Tiger Dreams (Tigers 2) Tiger Dreams (Tigers 2) - eBook-Ausgabe
Roman
— Knisternde Gestaltwandler-Fantasy | Actiongeladen, humorvoll und prickelnd!Tiger Dreams (Tigers 2) — Inhalt
Shay Malone, Tiger-Gestaltwandler und Partytier, liebt sein Leben und ist immer gut drauf. Seine drei Brüder halten ihn für einen draufgängerischen Faulpelz, der sich nur für das Steak auf seinem Grill oder die nächste Frau in seinem Bett interessiert – aber in Shay steckt viel mehr. Als er und seine Brüder einen großen Plan schmieden, um sich an ihrer kriminellen Großfamilie zu rächen, kann Shay zeigen, was in ihm steckt. Und dann wäre da noch die hübsche Honigdachs-Lady Emily mit ihrem Faible für Sprengstoffe, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen will …
Leseprobe zu „Tiger Dreams (Tigers 2)“
Prolog
„Ich bin eine schlechte Mutter.“
Kerrick „Kerry“ Jackson sah seine Frau an, während sie sich in ihrer dunklen Küche in aller Ruhe eine spätabendliche Packung Rumrosineneis gönnten. Sie sprachen leise wegen der fünf halbwüchsigen Mädchen, die oben im Zimmer ihrer einzigen Tochter schliefen. Nirgends im Haus brannte Licht, aber im Schein der Mikrowellenleuchte und der Zeitschaltuhr am Elektroherd konnten sie einander trotzdem bestens sehen. Er liebte es, wie das blinkende Licht des Herdes, den seine Frau nie auf die richtige Zeit einstellte, ihr [...]
Prolog
„Ich bin eine schlechte Mutter.“
Kerrick „Kerry“ Jackson sah seine Frau an, während sie sich in ihrer dunklen Küche in aller Ruhe eine spätabendliche Packung Rumrosineneis gönnten. Sie sprachen leise wegen der fünf halbwüchsigen Mädchen, die oben im Zimmer ihrer einzigen Tochter schliefen. Nirgends im Haus brannte Licht, aber im Schein der Mikrowellenleuchte und der Zeitschaltuhr am Elektroherd konnten sie einander trotzdem bestens sehen. Er liebte es, wie das blinkende Licht des Herdes, den seine Frau nie auf die richtige Zeit einstellte, ihr schwarzes Haar – eine Mischung aus Dreads und wilden Locken, die sie oben zu einem unordentlichen Knoten zusammengebunden hatte – hervorhob, vor allem aber den weißen Streifen darin. Und er liebte ihre dunklen Augen, die von weißen Wimpern umrahmt zu ihm herüberspähten. An der Highschool hatten alle gedacht, sie hätte sie sich gefärbt, nur damit sie die „kultige Mom“ sein konnte, aber Ayda Lepstein-Jackson hatte nichts gefärbt. Ihr schwarz-weißes Haar war gänzlich naturbelassen, ebenso wie die weiße Augenbraue über ihrem linken Auge.
„Warum sagst du so was?“, fragte er sie.
„Weil wir zu dem Spiel hätten gehen sollen.“
„Das hast du jetzt schon mehrmals gesagt, aber Tock hat sehr deutlich gemacht, dass sie uns nicht dabeihaben wollte.“
„Meinst du?“, fragte Ayda und runzelte die Stirn, sodass sich in der Mitte ein Knubbel bildete – dort, wo sie als Neunjährige angeblich versehentlich gegen einen Telefonmast geknallt war. Der ganze Bereich war damals angeschwollen und die Haut in der Mitte aufgeplatzt. Es gab keine offensichtliche Narbe, aber wenn sie die Stirn runzelte, schob sich die Stelle immer wieder so zusammen wie damals, als sie geschwollen war.
„Natürlich“, erwiderte er. „Sie hat uns in die Augen gesehen und gesagt: ›Ich will euch nicht dabeihaben.‹ Ich bin mir nicht sicher, ob sie sich noch deutlicher hätte ausdrücken können. Unsere Tochter ist nicht dafür bekannt, sich vage auszudrücken.“
„Unsere Tochter und ihre Mannschaft haben eine nationale Basketball-Meisterschaft gewonnen, und all die anderen Eltern waren in Chicago dabei … Nur wir nicht.“
„Vielleicht haben diese anderen Kinder ihre Eltern dort gebraucht. Aber unsere Tochter braucht uns nicht. Wir mussten nicht für sie oder für ihre Freundinnen da sein.“ Den vier Mannschaftskameradinnen, die gerade oben bei ihrer Tochter übernachteten. Ein eingeschworeneres Team hatte er noch nie erlebt. „Nicht mal die Eltern der kleinen Cass waren dort. Ich weiß genau, dass sie in Frankreich sind, um den Louvre zu erkunden.“ Er sah seine Frau mit einem wissenden Blick und hochgezogener Braue an, aber sie runzelte nur verwirrt die Stirn.
Kerry machte sich nicht die Mühe, deutlicher zu werden, sondern aß einen weiteren Löffel Eiscreme. „Ich glaube, wir wissen beide, dass die Mädchen noch andere Pläne für die Meisterschaft hatten, als sie zu gewinnen, und sie wollten einfach nicht, dass ihre Familien da sind und ihnen ihr Timing durcheinanderbringen. Du weißt doch, was Zeit und Pünktlichkeit für unsere Tock bedeuten.“
Seine Frau sah ihn an, während sie ihren Löffel ableckte. Langsam ließ sie den Löffel sinken. „Was für andere Pläne?“ Sie stieß ein leises Keuchen aus. „Ein Junge?“, fragte sie mit großen Augen. „Oder ein Mann?“ Sie keuchte erneut und redete weiter, bevor ihr Mann zu Wort kommen konnte. „Oh mein Gott. Hat sie etwas mit einem erwachsenen Mann? Moment mal … Ist es ein Verbrecher? Hat sie sich mit einem Verbrecher angefreundet?“
„Was?“
„Hat sie ungeschützten Sex mit einem Verbrecher, der gerade aus dem Gefängnis gekommen ist? Und sie nach Chicago gelockt hat, um dort ungeschützten Sex mit unserer minderjährigen Tochter zu haben? Meinst du das?“
Ein paar Sekunden lang konnte Kerry seine Frau nur anglotzen. Er liebte sie. Wirklich. Tat es seit dem Tag, an dem er ihr das erste Mal begegnet war, aber sie war, kurz gesagt, verrückt. Völlig durchgeknallt, wie eine seiner Cousinen sie bezeichnete. Aber tatsächlich liebte er genau das an ihr. Es machte ihr Eheleben … interessant.
„Nein“, antwortete er schließlich und schaute kurz zur Decke, als er etwas hörte, das so klang, als wäre eins der Mädchen aus dem Bett geklettert … oder herausgefallen. „Das habe ich nicht gemeint. Ganz und gar nicht. Ich weiß nicht mal, wie du darauf kommst.“
„Sie ist ein wunderschönes Mädchen. Welcher Verbrecher würde sie nicht wollen?“
Kerry schüttelte den Kopf, um sich das Lachen zu verkneifen, und tauchte seinen Löffel in den Eisbehälter.
„Unsere Tochter“, versicherte er seiner Frau, „ist von niemandem irgendwo hingelockt worden. Noch wird sie jemals von irgendjemandem irgendwo hingelockt werden.“
„Warum wollte sie uns dann nicht mit all den anderen Eltern dort haben?“
„Sind dir nicht die zusätzlichen Reisetaschen aufgefallen, die alle fünf Mädchen von diesem Trip mitgebracht haben?“, fragte Kerry.
Ayda blinzelte. „Was?“ Als er nur schwach die Achseln zuckte, schüttelte sie sofort den Kopf. „Nein. Nein, nein, nein. Willst du mir sagen, sie hätten …“ Sie senkte die Stimme noch weiter. „… gestohlen?“
„Warum flüsterst du? Du weißt, wer wir sind und was wir sind. Hast du erwartet, unsere Tochter wäre anders?“
„Meine Familie stiehlt nicht, Kerry.“
Er konnte sich ein Schnauben nicht verkneifen. „Machst du Witze? Deine Familie stiehlt vielleicht nur Akten oder Nukleargeheimnisse oder Sprengköpfe, aber es ist trotzdem Diebstahl. Und der liegt unserer Tochter im Blut. Genau wie der weiße Streifen in ihrem Haar und die Tatsache, dass sie Leute auf der Straße anschnauzt, wenn sie das Gefühl hat, sie hätten sich ihr ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis auf weniger als zwei Meter fünfzig genähert. Das macht uns zu … uns. Warum erwartest du etwas anderes von unserer Tochter?“
„Einfach so! Ich habe hart gearbeitet, um sicherzustellen, dass unsere Tochter sich nicht in so was verwickeln lässt. Keine Diebstähle. Keine Lügen. Keine Betrügereien. Und schon gar keine Geopolitik, die ganze Nationen zerstören kann. Das werde ich nicht dulden!“
Kerry ließ seinen Löffel in den Eisbehälter fallen und nahm ihre Hand. „Baby, du kannst nicht leugnen, was unsere Tochter ist.“
„Ich leugne nicht, was wir sind. Ich arbeite bloß daran, dass sie …“
„Ihre Instinkte ignoriert?“
„Nein. Dass sie einen … besseren Weg findet.“
Er atmete tief aus. „Baby, unsere Tochter – Emily ›Tock‹ Lepstein-Jackson – ist und bleibt ein Honigdachs.“
„Nur weil sie ein Honigdachs ist, muss sie nicht …“
„Unhöflich sein? Gemein? Gefährlich labil? Natürlich muss sie das. Weil es uns im Blut liegt, genau wie die hohe Stirn deines Onkels Ishmael und die Tatsache, dass meine Großmutter zu ihrer Zeit Marathons laufen konnte, obwohl eins ihrer Beine kürzer ist als das andere. Unsere Kleine ist, was sie ist. Und das ist eine knurrende, fauchende, siebzehnjährige Diebin, die ein sehr gutes Auge für Schmuck, Kunst und Küchenschränke hat, in denen sie und ihre Dachsfreundinnen die Nacht verbringen können. Daran kannst du nichts ändern.“
„Aber ich habe mich doch auch geändert. Ich bin freundlich …“
„Aber es ist ein Kampf.“
„… Ich stehle nicht …“
„Aber wir wissen alle, dass du es gern tun würdest. Insbesondere, wenn etwas glänzt.“
„… Und ich reiße mir ein Bein aus, um das Richtige zu tun.“
„Das gilt auch für deine Tochter. Deshalb ist sie vor drei Wochen beinahe von der Schule geflogen, weil sie diesen Football-Spieler angegriffen hat, der eine Zehntklässlerin begrapscht hat. Sie kannte das Mädchen nicht mal.“
Ayda schüttelte den Kopf. „Wegen dieser Sache musste ich heftig auf den Schulleiter einreden.“
„Auf ihn einreden oder ein paar ernste Drohungen aussprechen?“
„Eine Kombination aus beidem. Aber sie hatte recht!“, verkündete Ayda plötzlich. „Was der Typ getan hatte, war nicht in Ordnung, und ich unterstütze sie voll und ganz darin, ihre Geschlechtsgenossinnen zu beschützen.“ Sie schaute durch die gläsernen Schiebetüren und stieß einen kleinen Seufzer aus. „Aber … trotzdem …“
„Hör auf“, befahl er. „Es ist ihr nichts passiert. Es wird ihr nie etwas passieren. Sie hat wahrscheinlich in irgendeinem Einkaufszentrum einen kleinen Juwelierladen ausgeraubt und sämtliche kitschigen Eheringe und diese billigen Tennisarmbänder gestohlen, die nichtsnutzige Ehemänner ihren Frauen kaufen, für die sie offensichtlich nichts als Verachtung empfinden.“
„Das klingt ein bisschen hart.“
„Ich würde meine Talente niemals darauf verschwenden, dir so was zu besorgen. Du bekommst nur das Beste von dem, was ich auf dem Schwarzmarkt ergattere oder einem guten Juwelier stehlen kann. Genau wie mein Daddy es für meine Mom tut.“
Sie versuchte, ihr Lächeln zu verbergen, aber er sah es trotzdem. Und liebte es.
„Unsere Kleine“, fuhr er fort, „probiert sich nur aus. Wenn sie und ihre kleinen Freundinnen planen, einen Laden im Einkaufszentrum auszurauben, dann sind das nur gesunde Teenager, die ein instinktives Bedürfnis befriedigen.“
Sie zog die Nase kraus, ein Mienenspiel, das er absolut vergötterte. „Das kannst du nicht wirklich glauben.“
„Natürlich glaube ich das. So habe ich auch angefangen. Mit einem dieser Juweliere, die einer Ladenkette angehören und wo die meisten Leute ihre Ringe für zweite und dritte Ehen kaufen. Außerdem, wie süß waren die vorhin denn bitte? Wie sie alle so getan haben, als wären die Taschen nur mit Sachen gefüllt, die sie beim Spiel gekauft haben. Gönn ihnen ihren Triumph. Das wird ihr Selbstbewusstsein stärken.“
Einen Moment lang starrte Ayda ihn mit offenem Mund an. „Glaubst du wirklich, das wäre hilfreich?“, fragte sie dann.
„Das ist hilfreich. Und ich bin hilfreich. Ich helfe dir. Denn eins willst du auf gar keinen Fall: Du willst dich nicht mit unserer Tochter anlegen, und genau darauf arbeitest du hin. Tock kann gemein sein. Meine Tante Lucille spricht nicht mal mehr mit ihr. Sagt, sie sei ein Handlanger des Teufels.“
Ayda entzog ihm ihre Hand und rieb sich die Stirn. „Unsere Tochter ist zu jung, um mit ihren Freundinnen Juweliere auszurauben. Sie weiß nicht, wie gefährlich so was sein kann. Ich könnte wegen dieses einen Raubüberfalls damals, der schiefgegangen ist, ohne Weiteres immer noch in Südafrika im Knast sitzen.“
„Zunächst einmal war es kein Raubüberfall, Baby. Du hast das Kommando über eine Diamantenmine übernommen und eine Militärrebellion angezettelt. Haben sie dich nicht sogar zu ihrer Königin gemacht?“
„Nein!“, fauchte sie zurück. „Sie haben mich zur Göttin des Blutes unserer Feinde gemacht, was eine Ehre war, wie du eigentlich wissen solltest.“
„Und deine Mutter war diejenige, die dich außer Landes gebracht hat, und sie war auch der Grund, warum wir einige meiner Cousins und Cousinen nicht besuchen können.“ Er schüttelte den Kopf. „Südafrika will dich nicht wiederhaben, Baby.“
„Dessen bin ich mir bewusst. Und das alles will ich nicht für unsere Tochter.“
Er runzelte die Stirn. „Will sie denn nach Südafrika?“ Ayda schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch. „Verdammt noch mal, Kerry!“
Ein lauter, dumpfer Schlag draußen vor den Glastüren ließ sie vor Schreck den Streit vergessen, in den sie sich gerade hatten hineinsteigern wollen. Sie schauten hinüber und sahen einen Mann mit dem Gesicht nach unten auf ihrem Rasen liegen.
„Wer zur Hölle ist das?“, wollte Ayda wissen.
„Ich habe keine …“
Noch jemand schlug auf dem Boden auf, gefolgt von zwei weiteren Personen. Einige Sekunden später landeten neben den Männern lautlos Tock und ihre vier Honigdachsfreundinnen aus ihrer Mannschaft, die sich aus dem Fenster am Treppenabsatz im ersten Stock hatten fallen lassen.
„Was um alles in der Welt …?“, ächzte Ayda leise.
Aus verschiedenen Gründen war keins der Mädchen nach Hause gefahren, nachdem der Mannschaftsbus sie an der Schule abgesetzt hatte. Während die vollmenschlichen Teamkameradinnen mit der Mannschaftskapitänin zu einer großen Feier im Haus ihrer Eltern gefahren waren, waren Tock und ihre Freundinnen hierhergekommen, um Steaks und Krabben zu essen – frische, noch krabbelnde Skorpione regionalen Ursprungs, versteht sich.
Nach dem Abendessen und ein paar Stunden vor dem Fernseher waren alle fünf Mädchen zu Bett gegangen. Kerry hatte angenommen, dass das alles sein würde. Dass sie bis zum Morgen nichts mehr von den Mädchen hören würden. Wenn sie sich wie normale Teenager verhielten, würden sie sich vielleicht hinausschleichen, um etwas Gras zu rauchen oder ein paar Bier zu trinken. Mehr hatte er wirklich nicht erwartet.
Aber jetzt wurde ihm klar, dass er es hätte besser wissen müssen. Schließlich waren Tock und ihre Freundinnen nicht wie er und seine Geschwister. Oder wie Ayda und ihre Familie. Sie waren nicht nur Honigdachs-Gestaltwandler. Sie waren Honigdachse. In ihren Herzen. In ihrem Blut. In ihren Seelen. Sie konnten den Honigdachs in sich nicht abschalten, um sich den Menschen anzupassen. Viele andere Gestaltwandler wussten nicht mal, dass es ihresgleichen überhaupt noch gab.
Deren Familien konnten sich ohne Probleme oder Bedenken in jede Versammlung einfügen. Sie konnten jahrelang unter Vollmenschen leben … jahrzehntelang …, ohne sich anmerken zu lassen, dass sie beim sonntäglichen Familienessen gegrillte Wassermokassinschlange in Barbecuesoße und mit Gift versetzte Weine genossen. Aber es gab auch Dachse, die sich nicht anpassten. Sie machten sich nicht die Mühe. Weil es sie nicht interessierte. Jetzt begriff er, dass seine Tochter und ihre Freundinnen so waren … Diese Mädchen waren echte Honigdachse. Gemeine, bösartige, knurrende Honigdachse, an die sich niemand von hinten anschleichen sollte. Oder versuchen sollte, sie zu töten, während sie bei einer Freundin übernachteten.
Kerry war zu verblüfft, um seinem Kind irgendwie zu helfen, und musterte stattdessen die Männer am Boden. Er erkannte Gangster aus Chicago, wenn er welche vor sich hatte. Gangster, die in seinem Haus waren, weil sein Kind nicht etwa irgendwas aus einem Laden in einem Einkaufszentrum gestohlen hatte. Nein, sie hatte einen Raubüberfall auf jemanden ausgeheckt, vorbereitet und durchgeführt, der viel gefährlicher war. Jemand, der seine Schlägertruppe aussandte, um seinen Besitz von kleinen Mädchen zurückzubekommen, selbst wenn sie dafür jeden im Haus umbringen mussten.
Kerry war beeindruckt. Er wettete, dass das Timing des Überfalls perfekt gewesen war. Denn wenn seine Tochter eines konnte, dann war es, das richtige Timing abzupassen.
Was für törichte, törichte Männer das gewesen waren. Sie hatten sich nichts dabei gedacht, in ein Haus in einem Vorort mitten in Wisconsin einzudringen, um die Sachen ihres Chefs zurückzubekommen. Wie schwer konnte das schon sein, hatten sie sich wahrscheinlich gedacht. Kleinen Mädchen Schmuck wieder wegzunehmen.
Aber Tock und ihre Freundinnen … Er musste fast lachen.
Die Mädchen steckten immer noch in ihren Schlafklamotten für die Übernachtungsparty im Lepstein-Jackson-Haus. Tock hatte Kerrys altes Football-Trikot aus dem College an, obwohl sie sich für den Sport gar nicht interessierte. Mads zeigte sich in ihrem Chicago-Bulls-Basketball-Trikot, das so lang war, dass es ihr bis über die Knie fiel. Auf der Rückseite prangte der Name „Jordan“. Die kleine Cass Gonzalez, die von den anderen Mädchen „Streep“ genannt wurde, weil sie immer wie auf Knopfdruck losheulen konnte, wenn man sie beschuldigte, etwas aus dem Lehrerzimmer ihrer Highschool gestohlen zu haben, trug ein Hello-Kitty-Nachthemd, Hello-Kitty-Socken und ein Hello-Kitty-Stirnband, das ihr langes braunes Haar zurückhielt. Gong Zhao steckte in etwas, das Kerry nur als ein Seidennegligé mit dazu passendem Morgenmantel bezeichnen konnte, der in der Taille mit einem ebenfalls passenden Seidengürtel zusammengehalten wurde. Es wirkte ein bisschen zu erwachsen für ein kaum siebzehnjähriges Mädchen, aber Gong – deren Spitzname aus irgendeinem Grund Nelle lautete – trug nie typische Teenagerkleidung. Alles in ihrem Schrank war Designermode, einschließlich dessen, was sie gerade anhatte. Und warum eine Siebzehnjährige ein Lacroix-Negligé mit passendem Morgenmantel trug, wusste Kerry wirklich nicht. Max MacKilligan, die wie immer lächelte, hatte Laufshorts an und ein abgeschnittenes T-Shirt mit der Sängerin Pink auf der Vorderseite.
Sie hatten ihre Outfits aber definitiv vor dem Schlafengehen noch ergänzt, wie zum Beispiel einige Ketten aus Gold und Platin mit Diamanten. Oder um Ringe mit Rubinen und Smaragden an ihren Fingern. Um dicke Platinarmbänder an den Handgelenken und – bei den Kleineren unter ihnen – um ihren Bizeps herum. Und mindestens zwei der Mädchen trugen Diademe, von denen er sich fast sicher war, dass sie früher einmal einer europäischen Königsfamilie gehört hatten. Nichts davon hatten sie getragen, als sie nach oben verschwunden waren.
„Ist das eins der Schmuckstücke der holländischen Königsfamilie?“, fragte seine Frau mit ehrfürchtiger Stimme, als sie auf Gongs Hals zeigte.
„Ja, ich glaube schon.“ Wo auch immer sie eingebrochen waren, es war wahrscheinlich von außen ein ganz normales Juweliergeschäft gewesen, aber im Keller oder auf einer anderen Etage wurden meistbietend gestohlene Juwelen vertickt. Darauf hatte sein Kind es abgesehen.
Kerry wusste nicht, was ihn mehr verwirrte und beunruhigte. Wie seine Tochter und ihre Freundinnen von diesem Laden in Chicago erfahren hatten. Oder wie die Leute in Chicago den Aufenthaltsort seiner Tochter und ihrer Freundinnen so schnell ermittelt hatten. Niemand, absolut niemand würde vermuten, dass eine Handvoll halbwüchsiger Mädchen einen solchen Laden ausraubte. Ein einfacher Schaufenstereinbruch vielleicht, aber ein durchgeplanter Raub mitten in der Nacht, bei dem keine Alarmanlage losging und keine Cops auftauchten, bis der Manager am nächsten Morgen erschien, um den Laden zu öffnen? Das war ein Job für alte Hasen, die sich seit Jahrzehnten als Juwelendiebe betätigten. Das war ein letzter Job vor dem Ruhestand. Kein Anfängerjob für fünf Mädchen, die noch auf der Highschool waren.
Tock gab den Mädchen ein Zeichen, und sie setzten sich in Bewegung. Kerry konnte nur einen schnellen Blick auf eine gleichermaßen schockierte Ayda werfen. Die Siebzehnjährigen benutzten Handzeichen, um sich lautlos zu verständigen; als wären sie für einen Kampfeinsatz ausgebildet. So was taten sie nicht mal auf dem Spielfeld. Dort brüllten sie einander an, wenn sie bei einem Spiel eine bestimmte Taktik anwenden wollten. Aber wenn sie es mitten in der Nacht mit Leichen zu tun hatten …
Kerry schüttelte kurz den Kopf. Er wusste, dass sein Mädchen etwas Besonderes war, aber verdammt!
Cass packte einen Arm und wollte gerade einen Leichnam fortschleifen, als ihr Blick auf Kerry und Ayda fiel. Sie stieß ein merkwürdiges kleines „Iiiks“ aus, das Kerry und Ayda selbst durch die Glastüren gut hören konnten.
„Was ist?“, flüsterte Mads.
Cass deutete nur mit einem Ruck ihres Kinns auf Kerry und Ayda, und alle Mädchen sahen sie an. Starrten sie an. Ihre Augen glitzerten in der Dunkelheit wie die aller anderen nachtsichtigen Tiere.
Einen Moment lang dachte Kerry, dass die Mädchen einfach weglaufen und die Leichen zurücklassen würden. Er würde ihnen keinen Vorwurf daraus machen. Es war eine normale pubertäre Reaktion darauf, mit Leichen erwischt zu werden.
Natürlich rief er sich ins Gedächtnis, dass dies keine „normalen“ pubertären Jugendlichen waren. Nicht mal normale pubertäre Honigdachse.
Das wurde deutlich, als die kleine Max MacKilligan einen Arm hob, winkte und ihnen beiden zugrinste. „Hi, Mr und Mrs Jackson! Herrliche Nacht, hmm?“
Darauf fiel Kerry keine Antwort ein. Er war sich nicht mal sicher, ob er antworten sollte. Denn das wäre wirklich merkwürdig gewesen.
Aber er musste von diesem Gedanken ablassen, als er sah, wie seine geliebte Tochter langsam auf die Glastüren zukam. Ihr Gesicht wurde immer finsterer, je näher sie kam.
„O mein Gott“, hörte er seine Frau flüstern, „sie wird uns beide umbringen.“
Als Tock die Tür erreichte und sie beide böse anstarrte, war er sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob Ayda wirklich so verrückt war. In dem Moment war Kerry wirklich davon überzeugt, dass seine Tochter mit dem Gedanken spielte, sie beide zu töten. Nicht weil sie es wollte oder weil sie sie hasste, sondern weil sie zu viel gesehen hatten. Eine entsetzliche Entscheidung, aber wenn er ehrlich sein wollte, eine sehr logische. Und seine Tochter handelte immer logisch.
Er hielt den Atem an, als sie langsam ihre Hand hob und unvermittelt einen Finger gegen das Glas stieß.
„Ist das mein Rumrosineneis?“, fragte sie scharf.
Kerry und Ayda sahen beide auf die Eisdose hinab, die sie leer gegessen hatten, dann tauschten sie einen Blick. Sie waren sprachlos, aber Tock wartete auf eine Antwort.
Ayda räusperte sich. „Es ist Rumrosine“, sagte sie dann leise.
„Also ist es mein Rumrosineneis“, zischte seine Tochter ärgerlich. „Alles Rumrosineneis in diesem Haus gehört mir. Das weißt du doch, Ma.“
Seine Frau blinzelte einige Male, bevor sie antwortete: „Ich … ähm … schätze, das stimmt. Du liebst ja dein Rumrosineneis.“
„Wirst du es mir ersetzen?“, wollte sein Kind wissen, das endlich wie ein echter Teenager klang.
„Es gibt noch mehr in der Tiefkühltruhe in der Garage“, teilte Kerry ihr mit.
„Bist du dir sicher?“, hakte Tock nach.
„Ich sorge immer dafür, dass Rumrosineneis im Haus ist, Süße. Ich kenne dich ja“, fügte er hinzu.
„Ich werde wirklich sauer, wenn keins da ist. Ich hatte vor, es zum Frühstück zu essen.“
„Das ist doch kein Frühstück“, entgegnete er.
„Für mich schon. Versuch nicht, mir Vorschriften zu machen, Dad“, meckerte sie.
Dann wandte sie sich ab und wies auf die Leichen.
Ohne ein weiteres Wort bückten sich die Mädchen und schnappten sich Arme oder Beine. Cass und Gong nahmen einen Leichnam, Tock und Max einen anderen. Mads hievte sich einen großen Mann auf die Schulter und packte dann das Bein des letzten. Auch Tock bückte sich und nahm ein Bein, und gemeinsam spazierten die Mädchen mit ihrer Beute davon.
Als sie zwischen den Bäumen hinterm Haus verschwanden, sah Ayda ihn mit einem Gesichtsausdruck an, den man nur als … angespannt bezeichnen konnte.
„Bevor du in Panik gerätst“, begann er und ignorierte dabei ihre hochgezogenen Brauen und weit aufgerissenen Augen, „sie werden diese Leichen ganz sicher auf Hyänenland vergraben. Du weißt schon … Weil wir alle unsere Leichen auf Hyänenland begraben.“
Sie begann, mit den Fingern ihrer linken Hand auf den Holztisch zu trommeln. Kein gutes Zeichen. Seine Frau war viel beängstigender, wenn sie verstummte. Mit der schwatzhaften, hysterischen Ayda konnte man reden. Aber mit der stummen, mit den Fingern trommelnden, zornig dreinblickenden Ayda nicht.
„Okay“, sprach er weiter. „Ich schätze, du machst dir keine Sorgen darüber, wo sie die Leichen vergraben wollen.“
Die Finger trommelten.
„Oder darüber, dass deine Tochter und ihre Freundinnen in unserem Haus still und leise vier bewaffnete Gangster getötet haben, ohne dass wir es mitbekommen haben …“
Die Finger trommelten unaufhörlich weiter.
„Oder woher diese Gangster überhaupt wussten, dass Tock und ihre Freundinnen die Diebe waren.“
Die Finger trommelten immer noch.
„Ich vermute stattdessen, dass du versuchst herauszufinden, wie deine Mutter in all das verwickelt ist.“
Das Trommeln hörte sofort auf, und sie ballte die Finger zur Faust.
Kerry lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Ja“, sagte er mit einem langen Seufzer, „das habe ich mir gedacht.“
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