Sunbringer (Godkiller-Trilogie 2) Sunbringer (Godkiller-Trilogie 2) - eBook-Ausgabe
Roman
— Über 59 Millionen Aufrufe bei TikTok! Endlich auf Deutsch!„In meinen Augen definitiv ein starker zweiter Band einer Trilogie, der meine Vorfreude auf das Finale nur noch mehr anstachelt!“ - letterheart_buecherblog
Sunbringer (Godkiller-Trilogie 2) — Inhalt
Band 2 der epischen High-Fantasy-Trilogie
Ein Krieg, der das Land zerreißt, und drei Freunde, die sich gegeneinander wenden müssen.
Nach König Arrens Verrat ruft Elogast voller Wut zur Rebellion auf und entfesselt einen Krieg. Zu Skedis Entsetzen ist Inara fest entschlossen zu kämpfen. Je mehr er versucht, sie abzuhalten, desto schwächer wird das Band zwischen ihnen. Und nicht nur das – Skedi entdeckt, dass er nicht der einzige Gott ist, mit dem Inara eine Bindung eingehen kann. Währenddessen hat Kyssen keine andere Wahl, als sich gegen ihre Freunde zu richten: Sie muss den König um jeden Preis retten …
#1 Sunday-Times-Bestseller und TikTok-Sensation
Zu Band 1:
„Düster, gewaltig und unglaublich fesselnd.“ – The Fantasy Hive
„Kaners Debüt hat alles, was Fantasy Fans sich wünschen und noch mehr: Es ist voll von Blutbädern, Dämonen und Magie, während zeitgenössische Werte und Inklusion zelebriert werden.“ – Financial Times
“Ein wundervolles, gewaltiges und explodierendes Debüt, welches im Kern eine klassische Quest mit einem ungleichen Trio trägt.“ – Daily Mail
Band 1: Godkiller
Band 2: Sunbringer
Leseprobe zu „Sunbringer (Godkiller-Trilogie 2)“
KAPITEL 1
Arren
Arrens Herz kreischte.
Er taumelte vom Kamin zurück. Die Göttin in seiner Brust heulte: Hseth! Hseth! Hseth!
„Hör auf!“, schrie Arren. Er kämpfte mit dem Knäuel aus Zweigen, Moos und Flammen, das den Spalt in seinen Rippen ausfüllte. Das Feuer leckte an den Seiten seiner Finger und verbrannte sie.
Hestra, die Göttin der Feuerstellen, die dort lebte, wo einst sein Herz geschlagen hatte, verhielt sich normalerweise ruhig. Jetzt aber schrie sie den Namen einer anderen Gottheit heraus: Hseth. Die große talicianische Gottheit des Feuers.
„Bitte“, [...]
KAPITEL 1
Arren
Arrens Herz kreischte.
Er taumelte vom Kamin zurück. Die Göttin in seiner Brust heulte: Hseth! Hseth! Hseth!
„Hör auf!“, schrie Arren. Er kämpfte mit dem Knäuel aus Zweigen, Moos und Flammen, das den Spalt in seinen Rippen ausfüllte. Das Feuer leckte an den Seiten seiner Finger und verbrannte sie.
Hestra, die Göttin der Feuerstellen, die dort lebte, wo einst sein Herz geschlagen hatte, verhielt sich normalerweise ruhig. Jetzt aber schrie sie den Namen einer anderen Gottheit heraus: Hseth. Die große talicianische Gottheit des Feuers.
„Bitte“, flehte Arren. „Hör auf!“
Sie hörte nicht auf. Stattdessen wütete sie schlimmer. Funken tanzten über seinen Bauch und landeten auf dem Boden. Dort sprossen Fusseln, Stroh, Kiefernwurzeln und winzige Knochenstücke hervor, beleuchtet von den Flammen in dem Kamin, vor dem er gekniet hatte. Sie kroch aus seiner Brust.
Was war da geschehen? Sie hatten auf die glorreiche Rückkehr Hseths gewartet, um Arren mit der Macht der mächtigsten Feuergottheit zu erfüllen, die es je gegeben hatte, im Austausch für das Leben seines Freundes.
Nur war er kein Freund. Nicht mehr.
Hseth war jedoch nicht zurückgekehrt, und ihre Versprechungen waren hinfällig. Arrens Göttin, Hestra, ergoss sich jetzt auf die Kaminplatte, entzog ihm ihre Wärme und ihr Licht und hinterließ nur dunkle Leere. Als sie sich vor ihm aufrichtete, sank er keuchend gegen einen niedrigen Tisch. Zuerst war sie eine Knospe, ein Kokon aus Zweigen. Dann platzte dieser Kokon auf, spaltete sich in getrocknetes Gras, Moos und Holzscheite und bildete ein Gesicht aus Ästen und Augen aus Flammen.
„Hestra“, keuchte er. Jetzt, da sie nicht mehr in seiner Brust war, spürte er, wie sein Blut abkühlte, wie das Atmen anstrengender wurde. Sein Tod kam auf ihn zu wie eine Welle, die lange von der Flamme zurückgehalten worden war. „Bitte.“
In Blenraden hatte die Morgensonne den Himmel aufgerissen, aber hier in Sakre, im äußersten Westen von Middren, wälzte sich hinter den Fenstern noch das dichte Grau der Morgendämmerung. Wach waren nur die Bewaffneten vor seinem Zimmer und die Bediensteten in den Küchen. Sie durften ihn so nicht sehen. Er hatte sich als Göttertöter inszeniert, als der Zerstörer von Schreinen. Keiner durfte wissen, dass er einen Gott brauchte, um zu leben.
Hestra beachtete ihn nicht. Er griff nach ihr, aber sie trat rückwärts in den Kamin und verschwand mit einem wütenden Zischen.
Ihm blieb nichts mehr. Weniger als nichts. Sie hatte geschworen, ihn am Leben zu erhalten, hatte ihn angefleht, mit Hseth zu sprechen und den Willen einer Gottheit zu verstehen, sein Potenzial auszuloten. Sie hatte ihm geholfen, jedes Gesetz zu übertreten, das er selbst je erlassen hatte. In einem Augenblick war all das weg. Ohne ein weiteres Wort hatte sie ihn dem Tod überlassen.
Die Launen der Götter. Sie waren so wankelmütig wie das Wetter im Frühling.
Arren hatte sich noch nie leicht umstimmen lassen. Aber was hatte es ihm eingebracht? In Hestras Abwesenheit wurde die Welt laut. Verschwunden war das Knistern seines Herzens, das warme Rauschen seines Blutes. Stattdessen hörte er das Knacken der Glut im Feuer, die Funken, die zischend auf den Steinen verglühten, den Regen, der gegen das Fenster prasselte und immer schwächer wurde, je mehr der Himmel sich aufhellte. Vor allem aber hörte er das verzweifelte Pfeifen seiner Lunge, die nach Luft rang. Es gab keine Zukunft, nicht ohne Hestra, sein Geheimnis, seine Schande. Ohne sie war er tot, bevor die Sonne aufging. All seine Hoffnungen – vernichtet.
Hilfe, dachte er. Unaufgefordert schlich sich der Name seines Freundes in seinen Kopf. Hilf mir, Elogast.
Doch Elogast würde nicht kommen. Er war im Osten. Verraten und verletzt. Verraten von ihm.
Arren war allein. Er hatte seinen engsten Freund, seinen Bruder, seine einzige verbliebene Liebe für die Macht geopfert, die Welt zu verändern, und das hatte ihm nur einen erbärmlichen Tod in einem verschlossenen Raum eingebracht.
Es klopfte an der Tür zu seinen Gemächern. Leise zunächst, zaghaft. Er konnte nicht antworten. Das Klopfen wurde nachdrücklicher.
„Eure Majestät?“
Die Wachen. Sie hatten es gehört.
„Wir haben Lärm gehört! Mein König?“
Dieses Geheimnis durfte nicht gelüftet werden. Noch nicht. Sie waren noch nicht bereit dafür.
Die Tür erbebte in ihren Angeln, als der Wächter am Schloss rüttelte. Arren versuchte sich aufzurichten.
„Nicht … hereinkommen!“ Er keuchte die Worte hervor, aber er bekam kaum noch Luft. Er sank auf die Seite, stieß gegen den Tisch und die Zirkel und Schriftstücke, die er darauf ausgebreitet hatte, fielen klappernd auf den Boden. Ihm verschwamm alles vor den Augen. Hseth hatte es ihm versprochen, ihm geschworen! Talicia und Middren, vereint zu einem einzigen Land, das von Küste zu Küste die Handelssee kontrollierte. Der Grundstein eines Imperiums von unanfechtbarer Liebe und Macht. Er hätte wissen müssen, dass ihre Versprechungen nur leere Hüllen waren.
Die Tür zersplitterte, flog in den Angeln zurück und prallte mit voller Wucht gegen die Wand, sodass der Staub von den Wandteppichen aufgewirbelt wurde. Ritterkommandantin Peta stürmte herein, mit der Schulter voran. Sie zückte ihr Rapier und sah sich suchend nach einem Eindringling um, fand jedoch keinen. Nur einen Haufen von Zweigen und ein knisterndes Feuer.
„Mein König!“, stieß sie erschrocken hervor und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. Er rang nach Luft, versuchte, sich zu beherrschen, aber er konnte es nicht verbergen – in seiner Brust war kein Blut, keine Haut, nur eine offene, leere Wunde. Petas Blick richtete sich auf diesen Schlund in seiner Brust, auf die Dunkelheit, wo der Tod hausen sollte.
Es war Jahre her, dass die Axt des Kriegsgottes seinen Brustpanzer durchschlagen, sich tief in seine Knochen gebohrt und seine Rippen in Stücke zerschmettert hatte. Dort, wo das Metall seiner Rüstung seine Haut verunstaltet hatte, waren Abdrücke zurückgeblieben und zu dunkelroten Narben verheilt, auf denen Hestras Rauchschrift zu sehen war. Ein leuchtendes Schwarz. Das Versprechen eines Gottes.
„Bitte“, flüsterte Arren, obwohl er nicht wusste, worum er bat.
Peta wurde blass vor Entsetzen und ihre Hände schwebten über seinen Schultern. Ihre Augen und ihr Mund waren von einem harten Leben gezeichnet, ihr graues, kurz geschnittenes Haar lag dicht an ihrem Schädel an und glänzte in dem kargen Licht, das durch die sich auflösenden Wolken kroch. Sie war aufrecht und unerschütterlich, dazu loyal bis zur Selbstaufgabe. Sie war eine der wenigen älteren Generäle, die in den schlimmsten Tagen des Krieges nicht geflohen waren. Außerdem hatte sie auch nicht gezögert, Möchtegernattentäter an den Galgen zu knüpfen. Einer von ihnen war ihr eigener Cousin gewesen. Sie hatte sogar Arrens Befehl, das Craier-Anwesen niederzubrennen, ausgeführt. Und er hatte sie belogen.
„Mein König, ich … wann?“ Ihre schwielige Hand schwebte über der klaffenden Lücke in seiner Brust. Wann war es geschehen? Wie lange hatte er deswegen gelogen? Und jetzt war es zu spät. Er lag erneut im Sterben und Elo war nicht hier, um ihn zu halten.
„Im Krieg“, stieß Arren mühsam hervor. Vor seinen Augen verschwamm alles und Dunkelheit drängte sich vor seinen Blick. Sie sollen es wissen! Sollen es doch alle wissen! Er hatte versucht zu leben. Sie sollten ihm dankbar sein.
Aber ihr Gesichtsausdruck zeigte nicht den Ekel, den er erwartet hatte. Sondern Ehrfurcht.
Arren kannte diesen Blick. Man hatte seine Mutter damit bedacht, als sie Königin war. Man richtete ihn auf Götter. Seine Kommandantin hasste ihn nicht. Sie bewunderte ihn.
Hestra und Hseth hatten ihm eingeredet, man würde ihn als Verräter durch die Straßen schleifen, wenn die Welt herausfände, dass er einen Gott in seiner Brust beherbergt hatte. Sie würden ihn für schwach halten, wie seine Mutter, für untreu, wie Elo. Er hatte ihnen geglaubt.
Arrens Gehirn raste, als er sich dem Tod näherte. Dafür hatte Elo ihn immer gelobt, für sein schnelles Denken, seine Entschlossenheit. Wenn Hseth sich nun geirrt hatte? Was, wenn er ihre Macht nicht benötigte, um geliebt zu werden? Wenn er eine Geschichte erzählen konnte, mit der er ihr Vertrauen gewinnen konnte? So wurden Götter erschaffen.
„Ich habe mein Leben für Middren gegeben“, sagte er und legte seine Finger auf das Loch in seiner Brust. „Alles, was ich für Middren getan habe …“
Peta nickte. „Ich weiß …“, sagte sie.
Auch die anderen Ritter verstanden allmählich. Arren hörte ein Klappern, als erst einer, dann eine andere und schließlich alle seine Schildwachen die Knie beugten.
Doch es war zu spät. Zu spät für diesen letzten Griff nach Hoffnung, nach Liebe. Seine Hand sank schlaff zu Boden. Sein Atem stockte. Keiner von ihnen wagte es, ein Wort zu sagen.
Ein Funke sprang aus dem Kamin, gerade als die Morgendämmerung durch die Wolken brach. Die Glut rollte über den Holzboden, den Teppich, raste an Arrens Arm hinauf und in die Höhle, wo sein Herz gesessen hatte. Dort blühte er auf.
Hestra. Sie schlug erneut Wurzeln in seinem Herzen und erneut erfüllte ihn ihre Macht, wärmte sein Blut und ließ es pulsieren. Seine keuchende Lunge schwoll an, und die Luft brachte Licht und Leben in seinen Körper. Er atmete.
Er ergriff den Arm der Kommandantin, die als Einzige noch stand, weil ihn von der plötzlichen Veränderung schwindelte. Vom Tod zum Leben. Von der Dunkelheit zum Licht, als die Sonne sie alle in Gold erleuchtete.
Eine weitere Chance.
Arren verlieh seiner Stimme Kraft. „Es ist gut“, sagte er und setzte sich auf. „Mir geht es gut.“ Das hatte er auf dem Schlachtfeld gelernt, durchdrungen von Angst, sterbend nach Atem ringend, dennoch Stärke, Macht, Gewissheit zu kanalisieren. Ohne Petas Hilfe erhob er sich wacklig und versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Seine Kommandantin wich zurück. Sie fürchtete sich, ihn zu berühren.
Schämen würde er sich nicht. Aus Scham erwuchs nichts Gutes. Er richtete sich auf und der Ausdruck auf seinem Gesicht wandelte sich von Schmerz zu etwas Sanfterem. Dann streckte er seine zitternden Hände aus und zeigte seine nackte Brust ganz. Die Dunkelheit in seinem Inneren wurde nun von Hestras Feuer erhellt und die Höhle mit grünem Moos und Zweigen ausgestopft.
Die Schildwachen starrten ihn unsicher und mit offenen Mündern an. Diese Unsicherheit konnte er nutzen. Er sah sich mit ihren Augen: eine Geschichte, die sie flüstern konnten, ein Mythos, den er errichten konnte.
Hseth ist tot. Hestra kümmerte die Krise nicht, die sie ausgelöst hatte. Stattdessen drängten sich ihre Gedanken quälend in Arrens Geist. Kein Eingeständnis von Schuld, keine Bitte um Verzeihung. Die große Gottheit des Feuers ist tot. Ihre Schreine sind zerstört, ihre Macht ist dahin.
Tot. Arren biss die Zähne zusammen. Eine verdammte Krise nach der anderen.
„Wir haben euch enttäuscht“, flüsterte Peta. Zwei seiner Wachen neigten tief den Kopf, eine andere keuchte entsetzt bei dem Gedanken.
„Nein“, erwiderte Arren hastig. „Nein, Kommandantin. Ich habe mein Leben freiwillig gegeben, um den Kriegsgott zu töten und unser Land vor der Zerstörung zu bewahren.“ Das war nicht die ganze Wahrheit, denn Arren hatte den Kriegsgott nicht getötet. Aber die Wahrheit spielte keine Rolle. Alles, was zählte, war die Geschichte. Die Mythen, die Götter erschufen, erweckten sie in ihren Schreinen zum Leben. Geschichten verbinden Hoffnung und Liebe zum Glauben.
Peta berührte mit ihrer Hand das Abzeichen, das ihren Mantel an der Schulter hielt, den Hirschkopf vor einer aufgehenden Sonne, das Symbol von Arrens Königtum. Sein Sieg über den Gott des Krieges, die Götter, die er danach erhoben hatte. Früher war sein Symbol ein junger Löwe gewesen, aber das hatte er mit Elo teilen müssen. Der Löwe des Königs, so hatte man seinen Freund genannt. Arren musste etwas anderes erwählen.
„Ich tat, was ich tun musste“, sagte er leise. Wie oft hatte Hseth das schon zu ihm gesagt? „Ein Opfer ist kein Verlust. Wir mussten gegen die Flut der Dunkelheit kämpfen, gegen das Chaos der Götter. Wir kämpfen noch immer dagegen an, wir müssen weiterkämpfen.“ Hestra flammte in seiner Brust auf und er legte eine Hand auf sie.
Warte, dachte er und hoffte, sie würde ihn verstehen.
„Um uns das Sonnenlicht zurückzugeben, es Middren zurückzugeben“, sagte Arren und verwob seine Hoffnungen, „um uns selbst aus diesen Nächten des Schreckens zu befreien, müssen wir alle bereit sein, unser Leben zu geben, auch wenn es uns wehtut, auch wenn es unsere Seele herausfordert.“
Hestra schwieg.
Arren ließ das Licht der Sonne auf seinen lockigen Haarschopf fallen, ließ die Götterflamme in seiner Brust auf unvorstellbare Weise flackern. Er war verwundbar. Eine einzige Briddite-Klinge würde ihn auf der Stelle töten.
„Wenn auch ihr solche Opfer bringen wollt“, fuhr er fort, „verpflichtet euch mir.“ Er streckte seine Hand aus und legte sie auf die Kluft in seiner Brust. Wie Sonnenstrahlen, wie sein Symbol. Seine Geschichte.
Peta sank ebenfalls auf ein Knie und machte es ihm nach: Sie legte die Hand über ihr Herz, die Finger weit gespreizt. Die anderen folgten ihrem Beispiel, Hand um Hand. Hestras Flammen loderten erneut auf, diesmal vor Freude. Sie spürte, was auch sie sich mehr als alles andere wünschte. Glaube. Für einen Moment waren sie beide in den Augen der anderen mehr, als sie je gewesen waren. Mehr als der ungeliebte Sohn seiner Mutter. Mehr als ein glücklicher Prinz, der in einem Krieg obsiegt, aber den Feldherrn verloren hatte, der für ihn den Sieg errungen hatte. Mehr als eine unbedeutende Göttin der kleinen Schreine, angeschlagen und vergessen. Zusammen waren sie größer als sein Fleisch, strahlender als seine Krone. Sie waren alles, was er je hatte sein wollen.
„Sunbringer“, deklamierte Peta. Ein Lachen brach aus Arren heraus, halb vor Freude, halb im Delirium. Das hier war mehr als nur ein Bündnis mit Hseth oder ein Vertrauen in ihre Macht.
Das war er.
Die anderen fielen in ihren Ruf ein. „Sunbringer.“
„Sunbringer.“
Doch das war nicht genug, noch nicht. Er brauchte mehr. Er brauchte eine Nation.
Er musste ein Gott werden.
KAPITEL 2
Skediceth
Das Klirren des Hammers auf Metall markierte das Ende ihrer Reise.
Dreiundzwanzig Tage. Zurück über Berge, Wälder und Flüsse.
Skedi war jedoch in diesen Tagen nicht der einzige Geächtete. Inara Craier, die Gefährtin seines Herzens, wusste jetzt, dass es der König gewesen war, der ihr Haus niedergebrannt hatte. Und dass es ihr nicht zugedacht gewesen war, dies zu überleben. Ihr Leben selbst, so schien es, wurde vor Middren geheim gehalten. Auch Elogast, der flüchtige Ritter, war, zermürbt von Schmerz und Wut, entschlossen, Arrens blutigen Ambitionen Einhalt zu gebieten, bevor sie die Handelssee ganz verschlangen. Während der ganzen Reise hatten sie sich ausschließlich auf Skedi verlassen, der ihre Anwesenheit mit seinen einfallsreichen Notlügen verbarg.
Zum ersten Mal wurde er gebraucht, wirklich gebraucht. Und da er jetzt nicht mehr so allein war, machte es ihm nichts aus, sich zu verstecken. Er bedauerte auch nicht, Blenraden mit all den Gespenstern vergessener Götter und zerbrochener Schreine hinter sich gelassen zu haben. Es war töricht gewesen zu glauben, er könne dort ein Zuhause finden, allein, in einer sterbenden Stadt, in der niemand Verwendung für Lügen hatte.
Als sie also Lesscia am Horizont auftauchen sahen, schön wie eine Blume, die sich auf dem breiten Fluss öffnete, erfüllte ihn das Grauen vom Bauch bis zu den Ohren und ließ seine Flügelspitzen erzittern. Unterwegs hatten sie sich nur mit dem „Jetzt“ beschäftigt. Überleben. Sicherheit.
Lesscia war „Danach“. Skedi hatte Angst vor dem „Danach“ und seinem Platz darin.
Dennoch half er ihnen an diesem Nachmittag, an den behelfsmäßigen Unterkünften vorbeizuschlurfen, die sich in den sichereren Teilen des Sumpfgebietes drängten, und durch die lebhafte Menge und die Lebensmittelhändler des Außenmarkts. Er flüsterte die Lügen, die er bis zum Erbrechen eingeübt hatte: Wir sind nichts Besonderes, nichts Interessantes, ihr habt Aufgaben zu erledigen, Besorgungen zu machen, Orte zu besuchen. Er war sogar zu müde, um erkennen zu können, ob es seine kleine Macht war oder die geschäftige Stadt, die sie beschützte.
Die Abendglocken hatten noch nicht geläutet, als sie die Stadtwachen an den Toren passierten. Entsprechend laut war es auf den Straßen. Boten, die Nachrichten überbrachten oder Waren auslieferten, ratterten mit ihren Karren über das glatte Kopfsteinpflaster, während sie die Menschen anschrien, sie sollten ihnen aus dem Weg gehen. Die Lotsen der Kanalboote brüllten sich gegenseitig über die vollen Kähne an. Sie fuhren zum Hafen und wieder zurück, über die Kanäle, unter Brücken hindurch und legten krachend an steinernen Stegen an. Auch in der Stadt herrschte Betriebsamkeit unter den Handwerkern: Fliesenleger, die rauchend neben ihren Warenmustern vor den Werkstätten saßen, Bürstenbinder, die die feinsten Borsten aus Kaninchenfell verkauften und mit Neuankömmlingen um Preise feilschten. Dazwischen Forscherinnen, Biografen, Händlerinnen, Reisende, die sich überall bei heißem Tee, mit Pfirsich versetztem Gin oder mit Holzkohle gewürztem Wasser stritten, je nachdem, was ihnen besser schmeckte.
Es war eine Erleichterung, als sie in die Wohnstraßen in der Nähe von Kyssens Haus zurückfanden, wo die Gassen still und ruhig waren. Sie gingen unter tropfender aufgehängter Wäsche hindurch oder vorbei an Kindern, die mit schwarz-weißen Kätzchen auf der Straße spielten. Kyssens Pferd Tausendbein schlug ungeduldig mit dem Schweif, weil der Wallach wusste, wohin er wollte. Er zerrte Inara förmlich in Richtung der Schmiede, in die Kyssen sie zuerst geführt hatte. Dort warteten ihre Schwestern auf ihre Rückkehr.
Inaras schnelle Schritte stockten, als sie den Gesang des Eisens hörten, das zuversichtliche Klirren des Hammers eines Schmieds bei der Arbeit, und sie erreichten das große Tor, das über Metallkufen glitt. Es war offen und darüber hing ein sauber gearbeitetes Schild mit Zahnrädern und einem Hammer, das den Passanten verriet, was dahinterlag. Yatho arbeitete nicht in der Nähe der anderen Schmieden, wo die Gänge für ihren Rollstuhl zu schmal waren. Und Schmieden, so hatte Skedi gelernt, waren in Lesscia, der Stadt des Wissens, nicht üblich. Deshalb hatte ihre experimentelle, komplizierte Arbeit ein eigenes Zuhause.
An ihrem Ziel angekommen blieb Inara regungslos stehen. Skedi spähte oben aus dem Ranzen, in dem er sich versteckt hatte. Er sah ihre Farben, ihre Gefühle, die sich in widersprüchlichen Schattierungen bewegten. Sie waren schwer zu lesen. Inaras Farben waren einst juwelengleich gewesen: Korallen und Amethyst, Citrin und Smaragd. Helle, unbändige Freude und die kleinen Sorgen der Kindheit. Das war vorbei. Tag für Tag wurde der Glanz ihrer Gefühle zunehmend von der Dämmerung des Waldes und dem Schimmern der orangefarbenen Flamme getrübt, die ihr Zuhause verbrannt hatte und mit Kyssen ins Meer gestürzt war. Inara trug ihre Reise bei sich und sie hatte sie verändert. Das war seltsam. Götter veränderten sich nicht so schnell, nicht so wie Menschen.
Doch irgendwo in diesen Schatten von Inara verbarg sich noch das Himmelblau ihres Willens. Ihre Macht, die Skedis Lügen gebrochen, Elos Fluch aufgehoben und die große Gottheit Hseth in Schach gehalten hatte. Eine Macht, über die ein Mensch nicht verfügen sollte.
„Du hast das gut gemacht, Inara.“ Elo blieb neben ihr stehen. „Es ist in Ordnung. Ich werde es ihnen erklären.“ Auch Elo hatte sich verändert. Der stets aufrechte, immer glatt rasierte Mann war jetzt gebeugt vor Müdigkeit und Schmerz. Die Schultern hatte er wie schützend vor die Brust gezogen, Haupthaar und Bart waren gewachsen, trocken und ungepflegt und seine Augen waren vom Schlafmangel gerötet. Der faulige Geruch der Wunde auf seiner Brust hatte etwas nachgelassen, obwohl die Kräuter in den vergilbten Verbänden den Gestank der verheilenden Haut nicht ganz unterdrücken konnten.
Skedi steckte seinen Kopf ganz aus Inaras Ranzen heraus. Ihm gefiel das Durcheinander aus Schlamm und Proviant darin nicht. Unpassend für einen Gott.
„Müssen wir es ihnen wirklich sagen?“ Er zuckte mit den Schnurrhaaren. Er war ein Gott der Notlügen, aber dies hier war die kalte, harte Wahrheit. „Das gefällt mir nicht. Wir könnten behaupten, dass wir nicht wissen, was passiert ist, dass sie vielleicht noch …“
„Bitte, Skedi“, fiel Inara ihm mit fester Stimme ins Wort. „Bitte nicht.“
Skedi legte bei ihrem Ton die Ohren an. Sie alle hatten gesehen, wie Kyssen ins Meer gestürzt war. Selbst wenn sie den Fall in Hseths Armen überlebt hätte, wäre sie ertrunken. Dennoch fühlte es sich für Skedi einfach falsch an, alle Hoffnung auszulöschen, eine Wahrheit zu äußern, die einen solchen Schmerz verursachen würde.
Inara holte tief Luft. „Ich werde es ihnen sagen, Elo“, sagte sie. „Sie kennen mich. Und sie sollten es von jemandem hören, den sie kennen.“
Elo grunzte verständnisvoll. Tausendbein wollte jedoch nicht länger warten. Er schnaubte, riss Inara mit einem Ruck die Zügel aus der Hand und trabte geradewegs durch das Tor. Mit ausgestrecktem Hals ging er zum Trog. Man kann darauf vertrauen, dass ein Pferd weiß, wo Wasser ist. Ihr zweites Reittier, Peony, hatten sie vor vielen Tagen für Balsam und saubere Bandagen verkauft, aber von Tausendbein konnten sie sich nicht trennen.
Inara folgte dem Wallach in den Hof und umklammerte Skedis Ranzen, in den er sich wieder gekauert hatte. Elo hielt sich dicht und zuverlässig hinter ihnen. Der Hof war so, wie Skedi ihn in Erinnerung hatte: schlammig und überall von Karrenrädern zerfurcht, bis auf ein kleines Gemüsebeet neben dem Stall. Das konnte auch von der Milchziege nicht erreicht werden und war dicht mit Frühlingsgemüse bepflanzt. Die Schmiede war offen und einer der drei Öfen brannte. Dort hämmerte Bea, Yathos Lehrling, ein langes Stück gefaltetes Metall. Trotz der Hitze trug er eine Wollmütze über den Ohren und brummte leise vor sich hin. Der Junge hatte zu kämpfen, wenn es zu laut wurde, aber seine Farben wirkten ruhig und konzentriert. Yatho selbst stand mithilfe einer Konstruktion aus Metallstreben und eines gekippten Sattels da und rollte einen Draht auf eine Spule. Da sonst niemand in der Nähe war, schob Skedi seinen Kopf wieder aus seinem Versteck.
Tausendbein soff geräuschvoll und Yatho sah von ihrer Arbeit auf.
„Ihr seid wieder da!“ Ihre Farben leuchteten zitronengelb. Zuerst sah sie Inara und betätigte einen Hebel, um ihren Sitz zu senken, dann schnallte sie sich ab und hievte sich in ihren Rollstuhl. „Ihr Götter, wir haben uns schon Sorgen gemacht …“ Sie rieb sich das Gesicht und verwischte Staub, Brandflecken und Sommersprossen mit Rauchflecken und Schweiß von ihrer Arbeit am Ofen. Vor Kurzem hatte sie sich die Haare hinter den Ohren abrasiert und zeigte mehr von ihren blattförmigen Tätowierungen.
Dann hielt sie inne und bemerkte ihr Schweigen, musterte Elogast – an der Stelle von Kyssen – und Skedi. Kyssen war aufgebrochen, um Skedi und Inara zu trennen. Es war ihr offensichtlich nicht gelungen.
Das Gelb verblasste und stattdessen färbte sich die Aura um Yatho in ein stürmisches, zweifelndes Grau, die Farbe von kaltem Metall. „Wo ist Kyssen?“, verlangte sie zu wissen.
Die Veränderung kam plötzlich und vollständig, und Skedi wusste, dass sie diese Angst direkt unter ihrer Haut verborgen gehalten hatte, wie einen Atemzug, den sie nie ganz ausatmete.
„Kyssen …“ Inaras Stimme brach, bevor sie etwas sagen konnte, und die Dunkelheit um Yatho herum wurde immer düsterer, erfüllt von Angst.
Alles wird gut, sagte Skedi direkt in Inaras Geist. Es ist alles in Ordnung.
Lüg mich nicht an, Skedi!, fuhr Inara ihn an, mit einer Schärfe, die ihn zusammenzucken ließ. Sie räusperte sich und Elo legte seine Hand auf ihre Schulter. Seine eigenen Schatten waren von Mitleid überflutet.
„Es tut mir so leid“, sagte Inara mit heiserer Stimme. „Yatho … sie ist gestorben.“
Skedi wusste, dass sie sich den Sturz erneut vor Augen führte. Oder noch schlimmer, dass sie ihnen gesagt hatte, sie sollten rennen, und sie hatten gehorcht.
Yathos Dunkelheit dehnte sich aus und füllte den Raum um sie herum. Sie starrte einen Moment lang vor sich hin, ihr Blick war unscharf, dann sah sie auf ihre Hände hinab. Sie waren stark, muskulös, leer.
„Deine Schwester gab ihr Leben in Blenraden“, sagte Elo, der es nicht ertragen konnte, wie Inara zitterte. „Sie beschützte Inara, Skedi und mich. Sie ist die mutigste Frau, die ich je gekannt habe.“
Yatho drückte ihre Handflächen vor ihre Augen. Skedi schrumpfte auf die Größe einer Maus zusammen. Sie war so still, während ihre Farben sie wie eine alles erstickende Wolke verschlangen, und das machte ihm Angst. Skedi wollte sie vor dieser Wahrheit bewahren, sie weglügen. Aber ihr Kummer war zu groß, zu tief. Es lag nicht in seiner Macht, solche Gefühle zu ändern. Dafür war er nicht stark genug.
„Wie?“, sagte Yatho, ihre Stimme war so gepresst, dass sie heiser flüsterte.
„Hseth, die Feuergottheit“, sagte Inara. „Yatho, Kyssen hat uns erzählt, was mit ihr als Mädchen passiert ist. Sie stürzten zusammen ins Meer. Sie hatte ihre Rache.“
Yatho stieß einen trockenen Laut aus – ein Schluchzen oder ein Lachen? Beides? Sie sah zu Tausendbein. Ihre Augen waren trocken, doch Skedi konnte sehen, wie das Grauen in ihre Haut sank und sich um sie schlang wie die Ranken ihrer Tätowierungen. Ihr Blick schweifte zum Haus, zum Tor, zur Werkstatt. Skedi folgte ihrem Blick. Dort, an der Wand, waren die feinen Briddite-Teile einer neuen Prothese zu sehen. Für Kyssen.
„Musste sie Schmerzen leiden?“, fragte sie.
Inara und Elo zögerten. Sie wussten beide, dass ein Tod durch Flammen nicht gnädig war. Skedi schritt ein und wirkte eine gute Lüge, wenn er denn je eine gesponnen hatte.
„Nein“, sagte er. „Es ging schnell.“
Yatho kniff die Augen zusammen, obwohl es sie trotz ihrer Skepsis besänftigte. „Hattest du irgendetwas damit zu tun, du Gott der Lügen?“
Skedis Fell sträubte sich, aber er hatte keine Energie mehr, um größer und stolzer zu werden. Das tagelange Lügen, das Abwehren von Neugier und dass er sie gegen alle abgeschirmt hatte, forderte seinen Tribut.
„Nein“, sagte Elo. „Es war nicht seine Schuld. Es war meine.“
Skedi richtete sich auf und sah Elo an, dessen Kiefer fest und entschlossen war. Schlechte Idee. Es war schlecht, die Wahrheit zu sagen.
„Kyssen gab ihr Leben für Middren“, sagte Elo, „und für mich.“
Yathos Schatten wurden scharf, ihr Zorn färbte die Dunkelheit grün. „Und warum hätte sie das tun sollen?“
Elo zeigte die Verbände, die seine Brust unter seinem Hemd umhüllten. Selbst jetzt eiterte die Wunde noch und man konnte die Umrisse von Hseths großer Hand erkennen, die den Stoff verdunkelten.
„Damit ich den König töten kann.“
KAPITEL 3
Kyssen
Zum zweiten Mal in ihrem Leben erwachte Kyssen in den Armen des Meeresgottes.
Alles tat weh. Die Wunde an ihrer Schulter, die Verbrennungen an ihrem rechten Bein, wo ihre halb geschmolzene Prothese ihre Haut versengt hatte. Die Schürfwunden, Kratzer und Schmerzen von den langen Wochen voller unruhiger Nächte und der wilden Jagd durch das widrige Land. Ihr Körper führte Buch über seine Kämpfe.
Aber jetzt war alles still, bis auf das Rauschen und den Atem der Wellen, die auf Steine schlugen und Kiesel und Muscheln Zentimeter für Zentimeter in die Tiefe zogen. Es war so lange her, dass sie das Rauschen dieses besonderen Ufers gehört hatte.
Mit einem Ruck öffnete sie ihre Augen. Über ihr blickte der Meeresgott ihrer Kindheit nach Osten und betrachtete das Wasser. Hinter ihm war der Himmel dunkel und es drohte ein Gewitter.
„Scheiße“, zischte Kyssen, löste sich aus Osidisens Umarmung und landete in einem unbeholfenen Haufen auf dem felsigen Boden. Diese Küste war so wie in ihrer Erinnerung, obwohl sie sie seit fast vierzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte: voll von schwarzem Fels, der sich bröckelnd erhob wie die Ruinen eines Imperiums. Die Klippen um sie herum ragten hoch und dunkel auf, umkreist von Kormoranen.
Osidisen blickte auf sie hinab. Hierher hatte er sie auch gebracht, nachdem die Feuergottheit Hseth ihre Familie vernichtet hatte. Gebrochen, verwaist und verbrannt. Seine heilige Bucht, die im ganzen Dorf als Ort bekannt war, an dem der Meeresgott Ruhe fand. Kyssen berührte ihre Brust, wo sie den Wunsch trug, den ihr Vater für sie mit dem Gott vereinbart hatte: sein Leben für ihr Leben. Die Schrift hatte sich von Dunkelheit zu Licht gewandelt, das Versprechen war gehalten worden, das Leben ihres Vaters vorbei.
„Warum hast du mich hierher zurückgebracht, Rattenertränker?“, sagte sie mit brüchiger Stimme. „Ich habe dich gebeten, mich zu retten, nicht mich ins Nirgendwo zurückzuschleppen.“ Dieser Ort war Meilen von der Handelssee entfernt, wo sie von Blenradens Schreinen in die Tiefe gestürzt war. Unweigerlich wurde ihr Blick von den schwarzen Klippen nördlich der Bucht angezogen. Früher als Kind hätte sie dort die Stützen der Häuser ihres Dorfes gesehen, die sich an den Rand klammerten, geschüttelt von Wind und der Gischt des Meeres. Jetzt nicht mehr. Die Klippe war eingestürzt, die Häuser auch. Das Dorf war ausgelöscht.
„Du solltest dir vielleicht überlegen“, sagte Osidisen leise, „einen Gott nicht in seinem eigenen Reich zu beleidigen.“
„Und du solltest dir vielleicht überlegen, dass mich das einen Scheiß interessiert.“
Sie kämpfte sich auf die Beine und versuchte, nicht auf ihre verbogene und verdrehte Prothese zu schauen. Sie spürte den Schmerz ihres fehlenden rechten Unterschenkels unterhalb des Knies. Phantomschmerzen. Ihre Wade, ihr Schienbein und ihr Knöchel waren in einen knochenzersplitternden Schraubstock aus Qualen gepresst. Und es sollte auch genauso schmerzen. Wäre das Bein nicht aus Metall gewesen, hätte Hseth es bis auf die Knochen durchgebrannt. Aber sie wollte es sich nicht ansehen. Noch nicht. Sie musste sich selbst einreden, dass es immer noch ihr Bein war und dass es sie immer noch halten würde, oder sie würde zu Boden stürzen.
„Sag mir, warum!“, verlangte Kyssen. Sie wollte nicht hier sein, so nah an ihrem Kindheitsschmerz. Was würde ihre noch lebende Familie über ihr Verschwinden denken? Ihre Freunde? Elo und Inara?
Sie würden sie tot wähnen. Ihr Herz verkrampfte sich in ihrer Brust und zog ihre Lunge zusammen. Wie sollte sie ihnen mitteilen, dass sie noch am Leben war? Sie war einen wochenlangen Fußmarsch von zu Hause entfernt, und das in einem Land, dessen Gott sie gerade getötet hatte.
„Das ›Warum‹ ist auch eine Warnung“, sagte Osidisen. Sein Gesicht veränderte sich, während er sprach, und verwandelte sich von einem Rauschen von Wasser und einem Bart aus Schaum in etwas Menschlicheres. Seine Haut verfestigte sich zu Fleisch, der Schaum verwandelte sich in grau-weiße Haarsträhnen, doch sein Körper blieb ein Mantel aus Wellen, der das Licht verschlang, wo er es berührte. Eine Warnung? Das war der Gott, der ihre Schritte als Kind behütet hatte, der ihr geholfen hatte, gute Tümpel mit Herzmuscheln zu finden, der ihr geholfen hatte, durch stürmische Gewässer zu schwimmen. Welche Warnung könnte er für sie haben? „Eine Verpflichtung“, fügte er hinzu.
Kyssen schüttelte den Kopf. Seine Liebe hatte ihre Familie zur Zielscheibe gemacht, zum Opfer von Hseth. Sie wollte nichts von ihm. „Du hast den Wunsch meines Vaters erfüllt“, sagte sie mit einem finsteren Blick. „Das Versprechen, das uns verband, wurde gehalten.“
Osidisen lachte, sein Bart schäumte und kräuselte sich, während er gluckste, und versank weiter im Wasser. Sein Haar wurde grün, verwandelte sich in Seetang und kehrte dann wieder zurück. Das Licht der untergehenden Sonne war golden und tanzte über den Schaum der Wellen, bis es auf die purpurnen Wolken eines aufkommenden Sturms traf. Sie war bereits einen ganzen Tag lang hier.
„Du hast dein halbes Leben lang darauf gewartet, dass ich das Opfer deines Vaters entgelte“, sagte der Gott. „Und dann bringst du mir einen weiteren Segen.“
Kyssen zuckte zusammen.
„Die Feuergottheit. Hseth“, fuhr Osidisen fort. „Sie hat mich aus diesem Land und aus dem Herzen meines Volkes vertrieben, um von den geheimen Wünschen der Fischweiber und deren Volk zu leben. Du hast mir ihren Tod geschenkt …“
„Das war nicht für dich“, sagte Kyssen mit zusammengebissenen Zähnen. Es war für Inara, für Elogast. Für ihre Familie. Und für sich selbst.
„Diese Warnung ist die Währung, mit der ich dafür bezahlen werde.“
Es war ihm egal, was sie beabsichtigt hatte, für ihn galt nur, was war. Sie fluchte leise vor sich hin. „Du warnst mich, und was dann?“, fragte sie. „Lässt du mich dann hier? Verlangst du eine weitere Gabe, um mich nach Hause zu bringen? Was wird es dieses Mal sein? Mein Finger? Ein Auge?“
„Ich gelobe, dich zu den Küsten zu bringen, die du jetzt deine Heimat nennst, sobald ich die Warnung geäußert habe“, sagte Osidisen abschätzig, als hätte er sie nicht eben um die halbe Welt gebracht. „Dies sind die Einflüsterungen der Wildnis, des Wassers. Du hast sie schon einmal gehört, aber du hast sie nicht verstanden. Wenn Middren an die Götter fällt, wird eure Art die erste sein, die stirbt.“
Das Gemurmel einer unbedeutenden Gottheit kam ihr in den Sinn. Eine Flussgottheit, zu groß für ihren kleinen Teich, hatte ihre Drohungen mit ihrem letzten Atemzug bezahlt.
„Und ich weiß“, fuhr Osidisen fort, sein Blick bohrte sich in sie, als suche er ihre Seele, „dass du dem Wort eines Gottes keinen Glauben schenken würdest, sondern nur deinen eigenen Augen.“
Es gab Bewegung auf dem Wasser; Schiffe segelten unter den Gewitterwolken und einem niedrigen Regenschleier dahin, einige aus dem Süden, einige aus dem Norden. Osidisen ignorierte sie, sein Blick war fest auf Kyssen gerichtet. Wenn er wollte, könnte er seine Stimme in ihren Geist zwingen, ihr seinen Willen aufdrücken und ihre Gedanken mit Schrecken und Ertrinken erfüllen. So geschwächt er auch war, er war immer noch ein alter, halb wilder Gott mit vielen Schreinen. Sie fuhr sich mit der Zunge über ihren Goldzahn und setzte sich dann vorsichtig auf den Boden. Von all ihren Waffen war ihr nur noch das Entermesser geblieben, dessen Briddite-Klinge vielleicht ausreichte, um Osidisen zu piksen, wenn er beschloss, sie zu zerquetschen. Sogar die Lederhandschuhe, die sie noch trug und mit denen sie Hseth zum Wasser geschleppt hatte, waren nur noch Fetzen, die Briddite-Platten waren abgefallen. Sie war im Nachteil und das gefiel ihr nicht.
„Also, wie lautet die Warnung, Meeresgott?“
„Der Krieg wird mit dem Sommer kommen“, sagte Osidisen, „und Talicia wird ihn bringen.“
Kyssen blinzelte, dann spottete sie. „Ich bin eine Godkillerin, mit Krieg habe ich nichts zu schaffen. Das ist ein Spiel von Monarchen und Politikern oder gierigen Plünderern. Du selbst hast in den Jahren vor meiner Geburt talicianische Schiffe zu den Küsten Middrens geführt und sie mit fetter Beute und blutig zurückgeleitet.“
Schließlich, nach einem Jahrzehnt voller Überfälle und gesunkener Schiffe, hatte eine Allianz aus Middren, Pinet und Restish gegen die talicianischen Kerle und ihre raubenden Familien zurückgeschlagen. Sie hatte die Küste und ihr Volk verwüstet und die Blutlinien ihrer Anführer in alle Winde verstreut. Kyssen war an der Grenze zu einem Talicia aufgewachsen, das ein Chaos aus Fehden und Korruption, Kleinkriegen, Blutschulden und Hunger war. Ihre Eltern hatten sich davon ferngehalten, bis Hseth kam und mit sich den Reichtum zurückbrachte.
„Das ist kein Streit um Segel und Schafe“, sagte Osidisen. „Hseth plant eine Invasion.“
„Hseth ist tot.“
„Ihr Wille bleibt und durch ihn wird sie wieder leben.“
„Pah. Das wird Jahre brauchen.“ Selbst die beliebteren Gottheiten brauchten Zeit, um die Liebe ihrer Anhänger wieder aufzubauen, die Opfer, die Gaben anzuhäufen, damit sie sich wieder an ihren Schreinen manifestieren konnten. Nach ihrer Wiederbelebung hatten sie keine Erinnerungen mehr an ihr früheres Leben, sodass die meisten Götter nach ihrem Tod nie wieder auferstanden und ihre Anhänger stattdessen zu anderen noch lebenden Göttern abwanderten.
„Diesmal nicht“, sagte Osidisen, sein Bart verschmolz erneut mit seiner Brust, sein Mantel sank in den Sand. „Hseth wird noch vor der kürzesten Nacht zurückkehren, vielleicht früher, und sie wird in der Gestalt des Willens wiedergeboren, den sie hinterließ. Der Gestalt der Macht, der Gestalt des Krieges.“
Kyssen fletschte die Zähne. Verdammt, nein! Die verrückte Gottheit des Feuers hatte ihre Chance gehabt und verloren. „Du speist Lügen, alter Gott.“
Osidisen sträubte sich. Er wuchs und sein Körper vergrößerte sich im brausenden Wasser. „Ich bin kein Betrügergott wie dein gefiederter Gefährte“, knurrte er. „Ich bin ein Gott der Nordmeere, des Wassers und des Sturms. Ich bin, was ich bin, und ich spreche keine Lügen.“
Kyssens Haare sträubten sich unter der Intensität seines Zorns. Woher wusste er, dass sie mit Skediceth, dem Gott der Notlügen, unterwegs gewesen war? Sie blickte an ihm vorbei zu den Schiffen, ein törichter Teil von ihr hoffte auf Hilfe. Irgendetwas an ihnen war jedenfalls seltsam.
„Keine drei Meilen südlich“, sagte Osidisen und zeigte auf das Wasser, das sich beruhigte. „Außerhalb meiner Reichweite vom Ufer aus. Geh. Sieh nach, ob es stimmt, was ich sage.“
Das war es: Diese Schiffe, drei an der Zahl, lagen tief im Wasser, viel zu tief, und zogen Flöße hinter sich her, die über den Wellen kaum zu sehen waren. Sie trugen eine seltsame Fracht: kleine Nester aus Metall und Ketten, wie es aussah. Vertraut. So wie der Geruch von Feuer vertraut war.
Kyssen achtete jetzt gar nicht mehr auf Osidisens unsinnige Worte. Die Schiffe kamen immer näher. Ein weiteres umrundete den Rand der Bucht aus der Richtung, die er soeben angegeben hatte. Es war das größte talicianische Schiff, das sie je gesehen hatte, nicht wie die Handelsschiffe, die Kupfer transportierten, die sie in Blenraden gesehen hatte, und es hatte auch Briddite am Bug, mit dem es die Meeresgötter abwehren wollte. Vielleicht war das der Grund, warum Osidisen sie nicht bemerkt hatte. Vielleicht konnte sie sie anlocken, um eine Passage weiter nach Süden bitten und so nach Hause kommen. Zu ihrer Familie.
Es gab Bewegung auf den Flößen, die Besatzungen verteilten sich und kippten die Käfige mit langen Stangen nach vorn. Waren es Anker? Der erste stürzte ins Wasser, schnell gefolgt von den anderen. Ihre Positionen wurden durch rote Tonnen markiert, die auf der Oberfläche tanzten.
Osidisen zuckte zurück. Schaum quoll aus seinem Haar und seinem Bart. Schmerz. Er drehte sich um, um zu sehen, was passiert war, aber plötzlich spritzte eine Wasserfontäne aus seiner rechten Schulter. Der Gott brüllte, und Kyssen sah, dass er von einer Harpune mit Briddite-Spitze getroffen worden war.
Kyssen rappelte sich auf. Die Käfige, die Ketten! Sie mussten auch aus Briddite sein, geschmiedet aus Bridhid-Erz und Eisen. Sie in Osidisens Gewässer zu versenken würde eine Mauer bilden, die er nicht überwinden könnte. Nein, keine Mauer, ein Gefängnis.
Sie hatte seit Blenraden nicht mehr gesehen, dass Briddite in einer solchen Menge eingesetzt wurde.
Osidisen zog die Harpune aus seiner Schulter und schleuderte sie zurück in Richtung des Schiffs. Sie durchschlug den Klüver, richtete aber keinen weiteren Schaden an. Eine zweite Harpune bohrte sich in ihn. Diesmal war an ihrem Ende ein Seil befestigt, das schnell festgezurrt wurde. Kyssen sah, wie eine Gestalt in Weiß auf dem Schiff Befehle erteilte, während sie den Gott rücklings in sein Meer zogen.
Das war kein willkürlicher Angriff: Er war geplant. Ein Göttermord.
Der Gott ihrer Kindheit schrie auf, als sein Körper auf den Steinen der Bucht aufschlug. Das Geräusch glich dem Ächzen eines Schiffes, das von einem Sturm erfasst wurde. Briddite war für Götter tödlicher als jedes Metall für Menschen. Der salzige Geruch seines inneren Fleisches brannte Kyssen in der Nase, das Blut alter Opfer vermischt mit dem uralten Ozean und Rauch.
Was konnte sie tun? Was sollte sie tun? Das hier war schließlich ihre Berufung. Sie hasste Götter. Sie hasste Osidisen. Schon seit Jahren. Es sollte sie befriedigen, zu sehen, wie salzige Blasen aus seiner Wunde blubberten, als er wie ein Sack Schellfisch in die Wellen gezerrt wurde. Selbst wenn er der Geliebte ihres Vaters gewesen war, der Beschützer ihrer Mutter und ihrer Brüder. Der Gott, der sie gerade gerettet hatte. Was, wenn er in den Tod gezerrt wurde?
Seine dunkelgrauen Augen bohrten sich in ihre. Verängstigt, ertappt. Verwundbar. Wie Skedi, wie Inara.
Sie knirschte mit den Zähnen und zog ihr Entermesser.
Er hatte sich an sie erinnert, nach all den Jahren. Er hatte sein Versprechen eingelöst. Das war mehr, als sie von den meisten Menschen sagen konnte, denen sie begegnet war.
„Scheiße“, murmelte Kyssen. Sie durchtrennte mit der Klinge das Seil, das riss und zischend zurück ins Wasser fiel.
Wieder frei packte Osidisen die Harpune und riss sie aus seiner Schulter. Er starrte Kyssen an, sein Fleisch verdunkelte sich, seine Augen verfärbten sich von Grau zum Schwarz der eisigen Tiefe. Er wusste, dass sie nur einen Lidschlag davon entfernt gewesen war, ihn selbst zu erledigen.
Mit lautem Gebrüll hob Osidisen seine Hand und das Meer wogte um sie herum und stieg in wilden Wassermassen die Klippen empor. Ein Schutzschild für sie.
„Geh in meine Höhlen!“, schrie der Gott und stürzte sich in die salzigen Wellen des mit Briddite verseuchten Meeres. Die Boote richteten ihre Harpunen auf die Stelle im Wasser, doch eines wurde direkt von einer Welle überrollt, die seine Segel zerfetzte.
Was hatte sie getan?
Für Bedauern war es zu spät. Jetzt musste Kyssen nur noch eines tun – überleben. Sie setzte sich in Bewegung und verließ sich auf ihre Erinnerungen, als sie sich zum Norden der Bucht wandte. Jeder Schritt schmerzte sie bis in ihre Knochen und erinnerte sie daran, dass die Prothese, auf die sie sich verließ, unwiderruflich verformt war.
Dort – erinnerte sie sich –, draußen im Wasser; ein halb verborgener Spalt in der Felswand, bis zu dessen Rand die Flut fast reichte. Sie umfasste ihr Entermesser und sprang in die bittere Kälte, drückte sich mit den Armen vorwärts und zog die Beine hinter sich her. Die Wellen wogten um sie herum, warfen sie zur Seite und schlugen ihr ins Gesicht, drangen in ihre Nase und den Mund. Sie kämpfte.
Dann legte sich die Strömung wie eine Hand in ihren Rücken.
Sie schob sie in den Schatten der Klippe, stieß sie direkt durch den schmalen Eingang. Sie brach durch die Wasseroberfläche. Hier gab es Luft und sie rang nach Atem. Das Meer zog sich mit einem saugenden Keuchen zurück und ließ sie in der Dunkelheit allein.
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