne des Sessels, auf dem ihre Aktentasche steht. Was soll das – sie kennt weder den einen noch den anderen. Und außerdem ist sie geplättet, müde, sehnt sich nach einem Bad, einem Glas Wein und einem guten Spielfilm als Betthupferl. Ihr steht der Sinn jetzt ganz gewiß nicht nach Herrn Schrade und Herrn Hermann, wer immer das sein mag. Carmen steht wieder auf, geht zur Küche, hört im Hintergrund die anderen Anrufe ab. Mutter bittet um Rückruf, Frau Leisner ist Mutter geworden und möchte das Baby versichern. Schön. Aber dieser Herr Schrade läßt ihr nun doch keine Ruhe. Komisch, daß ihr ein Mann, den sie nicht kennt, ein Geschäft vermitteln will. Mit einem Kunden, den sie auch nicht kennt. Woher hat er überhaupt ihre Privatadresse? Andererseits, die Aussicht auf ein gutes Geschäft lockt sie immer. Und eine Firma, die vielleicht unterversichert ist – das hört sich nicht schlecht an. Carmen greift zum Telefon.
Drei Freizeichen, dann knackt es.
„Schrade.“
„Carmen Legg, guten Abend. Sie baten um einen Rückruf?“
„Da haben Sie Glück, wir wollten eben das Auto verlassen!“
Na und, denkt Carmen, dann wäre es auch egal gewesen. Wichtigtuer!
„Aber es ist nett, daß Sie noch anrufen.“
Schon besser, denkt Carmen.
„Sie sind wohl eben erst nach Hause gekommen?“
Was geht das ihn an?
„Ja, ich war auf einem Seminar.“
„Na gut, dann können Sie Herrn Hermann sicherlich auch gut beraten, ha, ha, ha!“
Ha, ha, ha!
„Sicher kann ich das. Ich finde nur Tag und Zeit etwas ungewöhnlich. Alle erforderlichen Unterlagen habe ich im Büro, es wäre also sinnvoller, er käme morgen früh dort vorbei!“
„Mag sein, aber Herr Hermann fährt morgen früh schon wieder zurück, da wäre es nicht schlecht, er hätte schon ein paar Anregungen von Ihnen im Koffer. Einen kleinen Lageplan oder so. Alles weitere können Sie ja dann ausführlich später besprechen!“
„Nun …wo sind Sie denn jetzt?“
„Noch im Auto, also flexibel. Wir wollten eben in die Bürgerstube gehen, aber vielleicht haben Sie ja einen besseren Vorschlag. Wir holen Sie auch gern ab!“
„Nein, nein. Aber fahren möchte ich eigentlich nicht mehr. Bei mir um die Ecke gibt es das Laguna, ein gutes italienisches Restaurant. Wäre Ihnen das möglich?“
Sie hört kurzes Getuschel, dann kommt das Okay.
„Ist das in der St.-Martin-Straße? Gut, wir sind um 21 Uhr da.“
„Das paßt, ich reserviere einen Tisch auf meinen Namen!“
Kurz nach neun Uhr ist Carmen im Laguna, sitzt an ihrem Tisch, hat den Aktenkoffer mit Unterlagen und Verträgen unauffällig am Tischbein stehen und widerstrebt der Versuchung, sich ein Glas Rotwein zu gönnen. Behalte einen klaren Kopf, sagt sie sich, man weiß nie!
Zwei Männer stehen in der Tür. Carmen ist sofort klar: Das sind sie. Ein bißchen zu sehr auf chic gemacht, ein bißchen zu bunt, und für die ganze Aufmachung ein bißchen zu alt. Gut, aber darauf kommt's ja jetzt nicht an.
Der Kellner bringt die beiden an ihren Tisch.
Die Begrüßung soll galant sein, fällt für Carmens Geschmack aber etwas zopfig aus.
„Sie müssen schon entschuldigen.“ Hans Hermann küßt ihre Hand und lächelt sie dann mit schräg gelegtem Kopf an. „Aber wir sahen keinen anderen Weg. Herr Schrade hat mir so viel von Ihnen erzählt, daß ich dachte, ich müßte Sie einfach kennenlernen.“
„Aber ich kenne Herrn Schrade doch überhaupt nicht.“ Carmen
schaut ihn kurz an. „Oder doch?“
„Nein“, bestätigt er. „Persönlich nicht.“
„So?“ forscht Carmen. „Wie dann?“
„Im Rotary-Club hat Klaus Wiedemann sehr lobend von Ihnen gesprochen. Das sind für Herrn Hermann Referenzen genug.“
„Klaus Wiedemann ist unser Bezirksleiter.“
„Ja, ich weiß. Herr Meinrad war auch sehr angetan!“
„Meinrad? Ein Herr Meinrad hat mich kürzlich einmal angerufen, ich erinnere mich gut. Ist er auch im Rotary-Club?“
„Ja, ja!“
„Er ist Jäger, nicht wahr?“
„Richtig“, lacht Herr Schrade und entblößt eine Reihe zu großer Jacketkronen. „Haben Sie ihn gegen die Kugeln der Waidmannskollegen versichert, oder woher wissen Sie das?“
„Der Schluß lag nah, er drückt sich sehr- sehr tierisch aus.“
„Ah.“ Herr Schrade schaut Carmen leicht irritiert an und winkt dann nach dem Kellner.
„So, was kann ich nun für Sie tun?“ Carmen möchte die Sache schnell hinter sich bringen und wieder nach Hause kommen. Ihr Bett wäre ihr bedeutend lieber als der Champagner, den Herr Schrade jetzt überlaut bestellt.
Marke Neureich, denkt Carmen, streicht ihr langes Haar zurück und will endlich auf das Geschäft zu sprechen kommen.
„Sie haben wunderschönes Haar“, sagt Herr Hermann in vertraulichem Ton und lehnt sich etwas zu Carmen herüber.
Blitzartig ist es Carmen klar. Die Herren suchen nette Gesellschaft, weiter nichts. Weiß der Kuckuck, was Klaus Wiedemann in seinem Rotary-Club so erzählt. Ihr erster Impuls ist aufzustehen und zu gehen. Dann überlegt sie. Wenn Ihr glaubt, euch mit mir einen netten Abend machen zu können, dann drehe ich den Spieß einfach um. Ich werde einen netten Abend erleben. Und Ihr einen teuren!
„Danke“, sagt Carmen und lächelt zurückhaltend, aber verbindlich.
Hans Hermann ist entzückt.
„Können wir jetzt auf Ihre Firma kommen?“
„Aber selbstverständlich. Oder wollen wir vorher noch einen Schluck Champagner auf unser gemeinsames Wohl trinken?“
„Aber gern!“ Carmen hebt das Glas, Hans Hermann blickt ihr beim Anstoßen tief und bedeutungsvoll in die Augen, Herr Schrade lächelt freundlich, hält sich aber etwas zurück.
So läuft der Hase, denkt Carmen. Schrade will mit Hermann Geschäfte machen, und ich bin der Köder. Sie grinst. Ihr habt eben eines noch immer nicht begriffen, ihr Männer – wir Frauen denken mit dem Gehirn und ihr eine Etage tiefer. Na, das wird ein gemütlicher Abend werden. Das Spiel kann beginnen.
Carmen kennt sich selbst kaum noch. Sie zockt mit Blicken und Lächeln, mit erotischen Haarspielereien und neckischen Handbewegungen. Nach und nach zieht sie ihre Unterlagen heraus, erklärt, fragt nach, ganz seriöse Geschäftsfrau. Hans Hermann dauern diese ständigen Unterbrechungen zu lang.
„Gib her das Ding, Mädchen. Das ist gut, brauchst nicht so lang zu erklären, ich bin schließlich nicht beschränkt, das unterschreibe ich gleich!“
„Wir müssen aber trotzdem noch eine Versicherungsanalyse durchführen, damit wir Sie nicht doppelt versichern, Herr Hermann.“
„Ha, ha, zweimal ist besser als einmal, habe ich recht, Erhardt?“ Erhardt Schrade, nach dem Champagner und der dritten Flasche Chardonnay auch nicht mehr ganz Herr seiner Sinne, nickt wissend. „Nicht schlecht, Hans, nicht schlecht!“
Um Mitternacht sind sie die letzten Gäste, um ein Uhr möchte der Wirt sein Lokal endlich schließen. Es kommt noch eine Runde Grappa a Casa, Carmen nippt und betrachtet sich stocknüchtern die Herren an ihrer Seite. Bin ja gespannt, was jetzt kommt!
„Ja, ich hole dann schon mal die Mäntel“, sagt Hans Hermann und steht etwas breitbeinig auf. „Und nicht weglaufen, meine hübsche Gazelle“, flüstert er laut mit einem etwas schiefen Blick zu Carmen.
„Wie sollte ich-ohne Mantel“, erwidert sie.
Hans Hermann lacht laut und schwülstig und geht zur Garderobe.
„Für diesen Dienst denken Sie dann aber auch mal an eine kleine Gegenleistung, nicht wahr?“ Erhardt Schrade erscheint ihr plötzlich seltsam klar.
„Für welchen Dienst?“
„Na, ich meine, durch meine Vermittlung kassieren Sie ja jetzt
ganz gut ab!“
„Heißt das, Sie möchten Provision für die Abschlüsse haben?“
„Geld habe ich selbst genug. Denken Sie mal darüber nach!“
Carmen ruft sich innerlich zur Ruhe, Hans Hermann steht mit
den Mänteln da.
„Darf ich Ihnen hineinhelfen?“ fragt er und streckt ihr den Mantel hin.
„Sehr liebenswürdig, ja! Und, Herr Hermann, vielen Dank für die Einladung, es war ein sehr interessanter Abend!“
„Es wird noch viel interessanter, ha, ha!“
Ja, das glaube ich auch, denkt Carmen, nickt leicht in Erhardt Sehrades Richtung und geht zur Tür.
Hans Hermann hat Mühe, Schritt zu halten.
„Halt, halt, nicht so schnell, wo wollen Sie denn hin?“ Und leiser: „Gehen wir zu dir, oder hole ich uns ein Taxi?“
Carmen dreht sich um und sagt laut, auch für Enzo Caballo, den Wirt, bei dem sie Stammgast ist: „Ich befürchte, Sie haben da was falsch verstanden!“
„Was? Wie? Ich denke – das war doch klar …“
„Ich sehe, Herr Hermann, Sie waren auf der falschen Party. Tut mir leid für Sie. Falls sonst noch etwas unklar sein sollte, können Sie mich gern morgen im Büro anrufen. Zur Geschäftszeit. Besten Dank für den netten Abend und gute Nacht!“
Damit fällt die Tür schwungvoll zu, und sie läuft durch die Nacht nach Hause.
Im Treppenhaus atmet sie auf.
Mein lieber Mann, das war ja doch eine ganz schön heiße Geschichte. Morgen wird er alles stornieren. Dann war's wirklich der perfekte Blödsinn! Vielleicht aber auch nicht. Dann hat sich's tatsächlich gelohnt. Wer weiß?
Oben angekommen dreht sie den Haustürschlüssel herum, geht hinein, kickt die Schuhe weg, wirft die Aktentasche auf den Sessel, rechnet, während sie ins Bad geht, nach, was sie nun verdient hat, falls alles glattgeht, duscht schnell, putzt die Zähne, wirft sich ein flauschiges Nachthemd über und will ins Bett. Dort liegt schon einer.
„Du??“
„Das klingt ja nicht gerade begeistert! Freust du dich denn nicht?“
„Ob ich mich …? Nein, im Moment hat es mir wirklich die Sprache verschlagen. Ich denke, du kommst erst am Mittwoch.“
„Ach so, deshalb bist du so spät. Du denkst, du hast freie Fahrt. Wo warst du überhaupt so lange?“
„Komm, Peter, jetzt fang doch nicht mit so 'ner Tour an!“
Ihr Freund, in der Dunkelheit kaum auszumachen, setzt sich im Bett auf. Er hat nichts an. Klar, wozu auch. Schließlich will er mit ihr schlafen. Und wahrscheinlich ist er auch extra deswegen hergekommen. Aber sie will nicht. In ihr regt sich nicht der kleinste Funke Lust, sondern Ärger darüber, daß er so unangemeldet nackt in ihrem Bett sitzt.
„Hmmm!“ Er stöhnt ärgerlich und läßt sich etwas unter die Bettdecke gleiten.
„Jetzt sei bloß nicht auch noch beleidigt! Du könntest doch zumindest vorher anrufen!“
»Hab ich doch. Dreimal. Aber das Fräulein Legg ist ja nie zu Hause!
„Ach so, ja, ab neun Uhr war ich weg!“
„Ich hab's bemerkt. Und mit wem? Oder ist das auch ein Geheimnis?“
Sie setzt sich zu ihm auf die Bettkante, haucht ihm einen Kuß auf die Stirn. „Hey, grüß dich!“
Dann legt sie sich auf ihre Seite.
„Es ist überhaupt kein Geheimnis, Peter. Ich habe nur keine Lust, jetzt darüber zu reden. Es ist völlig harmlos, irgendwie lustig und doch ärgerlich, und ich erzähle es dir morgen, ich bin nämlich todmüde.“
„So“, er rutscht wieder in Halbstellung, „das kann ich mir lebhaft vorstellen!“
„Weißt du was? Du gehst mir auf den Nerv. Was sollen denn diese blöden Andeutungen?“
„Ich war schließlich zehn Tage fort. Und anstatt dich zu freuen, erzählst du mir, daß du müde bist. Dabei wollte ich dich ausführlich begrüßen!“
„Ja“, sagt sie und schlüpft unter die Bettdecke, »das kann ich mir vorstellen. Laß uns die Begrüßung morgen nachholen. „Früher warst du ganz anders!“
„Ach herrje, jetzt kommt diese Platte!“
Er legt sich beleidigt hin, zieht die Decke bis zur Nasenspitze. Sie betrachtet seinen Wuschelkopf. Na, vielleicht könnte ich ja doch noch Lust kriegen, überlegt sie und lauscht auf irgendwelche inneren Anzeichen.
„Dann kann ich ja auch gehen!“ sagt er.
Keine inneren Anzeichen, nicht eine Spur davon.
„Na, prima“, sagt sie und stützt sich mit den Ellenbogen auf. „Dann tu's aber auch und red nicht nur davon!“
Er bleibt liegen und überlegt. Natürlich hat er keinen Bock, jetzt, mitten in der Nacht, aufzustehen, sich anzuziehen und nach Hause zu fahren.
„Du liebst mich nicht mehr!“ wirft er ihr vor. Den Kleiner-Junge-Ton kennt sie. Sie seufzt.
„Mein Gott, Peter, dramatisier doch nicht immer alles so schrecklich. Ich bin müde, ich hatte einen harten Tag, ich war auf einem Seminar, habe eben noch mit Kunden zusammengesessen, mir reicht es einfach für heute. Ist denn das so schwer zu verstehen? Das hat nichts mit anderen Männern zu tun!“ Und im Nachsatz, etwas leiser, während sie sich ins Bett zurückgleiten läßt: „Und von mir aus kannst du auch bleiben!“
„Weshalb möchtest du nicht mit mir schlafen, Carmen? Hab ich etwas falsch gemacht? Etwas Falsches gesagt?“
„Wenn du so weitermachst, treibst du mich aus dem Bett!“
Das ist ja nicht auszuhalten, denkt sie und dreht sich auf die Seite. „Im Bad brennt noch Licht“, Peter hat die Decke wieder zurückgeschlagen. Sie sieht seinen Penis prall aufgerichtet in der Dunkelheit.
„Dann mach' s aus!“ murmelt sie.
Sie spürt, wie er nach ihrer Hand greift und sie zu seinem Glied führt.
Ach, jetzt versucht er, die letzten Register zu ziehen. Er meint wohl, die Berührung mit seinem Penis sei das Zaubermittel, das mich sofort lichterloh brennen läßt. Eigentlich eine Frechheit! Mit einem Ruck zieht sie die Hand weg.
„Wieso kannst du nicht akzeptieren, daß ich nicht will?“
„Weil ich's einfach nicht glaube! Ich hatte noch nie eine Frau, die einfach nicht wollte! Und du warst früher auch nicht so!“
„Meinst du, das müßte jetzt in eine Grundsatzdiskussion ausarten, nachts um eins?“
„Ich bin noch munter!“
„Wie schön für dich!“
Wütend dreht sie ihm den Rücken zu.
„Morgen gebe ich eine Anzeige auf und suche mir einen impotenten Mann!“
„Das würde dir ähnlich sehen!“
„Wir können ja Freunde bleiben.“
Er trägt einen kurzen Bürstenschnitt und schaut sie schräg an. „Sie meinen das ernst, was Sie da aufgeben?“
„Natürlich! Glauben Sie, ich würde die Anzeige sonst bezahlen?“
„Das finde ich gut!“
Grinsend nimmt der junge, athletische Typ die Anzeige vom Tisch und trägt sie zu einem Stapel. Dann kommt er zurück und druckt die Rechnung aus. Carmen mustert ihn mit gespitzten Lippen: „Das heißt, wenn ich Sie sehe – ich könnte es mir vielleicht noch anders überlegen …“
Er, vielleicht 25 Jahre alt, kommt näher, grinst sie frech an, so daß seine weißen Zähne aus dem braungebrannten Gesicht blitzen, und flüstert halblaut: „Bleiben Sie dabei. Das ist schon gut so. Ich bin schwul.“
Carmen lacht, bezahlt und hat noch ein Lächeln auf den Lippen, als sie den Zeitungsverlag durch die Drehtür verläßt.
Es ist nicht zu glauben, sagt sie sich. Es ist alles verdreht. Ich suche einen impotenten Mann, Peter will es am Tag viermal, der da ist schwul und jede dritte Ehe geht schief.
Ein Endvierziger, der ihr entgegenkommt, fängt ihren strahlenden Blick auf und gibt ihn zurück. Carmen legt noch eine Dosis zu. Kaum an ihr vorbei, kehrt er um und kommt ihr nach.
„Entschuldigen Sie, aber dürfte ich Sie vielleicht zu einer Tasse Kaffee einladen? Ich – es ist vielleicht ungewöhnlich, aber irgendwie habe ich das Gefühl, mit Ihnen reden zu müssen.“
„Sind Sie impotent?“
„Ich? Impotent? Nein! Wieso denn?“
„Dann geht's leider nicht. Tut mir leid.“
Sie winkt ihm fröhlich zu, er bleibt völlig verdutzt stehen. So frei hat sich Carmen selten gefühlt. Ihr ist nach Kaviar und Champagner, heute abend, ganz gemütlich auf dem Sofa, genau so, wie es ihr paßt, in alten Leggings, mit einer Gurkenmaske auf dem Gesicht und einem rührseligen Spielfilm. Ach, kann das Leben schön sein.
Der Anruf und die Zeitung am nächsten Morgen kommen gleichzeitig. Sie sitzt bereits in ihrem kleinen Büro, hat einen Guten-Morgen- Kaffee aufgestellt und sich einige Kundenkarten herausgesucht, die sie bearbeiten will. Manches ließe sich sicherlich aufstocken. Aber kaum bringt ihre Mitarbeiterin die Zeitung, legt sie alles beiseite und schlägt sie mit einigem Herzklopfen auf. Da steht es. Oben. Mittig, fett umrandet, unübersehbar:
Wanted: Klarer Männerkopf
Attraktive, erfolgreiche 35erin
sucht Mann für schöne Stunden,
Unternehmungen, Kameradschaft.
Bedingung: Intelligenz und Impotenz.
Bildzuschrift: RZ 3417
Sie läßt das Telefon länger klingeln als gewöhnlich. Die Anzeige zieht sie in ihren Bann. Unglaublich, das stammt von ihr. Was will sie eigentlich mit einem impotenten Mann? Klar, sie bleibt dabei. Ab morgen wird sich alles ändern, ihr Leben wird einen völlig neuen Dreh bekommen. Sie wird endlich einen Mann haben, der nicht seinen Penis, sondern sie anbetet, mit dem sie feiern, leben und reden kann, ohne ständig von einem erigierten Glied bedrängt zu werden. Und wenn sie so eines mal will, bitte, in der Stadt laufen ja genug frei herum. Sie atmet tief ein und aus, dann nimmt sie den Hörer ab.
„Ja bitte, Versicherungsbüro Legg.“
„Anwaltskanzlei Lessing, guten Tag.“
„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“
„Wir vertreten Herrn Hermann.“
„Ach, wie nett! Was heißt das?“
„Wir nehmen die Interessen von Herrn Hermann wahr!“
„Diese Interessen kenne ich bereits …“
„Ach ja? Es geht um den gestern mit Ihnen abgeschlossenen Vertrag.“
Hab ich's mir doch gedacht, denkt Carmen. Jetzt wird storniert. „Und was kann ich da für Sie tun?“
„Herr Hermann hat einige Verträge mit Ihnen abgeschlossen, die in bezug auf die bereits bestehenden Verträge nochmals überprüft werden müssen.“
Nett umschrieben, denkt Carmen bissig und fragt: „Wie darf ich das verstehen?“
„So, daß der Vorgang nun von uns in Zusammenarbeit mit der Firmenleitung überprüft wird.“
„Das ist Ihr gutes Recht!“
„Davon gehen wir aus.“
Arroganter Schnösel, ärgert sich Carmen, fügt aber freundlich hinzu: „Sie haben vierzehn Tage Zeit, sich alles genau zu überlegen. Danach können Sie nicht mehr zurücktreten.“
„Wir können aber präventiv stornieren, wenn wir merken, daß uns diese Zeit nicht reicht.“
„Einfacher wäre es, vorher noch mal miteinander zu reden. Vielleicht kann ich Ihnen ja bei Ihrer Arbeit helfen.“
„Das Problem ist, daß Herr Hermann öfter mal Dinge abschließt, die sich nachher als unnötig herausstellen. Seine Brüder und Geschäftsteilhaber haben damit so ihre Schwierigkeiten.“
Carmen muß sich ein Lachen verbeißen.
„Ja“, sagt sie, „das kann ich mir lebhaft vorstellen. Aber vielleicht waren diese Abschlüsse ja sinnvoller, als alle vermuten.“
„Das hoffen wir sehr.“
„Ich möchte mein Angebot zur Zusammenarbeit nochmals wiederholen.“
„Ich danke für Ihren Vorschlag und komme möglicherweise darauf zurück. Auf Wiederhören!“
Bevor Carmen den Gruß erwidern kann, ist drüben schon aufgelegt. Na, ganz so schlimm, wie sie anfänglich befürchtet hat, scheint's nicht zu werden. Noch stehen die Chancen 50:50.
Carmen holt sich ihre Tasse Kaffee und liest nochmals ihre Anzeige durch. Ob sich da überhaupt jemand meldet? Ob ein impotenter Mann es fertigbringt, vor einer fremden Frau dazu zu stehen?
Sie rührt sich vier Würfelzucker in den Kaffee, da klingelt das Telefon.
„Ich nehm's schon“, ruft sie ihrer Mitarbeiterin zu, die eben die Post durchgeht.
„Versicherungsbüro Legg, guten Tag.“
„Ich gratuliere dir zu deiner fabelhaften Anzeige. Damit sehe ich unsere Beziehung definitiv als beendet an.“
„Das brauchst du nicht, Peter, ich habe dir doch schon gesagt, wir können Freunde bleiben.“
„Freunde – so ein Blödsinn! Du suchst einen anderen Mann, also ist es zwischen uns beiden aus. So verstehe ich das.“
„Ich suche einen – ach, lassen wir das. Im Büro mag ich sowieso nicht über so etwas reden, das weißt du doch. Nimm's einfach, wie es ist, wir beide können Freunde bleiben, wenn auch auf einer etwas anderen Ebene.“
„Freundschaft ohne Sex funktioniert nicht!“
„Dann bist du armseliger, als ich dachte.“
„Danke, das war ja nun wohl das Wort zum Sonntag!“
„Nein, zum Dienstag, und wenn du mit mir noch mal reden willst, bitte, wir können uns heute abend beim Italiener treffen.“
„Nein, danke, Carmen, ich glaube, das halten meine Nerven nicht
aus. Ich gehe lieber boxen.“
„Das kannst du doch überhaupt nicht.“
„Heute abend kann ich es, darauf kannst du dich verlassen!“
„Na schön, Peter, wenn du meinst…“ Sie nimmt einen Schluck aus der Tasse, verbrennt sich dabei die Lippen: „Autsch, ist das heiß!“
„Sehr konzentriert scheinst du ja nicht zu sein!“
„Peter, es tut mir leid, ich muß arbeiten. Wir können uns gern heute abend sehen, oder sonstwann, aber jetzt habe ich keine Zeit. Ich wünsche dir einen schönen Tag, ciao!“
„Halt, halt- oder, na ja, dann eben tschüs!“
Carmen legt den Hörer auf die Gabel, schaut auf und trifft den Blick ihrer Mitarbeiterin Britta Berger, die sie beobachtet hat.
„Ärger?“ fragt sie.
„Nicht mehr als sonst auch.“
„Eigentlich dachte ich immer, eine Frau wie Sie kennt so etwas nicht!“
„Wieso denn nicht?“ Erstaunt blickt Carmen auf. „Ich glaube, Sie täuschen sich gewaltig. Ich bin eine Frau wie jede andere und habe deshalb auch Ärger wie jede andere!“
Sie schlägt die Zeitung zu und macht sich endlich an die Arbeit.
Die erste Sendung des Zeitungsverlages liegt drei Tage später im Briefkasten. DIN-A 5, billiges Braunpapier, harmlos versteckt zwischen zwei Rechnungen, einem Möbelprospekt und dem Werbebrief eines Vermögensberaters. Carmen tastet den Umschlag vorsichtig ab. Wie viele Briefe mögen wohl drin sein? Zwei, drei? Sie klemmt sich alles unter den Arm, nimmt die Aktentasche und läuft die Holztreppe hinauf.
„Mein Gott, Fräulein Legg, so sportlich heute?“
Die 80jährige Dame aus dem ersten Stock kommt ihr mühsam am Stock gehend entgegen.
„Nein, Frau Gohdes, aber ich hab's so eilig, und außerdem habe ich heute flache Treter an, da geht's schon.“ Zwei Stufen oberhalb bleibt sie stehen. „Kann ich Ihnen helfen, Frau Gohdes?“
„Nein, sehr liebenswürdig, ich bin ja schon fast unten.“
„Ja, aber ich meine, wenn Sie eine Besorgung oder so etwas haben, ich bringe Ihnen die Sachen gern mit, ich muß sowieso einkaufen!“ Die alte Dame dreht sich zu ihr um, und mit einem betretenen Gefühl sieht Carmen, daß sie feuchte Augen hat.
„Das ist sehr nett von Ihnen, darüber wäre ich wirklich froh.“
„Ja?“ Carmen geht die zwei Stufen wieder hinunter. „Jetzt ist es aber schon zu spät, die Läden sind zu. Kann ich Ihnen morgen etwas besorgen?“
„Wenn ich Ihnen einen kleinen Zettel schreiben dürfte – und wenn es wirklich keine Mühe macht?“
„Nein, gewiß nicht, das tu ich doch gern. Ich hole den Zettel dann morgen früh bei Ihnen ab. Ist Ihnen halb neun zu früh?“
„Ach, nein, wissen sie, in meinem Alter braucht man nicht mehr so viel Schlaf. Der kommt dann schon von ganz alleine.“
„Aber da haben Sie doch noch Zeit!“
Carmen schaut in das Gesicht vor ihr und überlegt, was diese Frau wohl schon alles erlebt hat. Die Gesichtszüge verraten frühere Schönheit, doch die Haut ist jetzt faltig, die hellen Augen haben einen leichten Schleier. Wie mag sie früher ausgesehen haben? Und warum nennen sie alle im Haus Fräulein? Mit ihren 80 Jahren? Hat sie keinen Mann, war nie verheiratet? Oder wollte sie ganz einfach keinen Mann? Ging es dieser alten Dame damals so wie ihr heute?
„Ja, dann“, sagt Elvira Gohdes und wendet sich wieder zum Gehen.
„Nein, warten Sie, Frau Gohdes, wollen wir denn nicht einmal ein Gläschen Wein miteinander trinken? Ich würde mich sehr gern mit Ihnen unterhalten.“
„Ach, Kindchen, was wollen Sie schon mit einer so alten Frau wie mir?“
„Reden, hören, wie es früher war, wie die Menschen so gelebt haben, was sie dachten, fühlten.“
„Ach so? Das freut mich. Wenn Sie wollen, kommen Sie doch gleich nachher. Ich wollte nur kurz zum Briefkasten.“
„Aber das kann ich doch für Sie tun …“
„Ne, Kindchen, lassen Sie mal, ein bißchen Bewegung brauchen meine alten Knochen schon auch.“
„Also abgemacht, in einer halben Stunde!“
Ja, gern!«
Seltsam beschwingt läuft Carmen die Treppe hinauf. Oben fällt ihr der Umschlag wieder ein. So ein Blödsinn, sich für heute abend zu verabreden. Was ist ihr nur in den Sinn gekommen? Sie hatte doch bei Spaghetti, einem Glas Rotwein und in aller Gemütsruhe diese Briefe lesen wollen. Sie schließt auf. Carmen zieht die Schuhe aus, legt den Packen unter dem Arm auf den Tisch, den Aktenkoffer auf den Sessel, geht ins Schlafzimmer, um Bluse und Hose gegen Leggins, dicke Socken und einen schönen weiten Wollpullover zu tauschen. So, jetzt ist der Abend eingeläutet. Und jetzt? Die Briefe gleich lesen oder als Schmankerl fürs Zubettgehen aufbewahren?
Als Kind schon hat sie die größten Weihnachtsgeschenke zum Schluß ausgepackt, und ihren ersten Liebesbrief trug sie drei Tage lang unter ihrem Pullover mit sich herum, bevor sie ihn endlich las. Schaffe ich es noch, die Neugierde auszuhalten? Noch ein bißchen? Sie ist darin Perfektionistin. Sie geht langsam auf den Tisch zu. Zumindest den braunen Umschlag kann sie mal aufreißen. Dann weiß sie, wie viele Briefe es sind. Sie fährt mit dem Zeigefinger unter den Klebeverschluß und öffnet ihn mit einem Ruck. Zwei längliche Briefe und ein Brief in einem kleinen, fast quadratischen Format fallen ihr entgegen. Sie setzt sich auf die Lehne des Sessels und studiert die Handschriften. Der Absender des einen länglichen Briefes scheint sehr stilbewußt zu sein. Oder er setzt sich gern in Szene. Die Anschrift ist schwungvoll mit schwarzer Tinte geschrieben, mit großen, ausschweifenden Buchstaben. Die beiden Fs von Chiffre reichen weit hinunter und enden in einer schwungvollen Schleife. Jedenfalls kein gewöhnlicher Mensch, befindet Carmen und legt den Brief weg. Der zweite längliche Brief wurde mit Maschine adressiert. Wie einfallslos. Carmen greift zum dritten. Kleine Druckbuchstaben, mit Kuli geschrieben. Gut, das sagt nicht viel aus. Mal sehen, der Name. Sie dreht den Brief um. Heinz-Peter Schulze. Also, der Name gefällt ihr nicht. Auf dem maschinell geschriebenen Brief stehen nur die Initialen D. S., damit fängt sie nicht viel an, und der dritte verschweigt seinen Namen.
Du mein Schreck, sie schaut auf die Uhr. Frau Gohdes wird schon warten. Sie schnappt sich eine Flasche Rotwein, greift zu einer Schachtel mit Keksen, Chips wird die alte Dame nicht mögen, nimmt den Schlüssel und saust hinunter. Elvira Gohdes steht in kunstvoller Schrift auf dem Messingschild unter dem Klingelknopf. Ganz anders als bei ihr oben mit dem selbstgeschriebenen Provisorium, das am Tag des Einzuges schnell angebracht wurde und wohl auch die nächsten Jahre noch unverändert hängen wird. Carmen drückt auf den Knopf. Und auch die Klingeln klingen unterschiedlich. Die hier läutet zart, in Glockentönen, Dreiklang. Bei ihr oben schrillt es einfach laut und erbarmungslos. Frau Gohdes macht auf. Sie strahlt, und ihr Gesicht legt sich in tausend Falten.
„Sie ahnen nicht, wie es mich freut, daß Sie mich besuchen. Ich bekomme ja so selten Besuch. Manchmal denke ich mir, ich bin schon lebendig begraben.“ Sie stutzt. „Aber was sage ich da. Bitte kommen Sie doch herein. Sie müssen ja denken …“
Carmen folgt ihr in die Wohnung. Sie hat den gleichen Zuschnitt wie ihre, aber sie wirkt völlig anders, wie aus einer anderen Zeit. Dunkle, schwere Eichenmöbel, echte abgetretene Läufer auf den langen Gängen, klobige Samtsessel, dicke Samtvorhänge. Überall liegen weiße Spitzendecken, in einer Vitrine stehen sorgfältig aufgereiht geschliffene Kristallgläser. Und an der Decke hängt ein alter, kunstvoll gearbeiteter Lüster.
„Bitte nehmen Sie doch Platz.“ Frau Gohdes deutet auf einen der schweren Sessel.
„Ja, danke.“ Carmen fühlt sich auf einmal befangen. Was soll sie überhaupt reden mit der Dame? Sie kann sie doch nicht einfach fragen, wie sie es früher mit den Männern gehalten hat?
Auf dem Weg zu ihrem Sessel sieht sie an einer Wand silbergerahmte Schwarz-Weiß-Fotos hängen.
„Darf ich?“ Sie geht darauf zu. Frau Gohdes kommt nach, seufzt. „Ja, das sind die Erinnerungen. In meinem Alter lebt man nur noch in der Erinnerung. Aber das kann ein junger Mensch nicht verstehen.“
„Meine Mutter sagt das auch immer, und sie ist erst Mitte Sechzig.“
„So jung? Ach ja, mit Mitte Sechzig bin ich überhaupt erst aus Afrika zurückgekehrt.“
„Sie waren in Afrika?“ Carmen ist verblüfft. „Was haben Sie denn
dort gemacht?“
Die alte Dame lacht auf. Ein kurzes, echtes, fröhliches Lachen. „Ich habe mein halbes Leben in Afrika verbracht!“
„Ehrlich“, staunt Carmen. „Als Missionarin? Oder wie?“
„Ja“, lacht Elvira Gohdes, „vielleicht auch ein bißchen als Missionarin, aber weniger für die katholische Kirche. Viel eher vielleicht für das Gebot der Nächstenliebe, das ja in jeder Religion existiert.“
„Das haut mich wirklich um“, sagt Carmen und schaut sich die Fotos genauer an. „Waren das Ihre Eltern?“
„Ja“, und sie zeigt mit ihrem Zeigefinger auf einen kleinen, weißen Fleck: „Und das bin ich. Im gestärkten weißen Kleidchen, damals vielleicht zweijährig. Und das hier sind meine Brüder, meine Schwester, das ist meine Tante. Sind alle tot. Natürlich.“
„Und das?“ Carmen zeigt auf das verblichene Bild eines großen, farmähnlichen Gebäudes.
„Das ist mein Elternhaus. Meine Großeltern haben es 1887 in Deutsch-Südwestafrika gebaut, meine Mutter hat dort einen Deutschen geheiratet, und ich wurde in diesem Haus geboren. Sie wissen ja sicherlich, daß Deutschland das Land 1884 als Kolonie erworben h atte. Ja, und meine Großeltern waren unter den ersten Siedlern. Kolonialherren nannte man das damals. Ein schreckliches Wort. Aber sicherlich war es ein Unrecht, Menschen und Land einfach so zu kaufen. Ich habe später versucht, es mit meinem Beruf wieder ein bißchen gutzumachen.“
„Was sind Sie denn von Beruf?“
„Ärztin. Ich habe mich in Deutschland ausbilden lassen, was damals für eine Frau sehr ungewöhnlich und hart war.“
„Das ist ja hochinteressant.“
Carmen schaut die harmlose alte Frau vom ersten Stockwerk an. Da kann man mal sehen, was sich hinter so einer durchschnittlichen Menschenfassade alles verbirgt.
„Ich habe uns Wein mitgebracht, haben Sie Lust auf ein Schlückchen?“
„Da freue ich mich sehr. Aber ich habe auch eine Flasche hier. Ich hätte Ihnen gern selbst etwas angeboten.“
„Das können wir ja das nächste Mal machen“, lacht Carmen und will sich eben von den Bildern abwenden, als ihr ein Foto auffällt. Klein, gelblich, hinter verdorrten Rosen versteckt.
Ein Mann, kaum auszumachen, steht neben einem Flugzeug, einer offenen Propellermaschine.
„War das ein Freund der Familie?“
„Es war ein sehr guter Freund – ein wunderbarer Mensch!“
„Oh, und was ist passiert?“
„Hannes kam bei einem Flugzeugabsturz ums Leben, nicht lange, nachdem dieses Bild aufgenommen wurde. Mit dieser Maschine. Es war seine eigene.“
„Das tut mir leid.“ Carmen schaut sich das Foto genauer an. Das Gesicht ist schlecht zu erkennen. Jung, wahrscheinlich verwegen, mit einer Fliegermütze und einem weißen Schal.
„Aber das ist doch schon sehr lange her. Haben Sie denn nie geheiratet?“
„Ich wollte heiraten. Aber das Schicksal hat mir einen anderen Weg gezeigt. Es sollte nicht sein.“
„Hmm. Aber all die Jahre? Sie haben doch sicherlich außergewöhnliche Männer kennengelernt?“
Elvira geht zu einer Schublade, holt einen silbernen Korkenzieher und nimmt zwei langstielige Gläser aus der Vitrine.
„Ach, wissen Sie, Männer waren für mich nie ein Thema. Für mich waren Menschen interessant. Egal ob Männlein oder Weiblein, Junge und Mädchen. Und Tiere. Ich habe auch Tiere operiert, junge Kühe auf die Welt gebracht, wenn sie eine Steißlage hatten. Ich habe überhaupt alles gemacht, was mit der Aussicht auf eine bessere Welt zu tun hatte.“
„Dafür bewundere ich Sie sehr. Ich tue eigentlich nur das, was mir guttut.“
„Ja, Sie sind ja auch noch jung!“
„Ich bin 35. Ich nehme an, mit 35 hatten Sie schon ständig eine Menge kranker Menschen um sich herum und eine Riesenverantwortung.“
„Heute sind die Menschen eben anders.“
Elvira schenkt ein, die beiden Frauen schauen sich an und prosten sich zu.
„Sie haben ein sehr interessantes Leben, Frau Gohdes.“
„Ich hatte ein sehr interessantes Leben, liebe Carmen, ich darf Sie doch Carmen nennen? Sie dürfen ruhig Elvira zu mir sagen, das macht alles leichter.“
„Ja, sehr gern! Zu komisch, jetzt lebe ich schon seit fünf Jahren in diesem Haus, und zum ersten Mal reden wir wirklich miteinander. Ist das nicht schrecklich?“
„Das ist die Zeit, Kindchen!“
„Wissen Sie, die Zeit ist wirklich seltsam. Also, daß eine Frau nach ihrer großen Liebe keinen Mann mehr anschaut, ich glaube, das gibt es heute nicht mehr.“
„Nun, ganz so war es ja auch nicht. Völlig abstinent bin ich nicht geblieben – und übrigens, Sie haben doch auch keinen Mann, oder?“
Carmen nimmt einen Schluck, kostet. „Hmm, der ist gar nicht schlecht. Schmeckt er Ihnen auch? Ich habe ihn zum Probieren aus der Vinothek um die Ecke mitgenommen. Soll ich Ihnen davon auch welchen besorgen? Ja?“
Elvira nimmt einen großen Schluck und läßt ihn langsam durch die Kehle rinnen.
„Mir ist er ein bißchen zu herb. Jetzt, so, angenehm, aber ich nehme doch lieber etwas Lieblicheres.“
„Kein Problem. Wir können ja mal eine Weinprobe veranstalten. Nein, Sie haben recht, Elvira, ich bin nicht verheiratet, aber das heißt nicht, daß ich keinen Mann habe.“
„Ja, ja, ich weiß schon“, sie lächelt verschmitzt, „der große, schlanke Mann, der oft spätabends kommt und morgens wieder geht. …“
„Ach, das kriegen Sie mit?“
„Ja, nun, ich sagte ja schon, in meinem Alter ist der Schlaf nicht mehr so wichtig … werden Sie heiraten?“
„Ja …“ Carmen überlegt. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das nun sagen soll – also, wir haben uns getrennt.“
„So? Das ist aber schade.“ Sie zögert und schaut Carmen aus ihren leicht trüben Augen fragend an. „Oder nicht?“
„Nein, eigentlich muß ich Ihnen ehrlich sagen, in letzter Zeit gehen mir Männer fürchterlich auf den Nerv. Am besten ist es wirklich, man hat keinen!“
„Ach so, ich habe mir das nie überlegt. Ich habe Johannes relativ spät kennengelernt. In Südwest war das nicht so einfach, ich war schon Ende Zwanzig. Johannes war ganz einfach der Mann, den ich wollte, und nachher kam keiner mehr, der für eine Heirat in Frage gekommen wäre.“
„Heißt das …“, Carmen überlegt sich, ob man mit einer Dame von 80 Jahren überhaupt so sprechen kann, „Sie haben nie mit einem Mann geschlafen?“
Elvira lacht herzhaft: „Natürlich glaubt ihr, früher seien wir total bigott und hinter dem Mond gewesen. Aber das denkt schließlich jede Generation von der vorhergehenden!“ Sie schüttelt den Kopf: „Der einzige Grund, weshalb man sich zurückgehalten hat, war doch, weil es keine Pille gab. Was glauben Sie, was damals alles angestellt wurde, nur um kein Kind zu bekommen. Natürlich haben wir miteinander geschlafen. Aber was machen Sie nun? Bleiben Sie alleine, suchen Sie sich einen neuen Freund?“
„Haben Sie eine Tageszeitung da, Elvira?“
„Ja, natürlich. Warum?“
„Darf ich sie mal holen?“
„Sie liegt in der Küche auf der Anrichte, dort der Raum.“
„Danke, ich weiß, wo die Küche ist, ich bin gleich zurück.“
Mit der Zeitung kommt Carmen zurück, schlägt sie auf und hält Elvira die Anzeige unter die Nase.
„Da, hier sehen Sie, wie mein nächster Mann aussehen soll!“
„Tut mir leid, ich sehe überhaupt nichts. In der Küche, neben der Zeitung, liegt auch meine Lesebrille – wenn Sie die noch …?“
„Aber klar!“ Carmen springt auf, läuft raus, fühlt sich fast wie ein junges Mädchen, das der Mutter einen Streich beichtet.
Elvira Gohdes setzt die Brille auf und liest die Anzeige aufmerksam. Sie läßt sich Zeit. Carmen sitzt ihr gespannt gegenüber und nippt an ihrem Glas.
„Das haben Sie geschrieben?“
„Ja! Wie finden Sie es?“
„Ungeheuerlich!“
Carmen stutzt.
„Ungeheuerlich schlimm?“
„Ungeheuerlich gut. Phantastisch. Auf so etwas wäre ich ja nie gekommen!“ Sie lacht aus vollem Halse.
Carmen lacht mit. Erst leise, dann lachen beide laut.
„Oh, mein Gott, ist die Welt verrückt. Haben Sie Antwort bekommen?“
„Ja, schon, aber noch nicht gelesen!“
„Nicht? Nun, weshalb denn nicht?“
„Ich bin noch nicht dazu gekommen – ich habe die Briefe erst aus dem Kasten gezogen, als ich Sie im Treppenhaus traf.“
„Und da haben Sie es geschafft, zu mir zu kommen und die Briefe liegenzulasssen?“
„Hab ich. Sie waren mir einfach wichtiger!“
„Das ist schön, aber meinen Sie nicht, es wäre Zeit, sie zu öffnen?“
„Sie meinen …?“
„Wenn es Sie nicht geniert …“
„Mich? Iwo, weshalb denn. Eine prima Idee, ich bin gleich zurück!“
„Und ich richte uns solange ein paar Schnitten.“
Elvira studiert die Handschriften und kommt zu dem gleichen Schluß wie Carmen. Zunächst einmal sollte der maschinell adressierte Brief geöffnet werden.
Vor Carmen liegt ein silberner Brieföffner, und sie schmunzelt über Elviras dezenten Stil. Das Herrenhaus steckt ihr also doch in den Knochen.
Sie öffnet den Umschlag und zieht einen mit Maschine geschriebenen Brief heraus.
„Also, man schreibt doch keinen persönlichen Brief mit der Schreibmaschine“, entrüstet sich Elvira. „Liegt ein Bild dabei?“
Carmen faßt mit den Fingern nochmals in den Umschlag. Tatsächlich. Ein Herr, schätzungsweise 50 Jahre alt, kniet mit seinem Boxerhund im Gras vor einem Einfamilienhaus.
„Hm, die haben irgendwie Ähnlichkeit, die beiden“, sagt Elvira nüchtern, und Carmen prustet vor Lachen.
„Das halte ich nicht aus. Klar, man sagt ja, Hunde und Herrchen werden sich im Laufe der Jahre immer ähnlicher, genauso wie Ehepaare! Darauf müssen wir anstoßen.“
Sie trinken, Elvira schenkt nach, reicht ihr den mit vier Broten belegten Teller und fragt: „Was steht denn drin?“
Carmen beißt in eines der beiden Schinkenbrote, nimmt nochmals einen Schluck, greift nach der bereitgelegten Serviette aus gestärktem, weißen Leinen, natürlich, und beginnt zu lesen
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