The Island – Es gibt kein Entkommen The Island – Es gibt kein Entkommen - eBook-Ausgabe
Thriller
— Spannender deutscher Escape-Room-Thriller auf einer verlassenen Ostsee-InselThe Island – Es gibt kein Entkommen — Inhalt
Wie weit würdest du gehen, um zu überleben?
Sie wollen nur spielen. Doch für sechs Influencer wird ein innovatives Escape Game schnell zum Überlebenskampf gegen einen unsichtbaren Gegner, der sie auf einer einsamen Ostseeinsel mit ihren schlimmsten Albträumen konfrontiert. Jedes Rätsel, jede Herausforderung bringt sie der Freiheit näher – oder dem Tod. Die Regeln der Instagram-Welt sind außer Kraft gesetzt. Nicht die Schönen und Lauten gewinnen. Auch nicht die Skrupellosen. Nicht einmal die Schlauen. Hier gewinnt niemand.
Spannendes deutsches Thrillerdebüt.
Leseprobe zu „The Island – Es gibt kein Entkommen“
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Leise rauschend, in einem Tempo, das sich der Idylle der Umgebung angepasst zu haben scheint, gleitet der blau-weiß gestreifte Zug der Usedomer Bäderbahn GmbH in Richtung Norden der Insel. Hinter breiten Fensterscheiben ziehen Wälder und sattgelb blühende Felder vorüber, Sportplätze, ein verlassenes Stellwerk. Hin und wieder streift ein Pflanzenarm die Scheiben, so tief, beinahe ebenerdig schweben wir über die Gleise. Das Abteil ist leer, niemand ist da, außer mir. Ich richte meine schmale blaue Krawatte. Streiche den Leinenanzug glatt. Fahre mir durch [...]
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Leise rauschend, in einem Tempo, das sich der Idylle der Umgebung angepasst zu haben scheint, gleitet der blau-weiß gestreifte Zug der Usedomer Bäderbahn GmbH in Richtung Norden der Insel. Hinter breiten Fensterscheiben ziehen Wälder und sattgelb blühende Felder vorüber, Sportplätze, ein verlassenes Stellwerk. Hin und wieder streift ein Pflanzenarm die Scheiben, so tief, beinahe ebenerdig schweben wir über die Gleise. Das Abteil ist leer, niemand ist da, außer mir. Ich richte meine schmale blaue Krawatte. Streiche den Leinenanzug glatt. Fahre mir durch das gewellte, nach hinten gegelte Haar. Meine Hände fühlen sich danach ein bisschen klebrig an. Ein Blick auf die Uhr: noch eine Dreiviertelstunde. Ich lehne den Kopf gegen das lederne Polster, das sanft unter dem Druck nachgibt, schließe die Augen. Die Sonne scheint auf mein Gesicht, Lichtreflexe tanzen vor meinem inneren Auge. Ich lasse mich fallen, merke, wie die Schwere von mir abfällt, in den Raum hineingleitet. Bald stehe ich auf einem Feld, umgeben von leuchtendem Weizen. Ein leiser Elektrobeat, ein Wabern aus Gelächter und Gläserklirren. Dort, in der Ferne, das Holzportal mit den blauen Lettern.
BLUETOPIA MANSION.
Der kurze Weizen sticht mir in die Fußsohlen, während ich mich dem Portal nähere und es durchschreite. Vor dem rötlichen Abendhimmel setzen sich die Umrisse des Gutshauses ab. Das Klinkerdach, der Spitzturm, die Giebel. Auf dem Balkon, mir den Rücken zugekehrt, steht Pavel und unterhält sich mit einem Fremden. Pavel zieht an seiner E-Zigarette und stößt eine Dampfwolke aus. Als sich die Wolke auflöst, erkenne ich den Mann.
Mit pochendem Herzen schrecke ich auf.
„Die Fahrkarten.“ Vor mir steht eine Schaffnerin und schaut mich mit wässrigen Froschaugen an. Ich brauche eine Sekunde, um mich zu orientieren. Nachdem sie mein Ticket gescannt hat, bin ich wieder allein. Noch einmal tauchen schemenhaft die Traumbilder vor mir auf – der Mann, der Trenchcoat, der verdammte Trenchcoat! –, dann verblassen sie.
Ich scrolle durch meine Mails. Nichts. Ich versuche einen Artikel auf SPIEGEL Online zu lesen, schweife aber immer wieder mit den Gedanken ab. Ein Anruf geht ein.
Anja.
„Tommy, Schatzi! Bist du aufgeregt?“
„Geht so. Kommt wahrscheinlich, wenn ich da bin.“
Lüge. Aber so ist es halt zwischen uns. Ich will ihr gefallen. Obwohl sie meine Managerin ist. Komisch eigentlich.
„Lass uns noch mal über das Wording sprechen. Was ist deine Message, wie trittst du auf?“
„Du meinst …“
„Exakt.“
Ich schaue nach draußen. Ein einsamer Luftballon schwirrt über den blauen Horizont. Jetzt erst bemerke ich, dass es in meinem Abteil ein wenig säuerlich riecht. Oder bin ich das? Ich schnüffle an meinen Achseln. Shit.
„Tommy?“
„Sorry. Also erstens: Dass es mir leidtut. Zweitens, dass ich besser hätte aufpassen müssen. Drittens, dass ich daraus gelernt habe. Hab ich was vergessen?“
„Nein, perfekt. Und nicht vergessen: Dein Blick geht nach vorne, nicht nach hinten. Klar, Dinge sind schiefgelaufen. Aber du hast so verdammt viel gearbeitet, Tom, du hast so geile Projekte möglich gemacht. Das kann nicht sein, dass aufgrund dieser einen Sache alles zerstört wird, was du dir aufgebaut hast. That’s the message.“
„Got it.“
Ich denke an jenen Abend vor acht Wochen, als mein Handy zu später Stunde klingelte. Als ich auf dem Fußboden meines Apartments lag, betrunken, kaputt, verzweifelt. Anja entschuldigte sich, normalerweise hätte sie erst morgen angerufen, aber sie habe gerade eine Anfrage im Spam-Ordner gefunden, von der müsse sie mir erzählen. Meine erste Reaktion war skeptisch: Eine PR-Aktion für einen Escape-Game-Themenpark? Was hatte das mit mir zu tun? Aber dann dachte ich darüber nach, und mir wurde klar: Mein Leben war ein einziges Escape Game. Ein Escape Game ohne Ausweg. Würden sie aufhören, mich zu jagen, wenn ich mich freiwillig in die Arena begab? Womöglich war das meine Chance auf einen Neubeginn. Meine Wiedergeburt. Mein Comeback.
„Ach, und Tom?“
„Ja?“
„Hast du schon …?“
Ich wedele mit meinem Jackett, um den Schweißgeruch zu vertreiben. „Nein. Ich glaube, ich warte noch ein bisschen. Vielleicht ist es besser, wenn ich erst vor die Kamera trete, sobald es losgeht.“
Anja macht einen unzufriedenen Mhm-Laut. „Früher oder später musst du eh die Hosen ausziehen. The sooner, the better. Solange du die Story noch selbst in der Hand hast.“
Was soll ich sagen? Sie hat ja recht. Ich kann trotzdem nicht. So einfach geht das nicht.
Nicht nach dem, was vorgefallen ist.
„Ich schau mal.“
Noch eine knappe halbe Stunde bis zur Ankunft.
Nach dem Telefonat mit Anja gerate ich ins Zweifeln. Wie immer, wenn ich nachdenke, zupfe ich an meiner Augenbraue herum. Muss ich mir abgewöhnen. Ein Video? Ich habe seit über fünf Monaten nichts mehr aufgenommen. Mein letztes Video ist vom Januar. Das berühmte Ich muss euch was sagen-Video. Worüber sollte ich denn überhaupt sprechen? Früher hätte ich über so was nie nachgedacht. Hätte direkt drauflosgesabbelt. Authentisch. So, wie mir der Schnabel gewachsen ist. So funktioniere ich am besten. Wenn ich improvisiere.
Oder habe am besten funktioniert.
Heute funktioniert gar nichts mehr.
Und deshalb werde ich jetzt auch kein Video aufnehmen.
Period.
2
An der nächsten Haltestelle steigen drei Kids ins Abteil. Sie wirken wie aus dem Online-Katalog ins Leben getretene Prototypen männlicher Jugendlichkeit im Jahr 2024: Hoody, Baggy, Sneaker und natürlich die Standardfrisur: ausrasierte Seiten und vorne längeres, aufquellendes Haar. Die drei schlurfen an mir vorbei und verschwinden in einer Sitzreihe.
16:43 Uhr. Noch vierundzwanzig Minuten.
Zeit genug, um sich mit meinen zukünftigen Mitstreitern zu beschäftigen. Ich öffne das Instagram-Profil von Suzanna Steegmeier. 630.000 Follower. Ungefähr so viel, wie ich zu meinen besten Zeiten hatte. Was aber auch das Einzige ist, was wir gemeinsam haben. Ihre neueste Story besteht aus einem einzigen Clip. Wie in den meisten ihrer Beiträge schaut Suzanna frontal in die Kamera, runzelt die Stirn und spitzt die Schlauchbootlippen. Darüber der Schriftzug: Heute mach ich euch bitches fertig #theisland. Suzanna Steegmeier, wie man sie aus ihren Auftritten im Sommerhaus der Stars und Kampf der Realitystars kennt. Wer die Frau mit dem breiten fränkischen Dialekt bestellt, bekommt den Trashtalk gleich mitgeliefert.
Ich suche nach Lazarus. Dem mysteriösen Maskenmann, von dem ich bis vor acht Wochen noch nie gehört hatte. Wie ich dann herausfand, gibt es in Social Media eine ganze Nische für Typen wie Lazarus. Nerds, meistens männlich, die sich mit den Themen Transhumanismus und künstliche Intelligenz beschäftigen. Und nimmt man Lazarus’ 430.000 Follower zum Maßstab, offenbar gar nicht mal so wenige. Das letzte Foto hat er vor wenigen Minuten hochgeladen. Lazarus trägt seine metallische Roboter-Maske, die an einen dystopischen Sci-Fi-Thriller erinnert. Darüber einen schwarzen Hoodie. Er sitzt auf dem Rücksitz eines Autos und blickt mit verschränkten Armen in die Kamera.
Capture: People vs machine. Who will win?
Gerüchtehalber handelt es sich bei Lazarus um einen Deutsch-Rumänen, der mit Immobiliengeschäften reich geworden ist – was im Übrigen auch sein rollendes R erklären würde. Andere behaupten, dass sich unter der Maske ein ehemaliger Kickboxer verbirgt, der fünfzehn Jahre in einem thailändischen Knast abgesessen hat. Aber wie gesagt, das sind nur Gerüchte. Kommentare. Reddit-Theorien. Fan-Fiction, wenn man so will.
Auf YouTube finde ich das Profil von Abena Nkosa. 20.400 Abonnenten. In ihren Videos führt sie Yoga-Praktiken und andere Fitnessübungen vor, immer vor demselben Hintergrund, wahrscheinlich ihrem Wohnzimmer. Viel Raum und Licht, Retro-Möbel und Pflanzen, eine Mischung aus Flohmarkt-Vintage und IKEA, geschmackvoll zusammengestellt wie eine Pinterest-Galerie. Ich erinnere mich daran, wie wir vor einigen Jahren auf einem Influencer-Event miteinander ins Gespräch kamen. Mein Eindruck damals: unscheinbar, sanft, fast ein wenig ängstlich. Aber sympathisch. Unprätentiös. Eine Frau, die sich lieber im Hintergrund hält und erst einmal überlegt, was sie sagen will. Mit anderen Worten: das Gegenteil von mir.
Wer ist noch dabei? Diese blonde Influencerin. Die ich nicht leiden kann. Wie heißt die noch? Ich google nach „Influencer“ und „adlig“ und finde sie sofort: Nele von der Gaeben. Klick auf einen aktuellen Artikel aus der Wirtschaftswoche.
Problemlos vereint sie Business und Aktivismus, macht heute Werbung für Dessous und Haarprodukte und spricht morgen über Body Positivity und Gender Equality.
Wenn mich jemand triggert, dann ist es Nele von der Gaeben. Vielleicht, weil sie für alles steht, was ich an dieser ganzen Branche problematisch finde. Eine Frau, bei der sich Produktempfehlung und Engagement so sehr vermischen, dass man gar nicht mehr genau weiß, wo das eine aufhört und das andere anfängt. Aber: 1,1 Millionen Follower. Womit Nele offiziell als Mega-Influencer gilt. Ich klicke auf ihre aktuelle Story. Man sieht die blonde Influencerin beim Spinning in einem Berliner Szene-Fitnesscenter. Danach präsentiert sie einen veganen Proteinriegel. Dann sitzt sie in einem Café und nippt an einem Flat White mit Hafermilch. Auf dem letzten Bild posiert sie vor einem schwarzen E-Auto, macht das Peace-Zeichen. Der Text: In zwei Stunden geht es los bei #theisland. Seid ihr auch schon so aufgeregt?
Automatisch wandert mein Blick auf die Uhrzeit. 16:58 Uhr. Vor mir liegt eine letzte Haltestelle.
Ruhig bleiben, durchatmen.
Ein Kandidat fehlt noch. Arthur Lubzik. Offenbar streamt er gerade live auf Twitch. Ich schalte mich dazu. Der hübsche Influencer und Reality-TV-Star sitzt mit offenem Hemd auf einem Steg, hinter ihm liegt das Hafenbecken von Peenemünde. Die Sonne blendet ihn, er hält die Hand schützend vor die Augen.
„… fragt mich Chico99, ob ich bei The Island auch jemanden klarmachen will. Ja, die Antwort ist natürlich: Ein Arthur Lubzik ist immer on fire. Aber ich würde niemals hingehen und sagen: So, ich leg jetzt irgendeine Bitch flach. Weil sonst wirkst du zu needy. Es ist ganz wichtig, dass ihr als Männer dominant seid, ohne dass die Frauen merken, was ihr eigentlich von ihnen wollt.“
Arthur spricht in dieser abgehackten Sprechweise, die unter Pick-up-Artists und Männer-Coaches offenbar vorausgesetzt wird. Dabei zieht er immer wieder bedeutungsschwer die Brauen zusammen. Großmäulig, aber dumm. Von dem habe ich nichts zu befürchten. Von Nele von der Gaeben und Abena Nkosi auch nicht, Abena ist zu nett, Nele zu professionell. Lazarus? Da bin ich mir unsicher, den kann ich nicht einschätzen. Gefährlich ist Suzanna Steegmeier. Die wird alles versuchen, um mich fertigzumachen. Die Königin des Reality TV wittert Schwächen wie Piranhas das Blut.
Und wenn ich doch ein Video aufnehme? Um zu zeigen, dass ich selbstbewusst bin? Optimistisch?
Nein. Ich bleibe bei meiner Linie.
Oder?
Nein.
Ich öffne die BLUETOPIA-App und scrolle durch meinen Feed. Gleich weiß ich wieder, was dieses Portal so besonders macht, was es von all den anderen Social-Media-Kanälen abhebt: Du kannst atmen. Es erlaubt dir, eine aufregende, exotische Welt zu bewandern, und danach fühlst du dich sauberer, frei von all dem Dreck, der dich runterzieht. Wenn es mir nicht gleichzeitig das Herz zerreißen würde …
Abstrakte Collagen von Jessica Hirsch, in denen sie Gesichter aus Tinder-Profilen neu zusammengesetzt hat.
Eine Ankündigung von The Strange Blue Cloud, heute Abend im Magnet zu spielen.
Larry Cohn, der sich zusammen mit anderen halb nackten Menschen zu einem Knäuel vereint hat, das sich wie ein atmendes Wesen vorwärtsbewegt.
Wie gut ich jedes dieser Projekte kenne. Ohne mich gäbe es euch gar nicht! Ich war derjenige, der euch eine Plattform gegeben hat, als niemand Jessica, Larry und The Strange Blue Cloud kannte! Hat sich einer von euch bei mir gemeldet, nachdem sich die ganze Welt gegen mich verschworen hat?
Nein, niemand.
Wenn es aufwärts geht, kannst du dir deine Freunde aussuchen. Wenn es bergab geht, bist du allein.
Ganz allein.
„Nächste Haltestelle: Trassenheide.“
Der letzte Halt vor Zinnowitz. Noch vier Minuten.
Noch drei.
Zwei.
Scheiß drauf.
Ich räuspere mich. Öffne den Kameramodus und drücke auf den roten Kreis. „Moin Leute, da bin ich wieder. Ihr habt schon eine ganze Weile nichts von mir gehört, und ihr wisst ja auch, warum.“ Meine Stimme klingt zwar noch etwas kratzig, aber ich spüre bereits, wie meine Augen zu glänzen beginnen. Ich war immer am besten, wenn ich improvisiert habe. „Ich werde heute bei The Island teilnehmen, um euch zu zeigen, dass es mir leidtut. Was auch immer passiert ist, wäre nicht geschehen, wenn ich besser aufgepasst hätte. Aber das Wichtigste ist, dass ich daraus gelernt habe. Um jetzt optimistisch in eine neue Zukunft zu starten.“
In der Zwischenzeit ist einer der Jugendlichen auf mich aufmerksam geworden. Er starrt mich über die Rückenlehne an. „Bist du nicht dieser Dings? Irgendwas mit Blau?“
Jetzt wenden sich auch die anderen zu mir um.
Ich lächle, während es hinter meiner Stirn zu pochen beginnt. „Wer?“
„Ja Mann“, ruft ein anderer, „das ist er!“
Sie lachen. Eine Horde kreischender Möwen mit ausrasierten Seiten und vollem Haarschopf. Der eine zückt sein Handy und richtet es auf mich. „Wie geil. Alter, du bist so ein Lappen!“
Ich höre nicht auf zu lächeln. Hinter meiner Stirn pocht es noch immer. Unauffällig lasse ich mein Smartphone wieder in die Hosentasche sinken.
3
Die Tür öffnet sich mit einem Schnaufen. Ich steige aus, das Lachen der Jugendlichen noch in den Ohren. Wie Messerhiebe, die sich in mein Genick bohren. Egal, abschütteln. Heute lasse ich mich nicht verunsichern, wie ich mir zur Sicherheit noch einmal ins Gewissen rede, es gab Zeiten, da habe ich ganz andere, noch viel größere Herausforderungen gemeistert.
Oder?
Ja!
Vor mir liegt der Bahnhof Zinnowitz. Zwei Gleise, ein einsames, ockerfarbenes Wartehäuschen mit spitzem Rotklinkerdach. Verschlafene Provinzidylle. Am wolkenfreien Himmel, von dem die Junisonne gnadenlos herunterglüht, zieht ein Greifvogel seine Kreise. Außer mir ist lediglich eine Gruppe von Rentnern ausgestiegen. Offenbar bin ich der einzige Teilnehmer, der mit der Bahn angereist ist. Eine alte Frau schert aus ihrer Gruppe aus, kommt mir entgegen, geht schwerfällig an mir vorbei. Sie sieht verwirrt aus, aber keiner der Rentner scheint beunruhigt, niemand kümmert sich um sie.
Ich schaue ihr hinterher und erblicke am anderen Ende des Gleises eine Rucksackträgerin mit krausen, zu einem Zopf gebundenen Haaren. „Abena?“, rufe ich. „Abena Nkosi?“
Die Fitness-Influencerin dreht sich zu mir. Kurz formen sich ihre Lippen zu einem breiten Lächeln. Als sie mich erkennt, sinken die Mundwinkel nach unten. Aber davon lasse ich mich nicht beirren. Nicht heute.
Ich schultere meine Tasche und mache einen betont aufgeräumten, freundlichen Gesichtsausdruck. Ihr Händedruck ist schlaff, geradezu widerwillig.
„Hast du eine gute Fahrt gehabt?“, frage ich.
Sie schaut mich mit großen Katzenaugen an, als würde sie nach dem tieferen Sinn hinter meinen Worten forschen.
„Geht so. Ja.“
„Wir haben uns mal bei einer Veranstaltung kennengelernt. Weißt du noch?“
Wieder dieser Blick. Vorsichtig, wenn nicht sogar argwöhnisch, ein bisschen so, wie man einen Betrunkenen anschaut, der einen nachts im Park anspricht.
„M-mhm“, sagt sie. „Ich erinnere mich.“
Wir schweigen uns an. Ich versuche es noch einmal, schwärme von dem damaligen Veranstaltungsort (eine ehemalige Brauerei in Berlin, die nun zu einem Kulturkomplex umgebaut worden war), wische mir unauffällig die schweißigen Hände an der Hose ab. Das Gespräch verebbt. Erleichtert sehe ich den schwarzen Tesla, der einige Meter vor dem Bahnhofsgelände parkt. Ein bulliger Glatzkopf steigt aus der Fahrerkabine, Fitnessstudio-Oberarme, verspiegelte Sonnenbrille, der Anzug mindestens eine Größe zu klein. Er hebt einen Arm und winkt uns zu.
„Tja“, sage ich. „Dann wollen wir mal.“
Während der Fahrt sprechen wir kein Wort. Im Wagen ist es heruntergekühlt, kein Laut dringt hindurch und keiner hinaus. Es fröstelt mich.
Nach etwas mehr als zwanzig Minuten Fahrt erreichen wir den kleinen Ort Peenemünde. Wir biegen in eine Straße, die an hohen Backsteingebäuden entlangführt. Dahinter ragt eine Raketenspitze in den blauen Himmel. Der Fahrer verfolgt meine Blicke durch den Rückspiegel.
„Heeresversuchsanstalt Peenemünde“, brummt er. „Ham die Nazis damals mit streng geheimer Raketentechnologie experimentiert.“
Ich nicke interessiert. Vor mir der Fleischnacken des Fahrers, auf dem trotz der hochgedrehten Klimaanlage einige Schweißperlen funkeln. Alles ist gut, sage ich mir, du bist nervös. Aber Aufregung ist gut. Aufregung ist der Treibstoff, den es für ein energisches Auftreten braucht. Wenn wir nur endlich ankommen würden! Da biegen wir um eine enge Kurve, und vor uns breitet sich die Ostsee aus, die unter glitzernden Perlen vergraben scheint. Dort ist der Hafen, dort liegen die Schiffe, und unmittelbar wird mir, dem Hamburger, warm ums Herz.
Wir steigen aus. Die gleißenden Reflexionen im Wasser beißen mir regelrecht in die Augen. Selbst für einen frühen Juniabend ist es noch erstaunlich hell. Als ich in die Brusttasche greife, fällt mir auf, dass ich meine Sonnenbrille zu Hause liegen gelassen habe. Fuck! Sofort ärgere ich mich, dass ich mich ärgere. Es muss nur irgendwas nicht stimmen, eine Kleinigkeit nicht so laufen, wie ich es geplant habe, schon bin ich verstimmt. Je älter ich werde, desto schlimmer wird es. Ich darf mich da jetzt nicht reinsteigern, denke ich, muss mich entspannen, muss einfach im Flow bleiben.
Wir erreichen eine Promenade, gesäumt von Fischimbissen und frisch herausgeputzten Restaurantschiffen, deren Holz in der Sonne rotgolden glänzt. Stickige Wärme mischt sich mit dem Geruch von Teer und Fisch, über dem Hafenbecken kreischen Möwen. Am anderen Ende erhebt sich ein gläsernes Gebäude mit einer Stahlkuppe. Man könnte es für eine überdimensionale Muschel halten, ein monströser Fremdkörper im Hafen von Peenemünde, entworfen, wie ich dem Artikel auf SPIEGEL Online entnommen habe, von dem US-amerikanischen Stararchitekten Daniel Libeskind. Auf dem Dach ist in pinken 1980er-Neonbuchstaben ein Schriftzug eingraviert.
THE ISLAND.
Überzogen mit blutigen Spuren, Kratzern und Schrammen.
Schon von Weitem bemerke ich, dass unsere Ankunft von einem kleinen Grüppchen beobachtet wird. Eine Frau mit grün gefärbten Haaren winkt uns zu, mit ihrem schwarzen Hosenanzug passt sie genauso wenig ins maritime Ambiente wie ich. Noch einmal Augen zu, in mich gehen. Neben mir ächzen und knarzen die Kutter, das Wasser gluckert sanft gegen die Kaimauer.
Drei, zwei, eins. Und Augen auf.
Die Frau hat sich von der Gruppe gelöst und eilt in unsere Richtung, ihre Haare umwehen sie wie ein Pfauenrad. „Hi, ich bin die Özlem“, ruft sie. „Ich mach die PR für X-Visions.“
„Schön, dich kennenzulernen“, flöte ich, ein bisschen zu enthusiastisch, aber sie merkt es nicht.
Nachdem sie Abena und mich mit jeweils einem Wangenkuss begrüßt hat, führt uns Özlem zum Rest der Gruppe. Nele von der Gaeben, deren Name mir nun auf Anhieb einfällt, filmt uns mit der Handykamera. Mit jedem Meter, den wir uns nähern, werden meine Hände schwitziger. Wie werden sie auf mich reagieren? Wie werden sie umgehen mit der Angelegenheit? Ich versuche, mich an den Text zu erinnern, den ich mir zurechtgelegt habe.
Er ist verschwunden.
Nele und Abena, die sich offenbar bereits kennen, trippeln aufeinander zu und fallen sich kreischend in die Arme.
Ich stehe daneben.
Eine stark geschminkte Brünette in engem Top und schwarzer Lederleggings checkt mich ab, saugt an ihrer Zigarette und lässt erst einige Sekunden verstreichen, bevor sie kraftlos meinen Händedruck erwidert. Suzanna Steegmeier. Sie ist größer, als ich sie mir vorgestellt habe, jedenfalls so groß, dass ich zu ihr aufschauen muss. Und das, obwohl sie einen halben Kopf kleiner ist als ich. Eine Amazone mit üppiger Oberweite, balkendicken Wimpern und den höchsten Louboutin-Absätzen, die mir je begegnet sind.
Neben ihr: Arthur Lubzik. Der Männercoach, hinter dessen offenem Hemd sich ein durchtrainierter, über und über tätowierter Körper zur Schau stellt, schaut kurz vom Handy auf und hält mir den angewinkelten Arm zum Handshake hin. Männergeste, denke ich, gutes Zeichen, Verbrüderung, Bromance. Aber irgendwie treffe ich die Hand nicht richtig, und statt einem satten Klatsch macht es nur Flapp.
Egal. Weitergrinsen. Gut drauf sein.
Abena und Nele machen noch ein Selfie, dann wendet sich Nele zu mir, und ich setze mein strahlendstes Lächeln auf. Die blonde Berlinerin rümpft die Stupsnase, ihr perfektes Beautyface erstarrt. Eine Geste, die keinen Zweifel darüber lässt, was sie von mir hält.
„Du musst Nele sein“, sage ich, und damit gleich einmal klar ist, dass ich ein aufgeschlossener Typ bin, nehme ich sie in den Arm. Nele weicht zurück und wird ganz steif.
„Kannst du mich das nächste Mal vorher fragen, bevor du mich umarmst?“, faucht sie mir ins Ohr.
„Sorry“, murmele ich. Ich spüre, wie mich meine Selbstsicherheit verlässt. Wie die Zweifel in mich kriechen, als hätten sie nur darauf gewartet, durch die dünnen Poren meines Nervenkostüms zu sickern. Weitermachen. Cool bleiben. Erst als Nele bemerkt, dass Abena ein Selfie mit ihr machen will, schaltet sie wieder ihr Strahlen an. Mir wird die ganze Situation immer peinlicher.
Der Letzte in der Reihe ist Lazarus, der mit verschränkten Armen an einem Wartezaun lehnt. Aus seiner Maske stechen harte Augen hervor, der Blick ist starr, wie bei einem Blinden. Eine unheimliche Aura geht von ihm aus, ein dämonischer Cyborg aus der Unterwelt.
„Wer hätte das gedacht“, sagt er, „dass man dir noch mal eine öffentliche Bühne bieten würde.“
Blitzartig richten sich sechs Augenpaare auf mich. Die Anspannung krabbelt mir in den Nacken. Ich suche nach einer schlagfertigen Antwort, aber mir fällt nichts ein. Ich grinse. Ich schweige. Nele wirft Abena einen vielsagenden Blick zu.
„Ich glaube, wir sollten mal rein“, sagt Özlem hastig. „Krautmann wartet schon.“
Kurz wartet jeder darauf, ob ich vielleicht doch noch antworte. Arthur flüstert Suzanna etwas ins Ohr, beide schnauben. Die Gruppe setzt sich in Bewegung. Schließlich steht mir nur noch der Mann mit der Maske gegenüber.
Er beugt sich zu mir, bis das kalte Metall seiner Maske mein Ohr berührt. „Dich mach ich fertig“, flüstert er, ehe er sich umdreht und der Gruppe folgt.
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