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Tiefer Zorn (Die Legenden von Astray 2)

Tiefer Zorn (Die Legenden von Astray 2) - eBook-Ausgabe

Michael Peinkofer
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Die Legenden von Astray 2

„Eine gelungene Fortsetzung der Suche nach den sieben legendären Heroen, die die Welt vielleicht doch noch retten können.“ - Sonic Seducer Musik Magazin

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Tiefer Zorn (Die Legenden von Astray 2) — Inhalt

Nach „Tote Helden“ der neue Roman aus der Reihe „Die Legenden von Astray“: Einst kämpften in Astray die legendären sieben Helden eine glorreiche Schlacht für das Gute. Doch inzwischen ist der Kontinent von einem tiefen Abgrund durchzogen, der die Völker trennt. Könige, Herzöge und fanatische Sektierer ringen in dem zerrissenen Reich um die Macht. Die junge Diebin Bray und ihre Gefährten jedoch begehren auf. Sie wollen sich nicht damit zufriedengeben, dass Astray im Chaos versinkt. Nach dem Tod ihres Verbündeten Rayan setzen sie alles daran, die sieben Legenden von einst zu versammeln und den Kampf gegen den dunklen Gegner fortzuführen. Doch noch ahnt Bray nicht, was alles auf dem Spiel steht ...

€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 01.02.2018
560 Seiten
EAN 978-3-492-99066-0
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Leseprobe zu „Tiefer Zorn (Die Legenden von Astray 2)“

Prolog
Festung Vanheim
Im Winter


Hauptmann Gunryk hatte das Grauen gesehen.
Aus der Tiefe war es emporgestiegen und hatte sie getötet …
Zuerst die Besatzung der Festung, die oberhalb des tosenden Wasserfalls lag, an der Grenze zwischen den Reichen – und später auch Gunryks Grenzer, die tapfersten Männer, die er je befehligt hatte. Einer nach dem anderen war unter ihren mörderischen Klingen gefallen, hatte in tapferem Kampf sein Leben gegeben – doch Gunryks Qual hatte nicht damit geendet, seine Männer einen grausamen Tod sterben zu sehen.
Denn nun waren sie [...]

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Prolog
Festung Vanheim
Im Winter


Hauptmann Gunryk hatte das Grauen gesehen.
Aus der Tiefe war es emporgestiegen und hatte sie getötet …
Zuerst die Besatzung der Festung, die oberhalb des tosenden Wasserfalls lag, an der Grenze zwischen den Reichen – und später auch Gunryks Grenzer, die tapfersten Männer, die er je befehligt hatte. Einer nach dem anderen war unter ihren mörderischen Klingen gefallen, hatte in tapferem Kampf sein Leben gegeben – doch Gunryks Qual hatte nicht damit geendet, seine Männer einen grausamen Tod sterben zu sehen.
Denn nun waren sie selbst der Feind.
Boten des Todes.
Splitter des Grauens.
Gunryk hatte es versucht … Unter Aufbietung all seines Wissens und der Erfahrung, über die er als Offizier des noryschen Grenzkorps verfügte, hatte er das Rätsel um die verlassene Festung zu lösen versucht. Er hatte herausfinden wollen, warum die Flagge von Altashar noch immer über den steinernen Zinnen von Vanheim wehte und die Vorratskammern der Festung prall gefüllt waren, von der Besatzung jedoch jede Spur fehlte. Hatten die Ostragier Vanheim freiwillig aufgegeben? Waren sie geflohen? Vor wem?
Die Antworten auf diese Fragen hatte Gunryk finden wollen, also waren seine Männer und er in die Festung eingedrungen, bis auf wenige Ausnahmen allesamt hartgesottene und erfahrene Scouts, der Stolz der noryschen Armee … Doch von Beginn an hatte sich gezeigt, dass etwas in der Festung, die einst von Baumeistern der Dwarge in den Tagen des alten Reiches der Astari errichtet worden war, nicht stimmte.
Eine bedrückende Atmosphäre der Furcht herrschte in den alten Mauern, und es hatte nicht lange gedauert, bis einer von Gunryks Leuten verschwunden war, ausgerechnet Mykol, der jüngste und unerfahrenste von allen … und dann hatte das Grauen seinen Lauf genommen. Sie hatten den alten Brunnen entdeckt und die schwärzliche Substanz, die dort überall zu finden war … und in der Tiefe des Schachts waren sie auf sie getroffen …
Die Schreie seiner Männer klangen ihm noch jetzt im Ohr. Gunryk hatte lange in den Diensten des Grenzkorps gestanden, hatte zahllose Scharmützel überstanden und Kämpfe gegen Schmuggler, Räuber und anderes Gesindel ausgetragen, das sich im Bergland herumtrieb. Er war dabei gewesen, als Männer verwundet wurden und starben, aber niemals, niemals in all den Jahren hatte er Soldaten so grässlich schreien gehört wie in diesem Augenblick. Die meisten, selbst die alten Veteranen, waren beim Anblick des grauenvollen Feindes in Panik ausgebrochen, hatten gewimmert wie Kinder und nach ihren Müttern geschrien … Und dann war das Grauen über sie hereingebrochen – und hatte sie alle getötet.
Auch Gunryk hatte gekämpft, hatte um sich geschlagen und gewütet wie ein Berserker, und endlich war es ihm gelungen, sich mit einer Handvoll Männer aus dem alten Brunnenschacht zurück an die Oberfläche zu flüchten. Doch das Grauen war ihnen gefolgt und hatte seine Männer einen nach dem anderen geholt.
Nur ihn hatte es verschont …
Auf dem Grund einer hölzernen Kiste sitzend, überdeckt von Zwiebeln in der Hoffnung, ihr Geruch würde den seinen übertünchen und verhindern, dass die Bestien ihn witterten, hatte er das Grauen überstanden – er, der erfahrene Offizier und viel gelobte Anführer, der Stolz des noryschen Grenzkorps!
Gunryk musste lachen.
Kein erleichtertes, fröhliches Gelächter, sondern das irrsinnige Gekicher eines Mannes, dessen Verstand kapituliert hatte angesichts des Grauens.
Gunryk wusste nicht, woher jener fürchterliche Feind stammte, doch in der Einsamkeit seines Verstecks hatte er viel Zeit zum Nachdenken gehabt, während draußen in der Festung die grässlichen Kreaturen umgingen – und irgendwann war ihm klar geworden, dass es kein Zufall sein konnte, dass der namenlose Schrecken ausgerechnet an diesem Ort zutage getreten war.
Denn die alte Festung Vanheim thronte über einem gewaltigen Abgrund, der sich in unergründlichen Tiefen verlor – am Ende des Risses, der die Welt trennte und sie bis ins Mark gespalten hatte. Und niemand, niemand in ganz Astray vermochte zu sagen, wie tief dieser Riss reichte und was in seinen unergründlichen Klüften lauern mochte.

 

 

Erstes Buch
Das Salz von Skaradag

1
Skaradag
Am Ende des Winters

Fünf Monde waren vergangen.
Fünf Monde, seit die Diebeszunft der Krähen zerschlagen worden und der fahrende Sänger Rayan einen ebenso jähen wie sinnlosen Tod gestorben war.
Fünf Monde, die Bray und ihre Freunde nun schon in der Obhut der Astara Dana Jennara im Haus des Doppelten Mondes lebten.
Fünf Monde voller Fragen – doch ohne Antworten.
Bray hatte noch oft über das nachgedacht, was Rayan ihr erzählt und wovon seine Lieder gehandelt hatten. Bis zuletzt hatte sie nicht begriffen, in welchem Verhältnis sie zu diesem seltsamen Mann gestanden hatte, der aus dem Süden stammte, jedoch in ganz Westray zu Hause gewesen war; dessen Lieder von alten Zeiten und begangenen Heldentaten kündeten und der in der Lage gewesen war, bisweilen, wenn das Schicksal es erlaubte, einen Blick hinter jene Schleier zu werfen, die die Zukunft verbargen.
Hellsichtigkeit.
Prophetie.
Bray scheute sich, jene Begriffe im Zusammenhang mit Rayan zu erwähnen, denn sie drückten nicht annähernd aus, wozu der Krähensänger – so hatten sie ihn genannt – fähig gewesen war. Einsam war er durch die Lande gezogen, ohne Heim und Obdach, stets auf der Flucht vor den Exekutoren und getrieben von seiner Gabe. Denn bisweilen, während er sang, hatte sein inneres Auge sich geöffnet und in die Zukunft geblickt; dann hatte der Klang seiner Worte sich geändert, und er hatte von Dingen gesungen, die dereinst geschehen würden, und dazu hatte er auf seiner Leier gespielt – jener Leier, die sich nun in Brays Besitz befand und auf der sie jeden Abend spielte und die Gäste im Haus des Doppelten Mondes unterhielt …

O Blume so zart aus dem fernen Khadir,
wie duftest du gut und schickst Grüße zu mir,
von meinem Liebsten aus gar fernen Landen
über Meere hinweg, über Grenzen und Banden
sagst du mir, dass er mich liebt all so sehr,
und ich wünscht’ ihn zu sehen, ich wünschte ihn her,
in meine Arme, den Liebsten mein,
o Blume, möchtest du er doch nur sein!

Es war, als würde man Perlen vor Säue werfen.
So wohlklingend die Töne auch sein mochten, die Bray der alten Leier entlockte, und so lieblich die Worte, die sie dazu sang – niemand kam ins Haus des Doppelten Mondes, um ihre Lieder zu hören, zu speisen oder sich auch nur zu unterhalten. Der eigentliche Grund waren die Dienerinnen des Doppelten Mondes, die in Jennaras Diensten standen und den Ruf genossen, die schönsten Huren von ganz Skaradag zu sein. Die Preise, die die Gäste zu entrichten hatten, waren entsprechend, dennoch war das Haus stets gut besucht – und das mochte etwas bedeuten in einer Stadt, in deren armen Vierteln sich Frauen schon für ein Stückchen Brot feilboten.
Der Winter war hart gewesen. Und das nicht nur wegen der Stürme, die von Borea die Küste herabgezogen waren und die Stadt mit Eis und Schnee überzogen hatten. Sondern auch, weil der Orden einen neuen Großexekutor nach Skaradag geschickt hatte. Sein Name war Salacar-Syn, und es war seine Aufgabe, das spurlose Verschwinden seines Vorgängers Thorgon zu untersuchen und aufzuklären. Und für Osric Jarnhant, den ruchlosen Marschall der Stadt, war dies ein willkommener Anlass, um den Druck auf die Diebeszünfte zu erhöhen.
Allein während der vergangenen fünf Monde waren in Skaradag mehr Menschen hingerichtet worden als in den fünf Wintern zuvor; die Mauern der Eisernen Zitadelle, von deren Zinnen man die in Salz eingelegten Leiber der Gehenkten baumeln ließ, quollen beinahe über in diesen Tagen, und die Zahl derer, die zum Frondienst in den Salzminen verurteilt worden waren, ging in die Hunderte. Dabei war es weder Gier noch Übermut, die die Armen dazu zwang, in Rikstedt, dem Viertel der Reichen, auf Beutefang zu gehen – sondern die pure Notwendigkeit. Verzweiflung herrschte unter den Armen der Stadt. Viele waren im Winter elend verhungert. Andere, die kein Dach über dem Kopf hatten, in den kalten Nächten elend erfroren, auch Frauen und Kinder.
Im Haus des Doppelten Mondes jedoch war davon nichts zu spüren.
Die mit rotem Stoff beschlagenen Mauern waren nach wie vor erfüllt von ausgelassenem Gelächter und heiterer Musik, die schwüle Luft durchdrungen von betörenden Düften. Rosen, Zimt und Granatapfel vermischten sich mit dem süßlichen Duft des Ophirs, der die Luft in schweren Schwaden tränkte und dafür sorgte, dass auch jene, die tagsüber von Ängsten und Sorgen geplagt wurden, sie des Nachts an diesem Ort vergaßen. Und natürlich waren da die Dienerinnen – dralle Schönheiten aus Norya mit Haut wie Alabaster und cymrische Frauen mit Haar wie Feuer. Sie alle geizten nicht mit ihren Reizen, wenn es darum ging, die meist männlichen Besucher des Hauses zu verwöhnen und ihre geheimen Wünsche zu erfüllen. Die besonders wohlhabenden Gäste – Kaufleute oder Angehörige des Saligerstandes, die den Salzhandel in Skaradag kontrollierten – zogen es vor, sich in die Separees zurückzuziehen, die sich in den oberen Stockwerken befanden; die Übrigen verlustierten sich noch in der Halle, auf den Liegen und Teppichen, nur durch halb durchsichtige Seidenschleier getrennt.
Anfangs war Bray vor Scham errötet. Zwar war sie kein Kind mehr und hatte längst getan, was auch jene Männer und Frauen taten. Doch stets war es ihr als etwas Persönliches, Vertrauliches erschienen, das zwei Menschen miteinander teilten – hier im Haus des Doppelten Mondes war es mehr oder minder öffentlich, wurde Liebe als Ware gehandelt wie das Salz auf den Märkten der Stadt. Dennoch hatte es nicht lange gedauert, bis Bray gleichgültig geworden war gegenüber dem, was sich allabendlich vor ihren Augen abspielte. Und sie hatte auch zu verstehen begonnen, weshalb Dana Jennara, die Herrin des Hauses, stets so über den Dingen zu stehen schien: Sie war eine Astara, und ihr Leben währte ganz einfach schon so lange, dass sie alles gesehen und erfahren hatte und sie nichts mehr überraschen konnte. Gewohnheit war ihr ständiger Begleiter, und so begegnete sie allen und jedem mit derselben zurückhaltenden Freundlichkeit, ganz gleich, ob es die Dienerinnen waren, die im Haus des Doppelten Mondes für sie arbeiteten und sie wie eine Mutter verehrten; oder die Freier, die für eine einzige Nacht mit ihr ein kleines Vermögen boten.
Nur ein einziges Mal hatte Bray erlebt, dass die sonst stets so beherrscht agierende Astara ihre Zurückhaltung aufgegeben hatte – an dem Tag, da sie und der Halbling Lorymar Thinkling einen Tross des Exekutorordens überfallen und Bray und ihre Freunde damit vor einem dunklen Schicksal bewahrt hatten; an jenem Tag, der sich unauslöschlich in Brays Gedächtnis eingebrannt hatte, hatte der Krähensänger Rayan sein Leben gelassen – ebenso wie Thorgon-Syn, Großexekutor des Ordens. Sollte dessen Nachfolger Salacar jemals von diesen Dingen erfahren, würde das ihrer aller Ende bedeuten …

Ach Liebster mein, ach wärst du doch hier,
und nicht nur die Blume aus dem fernen Khadir.
Statt dir nur zu schicken dies Lied als mein’ Gruß,
liebkoste ich dich mit feurigem Kuss
und ob der Sehnsucht roten Wangen
statt hier zu singen und zu bangen,
ob du einst kehrst zurück zu mir
o Liebster aus dem fernen Khadir!

Das Lied endete, aber es gab keinen Applaus und keine dankbaren Blicke, nicht einmal ein wohlwollendes Nicken. Die Gäste im Haus des Doppelten Mondes waren mit Dingen beschäftigt, die ihre Sinne weit mehr fesselten als der Gesang eines jungen Mädchens, das noch dazu seine Reize züchtig unter einem Kleid verbarg. Als Dana Jennara Bray und die anderen jungen Diebe der Krähenzunft, die sie aus der Gewalt Thorgon-Syns befreit hatte, in ihr Haus aufnahm, hatte sie versprochen, dass keiner von ihnen den Gästen zu Diensten sein müsse – und daran hatte sie sich stets gehalten. Die Jüngsten – wie der Knabe Birk oder das Mädchen Anara – verrichteten einfache Arbeiten in der Küche; die größeren und kräftigeren Burschen verdingten sich als Dienstboten und Führer, die die vom Ophir benebelten Freier nach Beendigung ihres Vergnügens sicher nach Hause geleiteten.
So auch Kai, der in diesem Moment zu ihr herüberkam, das rote Haar abstehend und die von Sommersprossen besetzten Züge hoch gerötet, was, wie Bray vermutete, nicht allein von der Wärme rührte, die das flackernde Kaminfeuer verbreitete …
„Es ist so weit“, raunte er ihr zu.
„Du schwitzt“, stellte Bray missbilligend fest.
„Heiß hier drin“, meinte er grinsend – er war nur wenig jünger als Bray, an den nackten Tatsachen, die sich ihm Tag für Tag präsentierten, hatte er sich offenbar noch nicht sattgesehen.
„Schwerenöter“, beschied sie ihm mit freudlosem Grinsen. „Also, was hast du?“
„Der Kaufmann Renlurd“, erwiderte Kai in unverhohlener Erregung. „Seana ist oben und kümmert sich um ihn – und sie hat mir verraten, dass es eine Weile dauert, bis er …“
„Verstehe.“ Bray schnitt eine Grimasse. Seana, eines der Freudenmädchen, die in Jennaras Bordell arbeiteten, hatte einen Narren an Kai gefressen und ihn – zumindest nahm Bray das an – mit den Tatsachen des Lebens bekannt gemacht. Jedenfalls war er eines Abends in ihrer Kammer verschwunden und nur wenig später wiederaufgetaucht. Dabei hatte er gegrinst wie der sprichwörtliche Bär am Honigtopf …
„Kannst du weg?“, fragte er nur.
Bray nickte. „Ich habe Pause bis Mitternacht.“
„Das genügt – Renlurds Villa ist nicht weit weg. Ich habe ihn schon ein paarmal nach Hause gebracht.“
„Kluger Junge.“ Bray lächelte verwegen – Kai mochte ein Aufschneider sein und bisweilen auch ein Tunichtgut. Aber wenn es darum ging, Beute ausfindig zu machen, war auf sein Gespür Verlass.
Bray erhob sich von dem Schemel, auf dem sie gesessen und gesungen hatte. „Ich gehe nach oben und ziehe mich um“, gab sie bekannt. „Wir treffen uns am Ende der Gasse.“
„Verstanden.“ Er wollte zum Ausgang.
„Und – Kai?“
„Ja?“ Er wandte sich noch einmal um.
„Steck deinen Kopf in den Schnee“, empfahl sie ihm grinsend. „So, wie er jetzt leuchtet, verrätst du uns noch.“
„Miststück“, erwiderte er.
Dann verließ sie die kleine Bühne, die inmitten der Eingangshalle errichtet worden war, nahm ihre Lyra, und durch den Wall der Schleier, vorbei an nackten, verschlungenen Körpern, ging sie über die schmale Treppe hinauf in ihr Quartier, das sie sich mit den anderen Mädchen aus Faginors alter Bande teilte.
Dabei spürte sie ihren Blick auf sich ruhen.
Bray widerstand dem Drang, stehen zu bleiben und sich nach Dana Jennara umzusehen. Bisweilen kam es ihr vor, als besäße die Astara die Gabe, die Gedanken derer zu lesen, denen sie tief in die Augen sah – und wenn es etwas gab, wovon die Herrin des Hauses nichts erfahren durfte, dann war es das, was Bray und Kai im Schutz der Dunkelheit taten, wann immer sich Gelegenheit bot.
Denn es war gefährlich.
Und konnte tödlich enden …

 

 

2
Oase Ayshak, Feuerwüste
Zur selben Zeit


Er war gestrandet.
Nicht etwa am Ufer eines Meeres, sondern inmitten jener endlos weiten, trockenen Leere, die sich im Süden Ostragiens erstreckte und nach Osten hin bis weit in die Gebirge Turaniens reichte. Barra Harik nannte man dieses Land in Altashar – die Feuerwüste. Nur zwei Handelsrouten gab es, die die Wüste durchschnitten – die eine führte nach Süden, der Wüstenstadt Hyraka entgegen, die andere von dort gen Westen nach Satrapos. Was weit im Osten jenseits der sich scheinbar endlos fortsetzenden Sanddünen lag, wusste niemand zu sagen, da keiner, der dorthin gegangen war, jemals zurückgekehrt war, um zu berichten. Im Süden grenzte die Feuerwüste an die Gebirge Drakistans, die von alters her die südliche Grenze des Reiches darstellten, denn die schlangenhaften Draki, die in der zerklüfteten, lebensfeindlichen Landschaft herrschten, waren wilde Barbaren, die den Kontakt mit den Menschen mieden; statt sich ihren Gesetzen zu beugen, hatten die Draki von jeher ihren eigenen Bräuchen gefrönt – barbarischen, grausamen Ritualen, über die man in den Wüstenstädten und auf den Oasen nur zu flüstern wagte.
Die Zahl jener, die im Feueratem der Wüste den Tod gefunden hatten und deren Knochen unter heißem Sand begraben lagen, war nicht zu ermessen; überleben konnte nur, wer genügend Wasser bei sich hatte und um Treibsand, giftiges Getier und andere Gefahren der Wüste wusste. Zuflucht gewährten nur die Oasen, zwischen denen die Handelskarawanen verkehren und die sich wie rettende Inseln im glühenden Sandmeer erhoben.
Mit einer solchen Karawane war auch Nawyd gereist – und bis hierher gelangt, in die größte Oase der Barra Harik, die den Namen Ayshak trug. Brunnen, Palmengärten und Dattelhaine erstreckten sich unweit des Wadi Thar und boten nicht nur reisenden Händlern Zuflucht, sondern auch den Menschen, die sich in Ayshak niedergelassen hatten und sowohl von den Segnungen der Oase als auch vom Geld der Reisenden lebten. Fragen wurden hier nicht gestellt; es spielte keine Rolle, woher jemand kam oder wohin er wollte – die Wüste machte die Menschen einander gleich, und so vermischten Turanier, Rajuli, Bakrer und Abydonier sich zu einem Volk schweigsamer Einzelgänger, die sich vorrangig um ihre eigenen Belange kümmerten. Auch einige Westmenschen und sogar ein Dwarg waren unter ihnen, sodass auch ein Königssohn, der seines Titels beraubt und aus seiner Heimat verstoßen worden war, hier nicht weiter auffallen würde.
Das jedenfalls war Nawyds Hoffnung.
Über mehrere Wochen war er der Karawane gefolgt, die auf der Südroute gen Hyraka zog, bestrebt, möglichst große Distanz zwischen sich und Altashar zu bringen, der Stadt der Könige … seiner Stadt. Die Warnungen, die sein alter Lehrer und Mentor Gadates ihm mit auf den Weg gegeben hatte, hatten ihm noch lange im Ohr geklungen.
Unter Einsatz seines Lebens und seiner Stellung als Wesir des Reiches hatte Gadates ihn aus dem Kerker von Altashar befreit und ihm eingeschärft, niemandem zu vertrauen. Die Verhältnisse in Altashar hatten sich gewandelt – so sehr, dass auch Nawyd pan Tyras, der Sohn des großen und mächtigen Artaban, seines Lebens nicht sicher war. Machthungrige Intriganten und Emporkömmlinge und nicht zuletzt König Astyragis selbst, Nawyds leiblicher Onkel, trachteten danach, ihn zu vernichten, sodass ihm keine andere Wahl geblieben war, als die Heimat zu verlassen. Und so war aus Nawyd pan Tyras, dem Sohn Artabans und Erben der Krone von Altashar, über Nacht ein Ausgestoßener geworden. Seines Titels, seines Namens und seines Besitzes beraubt, war Nawyd nichts geblieben außer seiner Ehre und den Kleidern, die er am Leibe trug – und ein kleines, mit Wachs versiegeltes Fläschchen, das Gadates ihm bei ihrem letzten heimlichen Treffen gegeben hatte.
Die Worte, die der alte Wesir dabei gesprochen hatte, würde Nawyd nie vergessen, so tief und unauslöschlich hatten sie sich in sein Gedächtnis eingeprägt: Hüte es gut, vielleicht wird es dir eines Tages sein Geheimnis offenbaren …
In den Tagen und Nächten, die folgten, hatte Nawyd kaum etwas anderes getan, als über dieses Geheimnis nachzusinnen, denn Gadates’ Worten zufolge enthielt die Phiole Gift – von jener Sorte, die Nawyds Vater Artaban getötet hatte.
Die Erkenntnis, dass sein Vater ermordet worden war, hatte Nawyd wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel getroffen. Damit das Ostreich geeint bleibe und nicht das Schicksal des Westens erleide, hatte der große Artaban sterbend verfügt, dass niemand, nicht einmal sein eigener Sohn und Erbe, die Wahrheit über seinen Tod erfahren solle. So waren Nawyd und seine Schwester Nyasha im Bewusstsein aufgewachsen, dass ein widriges Schicksal ihren Vater in der Blüte seines Lebens dahingerafft hatte. Nyasha war noch zu jung gewesen, um sich an ihren Vater zu erinnern, Nawyd noch nicht einmal geboren – und doch hatte der Schatten des großen Artaban, der das Reich aus den Wirren der Divergenz geführt und geeint und befriedet hatte, ihr ganzes Leben lang über ihnen gelegen.
Stets hatten sie alles getan, um den Verpflichtungen gerecht zu werden, die ihr großer Name ihnen auferlegte, hatten die Launen ihres Onkels Astyragis, der Artaban als dessen leiblicher Bruder auf den Thron gefolgt war, zumeist widerspruchslos hingenommen. Astyragis’ Plan jedoch, Nyasha mit Elayan zu vermählen, dem König von Archos, hatte Nawyd seine Zustimmung verweigert, denn ihm war klar gewesen, dass in Wahrheit kein anderer als Xusra, der Hohepriester des Feuerkults, sowie der doppelzüngige Hofmarschall Hilalayan hinter den Plänen des Königs standen. Indem er seine Schwester fortschickte und sie zum Schein von dem Halbling Lorymar Thinkling entführen ließ, hatte Nawyd die Heiratspläne vereitelt – doch Hilalayan, der ihn vermutlich schon die ganze Zeit über bespitzelt hatte, war ihm auf die Schliche gekommen. Man hatte Nawyd des Hochverrats bezichtigt und ihn für schuldig befunden, sich dem Befehl des Königs widersetzt und die Gesandten der Astari getötet zu haben, und man hätte ihn wohl an Archos ausgeliefert – wäre er nicht mit Gadates’ Hilfe in letzter Not aus Altashar entkommen, rechtlos und halb tot …
Doch Nawyd bereute nichts.
Als Nyashas Bruder war es seine Pflicht gewesen, die Ehre seiner Schwester zu bewahren und zu verhindern, dass der schändliche Pakt mit den Astari zustande kam. Und obschon er weder wusste, wo Nyasha jetzt war und was sie tat, war er in seinem tiefsten Herzen davon überzeugt, dass alles besser war, als in Archos zu weilen und eine Hure der hadathani zu sein.
Bis Ayshak war er der Karawane gefolgt, der Gadates ihn mitgeschickt hatte, und dabei langsam wieder zu Kräften gekommen; als sie die Oase erreichten, hatte sich Nawyd schließlich von seinen Begleitern abgesetzt und in einem der kleinen Dörfer Zuflucht gesucht, die Ayshak übersäten. Ein argloser Handelsmann, dem er in einer dunklen Gasse auflauerte, hatte ihm freundlicherweise seine Barschaft überlassen, sodass Nawyd nicht zu hungern brauchte und einen neuen Burnus und ein Langmesser sein Eigen nannte. Seither jedoch kreisten seine Gedanken nur um zwei Fragen: Wer hatte seinen Vater ermordet?
Und aus welchem Grund?
Die Thronbesteigung seines Onkels Astyragis, das Erstarken des Feuerkults und nicht zuletzt die Intrigen der Hofschranzen erschienen ihm plötzlich in einem anderen Licht, und ihm wurde klar, dass es viele Leute in Altashar gab, die einen Grund gehabt hatten, seinem Vater nach dem Leben zu trachten – Männer, deren Macht und Einfluss sich nach dem Tod Artabans des Großen entscheidend gemehrt hatten …
Die ersten Wochen in Asyhak hatte sich Nawyd in einer halb verfallenen alten Scheune versteckt; schließlich war zu befürchten gewesen, dass seine Feinde sein Verschwinden nicht einfach hinnehmen und ihn verfolgen würden. Tatsächlich waren mehrere Trupps von Sturmreitern auf der Oase aufgetaucht, nach kurzem Aufenthalt jedoch weiter nach Süden gezogen, wohl in der Annahme, der Flüchtling wolle möglichst rasch nach Hyraka; also hatte Nawyd sich schließlich wieder aus seinem Versteck gewagt und damit begonnen, die Karawansereien aufzusuchen, wo immer wieder Reisende aus Altashar eintrafen und Kunde aus der Königsstadt brachten – und insgeheim reifte in ihm der Plan, zurückzukehren und den Mörder Artabans zu suchen.
Der Inhalt der Phiole war der Schlüssel.
Fand er den, der das Gift gemischt hatte, fand er vermutlich auch den Mörder – und mit ihm würde sich Nawyds eigenes Schicksal erfüllen, zum Guten oder zum Schlechten.
Wie so oft in den letzten Wochen, wenn er sich schlaflos auf seinem kargen Lager wälzte und einmal mehr keine Ruhe fand, verließ er seine Behausung und ging zu einem der Feuer, die die Knechte und Kameltreiber des Nachts entfachten. Dort saß er dann, unerkannt unter Sklaven und Dienern, starrte in die Flammen und hing seinen Gedanken nach. Und bisweilen holte er dann auch das Fläschchen hervor, das er an einem Strick um den Hals trug, und betrachtete es zum ungezählten Mal.
Es war das Einzige, was ihm von seiner Vergangenheit geblieben war – und im Grund auch seine einzige Zukunft. Im Spätsommer, wenn die Karawanen aus Satrapos zurückkehrten und den Rückweg nach Altashar antraten, würde auch er in die Stadt seiner Väter zurückkehren.
Bis dahin würde er weiter als ein Niemand leben, würde verschweigen, wer er war und niemandem vertrauen, genau wie Gadates es ihm aufgegeben hatte.
Wehmut überkam ihn beim Gedanken an seinen alten Lehrer, und er nahm mit Erleichterung zur Kenntnis, dass sich Musikanten zu den Kameltreibern gesellten. Ein dunkelhäutiger Mann aus Ophir spielte die Flöte, ein anderer schlug die Trommel dazu, und eine Schar von Tänzerinnen, die nichts als seidene Hüfttücher trugen, drehte sich dazu im Kreis.
Besonders eine unter ihnen erweckte Nawyds Aufmerksamkeit. Ihr Haar war schwarz und so lang, dass es ihr fast bis an die Hüften reichte, und sowohl ihre Züge als auch ihre Bewegungen waren von einer Anmut, die man hier im Niemandsland kaum zu sehen bekam. Anders als bei den Frauen, die sonst um die Flammen tanzten, um den ausgehungerten Kerlen die Mäuler wässrig zu machen und ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen, schien ihr Tanz nicht nur Mittel zum Zweck zu sein; die Art, wie sie sich bewegte, wie ihre Hüften kreisten und sie sich drehte, dass ihr schwarzes Haar und die fransenverzierten Schleier nur so flogen, fesselten Nawyd auf eine Weise, der er sich kaum entziehen konnte, und zu seiner eigenen Verblüffung hatte es nichts mit Begehrlichkeit zu tun. Er bestaunte die junge Frau nicht, weil er sie haben wollte wie vermutlich die meisten anderen Kerle, sondern weil ihre Eleganz und Natürlichkeit nicht an diesen Ort zu passen schienen. Sie waren von einer Leichtigkeit und Unschuld, die vergessen geglaubte Empfindungen weckte.
An die Heimat.
An Nyasha.
Auch seine Schwester hatte früher getanzt, nicht weniger anmutig und ausdrucksstark, doch die Blicke, mit denen König Astyragis sie bedacht hatte, waren zunehmend lüsterner geworden, sodass Nawyd es ihr schließlich verboten hatte – wissend, dass die Tatsache, dass Astyragis ihr leiblicher Onkel war, ihn im Zweifel nicht davon abhalten würde, sich zu nehmen, was er begehrte. Jene junge Frau, die dort im Schein des Feuers tanzte, mochte Nyasha nicht ähnlich sehen. Doch ihre stolze Haltung und ihre Art, sich zum Rhythmus der Musik zu bewegen, weckten dennoch Erinnerungen – an eine Zeit, in der die Dinge noch einfacher gewesen waren und weniger verworren. Bevor Nawyd erwacht war und die Wahrheit gesehen hatte …
Die Musik endete, und die Tänzerinnen bückten sich, um das Geld aufzusammeln, das die Kerle ihnen hinwarfen. Einige von ihnen gesellten sich zu den Kameltreibern, andere tanzten zu dem nächsten Lied, das einsetzte.
Auch die Tänzerin, auf die Nawyd ein Auge geworfen hatte, begann sich wieder im Kreis zu drehen. Dabei kam sie Nawyd näher. Sein Blick sog sich förmlich an ihr fest, weidete sich an ihrem Liebreiz und ihrer Grazie wie ein Verdurstender an einer Quelle. In diesem Moment erst wurde ihm bewusst, was er hinter sich gelassen, was er tatsächlich verloren hatte – und dennoch war ihm klar, dass er, vor dieselbe Wahl gestellt, alles genauso wieder machen würde.
Nawyd bereute nichts.
Nicht um seiner und nicht um Nyashas Willen …
Die fremde Schöne wandte ihm den Rücken zu, die nackten Arme hocherhoben. Ihre Silhouette zeichnete sich gegen das orangerote Feuer ab, dessen züngelnde Flammen sie mit ihren Bewegungen nachahmte – und im letzten Moment, ehe sie herumfuhr, um sich wirbelnd zu drehen, warf sie Nawyd einen Blick zu.
Nawyd erstarrte innerlich.
Hatte sie ihn tatsächlich angesehen? Unter den vielen, die am Feuer saßen? Einst, als Prinz von Altashar, hatte es reihenweise junge Frauen gegeben, die ihm gefügig gewesen waren, von den Sklavinnen des Palasts ganz abgesehen – doch hier, an diesem Ort und zu dieser Zeit, war er ein Nichts und ein Niemand, nur einer unter vielen. Sicher, sagte er sich, hatte er sich geirrt – doch schon im nächsten Moment wandte sie sich zu ihm um, und für einige Augenblicke war es, als würde sie nur für ihn tanzen.
Er hatte das Gefühl, dass sie ihn durchdringend ansah. Ein Schauer durchrieselte ihn, und nun merkte Nawyd deutlich, dass die nur spärlich bekleidete Schöne in ihm auch noch andere Empfindungen weckte als nur Erinnerungen an eine verlorene Zeit.
Dann endete die Musik.
Die unbekannte Schöne beendete ihren Tanz.
Noch einen Augenblick blieb sie stehen, so als wollte sie sich Nawyd in ihrer ganzen, kaum verhüllten Anmut zeigen. Dann lachte sie leise, fast ein wenig spöttisch, und wandte sich ab.
Noch im Umdrehen jedoch blickte sie zurück, und indem sie nickte und eine einladende Geste machte, bedeutete sie ihm, ihr zu folgen.

Michael Peinkofer

Über Michael Peinkofer

Biografie

Michael Peinkofer, 1969 geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Kommunikationswissenschaften und arbeitete als Redakteur bei der Filmzeitschrift „Moviestar“. Mit seiner Serie um die „Orks“ avancierte er zu einem der erfolgreichsten Fantasyautoren Deutschlands. Seine Romane um „Die Zauberer“...

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