Thoms Bericht Thoms Bericht - eBook-Ausgabe
„Thoms Bericht ist so schlicht, so offen, so ehrlich, so erschütternd und zugleich so faszinierend, dass man den Autor für seinen Wagemut – und sein schriftstellerisches Können – nur bewundern kann.“ - Fantasia 659e
Thoms Bericht — Inhalt
Thom ist gerade vierzehn, als er eine weitreichende Entscheidung trifft. Ein für alle Mal will er sich lossagen von seiner Familie. Von dem tyrannischen Vater, einem autoritären Kirchenmann, der Gott liebt, aber seine eigenen Kinder straft. In seinem schonungslosen Bericht deckt Thom die Lügen und die Scheinmoral der Erwachsenen auf. Ein wertvolles und zeitloses Buch, in dem Tilman Röhrig die seelischen Nöte eines Jugendlichen kunstvoll in authentische Worte kleidet.
Leseprobe zu „Thoms Bericht“
Die Handlung schildert die Situation eines Jungen in den 70er JahrenSie hat dennoch nichts an Aktualität verloren
Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich keine roten Haare hätte. Dabei haben weder meine Mutter noch mein Vater solche Haare. Auch keins meiner vier Geschwister hat so einen roten Pelz auf dem Kopf. Kaum jemand – der nicht selbst darunter leidet – kann sich vorstellen, was es bedeutet, rote Haare zu haben und keine reichen Eltern: Also nichts, womit man Eindruck schinden kann. Man ist dem Spott und der Hänselei der ganzen Umgebung [...]
Die Handlung schildert die Situation eines Jungen in den 70er JahrenSie hat dennoch nichts an Aktualität verloren
Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich keine roten Haare hätte. Dabei haben weder meine Mutter noch mein Vater solche Haare. Auch keins meiner vier Geschwister hat so einen roten Pelz auf dem Kopf. Kaum jemand – der nicht selbst darunter leidet – kann sich vorstellen, was es bedeutet, rote Haare zu haben und keine reichen Eltern: Also nichts, womit man Eindruck schinden kann. Man ist dem Spott und der Hänselei der ganzen Umgebung ausgesetzt. Soll man dabei nicht anders werden als andere Kinder?
Von den Jahren vor dem ersten Schultag gibt es eigentlich wenig zu erzählen. Nein, vielleicht doch so zwei oder drei Begebenheiten, die ich für wichtig halte.
Wir wohnten in einem Dorf im Hunsrück. Thalfang heißt es. Mein Vater war damals Dorfpfarrer. Er hat im Krieg seinen rechten Arm verloren, aber es scheint ihm nichts auszumachen. – Ich bin also zu allem Überfluss auch noch Pfarrerssohn! Wenn die Leute mich auf der Straßesahen, sagten sie immer: „Pfarrers Kinder, Müllers Vieh, geraten selten oder nie!“ Meist sagten sie das, wenn ich mal so ein bisschen laut herumtobte. Ich fand das doof. Was kann ich dafür, dass mein Vater so einen Beruf hat?
Eines Tages schenkte mir ein Junge aus der Nachbarschaft eine Stahlgabel, um eine Steinschleuder zu bauen. Wir nannten das „Fletsche“. Ich hatte mir zwei Gummiriemen aus einem alten Autoschlauch geschnitten. Ein gutes Stück Leder dazu zu besorgen, war schwierig, aber bald kam mir die rettende Idee: Meine Lederhose hatte einen umklappbaren Rand, den ich sowieso nicht brauchte. Also schnitt ich mir aus dem Lederhosenrand ein schönes Stück heraus, um meine Schleuder fertig zu bauen. Nach zwei Stunden hatte ich eine richtige, weit schießende Fletsche.
Damals verstand ich nicht, warum mein Vater mich deshalb verhauen hat. Schließlich war es meine Lederhose und ich musste sie ja anziehen. Eitel war ich damals überhaupt noch nicht. Aber ich glaube sowieso, dass die Erwachsenen nicht immer so genau wissen, warum sie uns bestrafen. Sie tun es manchmal einfach deshalb, weil ihnen danach zumute ist. Ich aber hatte eine Fletsche und stieg damit im Ansehen der Kinder auf der Straße. Ich fühlte mich als Jäger! Erst schossen wir auf Büchsen, dann machten wir Wettschießen auf Zeitungsbilder, und bald schon schossen wir auf Vögel. Wir stellten uns vor, den Adler im Flug zu treffen, während wir versuchten, Spatzen zu erwischen. Ich fand das ganz in Ordnung, schließlich war ich Jäger. Einmal habe ich einen Spatzen getroffen, oder – beinahe fast. Er saß in einem Holunderstrauch, ich schlich mich nachallen Regeln der Kunst an, schoss, und er flog erschreckt weg. Heute denke ich mir, dass ich ganz haarscharf daneben getroffen hatte, aber damals war ich sicher, ihn voll getroffen zu haben, und ich fühlte so richtig den Triumph des Jägers.
Dann, ein paar Tage später, passierte es: Wir – das heißt, noch zwei Jungen und ich – hatten ein Schwalbennest entdeckt! Es hing unter der Dachrinne einer hohen Scheune. Das war ein Ziel! Wir schossen unermüdlich. Endlich traf einer von uns: Oben im Nest hörte man klägliches Gepiepse. Ich bekam so ein komisches Gefühl im Bauch. Die anderen sicher auch, aber wir schossen weiter, weil wir uns ja nicht voreinander blamieren wollten. Endlich fiel das Nest herunter. Drei kleine, noch ganz nackte Schwälbchen lagen tot und fast platt auf dem Boden. – Mir war richtig schlecht. Dann lachte einer von den Jungen. Vielleicht nur, weil ihm auch schlecht war. Da nahm ich meine Schleuder und schoss ihn an den Kopf! Nicht fest, aber er hat geblutet. Er schrie, als ob man ihn aufgespießt hätte. Jetzt tat er mir Leid, und ich wollte es wieder gutmachen. Er hörte mir nicht zu, er lief nach Hause und sagte es seiner Mutter, die ging zu meinem Vater.
Die Schläge, die ich bekam, waren nicht so schlimm, an die hatte ich mich schon gewöhnt. Nein, das Schlimmste war die Predigt, die mein Vater mir hielt. Ich sei verroht und schlimmer als die Kinder von irgend so einem grausamen Mann in der Bibel. Ich musste früh ins Bett und bekam kein Abendessen. Das war grässlich, denn es gab Dampfnudeln ...
Am nächsten Tag tauschte ich die Fletsche gegen zwanzig Glasmurmeln ein und verlegte mich aufs Spielen. Ich gewann so viele Glasmurmeln, dass am Abend schon wieder eine Mutter bei meinem Vater auftauchte. Sie behauptete, ich hätte ihrem Sohn alle Glasmurmeln gestohlen. – Also gab ich meinen ganzen Gewinn wieder her, denn ich glaubte, dass es keinen Zweck haben würde, einem Erwachsenen etwas zu erklären, wenn er es nicht glauben will. Irgendwie war manches, was ich tat, in den Augen der Erwachsenen schlimm und bestrafenswert, ohne dass ich wusste warum. So sammelte ich einmal über vierzig Marienkäfer und nahm sie heimlich mit ins Bett. Dort strich ich die Decke ganz glatt, setzte die Marienkäfer alle in eine Reihe und spielte Marienkäferwettrennen. Es war richtig spannend. Einige krabbelten gleich los, andere wollten nicht. Da hauchte ich sie ganz vorsichtig an, und schon wachten sie auf und liefen hinter den anderen her. Am Deckenrand angekommen, den ich etwas hochgebaut hatte, breiteten sie ihre Flügel aus und flogen im Schlafzimmer herum. Ich kam mir vor wie der Manager einer Pferderennbahn und auch wie der liebe Gott: Schließlich brachte ich vierzig Marienkäfer zum Fliegen! Leider hatte jedes der kleinen Viecher eine gelbe Spur auf der Decke hinterlassen. Meine Mutter ärgerte sich darüber, und schon wieder wurde ich bestraft. Das fand ich ungerecht! Der Dreck, den meine Käfer hinterlassen hatten, war längst nicht so schlimm wie das schmutzige Laken meines kleinen Bruders, wenn er wieder einmal ins Bett gemacht hatte. Aber er wurde nie ausgeschimpft.
So langsam wurde mir klar, dass die Erwachsenen mir nichts Gutes wollten, und ich wurde so hart, wie ein Fünfjähriger nur werden kann. Es ging nicht anders, ich musste Leuten, die immer an mir herummeckerten, die Zunge rausstrecken und ihnen manchmal Steine nachwerfen – wenn ich sicher war, dass sie mich nicht entdecken konnten.
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