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Tag der Geister (Die Beschwörer 1)

Tag der Geister (Die Beschwörer 1) - eBook-Ausgabe

Elena Bychkova
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Die Beschwörer 1

„Spannend, phantastisch und mit Stil!“ - agm-magazin.de

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Tag der Geister (Die Beschwörer 1) — Inhalt

Am Tag der Geister ziehen finstere Wesen in die Welt hinaus, während sich die Menschen in ihren Häusern verschanzen. Doch um die Aufnahmeprüfung in den Orden der Geisterbeschwörer zu bestehen, muss Ray den Gefahren dieses Tages trotzen und in den Ordenspalast vordringen. Als seine Gefährten ihm nicht folgen, wird er unruhig. Endlich trifft seine Mitschülerin Nara ein. Sie bringt düstere Nachrichten: Ein Schüler ist bei der Prüfung gestorben, ein weiterer wurde von Geistern besessen und ein dritter von Ordensmitgliedern verbannt. Ray macht sich auf die Suche nach seinen Freunden, die sich noch außerhalb der Palastmauern befinden. Doch seine Entscheidung bringt ungeahnte Folgen mit sich ...

€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 02.04.2019
Übersetzt von: Christiane Pöhlmann
512 Seiten
EAN 978-3-492-99389-0
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Leseprobe zu „Tag der Geister (Die Beschwörer 1)“

1  Tag der Geister

„Wenn ihr mich fragt, werden wir Beschwörer bald gar nicht mehr nötig sein“, sagte Kazumi, der auf einer Schilfmatte hockte und ein Räucherstäbchen langsam von links nach rechts schwenkte. „Angeblich sollen nämlich Maschinen entwickelt worden sein, die irgendwelche besonderen Wellen erzeugen. Sobald du die einschaltest, suchen sämtliche Geister im Umkreis das Weite.“

„Allen Ernstes sämtliche?“, hakte Rekar nach, ohne jedoch in seinem Tun innezuhalten: Er polierte gerade sein neues Schwert auf Hochglanz.

„Sämtliche“, versicherte Kazumi.

»D [...]

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1  Tag der Geister

„Wenn ihr mich fragt, werden wir Beschwörer bald gar nicht mehr nötig sein“, sagte Kazumi, der auf einer Schilfmatte hockte und ein Räucherstäbchen langsam von links nach rechts schwenkte. „Angeblich sollen nämlich Maschinen entwickelt worden sein, die irgendwelche besonderen Wellen erzeugen. Sobald du die einschaltest, suchen sämtliche Geister im Umkreis das Weite.“

„Allen Ernstes sämtliche?“, hakte Rekar nach, ohne jedoch in seinem Tun innezuhalten: Er polierte gerade sein neues Schwert auf Hochglanz.

„Sämtliche“, versicherte Kazumi.

„Das kann ich nicht glauben!“, stieß Grizzly fassungslos aus. Auf seinem breiten, runden Gesicht spiegelte sich unverfälschtes Entsetzen wider. „Wie sollte das klappen?! Und was würde aus uns? Wer bräuchte uns denn dann noch? Oder willst du etwa behaupten, wir hätten all die Jahre umsonst Zaubersprüche gebüffelt?!“

Ray hatte sich auf dem Rücken ausgestreckt und verfolgte das Gespräch nur mit halbem Ohr. Seine ganze Aufmerksamkeit galt den Blättern des Bambus, der in einer Ecke des Raumes stand. Der Abendwind, der aus dem Garten hereinwehte, bewegte sanft seine Blätter. Er brachte auch diesen angenehmen Geruch von jungem Grün, Apfelbäumen und geschmolzenem Wachs mit. Bereits seit dem frühen Morgen ließen die Menschen in Warra bunte Kerzen niederbrennen, um die Geister zu besänftigen, die morgen die Stadt heimsuchen würden.

„Glaub diesen Unsinn bloß nicht, Grizzly“, riet Sayunaro dem Gefährten, wobei sein Blick allerdings unverändert auf den Seiten eines Buches haften blieb, in dem er gerade las. „Eine Maschine wird uns bei der Vertreibung von Geistern niemals ersetzen können.“

Er war der Einzige unter ihnen, der keinen Hehl aus seiner Abneigung gegenüber Kazumi machte.

Wenn er sich da mal nicht im Ton vergriffen hat, schoss es Ray denn auch sogleich durch den Kopf. Er linste zu dem jungen Mann hinüber, der heute ein golden schimmerndes, mit himbeerroten Blüten besticktes Gewand trug. Diese Stinkratte vergisst es nie, wenn jemand sie beleidigt, die nimmt es ja sogar krumm, wenn man mal nicht ihrer Meinung ist.

„Du solltest diese Maschinen nicht auf die leichte Schulter nehmen, mein Freund“, säuselte Kazumi, wobei in seinen dunklen Augen ein gefährliches Feuer aufleuchtete, das Sayunaro, versunken, wie er in seine Lektüre war, jedoch überhaupt nicht bemerkte. „Warum sollten die Menschen uns noch Geld zahlen, wenn sie auch eine Maschine kaufen können, die sie bei Bedarf nur einzuschalten brauchen? Vergiss auch die zahllosen Scharlatane nicht, die sich für echte Beschwörer ausgeben …“

„Da du gerade Scharlatane erwähnst“, mischte Rekar sich ein, dem der Anblick seiner funkelnden Waffe ein zufriedenes Grinsen entlockte. „Stell dir vor, zwei dieser Burschen wollten neulich einen Hurii aus einem Schweinestall am Stadtrand vertreiben.“

„Und?“, fragte Kazumi in arrogantem Ton. „Wie ist es ausgegangen?“

„Oh, es ist schon jemand verjagt worden“, sagte Rekar. „Allerdings waren das die beiden Scharlatane. Die sind im hohen Bogen über den Zaun des Grundstücks geflogen. Die können noch von Glück sagen, dass der Hurii sie nicht in Stücke gerissen hat.“

Er war der Älteste von ihnen allen, ein hochgewachsener Mann mit breiten Schultern und finsterem Blick. Genauso musste nach allgemeiner Ansicht ein echter Gebieter über Geister aussehen. Rekar hatte auch als Einziger bereits kleinere Aufträge angenommen, beispielsweise Segrimis von den Saatfeldern vertrieben. Ihr Lehrer hatte nichts dagegen einzuwenden, andererseits lobte er diesen Eifer nicht. Anscheinend wertete er alle Erfolge eines Schülers, der die Ausbildung noch nicht abgeschlossen hatte, als reinen Zufall.

„Was meinst du denn zu diesen Maschinen?“, wollte Grizzly von Ray wissen.

„Für mich bleiben schon noch genug Geister übrig“, antwortete dieser sorglos.

In dieser Sekunde schlug Sayunaro mit lautem Knall sein Buch zu und drehte sich zur Tür um. Wie stets hatte er als Erster das Nahen ihres Lehrers gespürt.

Zunächst trat jedoch Kanrinin ein, der noch fehlende sechste Schüler Meister Hyeons.

„Er kommt“, verkündete er und nahm rasch seinen Platz ein.

Stille senkte sich im Raum herab, nur das Plätschern des Wassers draußen im Hof war zu hören, das sich von einem Becken des steinernen Bachs ins nächste ergoss. Außerdem war da ein Frosch, der etwas unentschlossen quakte. Nach einer Weile verstummte er wie auf Befehl. Der Wind fuhr abermals durch die Blätter des Bambus.

Rays Blick wanderte von einem seiner Mitstreiter zum nächsten. Plötzlich meinte er, sie zum ersten Mal zu sehen. Was verband ihn eigentlich mit ihnen? Ein Beschwörer hat keinen Freund, das hatte Meister Hyeon ihnen immer wieder eingeschärft. Ein Beschwörer ist ein Einzelgänger. Er darf nicht auf Hilfe von anderen hoffen. Niemals.

Grizzly saß vor Ray und bot ihm seinen Stiernacken zur Ansicht dar. Wie kann ein solcher Bulle überhaupt Beschwörer sein?, fragte sich Ray. Ihm steht doch ins Gesicht geschrieben, dass er nur eins im Leben will: schlafen, essen und in der Unmigasse ins Freudenhaus gehen, weil Beschwörer dort gern umsonst empfangen werden.

Sayunaro hatte sich bereits wieder über sein Buch gebeugt. Er erinnerte Ray stets ein wenig an Meister Hyeon, war er doch ebenso schlank und feingliedrig. Von seinem Äußeren sollte man sich allerdings nicht täuschen lassen. Dieser Beschwörer hörte nicht umsonst auf den Namen Sayunaro, Leb wohl. Wenn er wollte, nahm jeder Geist vor ihm Reißaus.

Kanrinin drehte sich kurz zu Ray um, schnitt eine Grimasse, grinste und wandte sich wieder ab. Bei seiner Neigung zu Albernheiten und dummen Scherzen hätte man es kaum für möglich gehalten, dass er ein ausgesprochen starker Beschwörer war. Leider auch ein höchst selbstgefälliger. Insgeheim lauerten daher alle darauf, dass er einmal richtig auf die Nase fiel, doch der Mann mit dem gewitzten Gesichtsausdruck, dem strubbligen Haar und den schrägen Augen war ein unglaublicher Glückspilz und ging selbst aus gefährlichen Kämpfen als Sieger hervor. Sogar eine Begegnung mit einem Manmo hatte er schon überstanden. Gut, Meister Hyeon hatte dieser Kreatur mit einem Zauber einen ersten Schlag versetzt, doch selbst in diesem Zustand blieb der Geist gefährlich …

Schließlich waren erneut Schritte zu hören, diesmal sehr leise, und der Meister betrat den Raum. Bei seinem Anblick fragte sich Ray jedes Mal, wie dieser hagere Mann über eine derart gewaltige magische Kraft gebieten konnte.

Er schien alterslos, vielleicht fünfundzwanzig, vielleicht aber auch vierzig. Die glatten weißen Haare fielen über sein Obergewand von nahezu gleicher Farbe. Das schmale Gesicht mit der feinen Nase, dem scharf geschnittenen Kinn und den blassen Lippen gab wie gewöhnlich keinen Gedanken des Meisters preis. Ray hatte es in all den Jahren seiner Ausbildung nicht einmal erlebt, dass sein Lehrer die Beherrschung verlor, mochten sich seine Schüler auch noch so ungeschickt anstellen. Überhaupt schien er keine starken Gefühlsregungen zu kennen. Niemand wusste etwas Genaues über seine Vergangenheit, Gerüchte machten jedoch zuhauf die Runde.

Meister Hyeon stellte sich auf ein kleines Podest und ließ den Blick seiner hellen, durchdringenden Augen über seine Schüler schweifen.

„Eure Ausbildung ist nun abgeschlossen“, richtete er das Wort an sie.

Die Stille im Raum verdichtete sich derart, dass sie fast greifbar schien. Ray war sich sicher, dass seinen Gefährten in dieser Sekunde derselbe Gedanke durch den Kopf schoss wie ihm: Was soll das heißen – die Ausbildung ist beendet?! Es bleibt doch noch ein ganzer Monat …

„Jeder von euch hat von mir das Wissen erhalten, das er für seine künftige Aufgabe braucht. Nun ist die Zeit gekommen, dass ihr euch beweist. Zunächst bei einer letzten Prüfung.“

„Wie sieht die aus, Meister?“, wollte Rekar wissen. Ausnahmsweise wurde er nicht für seine vorwitzige Frage getadelt.

„Wie ihr alle wisst“, antwortete ihm Hyeon leise, jedoch voller Nachdruck, „liegt der Haupttempel unseres Ordens im Zentrum Warras, inmitten der Hundertjährigen Gärten. Morgen muss jeder von euch in seinem Fuhrwerk dorthin gelangen. Wer bis Sonnenuntergang an die Tempeltür klopft, darf sich mit Fug und Recht Beschwörer nennen und erhält das offizielle Zertifikat des Ordens.“

„Aber morgen begehen wir den Tag der Geister“, murmelte Grizzly, und in seinen hellbraunen Augen blitzte kurz Unverständnis auf. „Da sollte niemand das Haus verlassen, das könnte diesen Geschöpfen missfallen.“

„Wenn ich mich nicht täusche, seid ihr Beschwörer oder wollt zumindest als solche gelten“, erwiderte Meister Hyeon lächelnd. „Eure Arbeit besteht darin, Geistern zu missfallen.“

Seine Schüler sahen sich bloß ratlos an. Erlaubte sich ihr Lehrer da einen Scherz mit ihnen? Gedämpftes Murmeln kam auf. Nur Sayunaro schwieg und hatte den Blick fest auf ihrer aller Meister gerichtet. Ein Schwert, bereit, jederzeit aus der Scheide zu fahren.

„Das wäre Frevel“, brachte Rekar mit gesenktem Blick, aber fester, wenn auch kaum hörbarer Stimme heraus. Sofort breitete sich wieder Stille im Raum aus. „Damit brächen wir das Gesetz der jenseitigen Welt. Ihre Bewohner würden es uns nie verzeihen, wenn wir uns an diesem Tag in ihrer Mitte zeigten.“

„Wenn ihr glaubt, einem Gesetz folgen zu müssen, dann einzig und allein dem, das ihr selbst aufgestellt habt“, erwiderte Hyeon streng. „Andere bestehen für euch nicht.“

Kazumi, der neben Ray saß, spannte sich merklich an. Er besaß ein hervorragendes Näschen für heraufziehende Unannehmlichkeiten jeder Art.

„Das ist doch Wahnsinn“, bemerkte Rekar denn auch stur und maß Meister Hyeon mit finsterem Blick. „Jeder von uns … wir könnten alle sterben.“

„Ihr verfügt über das Wissen und die Fähigkeit, diese Aufgabe zu bewältigen“, entgegnete ihr Lehrer und schob die Hände unter die weiten Ärmel seines Gewandes.

„Halt bloß den Mund!“, zischte Ray seinen aufsässigen Mitstreiter an.

„Mir ist völlig schleierhaft“, fuhr dieser jedoch schon fort, „warum wir ein solches Risiko eingehen und unser Leben ohne Sinn und Verstand aufs Spiel …“

„Unsere Arbeit birgt stets ein Risiko“, antwortete Hyeon überraschend sanft. „Das wirst du doch nicht vergessen haben, oder?“

„Halt jetzt endlich deinen Mund!“, fauchte Ray etwas lauter, doch auch diesmal vergebens.

„Das habe ich nicht“, erwiderte Rekar. „Aber ich glaube, wir sollten nur dann ein Risiko eingehen, wenn es einen guten Grund dafür gibt. Schlicht jede Regel der Vorsicht außer Acht zu lassen wäre töricht.“

Nach diesen Worten schwieg Meister Hyeon. Alle anderen im Raum meinten, eine eisige Welle woge über sie hinweg. Selbst der Bambus schien, nach einem letzten aufbäumenden Rascheln, zu Eis erstarrt.

Ray ballte die Hände zu Fäusten. Was nun kam, wusste er. Grizzly schnaubte laut. Kazumi dagegen strahlte vor Freude, weil gleich jemand eine saftige Niederlage würde einstecken müssen.

„Es stimmt ja, Meister Hyeon, Ihr habt uns vorzüglich ausgebildet“, fuhr Rekar fort. „Dafür bin ich Euch dankbar. Dennoch werde ich diese Prüfung nicht ablegen. Ich bin ein guter Beschwörer, das weiß ich auch ohne sie.“

„Rekar“, brachte ihr Lehrer sanft hervor. „Steh auf.“

Nach kurzem Zögern kam Rekar der Aufforderung nach. Da er seinen Lehrer nun überragte, musste er auf ihn hinabschauen.

„Du kannst nun gehen“, teilte Hyeon ihm freundlich mit. „Und lass dich nie wieder in diesem Tempel blicken.“

Rekar suchte den Blick seiner Gefährten. Binnen eines Wimpernschlages hatte er sich von einem selbstsicheren Beschwörer in einen hilflosen kleinen Jungen verwandelt, den man aus dem Haus jagt. Ebenso rasch gewann er jedoch die Kontrolle über sich zurück. Als er sein Schwert aufnehmen wollte, gebot Hyeon ihm mit einer Handbewegung Einhalt.

„Nein“, sagte der, „diese Klinge wirst du nicht länger tragen.“

Rekar runzelte die Stirn, stiefelte jedoch ohne ein Wort des Widerspruchs zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal zu den anderen um.

„Wenn ihr nicht durch eure eigene Dummheit sterben wollt“, sagte er, „solltet ihr mich begleiten. Noch ist es nicht zu spät.“

Grizzly rutschte nervös hin und her, blieb am Ende jedoch sitzen, Kanrinin schüttelte missbilligend den Kopf, Kazumi schnaubte leise.

„Du begehst einen Fehler“, sagte Sayunaro zu Rekar.

Dieser verzog jedoch nur verächtlich das Gesicht, winkte ab, murmelte: „Dumme Jungen!“, und verließ den Raum.

„Möchte noch einer von euch gehen?“, erkundigte sich Meister Hyeon, wobei seine Stimme auch bei diesen Worten täuschend sanft klang.

Ray beobachtete die anderen. Sie alle saßen reglos da. Niemand sonst hegte den Wunsch, den Raum zu verlassen.

Schließlich nickte Meister Hyeon gleichsam sich selbst zu.

„Gut“, fuhr er fort. „Eure Aufgabe ist es also, morgen bis Sonnenuntergang im Haupttempel zu erscheinen. Ich werde euch dort treffen. Jeder von euch verfügt über ausreichend Kenntnisse, Talent und Kühnheit, um das zu schaffen. Enttäuscht mich also bitte nicht.“

Der Blick Meister Hyeons wanderte langsam von einem zum anderen, fast als wollte er seinen Schülern damit zu verstehen geben, wie fest er an sie glaubte.

„Begebt euch jetzt auf eure Zimmer. Die Türen wird man bis zum Morgen geschlossen halten, damit niemand von euch sich dazu verleiten lässt, den Weg bereits vor der Zeit anzutreten. Schlaft euch gut aus. Wir sehen uns morgen im Tempel.“

„Bis morgen, Lehrer“, antworteten die Schüler wie aus einem Munde.

Hyeon drehte sich um und verließ gemessenen Schrittes den Raum, die Tür leise hinter sich zuziehend. Eine Weile hing ehrfürchtige Stille im Saal, dann sprang Kanrinin mit einer katzenhaft geschmeidigen Bewegung auf. „Was war das denn eben?“, fragte er, ohne sich an jemand Bestimmtes zu wenden.

„Rekar konnte seine Zunge leider nie im Zaum halten“, bemerkte Kazumi – und in seinen Augen lag das Funkeln des Siegers.

Du frohlockst natürlich, dachte Ray. Kein Wunder, ein Konkurrent weniger.

„Wie kann man so töricht sein, den Tempel kurz vor Abschluss der Ausbildung zu verlassen“, fuhr Kazumi fort.

„Und wenn er der Einzige von uns ist, der mit Köpfchen handelt?“, brummelte Grizzly. „Am Tag der Geister durch die halbe Stadt zu streifen …“ Er verstummte und schüttelte nur vielsagend den Kopf.

„Wenn ihr mich fragt, ist er schlicht ein Feigling“, warf Kanrinin ein, während er das Schwert aufnahm, das Rekar hatte zurücklassen müssen. Er ließ die Klinge über seinem Kopf kreisen und richtete sie dann mit einem wenn auch gedämpften Kampfschrei auf Sayunaro.

Leicht befremdet schob dieser die Waffe zur Seite.

„Rekar war nie ein Feigling“, widersprach Sayunaro. „Nur …“ Er schien nach einer passenden Erklärung zu suchen. „… Nur wollte er sein kleines Gemüsebeet nicht für einen großen Garten riskieren“, mischte Ray sich ein, erhob sich, nahm Kanrinin die Waffe ab und legte sie auf Hyeons Podest.

„Bitte?“, knurrte Grizzly. „Kannst du dich nicht etwas klarer ausdrücken? Ohne diese merkwürdigen Vergleiche?“

„Was Ray sagen will“, ergriff Sayunaro mit herzhaftem Lachen das Wort, „ist, dass Rekar sich bereits für einen echten Beschwörer hält und seine Gabe und gegenwärtigen Einkünfte, mögen diese auch noch so bescheiden sein, nicht aufs Spiel setzen will. Seiner Ansicht nach wird er nämlich ohnehin nicht mehr erreichen.“

„Das hätte er auch gleich sagen können“, stieß Grizzly aus und fuhr sich durch die kurzen grauen Haare. „Ob die Frauen aus dem Südtempel sich wohl auch auf den Weg zum Haupttempel machen?“

„Oh, bestimmt nicht. Ganz sicher warten sie auf dich, damit du sie dorthin trägst“, bemerkte Kanrinin lachend, um dann überraschend ernst hinzuzufügen: „Aber in gewisser Weise hat Rekar recht. Warum riskiert Hyeon das Leben von uns Schülern, auf deren Ausbildung er doch eine Menge Zeit und Kraft verwendet hat?“

„Als ob das nicht auf der Hand liegt“, bemerkte Kazumi und bedachte Kanrinin mit einem abschätzigen Blick. „Wir sind zu viele. Allein wir sechs … genauer gesagt fünf, dazu noch zwei Schüler aus dem Nord- und vier aus dem Südtempel. Nicht zu vergessen, die Beschwörer, die ihre Ausbildung im letzten Jahr abgeschlossen haben. In der Stadt dürfte es kaum Arbeit für uns alle geben.“

„Nicht nur Warra braucht Beschwörer“, hielt Ray dagegen, während er in seinem auf Hochglanz polierten Schwert sein Spiegelbild musterte – das nicht ganz dem üblichen entsprach.

Eine magische Waffe zeigt einen Beschwörer in der Gestalt, in der die Geister ihn sehen. Rays graue Augen leuchteten fast schwarz, die Pupillen waren riesig, die Augenbrauen fehlten. Die hellen Haare, die ihm eigentlich stets in die Stirn fielen, erinnerten nun an Borsten, die nach allen Richtungen abstanden. Die kurze Nase ließ an eine Katze denken …

„Nur habe ich nicht die geringste Absicht, mich in die Provinz zu verkrauchen. Ich bleibe in Warra“, verkündete Kazumi. „Da die Meister jedoch nur einen, allerhöchstens zwei junge Beschwörer behalten, verlangt uns Hyeon diese Prüfung ab. Er weiß ganz genau, dass die Hälfte von uns auf dem Weg zum Tempel stirbt. Dafür weiß er danach auch, wer der stärkste, begabteste und erfolgreichste Beschwörer von uns ist.“

Kazumi salbaderte noch weiter, doch Ray hörte nicht mehr zu, drehte sein Schwert jedoch so, dass die Klinge das Bild des Redners einfing. Der hochgewachsene junge Mann mit dem akkurat geschnittenen aschgrauen Haar glich nun einem krummbeinigen Zwerg mit spitzem Rattengesicht, der das Maul mit den gesträubten Barthaaren aufriss und wild mit den kurzen Pfoten durch die Luft fuhr.

Ray musste einen Lachanfall unterdrücken und legte die Waffe zu Boden.

„Haltet ihr es, wie ihr wollt, ich aber werde diese Prüfung auf alle Fälle antreten“, schloss Kazumi, stand auf und strich sein Gewand glatt. „Möget ihr alle den morgigen Tag überstehen.“

„Du auch“, erwiderte Kanrinin bloß. Sobald sich die Tür hinter Kazumi schloss, drehte er sich zu den anderen um. „Hoffentlich wird dieser Iltis morgen von den Geistern verschlungen! Na ja, vermutlich brauchen wir auf dieses Geschenk des Schicksals nicht zu hoffen. Trotzdem … Euch aber viel Glück!“

Er nickte seinen Freunden zu und zog sich mit einem fröhlichen Pfeifen auf sein Zimmer zurück.

Die anderen drei schwiegen kurz, dann stand Grizzly auf. Ray und Sayunaro folgten seinem Beispiel.

Im Gang hatte man bereits Laternen angezündet. Ihr warmes Licht warf vollendete Kreise auf den steinernen Fußboden und die Gemälde, die an den Wänden hingen. Die Porträts der großen Beschwörer aus der Vergangenheit schienen golddurchwirkt zu sein.

Grizzly rollte mit den Schultern, bis er einen Entschluss fasste und sich nach den beiden anderen umsah.

„Hört mal, ich hab mir gedacht …“ Er spähte links und rechts den Gang hinunter, entdeckte aber niemanden und fuhr fort: „Es wäre doch nicht schlecht, wenn wir morgen alle zusammenbleiben würden.“

„Wie stellst du dir das vor?“, erwiderte Sayunaro. „Wir haben das noch nie geübt. Da wir aber vermutlich starke Zauber einsetzen müssen, die weit im Umkreis wirken, könnten wir uns leicht gegenseitig in Gefahr bringen …“

„Das ist mir ja klar, aber trotzdem …“ Grizzly verstummte jäh. Er begriff, dass er einen dummen Vorschlag vorgebracht hatte. „Na gut, vergessen wir das! Euch beiden morgen viel Glück!“

„Dir auch“, sagte Ray.

Sayunaro nickte bloß, denn seine Gedanken wandelten bereits wieder auf ihren eigenen Pfaden.

Am Ende des Ganges trennten sich die drei, und jeder begab sich auf sein Zimmer.

 

Ohne ein Licht in seinem Zimmer anzuzünden, ließ Ray sich auf die schmale Liege fallen und starrte zum Fenster hinüber, hinter dem sich die Zweige eines Apfelbaums abzeichneten. Die weißen Blüten schienen im undurchdringlichen Dunkel zu leuchten. Weiter hinten brannten Kerzen, die zu einem schmalen Streifen Lichts verschmolzen.

Dicke Käfer und weiße Nachtfalter huschten durch den Garten. Einer der Luftbewohner landete sogar auf dem Rahmen und schlug ein paarmal mit den hauchzarten Flügeln. Ray versuchte, den nächtlichen Gast allein mit seinem Willen davonzujagen, scheiterte jedoch. Früher sollten Beschwörer ja imstande gewesen, auch Tieren ihren Willen aufzuzwingen, Vögeln, Fischen und Insekten. Aber gut, die Zeiten waren längst vorbei.

Ray schloss die Augen und dachte an die morgige Prüfung. In dir steckt ein starker Beschwörer, das hatte ihm Meister Hyeon immer wieder versichert. Deine Behäbigkeit verhindert jedoch dessen Entfaltung. Deshalb hoffe ich inständig, den Magier in dir eines Tages hervorzulocken.

Offenbar hatte er nun einen Weg gefunden, dachte Ray mit verzagtem Lächeln.

Mit dem Tag der Geister war nicht zu spaßen. Dass Geschöpfe aus der jenseitigen Welt die Erde heimsuchten, war gang und gäbe. Gute und böse Geister, übermütige Spaßvögel und erfahrene Weise, schüchterne und grausame Wesen tobten sich hier aus. Einige dieser Kreaturen waren winzig wie Ameisen, andere riesig wie ein Fels. Manche halfen den Menschen, andere hassten die Erdbewohner, und die nächsten scherten sich kein bisschen um sie. Geister tummelten sich im Wasser oder Feuer, unter der Erde, in den Bergen, im Wald und in Häusern, ja, manchmal nisteten sie sich sogar in einem Menschen ein. Die Aufgabe eines Beschwörers bestand nun darin, freundliche und hilfsbereite Geister anzulocken, die weniger wohlgesinnten und gefährlichen unter ihnen jedoch zu vertreiben.

Das gelang ihnen in der Regel ganz gut, freilich mit der Ausnahme jenes einen Tages im Frühjahr, an dem die Geister geradezu auf der Erde einfielen. Die Menschen verschanzten sich dann in ihren Häusern, zündeten Kerzen an und warteten ab, bis wieder Ruhe einkehrte.

Und ausgerechnet an diesem Tag sollten sie sich diesen Geschöpfen stellen. Ray lief ein Schauder über den Rücken. Statt in Panik zu geraten, rief er sich daher sofort alle Zauber in Erinnerung, mit denen er diese Prüfung meistern würde.

Im Garten plätscherte das Wasser des Brunnens, die Frösche quakten munter, die Schwirlen sangen ihr Lied heute besonders forsch. Die Tiere spürten ebenfalls, dass morgen ein besonderer Tag heraufziehen würde, doch im Unterschied zu den Menschen freuten sie sich darauf. Vielleicht fühlten sie sich jenen unirdischen Wesen ja verwandt oder hielten sie für ihre Beschützer …

In Rays Heimatdorf in der Provinz Sinora ließ man am Tag der Geister sogar die Türen der Scheunen und Hühnerställe auf, damit die guten Geschöpfe aus der jenseitigen Welt zu den Haustieren gelangen und ihnen Gesundheit, Kraft und Zähigkeit verleihen konnten.

Die Schwirlen verstummten kurz, um ihr Lied danach noch lauter wieder anzustimmen. Über dem Gezwitscher schlummerte Ray ein. Im Halbschlaf hörte er noch einen weichen, dumpfen Aufprall, fast als wäre ein großer, reifer Apfel vom Baum gefallen.

Da wird ein Grai durch den Garten gehüpft sein, dachte er. Ja, er meinte sogar, das dunkle, gehörnte Wesen würde kurz durchs Fenster hereinspähen und dabei die Luft tief durch sein einziges Nasenloch einsaugen. Als Ray jedoch zum Fenster hinüberlugte, sah er lediglich die weißen Blüten des Apfelbaums, die im Mondlicht silbern schimmerten. Daraufhin drehte er sich um und schlief sofort ein, hörte und sah nichts mehr …

Am Morgen fuhr Ray jäh aus dem Schlaf. Hatte sich da etwa jemand an sein Bett geschlichen und ihn gerüttelt? Irgendein Geist …? Durchs Fenster fiel warmes Licht, die Sonne war gerade eben aufgegangen. Aus dem Garten drang munteres Vogelgezwitscher herein, vermischt mit dem fröhlichen Lachen einer Frau, das plötzlich einem Lied ohne Worte wich, welches erstaunlich schön und betörend klang.

Über eine solche Stimme verfügte kein Mensch. Das musste eine Sayna sein, ein Geschöpf, das auch als Landsirene bekannt war. Einzig diese Geister vermochten solch zauberische Töne hervorzubringen. Im Unterschied zu ihren Schwestern auf dem Meer töteten sie Menschen jedoch nicht, sondern lockten sie lediglich in den Wald und überließen sie dort ihrem Schicksal. Am heutigen Tag stellten jedoch auch diese Geister eine Gefahr dar. Dann standen sie selbst den nimmersatten Mornas in nichts nach.

Als Ray aufstand, fing sein Herz sofort an zu hämmern. Rasch kleidete er sich an. Heute wählte er nicht sein alltägliches Gewand mit den weiten Ärmeln und den locker sitzenden Hosen, das zwar beim Stockkampf oder beim Einüben neuer Zaubersprüche äußerst praktisch war, für eine Begegnung mit Geistern, von denen etliche mit spitzen Zähnen und scharfen Krallen aufwarteten, allerdings kaum taugte.

Er schlüpfte in eine Hose aus derbem, aber geschmeidigem Leder und streifte sich ein robustes weißes Hemd über. Stiefel mit flacher Sohle und ein Gürtel vollendeten seine Aufmachung. Danach noch etwas Wasser ins Gesicht – und fertig war er. Die Tür ließ sich nun ohne jede Mühe öffnen, der Zauber zu ihrer Verriegelung war längst aufgehoben.

Schnurstracks begab er sich zu dem Raum mit seiner magischen Ausrüstung. Er durchquerte einen langen, schmalen Gang, in dem es keine einzige Tür gab. Durch kleine Luken in der Decke schickte die Sonne rechteckige Lichtflecken auf den Boden.

Was die anderen jetzt wohl machen?, überlegte Ray. Ob schon jemand aufgebrochen ist? Herauskriegen konnte er das nicht ohne Weiteres, denn ihre Zimmer lagen weit auseinander, und jedes hatte einen eigenen Ausgang aus dem Tempel. Selbst ihre jeweiligen Aufbewahrungsräume waren voneinander getrennt.

In Sayunaros Privatspeicher stapelten sich natürlich jede Menge Bücher, alte und neue Werke über Geister, aber auch Romane und Gedichtbände. Rekar bewahrte in seinem Raum ausschließlich Waffen auf. Grizzly hortete Amulette und Gegenstände mit magischer Kraft. Kazumi verschloss in seiner Kammer kostbare Gewänder und seltene Duftöle. Kanrinin machte um seinen Raum ein großes Geheimnis. Ob er dort irgendeinen Geist hielt, den er für den nächsten harmlosen Streich brauchte?

Ray schloss die Tür am Ende des Ganges auf, trat ein und sperrte hinter sich mit einem Zauber wieder ab.

Bis auf seinen Wagen war der Raum völlig leer – wobei es etwas gewagt war, bei diesem Vehikel von einem Wagen zu sprechen, erinnerte es mit seinen Streben doch eher an einen verbogenen Schirm. Im Licht der Laterne unter der Decke schimmerte es bläulich.

Jeder Beschwörer besaß ein vergleichbares Gefährt, denn einige Geister waren so flink, dass man sie zu Fuß nicht einholte. Nach Rays Dafürhalten war allerdings kein anderes Gefährt so schnell und zuverlässig wie seines. Stunden hatte er aufgewandt, um es zu vervollkommnen.

Er trat an es heran und zitierte einen Zauberspruch. Sofort begann sich das Ding vor ihm um die eigene Achse zu drehen. Ein leises Knistern war zu hören. Kurz darauf stand eine riesige bläulich schwarze Kugel vor Ray, aus der etliche spitze Klingen herausragten. Eine fragile und todbringende Konstruktion, in deren Innern es in allen Regenbogenfarben leuchtete.

Das Ganze ließ an jene Früchte denken, die ihr verletzliches Mark mit Dornen vor hungrigen Affen schützten. Ebenso gut geschützt fand sich Ray in seinem Wagen, sollten ihn blutdürstige Geister angreifen.

Ray berührte das Gebilde mit dem Handteller. Daraufhin gaben die Streben kurz einen Einstieg frei und schlossen sich dann wieder. Die Elemente innerhalb dieser martialischen Konstruktion bildeten einen erstaunlich bequemen Sitz. Als Ray einmal eine Nacht in dem Fuhrwerk hatte verbringen müssen, um auf Geheiß Hyeons einen hungrigen Hurii zu verfolgen, hatte er sich keineswegs den Hintern wund gesessen, sondern war sogar eingeschlummert – zur unsagbaren Enttäuschung Kanrinins, der sich schon auf den Anblick des durch das eigene Fortbewegungsgerät gemarterten Ray gefreut hatte.

Mit einem Zauber sorgte Ray dafür, dass die Streben vor ihm etwas auseinanderwichen, damit er freie Sicht hatte, und gab in Gedanken den Befehl zur Abfahrt. Die Tür zum Garten öffnete sich, und der Wagen schwebte vorwärts, getragen von einem überirdischen Wind.

Ein breiter, sauber gefegter Weg führte durch die weitläufige Anlage. Bienen schwirrten um die blühenden Kirschbäume, am klaren blauen Himmel stand nicht eine Wolke. Die Luft hatte sich unter den Strahlen der Morgensonne noch nicht erwärmt, sondern trug nach wie vor den Geruch der kühlen Nacht mit sich, gemischt mit dem von Frühlingsgrün und Minze. Letzterer war so stark, dass er Ray in der Nase kitzelte.

Als er nun zum Tempel zurückspähte, versperrten ihm bereits Alatanen die Sicht, hohe Bäume mit dicken Zweigen und silbrig grünen Blättern, die das Gebäude gegen den Blick allzu neugieriger Mitmenschen abschirmten.

Aus dem Gras kam eine Maus gehuscht und lief schnurstracks auf Ray zu. Kurz darauf sprang ein Wesen von der Größe eines Hermelins auf eine der Klingen. In seiner Schnauze blitzten scharfe Zähne, über ihr saßen große gelbe Augen. Mit bekrallten kräftigen Pfoten klammerte sich das Geschöpf an die Klinge, doch ein schwacher Zauber genügte, damit es fiepend zu Boden fiel. Unter wütendem Gefauche jagte es der Maus nach, die bereits wieder im Gras verschwunden war.

Das war nur ein Bib, ein harmloser Schutzgeist von kleinem Getier wie Wühlmäusen und Fröschen. Ganz in der Nähe schnaufte jedoch hinter den Bäumen ein Gast aus der jenseitigen Welt, der mühelos Äste zerknackte, also deutlich größer und ungeduldiger sein dürfte.

Ray trieb seinen Wagen mit einem Befehl an. Diesem Wesen wollte er lieber nicht begegnen. Ist doch dumm, redete er sich selbst zu, sich auf eine Schlägerei einzulassen, wenn man sie vermeiden und damit die eigenen Kräfte schonen kann. Er richtete sich ein wenig im Sitz auf, um abzuschätzen, wie weit es noch bis zum Tor war.

Hyeon hätte diese Vorsicht vermutlich nicht gebilligt. Aber er muss ja auch nicht die halbe Stadt durchqueren, wenn es darin von Geistern nur so wimmelt, höhnte Ray innerlich, während sein Gefährt das letzte Stück zum Tor hinter sich brachte, vorbei an der Lichtung, über der ein verdächtiger Schwarm von Schmetterlingen kreiste.

Schon machte Ray die breite Straße aus. Sobald er die Tempelanlage verlassen hatte, erfasste ihn unerschütterliche Gelassenheit. Konzentriert sah er sich um.

Die ebenerdigen Häuser mit den winzigen Gärten schienen verlassen, die Fenster waren allesamt mit Läden verrammelt, auf den Stufen hoch zur Haustür und den Veranden standen kleine Schalen, in denen zarte Flammen züngelten, und um jede Pforte wanden sich Blumengirlanden.

Jene Furcht, die Beschwörern die Nähe von Geistern verrät, schwängerte die Luft. Heute war sie freilich noch greifbarer als sonst. Nicht eine Stimme erklang, kein Kinderlachen, kein Gepolter von Karren und nicht einmal ferne Schritte. Bloß die Vögel sangen.

Rays Wagen glitt dahin und wirbelte Staubwolken auf. Als der Beschwörer die Straße hinunterspähte, machte er in einem der Fenster das Gesicht eines kleinen Kindes aus, das durch einen Spalt im Vorhang lugte. In seinem Blick mischten sich Panik und Neugier. Schon in der nächsten Sekunde tauchte seine Mutter auf, nahm es auf den Arm und zog den Vorhang fest zu.

Lächelnd lauschte Ray der Standpauke, die dem neugierigen Kleinen gehalten wurde, der nun beleidigt losweinte. Gleich darauf meldete sich jedoch Rays Konzentration zurück. Am nächsten Haus lauerte die erste wirkliche Gefahr.

Ein kräftiger Aruxin trieb sich dort herum, ein Wesen, das an eine Kröte mit Fell und langem Schwanz erinnerte. Der Geist knabberte gedankenverloren an einer der Blumengirlanden am Zaun und war unter all den gelben Blütenblättern kaum noch zu erkennen. Im Grunde war sein Anblick sogar zum Lachen – doch leider kannte Ray diesen Geist nur zu gut.

Obwohl er den Zauber zur Vertreibung sofort zu wirken begann, handelte er zu spät: Der Aruxin spürte den Menschen, der sich ihm näherte, sprang auf, spuckte die Girlande aus, hechtete auf Ray zu, riss das Maul sperrangelweit auf und spie Ray einen Strahl sengender Luft samt Blütenblättern entgegen.

Dieser umklammerte mit einer Hand die Streben seines Fuhrwerks, mit der anderen schützte er sich gegen den Hitzeschwall. Zugleich zitierte er unverdrossen seinen Zauberspruch weiter.

Sobald der Aruxin den Wagen erreicht hatte, peitschte er mit seinem Schwanz in nackter Vernichtungswut auf ihn ein. Ray schleuderte ihm völlig kalt seinen endlich fertigen Zauber entgegen, woraufhin das Maul des Geistes in einer Mausefalle gefangen schien. Der Aruxin schüttelte wild den Kopf, stellte sich auf die Hinterbeine – und fand sich in einem unsichtbaren Netz wieder. Noch in der nächsten Sekunde beförderte ihn Ray zurück in die jenseitige Welt.

Ray wischte sich den Schweiß von der Stirn und streifte die Blütenblätter von seinem Gewand. Zum Glück hatte der Aruxin sich bloß mit ihnen vollgestopft. Hätte dieser Geist sich über eine weniger angenehme Speise hergemacht, wäre Ray nicht so glimpflich davongekommen …

Schon bald wurde die Straße merklich breiter. Nun ragten zu beiden Seiten höhere Häuser auf, mit ein oder zwei Stockwerken. Oben lebten die Hausbesitzer oder niedrigere Beamte, unten lagen Läden und Speiselokale, die heute selbstverständlich allesamt geschlossen waren. An jeder der grün gestrichenen Türen hing ein beeindruckendes Vorhängeschloss, das ebenfalls mit Blumen geschmückt war.

Gärten gab es hier zwar keine mehr, doch vor jedem Haus standen hohe Alatanen. Obwohl sie nicht so alt waren wie die am Tempel, wirkten sie recht imposant. Ohne diese Bäume ließe sich der glutheiße Sommer in der Stadt kaum überstehen. Obendrein vertrieben die Bäume auch kleine Geister und Stechmücken. Letztere ertrugen den Geruch, der von den langen silbergrünen Blättern aufstieg, nämlich nicht.

Als Ray die menschenleere Straße durchquerte, atmete er die frische und zugleich würzige Luft tief ein. Sein Blick wanderte die Häuser entlang – bis plötzlich eine Pfütze aufblitzte.

Wie kam die bitte hierher? Ray drosselte sein Gefährt und kramte in seinem Gedächtnis nach einem vergleichbaren Phänomen, doch vergeblich. Als er die Lache daraufhin beherzt umfahren wollte, schoss hinter einem der Häuser eine dichte, bunt schillernde Wolke hervor und hielt fauchend auf ihn zu.

Winzige Biester mit äußerst scharfen Zähnen und Krallen griffen ihn an, benagten die Streben seines Vehikels und wollten zu Ray vordringen. Piwis, Schutzgeister aller Insekten, die häufig im Schwarm auftraten. So wütend hatte Ray sie freilich noch nie erlebt.

Er riss den Wagen irrsinnig schnell herum. Da die Geister nicht mit diesem Manöver gerechnet hatten, konnten die meisten von ihnen sich nicht an dem Gefährt halten. Zwei Biester schafften es allerdings dennoch, zu Ray vorzustoßen. Den ersten Burschen erledigte er mühelos, seinen Kumpan ereilte dies Schicksal ein paar Sekunden später – die dem Piwi jedoch gereicht hatten, um Ray in die Hand zu beißen.

Das war schlecht. Der Geruch von Blut würde weitere Geister anziehen. Obendrein sammelten sich die Piwis bereits wieder zum Schwarm und planten ihren nächsten Angriff.

„Vorwärts“, rief Ray, woraufhin das Gefährt die Straße hinunterschoss und in vollem Lauf durch die Pfütze jagte, sodass das Wasser hochspritzte.

Nach einem letzten Blick zurück stellte Ray fest, dass die kleinen Biester fiepend auseinanderstoben. Aus gutem Grund: Das Wesen, das sich in der Pfütze versteckt hatte, rührte sich, der spitze Kopf zeigte sich über dem Wasser – und die lange Zunge schnappte sich gerade den ersten Piwi.

Ray versorgte rasch seine Wunde, blieb dabei aber die ganze Zeit wachsam. Vor der Bibliothek am Ende der Straße huschten graue Schatten umher, aus einem offenen Fenster flogen herausgerissene Seiten. Der Bibliothekar hatte das Gebäude offenbar nicht sicher genug verrammelt …

Ein Blatt blieb an einer Klinge von Rays Wagen hängen, sodass er einige Wörter zu erkennen vermochte: „… alles Seiende voller Leben …“ Wahrscheinlich eine alte Handschrift. Morgen musste sich da jemand auf eine gewaltige Standpauke gefasst machen …

Als Ray endlich den Platz am Ende der Straße erreichte, stürzten sich graue Segrimis mit wildem Gebrüll auf ihn und wollten sein Vehikel mit ihren sechs krallenbesetzten Pfoten auseinandernehmen. Die Fahrt verlangsamte sich dadurch ungemein. Schon vernahm Ray in seinem Rücken ein bedrohliches Knacken. Sofort wirkte er einen Zauber. Diesen hatte er eigentlich für den äußersten Notfall aufheben wollen. Die Klingen am Wagen erstrahlten nun jedenfalls in einem violetten Licht, und nadelfeine Blitze schlugen auf die angriffslustigen Geister ein, sodass diese in alle Himmelsrichtungen fortgeschleudert wurden. Das Gefährt preschte wieder mit voller Kraft die Straße hinunter. Mit weiteren Zaubern schaltete Ray die Segrimis vollends aus.

Die Mitte des Platzes nahm ein Teich ein, diesen säumten Bäume, in deren Kronen Vögel tschilpten. Über die Zweige huschten außerdem leuchtende Wesen, die ein wenig an regenbogenfarbene Drosseln erinnerten. Auch im Wasser trieb sich ein Gast aus der jenseitigen Welt herum und schnaubte laut. Zu guter Letzt nahmen ein paar Steine – oder zumindest das, was Ray bis dahin für Steine gehalten hatte – Reißaus und kullerten kreischend an eine andere Stelle.

Als Ray an einer Kreuzung abbog, fing um ihn herum plötzlich alles zu vibrieren an: Mehr und mehr jenseitige Wesen drangen in seine Welt vor. Ein schwarzer Schatten stürzte von oben auf ihn zu – vor dem er sich buchstäblich in letzter Sekunde in Sicherheit bringen konnte. Die weißen Türme der Sommerresidenz der Kaiserin lagen heute hinter glühendem Rauch verborgen, ja, das aparte Bauwerk schien sich in der kochenden Luft geradezu aufzulösen.

Wie die Menschen in den Häusern hier das nur aushalten, überlegte Ray. Bestimmt kriegen sie vor Hitze kaum noch Luft und beten darum, dass dieser Tag möglichst schnell vorüber ist.

„Aber mir kommt dieser Feuergeist ganz gelegen“, murmelte er dann.

Beim Anblick der aufgeheizten Straße war ihm nämlich eine Idee gekommen. Er hielt kurz inne und zitierte einen Zauberspruch. Daraufhin schoss der Yuumo aus einer schmalen Gasse heraus, ein kleiner Vogel, der nicht größer als ein Fliegenschnäpper war, jedoch funkelte wie ein Edelstein.

Sofort raste Ray weiter. Der Fahrtwind rauschte in seinen Ohren, der Yuumo setzte ihm fröhlich nach. Bei diesem Geist musste man sich etwas einfallen lassen, denn vertreiben konnte man ihn letztlich nicht. Theoretisch war es zwar möglich, und in der Vergangenheit hatten, falls das nicht bloß Legenden waren, einige Beschwörer diese Aufgabe wohl auch gemeistert.

Für Ray bedeutete der Feuergeist in seinem Schlepptau im Moment allerdings, dass alle anderen Wesen aus dem Jenseits vor ihm Reißaus nahmen, verspürten sie doch nicht den geringsten Wunsch, vom Atem des Yuumo versengt zu werden. Freilich litt auch Ray unter der Hitze. Der Schweiß rann ihm in die Augen, der glühend heiße Atem des Geistes versengte seine Haut, die Streben des Wagens knisterten bereits besorgniserregend. Immerhin sah Ray inzwischen die breite Allee vor sich, die zum Haupttempel führte.

Er hielt auf den großen runden Platz davor zu, den Schreine säumten, die allerlei Schutzgeistern gewidmet waren. Sobald der Yuumo sich in der Platzmitte befand, wirkte Ray einen weiteren Zauber, der dem Geist vorübergehend die Sicht auf ihn nahm, sodass er ziellos von einer Seite zur anderen durch die Luft irrte, Ray aber nicht mehr entdeckte.

Dieser zögerte keine Sekunde und nutzte die Gelegenheit zu entkommen. Nach all den Zaubern drohte sein Kopf inzwischen zu platzen. Vor seinen Augen tanzten blutrote Flecken. Zum Glück hatte er sein Ziel fast erreicht. Gleich ist es geschafft, sprach er sich beim Anblick des offenen Tempeltores Mut zu. Wie aus dem Nichts tauchte da vor ihm ein gewaltiger Felsblock auf. Vielmehr ein vermeintlicher Felsblock …

„Halt!“, schrie Ray.

Der folgsame Wagen drosselte sofort das Tempo, streifte den Marmuch – denn genau darum handelte es sich – aber trotzdem. Ein lautes Bersten war zu vernehmen, etliche Streben und Klingen prasselten zu Boden. Auch Ray wäre beinahe in die Luft katapultiert worden.

Der Geist drehte Ray in aller Gemächlichkeit sein flaches, ausdrucksloses Gesicht zu, das zwei schwarze Kuhlen anstelle von Augen aufwies. Dann knackte es plötzlich, und spitze Steinschuppen hagelten auf Ray. Die meisten prallten zwar an dem unversehrt gebliebenen Teil des Fuhrwerks ab, doch einige fanden den Weg durch die aufgerissene Stelle, trafen Ray und schlitzten ihm sogar die Haut auf.

Im Gegenzug überzog er den Marmuch mit einem nicht minder schmerzhaften Zauber, wobei er auf die Kuhlenaugen seines Gegners zielte. Dieser duckte sich jedoch überraschend geschickt weg. Erst als Ray ein zweites Mal zuschlug und in diesen Angriff all seine verbliebene Kraft legte, knirschte der Koloss, schwankte und zerfiel zu einem Berg schwarzer Steine, in dem einige Saphire funkelten. Nur durfte Ray an einem Tag wie diesem nicht einmal daran denken, aus dem Wagen zu klettern und die Edelsteine aufzuklauben.

Sofort schoss er weiter die Straße entlang. Der Tempel kam immer näher. Ray scheuchte noch einige Dutzend Bibs auf, die mit ein paar Mäusen herumtollten, setzte über einen Bach, wich in letzter Sekunde einem Grai aus und knallte geradezu gegen die Veranda des Tempels.

Er konnte sein Glück kaum fassen: Er hatte es geschafft. In aller Eile stieg Ray aus dem Wagen und stolperte die drei Stufen hinauf. Ein leichtes Bambusdach spannte sich über den breiten Holzboden, auf dem golden schimmernde Schilfmatten mit unterschiedlichen Mustern lagen. Irgendwo läuteten friedvoll einige Glöckchen. Der Wind spielte mit den breiten himbeerroten Bändern, die an den Dachträgern befestigt waren …

Bevor Ray den Tempel betrat, ließ er seinen Blick noch einmal durch den Garten wandern, der in strahlendem Sonnenlicht dalag. Der anheimelnde Vorraum war lichtdurchflutet – und völlig leer.

Bin ich wirklich der Erste?, fragte sich Ray erstaunt, während er sich auf einer Schilfmatte niederließ. Einen weiteren Wagen habe ich ja nicht gesehen … Ob die anderen es vielleicht von der rückwärtigen Seite her versuchen?

Obwohl sich mit einem Mal all seine Verletzungen bemerkbar machten, galt seine ganze Aufmerksamkeit dem etwaigen Geräusch von Schritten. Bestimmt kommen sie gleich, sprach er sich selbst Mut zu. Meister Hyeon hat schließlich gesagt, uns stünde der ganze Tag zur Verfügung, um den Tempel zu erreichen. Da bleibt noch genug Zeit …

Aus dem Garten drang das friedliche Gebimmel der Glöckchen heran, das Rauschen des Windes und das Fiepen der Mäuse. In zwei großen Wasserschalen vor der Wand schwammen Blüten und tanzten Sonnenstrahlen. Auch an den Wänden spielten sie Haschen …

Sayunaro ist sicher der Nächste, sinnierte Ray. Er ist viel begabter als ich. Kanrinin hat immer Glück. Kazumi ist clever und gewitzt … Und Grizzly mag zwar ein echter Tollpatsch sein, aber wenn ihn die Wut packt, wird er mit jedem Geist fertig.

Er merkte nicht einmal, wie er in seiner Sorge immer stärker mit der Faust auf seinen Schenkel trommelte. Um sich abzulenken, ging er in Gedanken noch einmal den Weg durch, den er gewählt hatte, und klopfte ihn auf Fehler ab. Dass der Piwi ihn gebissen hatte, wäre mit Sicherheit zu vermeiden gewesen. Mit den Segrimis hatte er sich auch viel zu lange abgemüht. Obendrein hätte er nicht seinen Notfallzauber an sie vergeuden dürfen. Was, wenn er danach weiteren angriffslustigen Geistern begegnet wäre …?

Mit einem Mal hörte Ray etwas. Sofort wirbelte er herum.

Die zweite Eingangstür, die in seinem Rücken, glitt lautlos zur Seite. Eine zerzauste, blutüberströmte junge Frau trat ein. Ihr helles Gewand sprenkelten braune und grüne Flecken, ihre Knie waren aufgeschürft. Sie hielt eine kurze Lanze in der Hand, die allerdings ein auffällig langes Blatt besaß. In ihrem schönen, im Moment jedoch blassen Gesicht spiegelte sich Erleichterung. Als der Blick ihrer blassveilchenfarbenen Augen jedoch durch den Raum huschte, flackerte Panik darin auf. Sie ließ sich auf die Schilfmatte neben Ray fallen, atmete tief durch, strich sich das dunkelblonde Haar zurück und starrte ausdruckslos auf einen Punkt vor sich.

Schweigend saßen die beiden eine Weile da und lauschten angespannt auf die Stille, die den Tempel einhüllte. Nichts …

„Ein Gayuur?“, fragte Ray irgendwann und nickte in Richtung der grünen Flecken auf dem Hemd der Frau.

„Was?“, fragte sie gedankenversunken zurück, begriff dann jedoch, was Ray meinte, und nickte. „Ja. Zwar nur ein kleiner, aber trotzdem … Du hast nicht zufällig eine … war hier niemand, als du eingetroffen bist?“

„Nein. Ist dir unterwegs jemand begegnet?“

Die Frau schüttelte den Kopf.

„Warum sind sie noch nicht da …?“, flüsterte sie. „Sorano ist eine so starke Beschwörerin, sie wird spielend mit jedem Geist fertig. Ima besteht alle Prüfungen als Beste, und Yuriis Talent ist …“

Sie stockte. Ray lächelte nur traurig. Die Gedanken der Frau glichen seinen eigenen.

„Wir hatten wohl viel Glück.“

Ein schwacher Trost, gewiss, doch irgendetwas hatte er sagen müssen.

„Glück hat damit nichts zu tun“, erwiderte die junge Frau fast tonlos. „Ich habe gelesen, dass Beschwörer … dass ein echter Beschwörer unbewusst stets genau weiß, wann er wie zum Ziel gelangt. Wahrscheinlich bist du eher aufgewacht als deine Mitprüflinge oder hast die beste Strecke gewählt, oder deine innere Stimme hat dir geraten, an einer bestimmten Stelle zu warten oder, ganz im Gegenteil, das Tempo anzuziehen … Bei mir war es jedenfalls so.“

Die Frau wandte sich ab, sodass Ray nur noch das wirre Haar vor sich sah. Gerade als er etwas zu ihr sagen wollte, bemerkte er ein Loch in ihrem Gewand. Blut netzte den Stoff.

„Du bist verletzt.“

„Die Wunde heilt schon“, erwiderte sie, ohne sich zu ihm zu drehen. „Yurii hat gesagt, sie würde hier …“ Sie verstummte erneut.

Ray sprach nun den Gedanken aus, mit dem er sich eben selbst hatte Trost spenden wollen: „Bis zum Abend bleibt noch viel Zeit.“

Die Frau setzte zu einer Erwiderung an, doch da ließ sich vor der Tür, durch die sie selbst eingetreten war, das Geräusch sachter Schritte vernehmen. Voller Hoffnung blickten beide auf. Die Tür wurde zur Seite geschoben – und die beiden lächelten einander traurig zu.

Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte Ray beim Anblick seines Lehrers eine gewisse Enttäuschung, in die sich zudem eine Portion Wut mischte: Wie konnte er derart zufrieden dreinschauen, wenn seine Schüler noch irgendwo in der Stadt herumirrten, in der es heute von durchgedrehten Geistern nur so wimmelte?!

„Ray und Nara“, begrüßte Hyeon sie und nickte zufrieden. „Ihr habt mich nicht enttäuscht. Es freut mich, euch mitteilen zu können, dass die erste Phase eurer Ausbildung nun abgeschlossen ist und ihr somit die zweite Phase in Angriff nehmen könnt.“

Der eigene Erfolg interessierte Ray im Moment freilich nicht im Geringsten. Nara erging es offenbar genauso.

„Meister Hyeon“, brachte sie leise, aber nachdrücklich heraus. „Wisst Ihr, was mit den anderen ist?“

„Sie sind an der Aufgabe gescheitert“, antwortete der Meister ruhig.

„Aber Ihr habt doch gesagt, wir hätten bis zum Abend Zeit“, warf Ray empört ein. „Sie können also immer noch kommen.“

„Deshalb werde ich auch hier im Tempel auf sie warten“, erwiderte Hyeon. „Tief in meinem Herzen gehe ich jedoch nicht davon aus, dass noch einer von ihnen erscheint. Ich brauche dir wohl nicht zu wiederholen, welches Risiko ein Beschwörer eingeht, wenn er sich bei der Vertreibung eines Geistes zu viel Zeit lässt. Kazumi hatte recht. Ich brauche begabte, starke und erfolgreiche Schüler. Ihr zwei habt euch als solche erwiesen.“

Meister Hyeon hat seine Ohren wirklich überall und hört, was in einem Raum gesprochen wird, selbst wenn er sich nicht darin aufhält, stellte Ray einmal mehr für sich fest. Doch Kazumis Worte, zum Lob des Meister Hyeon geworden, gaben Ray heute keinen Anlass zur Freude.

„Und ich bin froh“, fuhr sein Lehrer fort, „dass ausgerechnet ihr beide es geschafft habt. Von heute an seid ihr nicht länger meine Schüler, von heute an seid ihr meine Gehilfen. Auf euch wartet eine ganz besondere Aufgabe …“

Nara seufzte, doch Ray hörte aus diesem Laut weder Erleichterung noch Freude heraus.

„Ihr glaubt also, dass die anderen tot sind?“, fragte Ray und ballte die Hände zu Fäusten.

„Etwas anderes scheint mir kaum wahrscheinlich.“

„Aber sicher seid Ihr nicht?“, hakte Ray nach. „Was, wenn noch einer von ihnen lebt?! Da müssen wir ihnen doch helfen! Herausfinden, was mit ihnen geschehen ist!“

„Du kennst unsere Gesetze. Jeder ist für sich selbst verantwortlich.“

„Seid nicht ungerecht!“, brauste Ray auf, sehr zu Naras Sorge. „Ihr habt uns eingeschärft, uns einzig auf uns selbst zu verlassen. Niemand von uns darf auf Hilfe von anderen hoffen! Das stimmt – aber Ihr habt uns auch noch etwas anderes beigebracht. Wir müssen alle Menschen gegen Geister verteidigen. Und Eure anderen Schüler sind doch nicht nur Beschwörer – sie sind auch Menschen.“

„Ray“, brachte Meister Hyeon in sehr leisem, dafür umso bedrohlicherem Ton hervor, „dreh mir bitte nicht das Wort im Mund um.“

„Hast du einen Wagen?“, überging Ray ihn und wandte sich stattdessen an Nara.

„Bitte?“ Sie sah ihn geradezu entsetzt aus ihren großen Augen mit den langen Wimpern an.

„Wie bist du hergekommen?“

„Selbstverständlich mit dem Wagen, aber …“

„Leihst du ihn mir? Meiner ist kaputt.“

„Ray“, fuhr Meister Hyeon ihn daraufhin an. „Ich verbiete es dir, den Tempel zu verlassen.“

„Aber, Meister, ich …“ Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte er sich wie Rekar, der sich geweigert hatte, die letzte Prüfung zu absolvieren. „Ich komme ja wieder, das verspreche ich. Aber ich muss den anderen helfen, sonst …“

Er vermochte nicht zu erklären, wie er sich vorkommen würde, wenn er seine Freunde jetzt im Stich lassen würde. Deshalb machte er bloß eine wegwerfende Handbewegung und tat, was er sich bisher im Traum nicht ausgemalt hätte: Er verweigerte seinem Lehrer den Gehorsam. Ohne Hyeon anzusehen, ging er zur Tür hinaus.

Über die Veranda tanzten Sonnenstrahlen. Ray lauschte noch einmal in sich hinein. Nein, es gab keinen Zweifel. Er handelte richtig, auch wenn dieser Schritt an Wahnsinn grenzte.

Da wurde die Tür hinter ihm noch einmal zur Seite geschoben.

„Ray, warte!“, bat Nara aufgeregt. Humpelnd und eine Hand gegen die Seite gepresst, trat sie an ihn heran, um ihm ihre Lanze in die Hand zu drücken. „Nimm die mit!“

„Ich kann mit einer Yari nicht umgehen“, gestand er mit einem Blick auf die Klinge, die mit magischer Hilfe geschaffen worden war.

„Das ist ein Kinderspiel“, versicherte ihm Nara rasch. „Du schickst den Zauber durch sie hindurch. Dann kannst du einen Geist sogar aus sicherer Entfernung ausschalten.“

„Hört sich wirklich einfach an. Danke …“

„Im Gegenzug möchte ich dich um etwas bitten“, brachte Nara heraus. „Wenn du eine meiner Freundinnen siehst … Rette sie!“

Ray nickte, sah Nara dabei aber nicht in die Augen. Auf seinem Weg würde er kaum einer der Frauen begegnen, denn sie mussten aus einer anderen Richtung kommen … Er lief die Stufen hinunter. Als er sich noch einmal zurückdrehte, war Nara bereits verschwunden.

Ohne sich dessen eigentlich bewusst zu sein, strich Ray über seinen demolierten Wagen, der die Wärme der Sonne gespeichert hatte. Die Klingen bohrten sich ihm zur Begrüßung sanft in die Haut. Ray packte die Yari fester und stiefelte den schmalen Weg zur Rückseite des Tempels hinunter, wo Naras Fuhrwerk stand.

Mit einem Mal drang ein lauter Schmerzensschrei an sein Ohr.

Ray folgte ihm, spähte in die Büsche und scheuchte zwei Bibs auf, die sich prompt auf ihn stürzen wollten. Sofort wirkte er einen Zauber. Aus den Augenwinkeln heraus nahm er noch wahr, wie dieser durch Naras Lanze verstärkt wurde.

Endlich machte er denjenigen aus, der da wie irr durch die Gegend schwankte. Ray erschauerte: Der Mann war über und über mit grauen, sich windenden Geschöpfen bedeckt. Die Geister hatten ihn bereits blutig gekratzt und gebissen. Wild schreiend versuchte er sie abzuschütteln, doch sie verbissen sich dadurch nur noch fester in ihn.

Blindlings mit den Armen durch die Luft fahrend, schwankte der arme Kerl noch etwas weiter und fiel schließlich zu Boden.

Umgehend setzte Ray den nächsten Zauber ein. Möglicherweise übertrieb er es ein wenig, denn die Geister wurden wie von einem Orkan in alle Himmelsrichtungen davongefegt, einige verdampften sogar auf der Stelle. Immerhin rappelte sich der Mann vom Boden hoch. Auf allen vieren kauerte er blutüberströmt da und schnaufte schwer.

Ray eilte zu ihm. Erst jetzt erkannte er in ihm den hochnäsigen Kazumi. Dieser klammerte sich zitternd an seinen Retter.

„Du … du hast …“, murmelte er benommen. „Du hast es geschafft … Ich wäre auch … zum Tempel gekommen … wenn nicht … diese Biester.“

„Nun hast du es ja geschafft“, beruhigte Ray ihn, während er ihn zurück zum Tempel begleitete.

„Du hättest mir … nicht … helfen dürfen“, stammelte Kazumi, der am liebsten auf einen Felsblock am Wegesrand gesunken wäre. Das jedoch verhinderte Ray. Erst auf der Veranda durfte Kazumi sich auf eine Schilfmatte plumpsen lassen.

„Ich hätte nicht … gedacht … dass du es schaffst“, flüsterte Kazumi, bevor er seinen Kopf in eine Schale mit schwimmenden Blüten steckte.

Ray packte ihn von hinten und zog ihn zurück.

„Weißt du etwas von den anderen?“, fragte er.

„Kanrinin habe ich nicht gesehen“, antwortete Kazumi nun schon ruhiger und wischte sich mit dem Ärmel das nasse Gesicht ab. „Er hat irgendeinen besonders ausgeklügelten Plan verfolgt. Bestimmt trifft unser Glückspilz bald ein. Grizzly hat es mit einer ganzen Horde von Gayuuren zu tun bekommen, hält sich aber tapfer. Sayunaro hatte allerdings Pech. Sein Wagen ist hinüber.“ Kazumi bleckte die Zähne zu einem süffisanten Lächeln. „Anscheinend haben Shiisans unserem Schlaukopf tüchtig eins hinter die Löffel gegeben.“

„Bitte?!“, rief Ray. „Bist du sicher, dass es Shiisans waren?! Die sind doch nur nachts unterwegs! Und haben sie ihn wirklich angegriffen?“

„Das haben sie“, erwiderte Kazumi schulterzuckend, während er sich Wasser aus der Schale über die geschundenen Beine goss. „Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie zum entscheidenden Schlag ausgeholt haben. Sayunaro hat sich allerdings hervorragend gehalten“, räumte Kazumi mit seltener Großmut ein.

„Du hättest ihm helfen müssen!“, fuhr Ray ihn in einem Ton an, der ihn selbst überraschte.

„Verlangst du allen Ernstes von mir, mich mit diesen Geschöpfen anzulegen, die selbst wir Beschwörer nicht vertreiben können?“, entgegnete Kazumi ehrlich erstaunt. „Hältst du mich für lebensmüde?“

„Ganz bestimmt nicht“, sagte Ray. „Was du bist, habe ich eben gesehen: Hirudifutter! Die Biester haben sich schließlich nicht ohne Grund über dich hergemacht!“

Angewidert wandte Ray sich ab und stapfte davon.

„He!“, schrie Kazumi mit einer gewissen Verzögerung: Er musste diese Beleidigung erst einmal verdauen. „Wo willst du hin? Etwa zu Sayunaro?! Ihn retten?! Dabei verreckst du doch selbst!“

Ray verkniff sich jede Antwort. Ihn berührte nicht, was Kazumi von sich gab.

Schon von Weitem machte er Naras Wagen neben den Jasminbüschen aus, die an der Ostwand des Tempels wuchsen. Bei seinem Anblick schnaufte er verärgert. Seine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Das war kein Wagen, sondern eine türkisfarbene Libelle mit langen, durchscheinenden Flügeln und einer Art filigraner Laube auf dem Rücken.

Mit dem Ding komme ich nicht weit, dachte er wütend, obwohl er wusste, wie ungerecht das war. Das Äußere ihrer Fuhrwerke spielte nicht die geringste Rolle, außerdem war Nara mit ihm bis zum Tempel gelangt, ohne dass das Vehikel Schaden genommen hätte.

Er spielte mit dem Gedanken, etwas von dem Wagen abzumontieren und damit seinen eigenen zu reparieren, verwarf die Idee aber. Das würde nie im Leben klappen. Außerdem erkannte er nun, dass die Konstruktion deutlich solider war, als es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte. Der hintere Teil in Form eines Stachels bestand aus scharfkantigen Platten. Bei den Flügeln handelte es sich um Klingen, und in dem Körper wäre er ebenso sicher wie in seinem eigenen Gefährt. Anerkennend nickte er und berührte das Gehäuse mit der Lanzenspitze. Nur einen Wimpernschlag später öffnete es sich und gab den Blick auf einen bequemen Sitz frei.

Beim Einsteigen strich Ray über den Wagen, der mit einer zähen roten Flüssigkeit bedeckt war. Blut, schoss es ihm durch den Kopf. Er wischte sich die Hand am Ärmel ab und nahm Platz. Der Sitz hätte breiter sein können, aber gut. Weitaus mehr beschäftigte Ray die Tatsache, dass die Libelle sich nur widerwillig in die Luft erhob und voller Mühe an der Außenseite des Tempels entlangbewegte.

„Trotzdem bin ich damit schneller als zu Fuß“, murmelte Ray.

Der Wagen hielt langsam aufs Tor zu.

Ray legte sich Naras Lanze über die Schenkel und spähte angespannt umher. Die Sorge um seine Freunde wich zunehmend dem Gefühl, selbst in Gefahr zu schweben.

Er hielt noch einmal inne und lauschte. Trotz der zunehmenden Hitze tschilpten die Vögel immer lauter. Vom anderen Ende des Gartens ließ sich das fröhliche Gebell eines Hundes vernehmen. Über den Bäumen schwirrten mit zufriedenem Gebrumm Bienen. Ein Fensterladen quietschte, die Glöckchen läuteten fröhlich, ganz leise rauschte auch irgendwo Wasser …

„Das könnte ein Ausweg sein“, stieß Ray aus und befahl dem Fuhrwerk, den Pfad zu verlassen.

Elena Bychkova

Über Elena Bychkova

Biografie

Elena Bychkova wurde 1976 in Moskau geboren. Sie studierte Journalismus an der Staatlichen Universität Moskau und veröffentlichte mehrere Romane, die millionenfach verkauft und mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet wurden. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Alexey Pehov, einem der erfolgreichsten...

Alexey Pehov

Über Alexey Pehov

Biografie

Alexey Pehov, geboren 1978 in Moskau, studierte Medizin. Seine wahre Leidenschaft gilt jedoch dem Schreiben von Fantasy- und Science-Fiction-Romanen. Er ist neben Sergej Lukianenko der erfolgreichste phantastische Schriftsteller Russlands. „Die Chroniken von Siala“ wurden zu millionenfach...

Natalya Turchaninova

Über Natalya Turchaninova

Biografie

Natalya Turchaninova, geboren 1976 in Moskau, ist Psychologin. Seit 2004 veröffentlicht sie in Russland erfolgreich Fantasyromane, die mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurden. Zusammen mit ihren Co-Autoren Alexey Pehov und Elena Bychkova bildet sie ein in Russland sehr beliebtes Autorentrio, das...

Pressestimmen
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„Spannend, phantastisch und mit Stil!“

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