The Lies We Tell – Niemand ist ohne Schuld The Lies We Tell – Niemand ist ohne Schuld - eBook-Ausgabe
Thriller
— Psychothriller von der sechsfachen Sunday-Times Bestsellerautorin„Die Autorin Jane Corry liefert uns mit diesem Buch ein großes Familiendrama voller Lügen, Spannung und Betrug. Ich war von der ersten Seite an gefesselt und habe dieses Buch insgesamt wirklich sehr genossen!“ - laylasbuecherwelt
The Lies We Tell – Niemand ist ohne Schuld — Inhalt
Ein Paar, das Geheimnisse hat. Ein Sohn, der einen Mord gesteht. Eine Nacht, die alles verändert.
Sarah und Tom haben gemeinsam ihre perfekte Familie gegründet, bis eine schreckliche Nacht ihre heile Welt für immer erschüttert: Ihr Sohn Freddy gesteht einen Mord. Nun müssen sie entscheiden, wie weit sie gehen, um ihr Kind zu schützen. Und wie weit sie gehen, um sich selbst zu schützen. Denn durch den Mord drohen düstere Geheimnisse ans Licht zu geraten, die beide jahrelang gemeinsam – und voreinander – verborgen haben. Während beide sich immer tiefer in Lügen verstricken, hat Sarah die unverhoffte Gelegenheit, Freddy davonkommen zu lassen. Sie steht vor einer unmöglichen Entscheidung …
„Ein furchteinflößend guter Thriller“ Nicci French
Ein Thriller der sechsfache Sunday-Times-Bestsellerautorin Autorin Jane Corry. Sie war lange Journalistin und arbeitete drei Jahre als Writer-in-Residence eines Hochsicherheitsgefängnisses. Die Erfahrungen, die sie dort sammelte, inspirieren sie zu ihren hoch spannenden Psychothrillern.
„Alles, was ich an einem Buch liebe“ Lisa Jewell
Leseprobe zu „The Lies We Tell – Niemand ist ohne Schuld“
Regen.
Die Art, bei der dir die Haare am Kopf kleben.
Langeweile.
Die Art, bei der du dafür SORGEN WILLST, dass etwas passiert.
Andere Leute lachen.
Die Art, bei der du mit einstimmen willst.
Um gemocht zu werden.
Was immer du dafür tun musst.
Sarah
Freddie sollte mittlerweile zu Hause sein.
„Um Mitternacht, keine Sekunde später“, hatte ich mit ihm vereinbart. Ihn angefleht, genauer gesagt.
Darauf hatten wir uns nach einem kurzen Disput geeinigt, bevor unser Sohn in seiner Denim-Jeans im Used-Look, schmuddeligen Sportschuhen und einem fadenscheinigen weißen [...]
Regen.
Die Art, bei der dir die Haare am Kopf kleben.
Langeweile.
Die Art, bei der du dafür SORGEN WILLST, dass etwas passiert.
Andere Leute lachen.
Die Art, bei der du mit einstimmen willst.
Um gemocht zu werden.
Was immer du dafür tun musst.
Sarah
Freddie sollte mittlerweile zu Hause sein.
„Um Mitternacht, keine Sekunde später“, hatte ich mit ihm vereinbart. Ihn angefleht, genauer gesagt.
Darauf hatten wir uns nach einem kurzen Disput geeinigt, bevor unser Sohn in seiner Denim-Jeans im Used-Look, schmuddeligen Sportschuhen und einem fadenscheinigen weißen T-Shirt, auf das er mit rotem Filzstift I HATE THE WORLD gekritzelt hatte, hinausgestürmt war. Ohne Jacke, obwohl es März ist.
Warum in aller Welt macht die Kälte Teenagern nichts aus?
Ich bin vorhin kurz eingenickt, obwohl ich eigentlich hatte wach bleiben wollen. Meine Aufmerksamkeit habe ich völlig auf das Geräusch unseres einzigen Kindes eingestellt, das auf Zehenspitzen oder stampfend die Treppe heraufkommen würde, je nach Hormonpegel des fast Sechzehnjährigen.
Aber die Leuchtziffern auf meinem Wecker auf dem Nachttisch zeigen mir, dass es schon 2:53 Uhr ist. Die Angst schlägt mir auf den Magen. Wo steckt er? Und warum hat er keine Nachricht geschickt?
Ich sende ihm eine Textnachricht: Alles okay?
Natürlich kommt keine Antwort.
Ich taste im Dunkeln nach meinen Hausschuhen, schiebe mich um die Umzugskartons mit der Aufschrift Schlafzimmer herum und tappe zum Schiebefenster hinüber. Ich werde mein bisheriges Zuhause vermissen, trotz allem. Draußen, in der ruhigen Straße im Norden Londons, in der wir wohnen, werfen die Laternen orangefarbenes Licht auf die Schlaglöcher, in denen das Wasser steht und die „in Kürze“ zu beseitigen die Stadtverwaltung versprochen hat. Es ist der niederschlagsreichste Frühling seit fünf Jahren, verkündeten sie im Radio. Weit und breit keine Menschenseele in Sicht. Nicht einmal ein Auto fährt vorbei.
Ich krieche wieder unter die Bettdecke und überlege, was ich tun soll. So spät dran war Freddie noch nie. Es widerstrebt mir, Tom zu wecken – aber wenn nun etwas passiert ist? Ich beuge mich über meinen Mann. Er schläft mit dem Rücken zu mir, und seine Schultern heben und senken sich in einem gleichmäßigen Rhythmus, der perfekt zu seinem Charakter passt. Er hat, natürlich, einen Schlafanzug an, wie immer, seit ich ihn kenne. Der, den er heute Nacht trägt, hat blaue und weiße Streifen. Das Bettzeug riecht noch leicht nach dem Sex des vergangenen Abends – der Art von schnellem Verkehr, den wir alle Jubeljahre mal praktizieren, wie um uns selbst zu beweisen, dass es uns miteinander noch gut geht.
Das würde es womöglich auch, wenn Freddie nicht wäre.
Schuldbewusst verdränge ich diesen Gedanken. Nein, ich werde ihn nicht wecken. Das würde nur wieder in einem Streit enden. Außerdem werden die Umzugshelfer morgen früh hier eintrudeln, um alles in ihrem Wagen zu verstauen, bevor wir dann mit ihnen wegfahren. Das ist unser Neuanfang. Ich will ihn nicht vermasseln.
Ich versuche, im Lichtschein meiner Taschenlampe ein bisschen zu lesen. Unser gemeinsames Schlafzimmer ist das einzige Zimmer im Haus, das noch nicht komplett zusammengepackt ist. Ich war bis spät am Abend mit Einpacken beschäftigt und habe dann nur aus purer Erschöpfung aufgehört und mir vorgenommen, früh aufzustehen, um den Rest zu erledigen. Außerdem ist es tröstlich, noch ein wenig vertraute Umgebung zu haben. Ich hasse dieses unangenehme Gefühl, wenn ein Haus kein Zuhause mehr – oder noch nicht – ist, weil es halb ausgeräumt oder erst halb eingerichtet ist. Schon in meinen Jugendjahren hatte ich es irgendwann satt, ständig meine Habseligkeiten von einem Ort zum anderen zu schleppen. Aber dieses Mal, so sage ich mir, wird es sich auszahlen.
Das muss es auch. Wenn das jetzt kein Neuanfang wird, was dann?
Auf meinem Nachttisch, neben dem Wecker, liegen ein wackeliger Stapel von Romanen, Zeitschriften, Kunstbüchern und eine Gedichtsammlung (Other Men’s Flowers), die mich normalerweise beruhigt. Auf Toms Seite liegt bloß ein Buch mit kryptischen Kreuzworträtseln für Fortgeschrittene. Auf der ersten Seite steht eine Widmung: Für Dad. Frohe Weihnachten. In Liebe, Freddie. Ich musste die Handschrift fälschen, weil unser Sohn „keinen Bock hatte“, ein paar Worte zu schreiben. Ich musste das erbärmliche Buch sogar selbst besorgen.
Ich versuche, nicht auf die Uhr zu schauen, denn ich habe das Gefühl, wenn ich es nicht tue, wird Freddie nach Hause kommen, und ich habe ich mir umsonst Sorgen gemacht. Aber ich kann nicht anders.
3:07 Uhr.
Die letzten beiden Ziffern machen es noch viel schlimmer, denn jetzt ist bereits die nächste Stunde angebrochen. Von Sorgen gepeinigt kann ich die Schrift auf der Seite, die ich lesen will, nur verschwommen sehen.
Plötzlich ärgert es mich, dass mein Mann tief und fest schläft, während ich diejenige bin, die Panik schiebt. Andererseits: War das nicht schon immer so? Er verkörpert die vernünftige, pragmatische Hälfte unserer Ehe. Und ich? Ich bin diejenige, deren Fantasie dem Verstand oft übel mitspielt.
Was angesichts meiner Vergangenheit nicht verwunderlich ist.
„Tom“, sage ich und stupse ihn dabei an. „Freddie ist immer noch nicht zu Hause.“
Er ist sofort hellwach. Mein Mann ist der Typ, der sofort, wenn der Wecker schrillt, die Beine über die Bettkante schwingt, damit er zur Arbeit gehen kann. Er ist augenblicklich putzmunter, so als hätte jemand einen An/Aus-Knopf in seinem Inneren gedrückt. Ich brauche immer etwas Zeit, um morgens die Welt zu begrüßen, am liebsten mit den Händen um eine Tasse heißen, gesüßten Tee. Aber kein Zucker, immer Honig. In den letzten paar Jahren bin ich umsichtiger geworden mit dem, was ich zu mir nehme. Vielleicht ist das ein Anzeichen des mittleren Lebensalters.
„Wie spät ist es?“, fragt er.
„Drei Uhr durch.“ Meine Stimme klingt wie ein panisches Gequieke. „Er hat versprochen, bis Mitternacht zurück zu sein.“
„Pah! Dieser Junge hält seine Versprechen doch nie.“
„Dieser Junge“, sage ich mit angespannter Stimme und rutsche von ihm weg an meine Bettkante, „ist unser Sohn. Er hat einen Namen.“
Ein wütendes Schnauben durchdringt die Dunkelheit. „Nun, er hört nicht auf ihn, oder? Er hört auf gar nichts. Ehrlich, Sarah. Du lässt Freddie alles durchgehen. Wie soll er jemals etwas lernen, wenn du ihm keine Grenzen setzt?“
Ich! Warum ist es immer meine Schuld? Außerdem liebt Freddie mich. Alle Teenager testen bei ihren Eltern die Grenzen aus, nicht wahr? Das gehört dazu, damit sie ihre Unabhängigkeit finden.
Ich staple meine beiden Kissen übereinander und lehne mich zurück. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. „Ja, ich weiß. Aber wenn wir zu streng mit ihm sind, könnten wir uns entfremden, und dann könnte er so enden wie …“
Ich halte inne. Jetzt herrscht richtig dicke Luft zwischen uns. Wir wissen beide, was der jeweils andere gerade denkt.
„Wenn wir zu streng mit ihm sind“, greife ich den Faden wieder auf, „könnte er rebellieren.“
In Toms Stimme schwingen gleichermaßen Herablassung und Spott mit. „Ist es denn nicht genau das, was er jetzt gerade tut? Ihr habt euch auf einen Zeitpunkt geeinigt, bis zu dem er zu Hause sein muss. Und er hat sein Versprechen nicht eingehalten. Wie er es immer tut.“
„Ich weiß. Aber Teenager zu sein ist nicht einfach. Das musst du doch noch wissen.“
„Das tue ich. Aber ich habe mich nicht so verhalten wie er.“ Oder wie du.
Dieser letzte Satz schwebt zwischen uns im Raum, mein Mann muss ihn gar nicht aussprechen. Aber die Andeutung ist da, laut und deutlich. „Da wir jetzt wach sind“, fährt er fort, „kann ich ihn auch anrufen.“
Anrufen? Freddie wird wütend, wenn ich das tue. „Das ist peinlich, wenn ich mit Freunden abhänge“, schimpft er. „Schick mir einfach eine Textnachricht, Mum.“ Aber das habe ich schon, und er hat nicht geantwortet.
Als Tom die Lampe auf seinem Nachttisch einschaltet, schirme ich mir die Augen ab.
Ich sehe meinen Mann an, als wäre er jemand, der mir fremd ist. Dieser große, eulenhafte Mann mit sandfarbenen Haaren und einem natürlich blassen Teint, der gerade nach seiner Brille mit dem rundem Stahlgestell und nach seinem Handy neben dem Buch mit den kryptischen Kreuzworträtseln tastet. Nicht zum ersten Mal fällt mir auf, wie sehr er in den letzten Jahren gealtert ist. Wie die Dinge liegen, sind wir durch unsere verspätete Elternschaft im Schnitt älter als viele der anderen Paare auf den Elternabenden. Vor allem Tom. Würde er mehr Verständnis für Freddie aufbringen, wenn er jünger wäre?
Er stößt einen frustrierten Laut aus. „Der Anruf geht nur auf die Mailbox. Mit wem ist er eigentlich unterwegs?“
Ich werfe einen Blick auf das Display meines Handys, falls Freddie mir in der kurzen Zeit, seit ich das letzte Mal nachgeschaut habe, eine Nachricht geschickt hat. Hat er aber nicht.
„Mit einem Freund.“
„Aber mit welchem?“
„Ich weiß es nicht“, gebe ich zu und knete meine Hände. „Er wollte es mir nicht sagen.“
„Du hättest darauf bestehen sollen. Oder dir zumindest die Nummer dieses Freundes geben lassen sollen.“
„Er wollte nicht damit rausrücken.“ Meine Erklärung kommt fast wie ein Schrei daher.
Es ist eine Tatsache. Freddie erzählt mir mittlerweile kaum noch etwas über sein Privatleben. Seit der Party hat er niemanden mehr mit nach Hause gebracht. Es ist nicht mehr so wie damals, als er klein war und ich der Mittelpunkt seiner Welt. Er ist jetzt fast erwachsen. Fünfzehn und drei Viertel. Fast schon ein Mann. Einen Teenager in Verlegenheit zu bringen, ist eines der schlimmsten Vergehen, die eine Mutter begehen kann. Ich wollte ihn nicht vertreiben.
„Aber was ist, wenn du über Nacht nicht nach Hause kommst?“, hatte ich gefragt und mich dabei an das letzte Mal erinnert, als er bei einem dieser sogenannten „Kumpels“ übernachtet hat, ohne vorher Bescheid zu sagen. Am nächsten Morgen war ich aufgewacht, in Panik geraten und wollte gerade den Notruf wählen, als er vor der Tür stand. Sie hatten Musik gehört und waren dabei „eingeschlafen“.
„Das werde ich auch nicht“, hatte er bissig erwidert. „Mir bleibt nur noch eine Nacht hier. Ihr zwingt mich, mit euch wegzuziehen. Lasst mich wenigstens dieses eine Mal noch ein bisschen Spaß haben. Hör auf, dir Sorgen zu machen.“
Aber dafür habe ich jetzt einen Grund. Ist er bei demselben unbekannten „Kumpel“ wie beim letzten Mal? Oder liegt er irgendwo sterbend in einem Straßengraben?
„Ich werde noch eine Runde schlafen“, sagt Tom. „In drei Stunden und fünfzig Minuten muss ich aufstehen und zur Arbeit.“
Das stimmt. Obwohl wir umziehen, geht Tom wie immer zur Arbeit. Und schon ist er wieder eingeschlafen, atmet wieder gleichmäßig. Einfach so.
Ich lasse mich zurück in die Kissen fallen, die Augen halb geschlossen, und frage mich, wie viel Zeit ich Freddie noch einräumen soll, bevor ich die Polizei rufe. Was würden die Beamten unternehmen, wenn ich sie informiere? Es gibt wahrscheinlich Hunderte von Teenagern in unserem grünen Teil von Nordlondon, die zu spät nach Hause kommen. Die meisten werden unbeschadet zurückkehren. Aber was, wenn unser Junge einer von denen ist, die Pech haben? Angenommen, ich wache auf und höre im Radio, dass wieder ein Teenager erstochen wurde? Erst letzte Woche war einer auf der Titelseite unserer Lokalzeitung abgebildet. Er schaute traurig drein, so als wüsste er, dass er bald sterben würde. Es erinnerte mich an dieses eine Gedicht von Yeats über einen irischen Piloten, der seinen Tod vorausahnte. Das körnige Foto zeigte seltsam buschige Augenbrauen, die fast aussahen wie die eines Erwachsenen, der er aber nie werden würde.
Aus dem Erdgeschoss ist Hundegebell zu vernehmen – Jasper, unser schokoladenbrauner Labrador. Ich springe aus dem Bett, schnappe mir meinen Morgenmantel und eile die Treppe hinunter. Jemand hämmert an die Haustür. Ist es die Polizei? Es hat einen Unfall gegeben. Freddie ist überfahren worden. Er hat Drogen genommen.
Zitternd öffne ich die Tür.
Er ist es! Trotz seiner äußeren Erscheinung schlägt mein Herz vor Erleichterung höher. Unser Sohn ist klatschnass. Er schaut zu Boden, die schwarzen Locken auf der linken Seite sind vom Regen platt gedrückt. Die Haare auf der anderen Seite sind kurz rasiert – das hat er letzte Woche selbst gemacht. Er trägt eine Jeansjacke, die ich noch nie an ihm gesehen habe.
„Tut mir leid“, sagt er und schiebt sich an mir vorbei. „Hab meinen Schlüssel verloren.“
Schon wieder? Das ist schon das dritte Mal in diesem Jahr. Ich muss es den neuen Hausbesitzern mitteilen, obwohl sie wahrscheinlich sowieso die Schlösser austauschen lassen werden. Was wird Tom dazu sagen? Ich beschließe, es ihm noch nicht zu sagen. Das Wichtigste ist, dass unser Junge heil nach Hause gekommen ist.
Die Erleichterung schlägt in Wut um. „Du hattest versprochen, pünktlich zu sein …“, beginne ich.
„Ich sagte doch, dass es mir leidtut, oder?“
„Du stinkst nach Bier. Wie viel hast du intus?“
„Nicht viel.“
„Vier Pints?“, hake ich nach.
„Bitte, Mum. Lass es gut sein.“
„Nichts Hochprozentiges?“
„Ich sagte doch, lass es gut sein!“
Irgendetwas stimmt hier nicht. Anstelle des sonst üblichen trotzigen, bösen, jugendlichen Blicks sieht Freddie verletzlich aus. Niedergeschlagen. Seine dunkelbraunen Augen, ein Spiegelbild der meinen, sind gerötet. Er hat geweint. Er hat seit Jahren keine Tränen mehr vergossen. Nicht einmal nach der Party.
„Was ist passiert?“, frage ich, während er schon die Treppe hinaufgeht.
Ich folge ihm nach oben, aber er ist schon in seinem Zimmer und hat von innen den Riegel vorgeschoben, den er letztes Jahr unbedingt hatte einbauen lassen müssen. „Bitte lass mich rein, Liebling!“, flehe ich.
„Geh weg, Mum. Mir geht’s gut.“
„Woher hast du die Jacke?“, frage ich.
„Jemand hat sie mir geliehen. Sie ist nicht geklaut, wenn es das ist, was du wissen willst.“
Letztes Jahr hatte es einen Vorfall gegeben. Freddie war in einer Jeans zu Hause aufgetaucht, an der ein Sicherheitsetikett aus Plastik hing und auf der noch das Preisschild klebte. Er hatte behauptet, der Verkäufer müsse vergessen haben, das Etikett zu entfernen. „Und warum wurde dann nicht der Alarm ausgelöst?“, hatte ich wissen wollen. Es endete mit einem heftigen Streit, in dem er mir vorwarf, ihm nicht zu glauben. Ich marschierte mit ihm zurück in den Laden, wo sich herausstellte, dass er die Jeans tatsächlich gekauft hatte und dass der Verkäufer wirklich vergessen hatte, das Etikett zu entfernen. Offenbar hatte die Alarmanlage am Ausgang an diesem Tag nicht funktioniert.
Ich warte eine Weile und flehe ihn dann an, mit mir zu reden, aber er gibt keinen Ton mehr von sich.
Schließlich gehe ich nach unten, um das Licht auszumachen, und schlüpfe anschließend neben Tom zurück ins Bett.
„Ist Freddie wieder da?“, murmelt er.
„Ja.“
Er dreht sich um, wendet mir den Rücken zu. „Dann ist ja alles in Ordnung.“
Aber das ist es nicht. Mein Mutterinstinkt sagt mir, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Ich weiß bloß nicht, was.
„Ich werde morgen früh mit ihm reden“, fügt mein Mann hinzu. Binnen weniger Sekunden schnarcht er wieder.
Ich warte, um sicherzugehen, dass er auch wirklich schläft. Dann steige ich aus dem Bett und schleiche mich auf Zehenspitzen zu Freddies Zimmertür. Sie steht offen. Er ist nicht in seinem Zimmer. Panik macht sich in mir breit, aber dann sehe ich das Licht, das aus dem Badezimmer dringt. Er sitzt auf dem Badewannenrand, hat immer noch die klatschnasse Jacke an. Sie steht offen, und ich sehe, dass sein T-Shirt jetzt rot und nicht mehr weiß ist. Eine Schrecksekunde lang denke ich, es ist Blut, aber dann erkenne ich, dass die rote Tinte seines handgekritzelten Slogans I HATE THE WORLD vom Regen verwaschen wurde.
Ihm laufen Tränen über das Gesicht. Er zittert wie Espenlaub, atmet geräuschvoll und gibt röchelnde Laute von sich.
So habe ich ihn noch nie erlebt.
„Freddie“, flüstere ich, trete vor und nehme ihn in die Arme. Ich warte darauf, dass er mich abschüttelt, aber das tut er nicht. „Was ist denn los?“
Keine Antwort. Er schluchzt weiter. Ich nehme sein Gesicht in die Hände, will meinem Sohn in die Augen sehen. „Was ist?“, frage ich noch einmal.
Wieder erwarte ich, dass er mich von sich stößt, mir mit seiner üblichen jugendlichen Verachtung zu verstehen gibt, dass mich das nichts angeht. Stattdessen bricht er nun völlig zusammen.
„Mum“, bringt er tränenerstickt hervor. „Ich habe jemanden getötet.“
„Du hast was?“, flüstere ich, während mir ein Schauer über den Rücken läuft. Blitzartig taucht das Gesicht einer jungen Frau vor mir auf.
Nein! Helft mir!
Sein Blick ist verängstigt. So wie damals, als er noch ein Kind war und das erste Mal nachsitzen musste und wir in die Schule kommen mussten, um die Sache für ihn zu klären. Aber das hier jetzt ist schlimmer. Das hier darf einfach nicht wahr sein.
„Ich habe jemanden getötet“, wiederholt er.
Nein! Emily!
Ich bin dermaßen schockiert, dass ich nichts herausbringe. Meine Gedanken überschlagen sich.
Das kann er einfach nicht getan haben. Nicht mein lieber, sanftmütiger Junge, den zu empfangen ich mich so wahnsinnig bemüht hatte. Ja, natürlich macht er gerade eine schwierige Phase durch. Das geht den meisten Teenagern so. Aber doch nicht Mord oder Totschlag. Nicht das kaltblütige, vorsätzliche Beenden des Lebens eines anderen Menschen. Das kann mein Freddie nicht.
Schließlich schaut er auf und blickt über meine Schulter, hat etwas gesehen. Ich drehe mich um. Dort steht Tom.
„Du hast jemanden getötet?“, wiederholt mein Mann. Seine Augen funkeln vor Wut, Entsetzen, Abscheu. Dann schiebt er sich an mir vorbei und packt Freddie am Kragen seiner pitschnassen Jacke, um ihn zu sich hochzuziehen. „Was zum Teufel meinst du damit?“
„Tu ihm nicht weh!“, kreische ich.
„Dann soll er mir verdammt noch mal sagen, was hier vor sich geht!“, verlangt Tom.
„Ich kann es nicht“, schluchzt Freddie.
„Doch, das kannst du“, brüllt Tom und stößt ihn von sich.
Mein Mann war schon immer der strengere Elternteil, aber so wie jetzt habe ich ihn noch nie erlebt. Er hat die Fäuste erhoben, und sein Nacken ist angespannt. Instinktiv stelle ich mich zwischen die beiden.
Freddies Stirn ist zerfurcht. Vor Wut oder vor Schmerz? Schwer zu sagen. „Ich sagte, ich kann nicht, oder?“, brüllt er.
„Aber das musst du!“, schreie ich. „Das ergibt doch alles keinen Sinn.“
„Das liegt daran, dass er lügt. Begreifst du das nicht, Sarah?“
„Tust du das, Freddie?“, flehe ich. „Sag uns einfach die Wahrheit. Wir helfen dir da durch.“
Freddie wirft mir einen Blick zu. Seine jetzt versteinerten Züge sind von Qualen geprägt. Und auch von Hass. „Wir?“, wiederholt er. „Ich glaube nicht, dass Dad mir da durchhelfen wird.“
Toms Miene ist versteinert. „Ich helfe niemandem, der das Gesetz gebrochen hat.“
„Nicht einmal deinem eigenen Sohn?“, fragt Freddie.
Ich schaue die beiden Männer an, die es in meinem Leben gibt, und lasse meinen Blick vom einen zum anderen schweifen. Nichts von alldem fühlt sich real an. Es ist, als würde ich einen Film anschauen.
„Nicht einmal meinem eigenen Sohn“, bestätigt mein Mann. „Wenn du mir nicht genau erklärst, was du angestellt hast, händige ich dich der Polizei aus.“
Tom geht zur Tür. „Wo gehst du hin?“, frage ich, kenne die Antwort jedoch schon.
„Was glaubst du wohl? Ich rufe die Polizei.“
Freddie fängt an zu heulen wie ein Tier. Unten an der Treppe stimmt Jasper in das Heulen ein, als wolle er so sein Mitgefühl ausdrücken.
Die Polizei? Mein Herz, das mir ohnehin schon heftig in der Brust schlägt, tut dies jetzt noch lauter und stärker, und mir ist, als drohe es, zu platzen.
Helft mir!
„Nein!“, schreie ich und ergreife Toms Pyjamaärmel. „Warte.“
Mein Mann starrt mich an. Es ist, als würde auch er sich fragen, wer ich bin, so wie ich mich vorhin gefragt habe, wer er ist.
„Sarah“, sagt er langsam, als würde er mit einem Kind reden, dem man etwas Einfaches erklären muss. „Verstehst du denn nicht? Es ist das Einzige, was wir tun können.“
Aber das stimmt nicht.
Ich werde es nicht zulassen.
Es darf nicht noch einmal passieren.
Nicht mit meinem Jungen. Meinem kostbaren einzigen Sohn. Ich würde alles tun, um ihn zu retten. Und damit meine ich wirklich alles.
Sarah
Crown Court in Truro
„Erheben Sie sich“, sagt der Gerichtsdiener.
Wir stehen verunsichert auf. Fragen uns, was als Nächstes passieren wird. Überwältigt von diesem riesigen Raum mit seinen Großbildschirmen an den Wänden, seinen Reihen breiter Schreibtische, auf denen sich Akten stapeln, den grimmig dreinschauenden Männern und Frauen mit Perücken und den Geschworenen, die in diesem Moment mit einer Mischung aus Unbehagen und Selbstgefälligkeit hereingeschritten kommen. Sie tragen nicht nur die Verantwortung, über die Zukunft des Angeklagten zu entscheiden, sondern auch über die all jener, die mit ihm in Verbindung stehen.
Zum Beispiel ich. Eine Mutter. Eine Mutter, die ihren Sohn liebt. Eine Geschiedene.
Dass ein Gerichtssaal so aussehen könnte, hatte ich nicht gedacht. Er ist total modern eingerichtet. Diejenigen, die man sonst so im Fernsehen sieht, sind alt, mit holzgetäfelten Wänden, einem streng dreinblickenden Richter und einem verängstigten, hinter einem offenen Pult kauernden Angeklagten.
Dieser hier sieht eher aus wie ein schicker Sitzungssaal. Die Richterin ist eine Frau mittleren Alters. Sie trägt rosa Lippenstift und eine lilafarbene Robe mit roter Schärpe, was die Strenge ihrer grau-weißen Perücke jedoch kaum mildert.
Doch die einzige Person, die mich interessiert, ist der junge Mann mit dem ängstlichen Blick, der in einem Glaskasten eingesperrt ist und wie benommen vor sich hin starrt.
Mein mütterlicher Instinkt drängt mich dazu, ihn zu trösten, ihm meine Arme um die Schulter in seiner leicht zerknitterten Anzugjacke zu legen. Ihm zu sagen, dass ich ihm, natürlich, glaube. Aber da ist noch ein anderer Teil in mir, der mich krank vor Abscheu macht.
Als die Staatsanwältin in ihrem Eröffnungsplädoyer damit beginnt, den Fall aufzurollen, schließe ich angesichts der Schwere des Vergehens die Augen. Meine Gedanken schweifen zurück.
Nicht zurück zu der Nacht, in der Freddie so spät im Regen nach Hause kam und die Jacke eines anderen trug. Sondern noch weiter zurück. Zu dem Tag, an dem ich seinen Vater kennenlernte. Als alles begann.
Zumindest sehe ich das so. Tom mag das anders sehen.
Und Sie womöglich auch.
Erster Teil
Tom und Sarah
1
Tom
Vegetarisches Risotto. Das war das erste Gericht, das Sarah für mich zubereitet hat. Ich hasse Reis, denn im Internat wurden wir praktisch damit zwangsernährt. Das galt vor allem während der Ferien, wenn ich weiter dortblieb, weil mein Vater im Ausland zu tun hatte. Damals hatte ich das ohne zu fragen akzeptiert. Das mit dem Im-Ausland-Arbeiten meine ich. Den Rest nicht.
„Wusstest du, dass Reis das Grundnahrungsmittel von mehr als der Hälfte der Weltbevölkerung ist?“, hatte ich Sarah an jenem ersten Abend gefragt. Mir war bewusst, dass ich mir dabei die Brille abnahm und dann die Gläser sorgfältig putzte, bevor ich sie wieder aufsetzte. Das tat ich immer, wenn ich nervös war.
Sarah schaute auf den Teller auf ihrem Schoß hinunter, als hätte ich gerade ihre Kochkünste kritisiert. Dann schaute sie wieder zu mir hoch, mit einem fast kindlichen Ausdruck im Gesicht, der in mir die Frage aufwarf, wie alt sie eigentlich war. Ich hatte aus eigener Erfahrung gelernt, dass es schwierig ist, das Alter einer Frau zu erraten, und dass eine falsche Schätzung großes Unheil anrichten kann. Man muss äußerste Vorsicht walten lassen.
„Wirklich? Ich hoffe, es schmeckt dir“, sagte sie.
Sie trug einen weiten, blau-weiß gepunkteten Rock, und während sie sprach, schwangen ihre außergewöhnlich dicken, rosa und blauen Haarsträhnen zu beiden Seiten ihres Kopfes hin und her. Das war eine seltsame Kombination mit ihren klobig wirkenden braunen Schnürschuhen von Doc Martens, wie sie, glaube ich, hießen – aber so etwas war in den Neunzigern in Mode. Sie lagen neben ihr auf dem Boden, nachdem sie sie lässig weggekickt hatte.
Ich musste mich sehr beherrschen, um sie nicht ordentlich nebeneinanderzustellen.
Stattdessen zwang ich mich dazu, die hart gewordenen Reisklumpen herunterzuwürgen. „Köstlich“, erwiderte ich, obwohl ich es verabscheue zu lügen. Wenn man im Internat beim Schwindeln erwischt wurde, bezog man bei der morgendlichen Versammlung zur Andacht auf dem Podium vom Rektor Prügel. „Wilkins! Raufkommen! Sofort!“ Schließlich war es ein katholisches Internat – zu lügen bedeutete, dass man in der Hölle schmoren musste.
Vielleicht rührte meine Abneigung gegen das Lügen aber auch von den plumpen Halbwahrheiten meines Vaters her, wie lange er nach – oder vor – dem Tod meiner Mutter, als ich acht Jahre alt war, schon eine Beziehung mit meiner späteren Stiefmutter hatte.
Wir saßen uns im Schneidersitz auf Sitzsäcken vor dem elektrischen Kamin in Sarahs Einzimmerappartement gegenüber. Ich hatte noch nie auf einem Sitzsack Platz genommen, und um ehrlich zu sein, fiel es mir schwer, das Gleichgewicht zu halten.
Koordination war noch nie meine Stärke gewesen. Sport ebenso wenig, wie mir mein reizbarer Sportlehrer deutlich gemacht hatte. Mein amblyopes linkes Auge – die meisten nannten es „träges Auge“ – erschwerte es mir, heranfliegende Bälle deutlich auszumachen. Ich hasste jede Sekunde des Sportunterrichts. Tatsächlich war das einzig Annehmbare, was aus der Schulzeit geblieben war, mein Freund Hugo. Der einzige Mensch, der mich verstand.
„Woher kommst du?“, fragte ich, nachdem ich mir einen weiteren Bissen Risotto heruntergequält hatte.
Sarah schenkte mir wieder eines ihrer schönen Lächeln. Es erhellte ihr Gesicht und machte es mir aus irgendeinem Grund unmöglich, den Blick von ihr abzuwenden. Normalerweise war ich für so etwas nicht empfänglich, aber es ließ sich einfach nicht leugnen. Ihre Augenbrauen, so fiel mir auf, waren ziemlich buschig und hätten bei einem anderen Menschen aufdringlich wirken können. Die ihren hingegen rahmten diese wunderschönen braunen Augen so ein, dass sie wie eine mathematische Gleichung zueinander zu passen schienen.
„Ich komme aus ziemlich einfachen Verhältnissen, um ehrlich zu sein“, bekannte sie und legte den Kopf schief, während sie sprach. Ihr Hals, so bemerkte ich, war sehr lang und dünn.
„Wir waren zu fünft“, fuhr sie fort. „Ich habe noch zwei Schwestern und zwei Brüder. Aber wir leben jetzt überall verstreut. Wir wuchsen in einer Siedlung mit Sozialwohnungen in Kent auf und besuchten die örtliche Gesamtschule. Aber wir waren damals glücklich und wurden geliebt. Das ist eigentlich alles, was man im Leben braucht.“
Trotz der Siedlung mit Sozialwohnungen und der Gesamtschule – was ich beides nie erlebt hatte – kam ich nicht umhin, sie zu beneiden. Mir fiel aber auch ihr Gebrauch des vorbehaltlichen „damals“ vor „wir waren glücklich und wurden geliebt“ auf.
Als ich ihr später schließlich erzählte, was im Internat passiert war, zeigte sie sich schockiert. „Wenn ich mal Kinder habe“, bekannte sie und zog diese kräftigen Augenbrauen zusammen, „würde es mir im Traum nicht einfallen, sie fortzuschicken. Und ich würde jeden umbringen, der Hand an sie legt.“
Wenn man ihre schlanke Figur betrachtete, würde man nicht glauben, dass Sarah einer Fliege etwas zuleide tun könnte. Aber zu jenem Zeitpunkt ahnte ich schon, dass sie in ihrem Inneren in gewisser Weise knallhart war. Sie war anders als alle anderen Frauen, denen ich bisher begegnet war.
Zunächst einmal steckte ein kleiner silberner Knopf in ihrem rechten Nasenflügel. Außerdem hielt sie ihr Besteck zwischen Daumen und Zeigefinger, anstatt Letzteren über Messer und Gabel zu halten, wie man es mir beigebracht hatte. Aber ich war von dieser Frau fasziniert. Sie betrachtete die Welt auf eine völlig andere Art und Weise als alle anderen, die ich kannte. Sie nahm Dinge wahr, wie den Gesang einer Amsel oder die Farbe des Himmels, wenn er für mich grau aussah, sie mir aber erklärte, es sei eine Mischung aus Grün, Mauve und Rosa. Und dann war da noch die körperliche Seite. (Dies zu erwähnen ist mir fast peinlich. Meiner Meinung nach ist Sex, ähnlich wie Geld, etwas, über das man nicht einfach so spricht.) Aber ich konnte nicht aufhören, auf diese glatte, makellose Haut und diese unglaublichen Wangenknochen zu starren, die mich so sehr an die meiner Mutter erinnerten. „Deine Haut sieht aus, als wäre sie aus Samt“, sagte ich zu ihr, das weiß ich heute noch. Ein Teil von mir – eine Seite, von der ich gar nicht wusste, dass ich sie hatte – wollte mit dem Finger über Sarahs Gesicht streichen, um zu sehen, ob es sich auch so anfühlte.
Mein Vater war in dem Monat, bevor ich Sarah kennenlernte, gestorben. Aber ich wusste, was er gesagt hätte, falls er Gelegenheit bekommen hätte, sie kennenzulernen: „Sie ist nicht gerade eine von uns, oder?“
Dass ich mich damals in Sarah verliebte, lag zum Teil auch daran, dass sie einen anderen Hintergrund hatte. Was hatte mir meine traditionelle Erziehung eingebracht? Nichts als Kummer.
Alles, was ich wollte, war, geliebt zu werden und eine richtige Familie zu gründen. Eine mit Frau und Kindern. Mit Arabella hatte ich den traditionellen Weg eingeschlagen. Das hatte nicht geklappt. Vielleicht war dies also meine Chance, mit einer Frau zusammenzuleben, die anders ist als alle anderen, die ich bisher getroffen hatte.
Sarah und ich lernten uns an einem kühlen Frühlingsabend bei einem Zeichenkurs „für Anfänger und solche mit Vorkenntnissen“ kennen. Ich gehörte der ersten Kategorie an. Hugo hielt es für einen großen Scherz, als ich mich anmeldete.
„Zeichnen? Du?“, kicherte er. „Du hast nicht den Hauch einer künstlerischen Ader in dir, Wilkins.“
Ab und zu nannte er mich beim Nachnamen, wie wir es im Internat getan hatten. Ich beschloss, es ihm nicht gleichzutun. Das war keine Zeit, die ich mir in Erinnerung rufen wollte.
„Wenn du mich fragst, solltest du dich lieber an deine Zahlen halten“, fügte er hinzu.
Da hatte er nicht ganz unrecht. Zahlen waren nicht nur sicheres Terrain, sie waren in meinem Beruf auch lukrativ. Aber ich hatte damit keine Frau gefunden. Ich war fünfunddreißig. Hugo, ein Banker, und seine Frau Olivia hatten zwei Kinder, deren Patenonkel ich war. Obwohl ich nicht gerade der Vatertyp war, hatte ich langsam die Nase voll von Kommentaren wie „Immer noch nicht sesshaft geworden?“ oder „Wenn du nicht aufpasst, endest du noch als eingefleischter Junggeselle mit einer Vorliebe für das Überprüfen von Haltbarkeitsdaten“. Wäre ich heute wieder ein junger Mann, würde ich mir nicht so viele Sorgen über meinen Status als Junggeselle machen. Aber damals in den Neunzigern war es noch üblicher, jung zu heiraten.
Wie bereits erwähnt, hatte ich geglaubt, Arabella könnte diejenige welche sein. Arabella, die als persönliche Assistentin in einem renommierten Auktionshaus arbeitete und in einer Duftwolke Chanel und mit Perlenketten behängt um mich herumschwebte, wie um zu suggerieren, dass sie auf der Stelle Ja sagen würde.
Natürlich fühlte ich mich geschmeichelt. Keine sonst hatte jemals auch nur im Entferntesten Interesse an mir gezeigt. Ich hatte immer noch die Hänseleien aus Schulzeiten in den Ohren: „Kannst du nicht geradeaus sehen, Wilkins?“ Später, bei den Oberstufentanzbällen, bekam ich von jedem einzelnen Mädchen, das anzusprechen ich den Mut aufbrachte, einen Korb.
Als ich dann also Arabella kennenlernte – durch ihren Bruder, der mit mir an der Uni gewesen war – und sie zustimmte, mit mir auszugehen, konnte ich mein Glück kaum fassen. Wir gingen fast vier Jahre lang miteinander.
Trotzdem hegte ich immer noch Zweifel. Woher sollte man wissen, ob jemand die richtige Person zum Heiraten war, vor allem, wenn man sich, wie ich, mit dem „schönen Geschlecht“ nicht besonders gut auskannte? Als ich dann endlich beschloss, ihr einen Antrag zu machen, wies sie mich ab – mit einer Nachricht auf meinem Anrufbeantworter.
„Es tut mir leid, Tom. Ich glaube, wir passen nicht zusammen.“
Beflügelt von etwas, das ich für Leidenschaft hielt, marschierte ich sofort äußerst empört hinüber zu ihrer Wohnung in Pimlico. „Was meinst du mit ›nicht zusammenpassen‹?“, fragte ich sie.
Sie hatte den Anstand, verlegen dreinzuschauen. „Versteh mich nicht falsch, Tom, aber du bist zu berechenbar. Du lebst nach dieser Routine, die niemand ändern darf. Es ist, als wärst du noch immer im Internat. Du bist zu bieder, um etwas im Leben zu wagen. Ich will mehr als das.“
Wie sich herausstellte, hatte Arabella bei einem Mädelsurlaub in Cornwall einen Surfer kennengelernt. Einen reichen Surfer, selbstverständlich, der obendrein auch noch ein Strandhotel besaß. Und weg war sie. Ihre Heiratsanzeige erschien ein paar Monate später in der Times.
Plötzlich schien Arabella die perfekte Frau gewesen zu sein, die ich mir dämlicherweise hatte durch die Lappen gehen lassen. Meine frühere „Friss oder stirb“-Einstellung zur Ehe kam mir jetzt kurzsichtig vor. Ich hatte nie wirklich so etwas wie eine richtige Familie gehabt. Und wenn ich so weitermachen würde im Leben? Was, wenn ich am Ende ganz allein dastehen würde, ein mürrischer Single, der sich nur für Zahlen und Routine interessierte? Der Typ Mann, dessen Nachruf im Daily Telegraph mit den Worten „Er starb unverheiratet“ endete und es den Lesern überließ, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen.
Arabellas Abfuhr schmerzte noch immer, als ich, nachdem ich ausnahmsweise früh Feierabend gemacht hatte, einen Spaziergang unternahm. Dabei stieß ich auf ein Plakat, das für einen Zeichenkurs in dem Kulturzentrum in meinem Viertel in Hackney warb, wo ich vorausschauend ein Reihenhaus mit drei Schlafzimmern gekauft hatte, bevor die Gegend gentrifiziert wurde. Der Kurs startete noch am gleichen Abend und sollte gleich beginnen. Es war etwas völlig anderes als alles, was ich bisher gemacht hatte. Zu bieder, um etwas im Leben zu wagen.
Ich würde Arabella das Gegenteil beweisen. Und Hugo auch.
„Dritter Raum links“, sagte die junge Frau am Tresen. „Sie sind knapp dran, also können Sie hinterher bezahlen.“
Ich nahm an einem mit Zeitungen ausgelegten Tisch Platz. Sarah fiel mir sofort ins Auge. Alles andere wäre auch kaum möglich gewesen. Nicht nur, weil sie die Dozentin war, sondern weil sie mit ihren knallroten Lippen, ihrem weiten, gepunkteten Rock und diesen rosa und blauen Strähnen in ihrem dunklen, geflochtenen Haar so aussah, als wäre sie auf dem Weg zu einer Kostümparty. Aber was sie wirklich hervorstechen ließ, war ihr Lächeln. Es war ein breites, sonniges Lächeln, das bei jedem anderen ausgesehen hätte wie das eines Clowns. Bei ihr hingegen wirkte es einfach umwerfend.
Vielleicht lag es daran, dass ich nicht besonders viele Menschen kenne, die so bereitwillig lächeln. Die Mimik meiner Kolleginnen und Kollegen kommt dem am nächsten, wenn sie mit ihren Zahlen zufrieden sind und ihnen ein selbstgefälliges Grinsen über das Gesicht huscht. Vielleicht ist es bei mir genauso. Aber Sarahs Lächeln erfüllte mich innerlich. Ich fühlte mich zugleich warm, behaglich und voller Hoffnung. Ich konnte mich nicht erinnern, mich nach dem Tod meiner Mutter jemals so gefühlt zu haben. Sie hatte genau so ein Lächeln gehabt.
Dann wurde meine Aufmerksamkeit auf eine alte Frau gelenkt, die hinter einem Paravent hervortrat und ein Tuch um sich geschlungen hatte. Hatte dieser Kurs eine Art römisches Thema? Zu meinem Erstaunen und Entsetzen ließ sie das Tuch zu Boden fallen und enthüllte Schwabbelröllchen und Hängebrüste mit schrecklichen Falten. Ich musste wegschauen.
Alle anderen machten sich sofort mit dem Kohlestift, den wir neben einem A4-Blatt ausgehändigt bekommen hatten, ans Werk. Nur ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Mit der linken Brustwarze? Mit einem Bein? Ich war völlig überfordert. Also griff ich zu einem Lineal aus der „Kunstkiste“, die gerade herumgereicht wurde, und begann, sie zu vermessen.
War der armen Frau denn nicht kalt? Und was, wenn sie hungrig war oder auf die Toilette musste? Woran in aller Welt dachte sie, während sie in dieser Pose auf einem Stuhl hockte und ins Leere starrte?
„Mir ist aufgefallen, dass Sie von unserem Motiv etwas überrascht gewesen zu sein schienen“, sagte Sarah etwa zwanzig Minuten später über meine Schulter, als sie schließlich zu mir kam.
Ich versuchte, lässig zu klingen. „Eigentlich dachte ich, das hier wäre ein Stillleben-Kurs. Sie wissen schon. Blumen und Früchte. So was in der Art.“
Sie lachte, aber es klang nicht unfreundlich oder verächtlich an, sondern eher wie ein fröhliches Bimmeln. „Sie wären überrascht, wie vielen anderen es genauso geht.“ Dadurch fühlte ich mich ein wenig besser. Dann wurde ihre Stimme ernster. „Der menschliche Körper ist aber wahrlich ein Kunstwerk, finden Sie nicht?“
„Er ist auch ein Zahlenrätsel“, erwiderte ich. Wir betrachteten beide die eckigen Formen auf meinem Blatt, die ich sorgfältig gezeichnet hatte, um die verschiedenen Körperpartien der alten Frau zu erfassen.
„Leonardo da Vinci und Picasso waren dieser Meinung“, erklärte sie, als wäre ich einer der Auszubildenden bei der Arbeit, der einen kleinen Fehler gemacht hatte und ermutigt werden musste. „Aber meiner Meinung nach ist das Schöne bei einem Akt, dass das Modell nichts verbergen kann. Er oder sie ist entblößt. Zumindest äußerlich. Das zwingt den Künstler dazu, unter die Oberfläche zu schauen, um die Seele zu erfassen. Das ist es, was ein Porträt wirklich ausmacht.“
So hatte ich das noch nie gesehen. „Aber wie mache ich das?“, wollte ich wissen.
„Lassen Sie sich von Ihrem Instinkt leiten.“
Instinkt?
„Ich weiß nicht, wie“, murmelte ich. Es war ein Fehler gewesen, hierherzukommen. Das wurde mir jetzt klar.
„Haben Sie was dagegen, wenn ich Ihnen ein bisschen zur Hand gehe?“
Ihre Finger schlossen sich um die meinen und führten den Kohlestift. Genau in diesem Moment durchfuhr es mich wie bei einem Blitzschlag. Es war wirklich so, als hätte sie mir einen Stromschlag verpasst. Ich konnte es nicht begreifen. Diese Frau war einfach nicht mein Typ. Und doch …
„Sehen Sie?“, sagte sie. „Sie mussten nur hier eine kleine Kurve beschreiben und dann hier …“
„Bei Ihnen sieht das so einfach aus“, sagte ich, bemüht, nicht auf ihren wunderschönen Schwanenhals zu starren, auch wenn er durch einen billig wirkenden Anhänger, den sie ständig berührte, während sie sprach, ein wenig verschandelt wurde.
Meine Dozentin trat zurück, als wolle sie mich begutachten. Ich fühlte mich ein wenig unbehaglich. „Jeder hat seine individuellen Stärken. Was sind Sie von Beruf?“
„Ich bin Versicherungsmathematiker.“
Fragend legte Sarah den Kopf schief. Ich registrierte, dass sie eine hohe, glatte Stirn hatte, die sie ziemlich königlich aussehen ließ. „Was macht man da?“
Diese Frage war mir schon so oft von Branchenfremden gestellt worden, dass ich meine Antwort wie aus dem Effeff beherrschte. „Im Wesentlichen ist meine Aufgabe, die Wahrscheinlichkeit und das Risiko zukünftiger Ereignisse zu berechnen, um ihre finanziellen Auswirkungen auf ein Unternehmen und seine Kunden zu prognostizieren.“
Sie brach in Gelächter aus. „Wie bitte?“
Ich fühlte mich von ihrer Erheiterung leicht gekränkt. „Es ist wirklich sehr nützlich. Ich kann meinen Kunden zum Beispiel helfen, dahinterzukommen, wie lange sie wahrscheinlich noch zu leben haben, damit sie die passende Lebensversicherung abschließen können.“
„Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so etwas macht. Also, wie lange haben Sie denn noch zu leben?“
Diese Frage hatte mir noch nie jemand gestellt. „Ich weiß es nicht.“
„Was mich angeht, würde ich es gar nicht wissen wollen“, sagte sie leichthin. „Ich glaube, man sollte im Hier und Jetzt leben. Das ist viel wichtiger als Geld.“
Dann schien sie plötzlich zu bemerken, dass ihre Hand immer noch auf meiner ruhte, und zog sie zurück. Ich fühlte mich dadurch kalt. Leer. Ich konnte nicht einmal antworten, indem ich erwiderte, dass Versicherungen zu den wichtigen Dingen im Leben gehörten, die die Leute zu ihrem eigenen Nachteil ignorieren, denn Sarah war bereits zum nächsten Schüler weitergegangen, beugte sich über ihn und machte motivierende Vorschläge. Ich spürte einen lächerlichen Anflug von Eifersucht.
„Zeit für eine Pause!“, rief sie später. „Maude, schenk dir doch einen Tee ein, ja? Können Sie alle in zehn Minuten wieder loslegen?“
Ich war von Sarahs Fürsorge beeindruckt. Die alte Frau stand auf und wickelte sich, neben ihrem Stuhl stehend, in das Tuch, bevor sie zur Thermoskanne watschelte. Es war mir unmöglich, sie nicht mit einer Art entsetzter Faszination zu betrachten. Wie viel bekam sie dafür? Es musste doch bestimmt einfachere Wege geben, Geld zu verdienen.
Während der nächsten Stunde schaute ich immer wieder zu Sarah hinüber, nahm ihre Erscheinung in mich auf, sah zu, wie sie die anderen beriet und unterstützte, beobachtete ihre Hilfsbereitschaft. Sie ermutigte jeden mit einem positiven Satz, etwa: „Mir gefällt, wie Sie diesen Schatten gezeichnet haben“, oder einem kleinen Ratschlag wie: „An Ihrer Stelle würde ich hier noch ein bisschen Mauve hinzufügen.“ Es schwang Sanftheit darin mit, aber auch Zähigkeit. Etwas, das besagte: „Ich kann für mich selbst eintreten.“
Vor allem aber war es ihre körperliche Präsenz: diese kindlichen Zöpfe, die schlanken nackten Arme, die wunderschönen braunen Augen. Es mag wie ein Klischee klingen, aber Sarah zu betrachten, fühlte sich an wie eine Droge (nicht, dass ich jemals welche genommen hätte), die mich immer süchtiger machte, je länger sich die Zeiger der Wanduhr weiterdrehten.
Am Ende des Kurses, als ich meine Skizze total verpfuscht hatte, ging ich zu ihr. „Es tut mir leid“, sagte ich. „Ich glaube, Aktzeichnen ist nichts für mich.“
Sie warf mir einen absolut süßen, verständnisvollen Blick zu, der mich erneut an meine Mutter erinnerte. „Wollen Sie es nicht noch einmal versuchen?“
„Nicht wirklich.“
Ich konnte ja wohl kaum hinzufügen, dass mich die schlaffen Brüste des Modells abstießen und mir die Schmiererei nicht gefiel, die die Kohle auf meinen Händen hinterlassen hatte.
„Ich finde es schade, Sie zu verlieren.“
Dann hörte ich die Worte aus meinem Mund kommen, bevor ich sie zurücknehmen konnte. „Würden Sie mit mir essen gehen?“
Ich wartete darauf, dass sie antwortete, ich solle mich verziehen. Keine Frau würde mit einem Mann ausgehen, den sie gerade erst kennengelernt und mit dem sie kaum ein paar Worte gewechselt hat, oder? Keine wohlerzogene Frau, jedenfalls.
Oder war das der Punkt? Vielleicht hatte ich Sarah eingeladen, weil wir so grundverschieden waren. Um zu beweisen, dass ich nicht der langweilige Kauz war, den Arabella verschmäht hatte.
„In Ordnung“, sagte sie beiläufig.
Hatte ich sie richtig verstanden?
„Aber mir wäre es lieber, wenn Sie zu mir nach Hause kämen, statt auszugehen“, fuhr sie fort. „Ich habe noch Essen übrig, und es wäre Verschwendung, es wegzuwerfen. Ich hasse Verschwendung, Sie nicht auch? Besonders, da so viele Menschen auf der Welt hungern.“
Ich meinte gar nicht heute Abend, hätte ich fast erwidert. Ich meinte irgendwann. Nächste Woche vielleicht. Diese Woche, wenn es sein muss. Oder auch nie, um ehrlich zu sein, denn ich hatte damit gerechnet, dass sie mir einen Korb geben würde. Aber diese ungewöhnliche Frau hatte Ja gesagt. Und, noch wichtiger, sie meinte jetzt.
„Bei Ihnen?“, sagte ich und bemühte mich dabei, selbstbewusst zu klingen. „Klar.“
„Toll!“, sagte Sarah. Da war es wieder, dieses sonnige Lächeln, das mir eine seltsame innere Leichtigkeit bescherte. »Ich wohne nicht weit weg. Es sind bloß vierzig Minuten zu Fuß. Ach so, Sie mögen doch vegetarisches Risotto, oder?
Ich schluckte schwer. Wie hätte ich ihr in diesem Moment sagen können, dass mir schon beim Gedanken an Reis übel wurde? Nicht nur einfach wegen des Geschmacks aus meiner Internatszeit. Sondern auch wegen dem, was danach passiert war.
2
Sarah
Tom war echt nicht mein Typ. Wäre nicht gerade der Jahrestag gewesen, dann hätte ich nicht einmal zu einem Date Ja gesagt. Aber ich wollte und konnte an diesem Abend nicht allein sein. Der Schmerz war immer noch spürbar, jede Minute, jeden Tag. Jahrestage sollten da eigentlich keinen Unterschied machen, doch sie tun es, finden Sie nicht auch? Also war ich dankbar für Gesellschaft – nein, ich sehnte sie mir förmlich herbei. Ich erinnere mich noch so genau an den Abend, als würde er sich in diesem Moment vor mir auf der Kinoleinwand abspielen.
„Was ist das für ein Geruch?“, fragte Tom, nachdem ich ihm vorgeschlagen hatte, er solle mit zu mir kommen, statt mich in ein Nobelrestaurant auszuführen. Ich wusste, dass es nobel sein würde, denn dieser Typ mit seinem Akzent und seinen schicken, steifen Klamotten war eindeutig aus der Oberschicht. Aber die Vorstellung, dass alle Leute um uns herum über belanglose Dinge plappern würden, machte mich wahnsinnig. Vor allem an diesem Tag.
Außerdem machte ich mir wirklich Sorgen, das Risotto wegwerfen zu müssen. Ich konnte es nicht ertragen, Essen wegzuwerfen, ich kann es bis heute nicht. Ich war schon zu oft hungrig gewesen.
„Der Geruch?“, griff ich Toms Frage auf. „Der kommt von den Räucherstäbchen.“
Ich beobachtete, wie er das Chaos in sich aufnahm. Hätte ich geahnt, dass ich jemanden mit nach Hause nehmen würde, dann hätte ich vorher ein bisschen aufgeräumt. Auf den Stuhllehnen hing Wäsche zum Trocknen, überall lagen Skizzen herum, und in der Spüle stapelten sich die schmutzigen Teller. Außerdem hätte ich die Fenster öffnen sollen, um den Grasgeruch auszulüften.
Jetzt waren wir allein, fernab des Kurses, und ich bekam Gelegenheit, meinen Gast genauer zu betrachten. Ich registrierte seine Größe und seine langgliedrige Figur, so wie ich es getan hätte, um einen Akt von ihm zu zeichnen. Man ist sich dessen womöglich nicht bewusst, aber die meisten Künstler tun das, wenn sie jemandem zum ersten Mal begegnen.
Tom Wilkins war nicht mein üblicher Typ. Zunächst einmal hatte er kurzes, hellblondes Haar und eine Haut, die babyweich und sehr sauber aussah. Ich vermutete, dass er auch im übertragenen Sinne clean war, auch wenn man das nicht immer erkennen kann. Er hatte die Angewohnheit, ständig seine Hände nervös zu kneten. Das fand ich ziemlich süß. Schon unterwegs hatte er mir erzählt, dass er keinen Alkohol trank und „scharf“ auf Mozart sei. Den Namen kannte ich natürlich, aber ich hatte noch nie Musik von dem Kerl gehört.
„Ich mag Pearl Jam“, sagte ich ihm.
„Reden wir jetzt über Essen?“
„Sehr witzig.“
Er runzelte die Stirn. „Warum?“
Dann begriff ich, dass er seine Frage ernst gemeint hatte. „Pearl Jam ist der Name einer Band.“ Ich brach in Gelächter aus. „Wo hast du denn bis jetzt gelebt?“
„Mal überlegen“, sagte er und zählte an seinen Fingern ab. „Ich bin in London aufgewachsen. Danach war ich auf dem Internat in Somerset. An der Universität in Reading, und jetzt wohne ich wieder in London.“
„Ich habe dich nicht nach deiner Lebensgeschichte gefragt. Ich habe bloß einen Witz darüber gemacht, dass du Pearl Jam nicht kennst.“
„Ach so?“, fragte er und runzelte die Stirn.
War dieser Typ wirklich so? Doch mein Instinkt sagte mir, dass dieser große, linkisch wirkende Mann mit seiner ganz langsamen, bedächtigen Art zu sprechen jedes Wort ernst meinte. Dieser Tom redete Klartext. Er nahm alles, was ich sagte, für bare Münze. Das war erstaunlich erfrischend.
Er konnte auch witzig sein und über sich selbst Scherze machen. „Siehst du das?“, fragte er und deutete dabei auf sein linkes Auge, mit dem er ein wenig zu schielen schien. Wir saßen einander gegenüber auf Sitzsäcken und aßen das Risotto, das ich diese Woche schon zweimal aufgewärmt hatte. Es schien ihm aber zu schmecken, denn er schlang es so schnell herunter, dass jede Gabel voll kaum eine Sekunde in seinem Mund gewesen sein konnte. Mir war es ein wenig peinlich, dass ich ihm keinen Nachschlag anbieten konnte.
„Als ich Kind war, nannten sie es träges Auge“, fuhr er fort und blickte leicht verschämt drein. „Aber ich war nie träge. Vielmehr war ich sehr pflichtbewusst. Immer schon.“
Sein Auge störte mich nicht sonderlich, obwohl klar war, dass er es als Makel empfand und das Thema auf den Tisch bringen wollte. Ich bewunderte das.
„Der medizinische Begriff ist Amblyopie“, fügte er hinzu. „Sie betrifft zwei bis drei Prozent aller Kinder. Wenn sie früh genug erkannt wird, kann sie behandelt werden. Aber die Oberin hat eine Behandlung bei mir abgelehnt.“
„Oberin? Warst du im Krankenhaus?“
„Nein. Sie war im Internat für die sogenannte Seelsorge zuständig.“ Dann stieß er so etwas wie „Boh!“ aus, als ob sie sich nicht besonders um die Seelen gesorgt hätte.
Meine Mutter hatte mich umsorgt. „Lächeln, Sarah!“, forderte sie mich immer auf, wenn sie mich fotografierte. „Zeig mir dein wunderschönes Lächeln.“ Damals hatte unser Leben idyllisch gewirkt. Aber ich kannte es ja auch nicht anders. Wenigstens fragte Tom mich nicht allzu viel nach meiner Vergangenheit. Stattdessen schluckte er alle Geschichten, die ich ihm über das Aufwachsen in einer großen, glücklichen Familie auftischte. Hätte er die Wahrheit gekannt, dann wäre es nie zu einem zweiten Date gekommen.
„Wie ist es dazu gekommen, dass du dich auf Aktzeichnen spezialisiert hast?“, wollte er von mir wissen.
Ich zuckte mit den Schultern. „Als ich an der Kunstakademie studierte und mich dafür interessierte, bat mich mal jemand, Modell zu sitzen.“
„War es dir nicht peinlich, deine …?“ Er hielt inne, als ob er sich zu sehr schämte, den Satz zu beenden.
„Meine Kleidung abzulegen? Nein. Warum sollte es? Der menschliche Körper ist eine großartige Konstruktion. Er ist dafür geschaffen, gezeigt zu werden.“
„Aber warum steht oder sitzt jemand Modell?“ Er runzelte die Stirn, als wäre er ein kleines Kind, das eine Erklärung braucht. „Ich meine, es kann ja nicht viel einbringen.“
„Man soll es vielleicht nicht glauben, aber Maude sagt, dass ihr jeder noch so kleine Betrag hilft. Außerdem mag sie die Gesellschaft.“
Danach schwieg er eine Weile, als würde er über diese Erklärung nachsinnen.
„Ich habe mich gefragt, ob ich vielleicht …“, begann er, als wir mit dem Essen fertig waren. Dann stockte er.
„Ja?“, fragte ich und beugte mich vor, um ihn zu ermutigen.
War das denn nicht der Grund, warum ich ihn mit nach Hause genommen hatte? Ich brauchte jemanden oder etwas, um die Erinnerungen aus meinem Kopf zu verbannen. Schlaftabletten funktionierten nicht. Alkohol machte mich mürrisch. Stattdessen versuchte ich, den ganzen Aufruhr in mir zu verbergen, indem ich viel lächelte. Das half mir, mir selbst vorzugaukeln, alles wäre in bester Ordnung. Dass ich einer jener Glückspilze wäre, die ohne Probleme durch das Leben segelten.
„Ich habe mich gefragt, ob ich dein schmutziges Geschirr abwaschen könnte.“
War es wirklich das gewesen, was er hatte vorbringen wollen? Oder war er im Begriff gewesen, Sex vorzuschlagen, und hatte dann den Mut verloren? „Oh! Nein, keine Sorge.“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ich erledige das später.“
Er runzelte die Stirn. „Wusstest du, dass sich die Anzahl der Bakterien in zwanzig Minuten verdoppeln kann, wenn Essensreste auf den Tellern zurückbleiben?“
„Machst du Witze?“
„Nein. Das ist eine Tatsache.“
Dieser Mann war wie eine wandelnde, pingelige Enzyklopädie. Er fing an, mich zu nerven. Aber ich konnte an jenem Abend unmöglich allein sein. Das konnte ich einfach nicht. Also deutete ich in Richtung des Spülbeckens, das bereits voll mit Müslischalen und schmutzigen Bechern stand, die mir auch als Farbtöpfe dienten. „Tu dir keinen Zwang an.“
„Zwanghaft bin ich sowieso schon“, sagte er mit ausdrucksloser Miene. „Verrat mir, wo du das Spülmittel aufbewahrst.“
„Ehrlich gesagt, ist es mir ausgegangen.“
Ich fügte nicht hinzu, dass ich Tassen und Teller normalerweise einfach mit klarem Wasser abspüle, auch wenn das Wasser kalt ist, weil ich kein Geld für den Gasautomaten habe.
„Dann ziehe ich mal los und kaufe welches. Wo ist der nächste Laden?“
Das war’s. Noch mehr konnte ich nicht ertragen. Alles, was ich wollte, war Sex.
Ich ging auf ihn zu, stellte mich auf die Zehenspitzen, schlang meine Arme um seinen Hals und zog sein Gesicht sanft zu mir herunter. „Küss mich!“, flehte ich. „Bitte.“
Er sah mich an, als hätte ich ihm einen Heiratsantrag gemacht. „Bist du sicher? Wir kennen uns doch gar nicht richtig.“
Das ist doch genau der Punkt!, hätte ich am liebsten geschrien. Ich brauchte Ablenkung, keine Bindung.
„Ich habe noch nie jemanden wie dich getroffen, Tom“, sagte ich. Das konnte ich mit Fug und Recht behaupten.
„Das liegt daran, dass …“
Was immer er jetzt noch hatte sagen wollen, ließ ich ihn nicht sagen, weil ich selbst die Initiative ergriff. Seine Lippen waren warm. Halb hatte ich damit gerechnet, dass er mich von sich stoßen würde, aber das tat er nicht. Stattdessen war seine Zunge viel geübter, als ich es erwartet hatte. Nur eine Person hatte mich zuvor so geküsst. Es waren lange, tiefe Küsse, bei denen er mit der Zunge tief in meinem Mund versank und die ewig andauerten. Er nahm meinen Kopf in beide Hände. Das gab mir das Gefühl, begehrt zu werden. Etwas Besonderes zu sein.
Tom Wilkins war nicht mein Typ! In keiner Weise. Aber etwas an seinem Kuss änderte das alles. Mein Körper stand in Flammen. Und mein Kopf ebenfalls.
Er beugte sich zu mir herunter, um mehr zu bekommen. Es war, als wären unsere Lippen magnetisch miteinander verbunden.
„Ich werde jetzt gehen“, sagte er schließlich. Erneut kam Panik in mir auf.
„Willst du nicht über Nacht bleiben?“
„Doch, Sarah. Natürlich wünsche ich mir das. Aber erst, wenn wir uns besser kennen.“
„Bitte bleib doch.“ Ich konnte das hysterische Schluchzen nicht aus meiner Stimme verbannen. „Ich möchte jetzt nicht allein sein.“
Er zögerte. Ich spürte, dass ich einen Nerv bei ihm getroffen hatte.
„Nur, wenn ich auf dem Boden schlafe“, sagte er dann bedächtig.
„Sei nicht albern. Wir sind doch zwei Erwachsene.“
„Genau. Sex ist kein Stück Konfekt, das man einfach so kostenlos probieren kann. Es ist etwas, das man sich mit Liebe verdienen muss.“
Nun fühlte ich mich bevormundet. „Dann geh doch!“, wäre ich fast herausgeplatzt.
Dann umfasste er mein Gesicht wieder mit beiden Händen. „Ich werde bleiben. Aber wir müssen noch etwas klären. Die sogenannten Räucherstäbchen. So dumm bin ich nicht, Sarah. Wenn wir uns wiedersehen wollen, musst du aufhören, Marihuana zu rauchen.“
Ich hätte ihm erzählen können, dass ich es gar nicht getan hatte, sondern dass früh am Tag ein Nachbar vorbeigekommen war, um mich zu warnen, dass wieder einmal eingebrochen worden war, und er sich dabei einen Joint angezündet hatte. Aber ich hatte das Gefühl, dass Tom mir nicht glauben würde. Die Ironie dabei ist, dass es eins der wenigen Male an diesem Abend gewesen wäre, an dem ich ihm die Wahrheit gesagt hatte.
Wie auch immer, dachte ich bei mir, es gab da ein gewisses Gleichgewicht zwischen etwas zu „gestehen“, das ich nicht getan hatte, und über die schreckliche Sache zu schweigen, die ich getan hatte. Auf den Tag genau vor zehn Jahren.
„Okay“, hörte ich mich sagen.
„Nimmst du auch Stärkeres?“, wollte er wissen.
„Natürlich nicht.“
Er schien mir zu glauben.
„Welche Zahl ist deine Glückszahl?“, fragte ich ihn plötzlich.
„Glückszahl?“ Er sah verwirrt aus. „Wie kann eine Zahl Glück bringen?“
„Aber jeder hat doch eine! Meine ist die Zwei.“
Dass dies auch Mums Glückszahl gewesen war, erwähnte ich nicht. Sie sagte immer, es läge daran, weil es nur uns zwei gab. Sie und mich.
„Bitte. Such dir eine aus“, drängte ich.
Er schüttelte den Kopf, lachte aber. „Na gut. Zwei.“
„Das ist die richtige Antwort!“, sagte ich. Mein Herz schlug schneller. Es war ein Zeichen. Das musste es einfach sein.
In dieser Nacht hatte ich die üblichen Albträume. Türen schlugen zu. Menschen schrien. Ich bekam keine Luft …
Aber statt schweißgebadet aufzuwachen, nahm ich vage wahr, dass mir jemand sagte, alles sei „in Ordnung“.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Tom schon verschwunden.
An seiner Stelle lag eine Flasche mit grünem Spülmittel, daneben ein Zettel. Seine Schrift bestand aus sehr deutlichen Großbuchstaben, alle in exakt der gleichen Größe.
ICH WOLLTE DICH NICHT WECKEN, UM DEINE HANDYNUMMER ZU BEKOMMEN. ABER WIR SEHEN UNS JA NÄCHSTE WOCHE IM KURS. DANKE FÜR DAS ABENDESSEN. ICH HOFFE, DASS ICH DICH DAS NÄCHSTE MAL BEWIRTEN DARF.
Und obwohl Tom Wilkins das genaue Gegenteil von mir war, und zwar in mehr Hinsichten, als er ahnte, konnte ich es einfach nicht erwarten.
Der Regen hat jetzt aufgehört.
Die Nacht ist pechschwarz.
Keine Sterne.
Das ist gut.
So wird man nicht so leicht entdeckt.
Halt den Kopf unten, sage ich mir.
Geh schnell.
Verspäte dich nicht.
„Die Autorin Jane Corry liefert uns mit diesem Buch ein großes Familiendrama voller Lügen, Spannung und Betrug. Ich war von der ersten Seite an gefesselt und habe dieses Buch insgesamt wirklich sehr genossen!“
„Was begeistert, sind die zahlreichen unerwarteten Wendungen, die einen beim Lesen kalt erwischen und die Entwicklung, die die Figuren durchlaufen.“
„Wer auf großes Familiendrama, dunkle Geheimnisse und unterschwellige Spannung steht, der ist hier genau richtig.“
„Eine dramatische Geschichte voller Emotionen, die sehr nachdenklich stimmt und sich schnell zum Thriller auswächst. Absolut furchteinflößend und mitreißend!“
„Ein Buch, das nicht loslässt und noch lange nach dem Weglegen in den Gedanken des Lesers verweilt.“
„Der Schreibstil ist flüssig, bildstark und steckt voller Emotionen. Es ist eine ruhige, dramatische Geschichte, die mich nachdenklich gemacht hat und nachhallt.“
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