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Tödliches Verhängnis an der Sorgue (Capitaine Mathieu Dubois ermittelt 1)Tödliches Verhängnis an der Sorgue (Capitaine Mathieu Dubois ermittelt 1)

Tödliches Verhängnis an der Sorgue (Capitaine Mathieu Dubois ermittelt 1) Tödliches Verhängnis an der Sorgue (Capitaine Mathieu Dubois ermittelt 1) - eBook-Ausgabe

Anna-Maria Aurel
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Provence-Krimi

— Urlaubsspannung aus Südfrankreich
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Tödliches Verhängnis an der Sorgue (Capitaine Mathieu Dubois ermittelt 1) — Inhalt

Ein Fluss in der malerischen Provence, mit dem tragische Schicksale verbunden sind. Für alle Krimiliebhaber:innen und Leser:innnen von Frankreichkrimis à la Martin Walker, Jean-Luc Bannalec und Sophie Bonnet

„Gedankenverloren sah er auf das dunkle Wasser der Sorgue. Dieser Fluss war ein Segen für die Region. Doch er hatte nicht allen Glück gebracht.“

Die Leiche des Grundschuldirektors Pierre Pinet wird gefesselt in der Sorgue-Quelle von Fontaine de Vaucluse gefunden. Die regionale Kriminalpolizei beginnt unter der Leitung des jungen Capitaine Mathieu Dubois zu ermitteln. Der Direktor war ein allseits geschätzter, sehr sozial eingestellter Mann. Sein Vater, ein steinreicher Bauer, ist in der Gegend jedoch alles andere als beliebt und hat bereits mehrere Jahre im Gefängnis verbracht. Sehr bald findet der Capitaine heraus, dass der vermeintliche Modellbürger ein schmutziges Geheimnis hatte und vom Vater bei der Vertuschung seiner Schandtaten unterstützt wurde ...

€ 18,00 [D], € 18,50 [A]
Erschienen am 01.08.2024
348 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-50811-7
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€ 5,99 [D], € 5,99 [A]
Erschienen am 01.08.2024
384 Seiten
EAN 978-3-377-90177-4
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Leseprobe zu „Tödliches Verhängnis an der Sorgue (Capitaine Mathieu Dubois ermittelt 1)“

Die Karstquelle

Es war ein sonniger Sonntagmorgen Ende September. Im Tal herrschte eine erfrischend kühle, feuchte, für den frühen Herbst typische Atmosphäre. Die Ruhe war angenehm. Die kleinen Stände, die am Weg zur Quelle Eis, Postkarten und allen möglichen Ramsch verkauften, hatten noch nicht geöffnet, und nur wenige Leute spazierten Richtung Talenge.

„Ich komme am Morgen gerne hierher“, bemerkte Francis Valet und hob den Kopf, um die ungefähr zweihundert Meter hohen Kalkwände zu betrachten, die das enge Tal säumten und die von Karsthöhlen durchbohrt [...]

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Die Karstquelle

Es war ein sonniger Sonntagmorgen Ende September. Im Tal herrschte eine erfrischend kühle, feuchte, für den frühen Herbst typische Atmosphäre. Die Ruhe war angenehm. Die kleinen Stände, die am Weg zur Quelle Eis, Postkarten und allen möglichen Ramsch verkauften, hatten noch nicht geöffnet, und nur wenige Leute spazierten Richtung Talenge.

„Ich komme am Morgen gerne hierher“, bemerkte Francis Valet und hob den Kopf, um die ungefähr zweihundert Meter hohen Kalkwände zu betrachten, die das enge Tal säumten und die von Karsthöhlen durchbohrt waren.

Seine Frau Elise nickte. „Jetzt ist es noch schön ruhig“, meinte sie.

Sie gingen an den uralten Platanen, hinter denen das Wasser grün schimmerte, vorbei Richtung Quelle, wo sich der über dreihundert Meter tiefe Gouffre befand, der Abgrund, in dem die Sorgue entsprang. Es handelte sich um eine der tiefsten Karstquellen Europas, und der Fluss, der aus ihr geboren wurde, barg unzählige Geheimnisse. Allein die leuchtend grüne Farbe der Sorgue, die auf eine spezielle Algenart zurückzuführen ist, verwunderte den Betrachter. Das besonders klare Wasser war außerdem seit jeher für industrielle Zwecke verwendet worden. Entlang des Ufers sah man immer wieder alte Wasserräder, die früher Papiermühlen angetrieben oder andere Fabriken mit Energie versorgt hatten, heutzutage jedoch als Dekor dienten.

Der Weg war nun nicht mehr asphaltiert, stieg ein wenig an und führte am Fluss entlang zur Quelle. Das Rauschen konnte man einige Minuten später nicht mehr hören, denn zu dieser Jahreszeit war nicht genug Wasser vorhanden. Die Quelle war nicht ganz voll, das Wasser floss an dieser Stelle unterirdisch Richtung Dorf, wo es einige hundert Meter weiter unten aus den Felsen sprudelte. Im Frühjahr jedoch, wenn in den Alpen die Schneeschmelze einsetzte und die Quelle voll war, schäumte der Fluss auch im hinteren Tal über die Steine.

Elise keuchte hinter Francis her. Sie waren beide schon 65 Jahre alt und vom guten Essen und vom Wein füllig geworden. Francis dachte mit Wehmut an die Zeit zehn Jahre zuvor, als er noch sehr viel gewandert war und eine hervorragende Kondition besessen hatte.

Als sie am Ende des Tales ankamen, konnten sie das Wasser nicht sehen. Trotz der relativ ergiebigen Regenfälle der vergangenen Woche war der Wasserstand nicht besonders hoch. Sie stiegen über den Zaun, der die Quelle begrenzte. Nach ein paar Schritten Richtung Abgrund erblickten sie das Loch, in dem das Wasser im Licht der Septembersonne, die hinter der Felswand hervorlugte, türkisblau leuchtete.

„Schön“, seufzte Elise, „und wir sind ganz allein.“

Sie gingen über das helle Kalkgestein ein wenig nach unten bis zum Rand der Quelle, wo der eigentliche Abgrund begann. Einige Meter unter ihnen befand sich der Quellteich, dessen Durchmesser ungefähr acht Meter betrug.

„Weißt du noch, diesen Winter“, bemerkte Francis, „da war hier, wo wir jetzt stehen, Wasser. Gleich hinter dem Zaun hat der See begonnen.“

In diesem Moment stieß seine Frau einen Schrei aus. Francis fuhr herum. Er befürchtete, dass Elise, die sich unmittelbar hinter ihm befand, auf dem steinigen Hang umgeknickt sei.

Doch Elise stand wie erstarrt da. Mit einem zitternden Finger zeigte sie auf den Quellteich. Francis folgte ihrem Blick und zuckte zusammen.

Im leuchtenden Türkisblau, ganz hinten, wo der Felsvorsprung seinen Schatten auf das Wasser warf, trieb etwas Großes, Schwarzes.

„Was … Was ist das?“, stotterte Elise.

Ein eisiger Schauer lief über Francis’ Rücken.

„Es sieht aus wie ein riesiges Tier. Ein Hund oder ein Wildschwein. Oder es könnte sogar ein Mensch in dunkler Kleidung sein.“

Mit Missbehagen bemerkte er, dass er seine Stimme nicht mehr im Griff hatte.

Hinter ihnen tauchten zwei junge Männer auf.

„Haben Sie ein Problem?“, fragte einer der beiden und warf Francis einen besorgten Blick zu. Er trug sein hellblondes Haar kurz geschnitten und wirkte sehr sportlich.

Francis brachte kein Wort heraus, deshalb wies er lediglich auf die Stelle, wo die seltsame dunkle Form im Wasser trieb, einige Meter unter ihnen.

Die beiden jungen Männer starrten auf die gegenüberliegende Seite des Quellteiches hinunter.

Merde!“, rief der zweite, der eher klein und stämmig war und etwas längeres dunkles Haar hatte. „Das ist ein toter Mensch, der dort mit dem Gesicht nach unten im Wasser treibt! Und … er ist gefesselt!“

Das Gesicht des jungen Mannes war leichenblass. Elise schrie von Neuem auf.

Putain …“, fluchte der Blonde stammelnd und zog sein Handy aus seiner Hosentasche.

Francis’ Beine versagten, und er musste sich auf den Boden setzen. Es gelang ihm nicht, den Blick vom Quellteich abzuwenden. Nun konnte auch er die nackten Arme und Beine des Toten erkennen, der in einer seltsam verrenkten Pose im Wasser lag.


Die Leiche

Sylvie Montillet seufzte. Sie arbeitete nicht gern am Sonntag. Vor allem, wenn das Wetter so schön war wie an diesem Septembermorgen. Wie viel lieber wäre sie auf dem Wochenmarkt von Isle-sur-la-Sorgue herumgebummelt oder hätte ganz einfach nur auf ihrer Terrasse ausgespannt! Am Vorabend hatte sie ihre Familie in Orange besucht, und es war später geworden als geplant. Sie war erst um eins wieder zu Hause gewesen und musste bereits um sechs ihren Dienst antreten. Nun fühlte sie sich dementsprechend müde. Außerdem hatten in der Nacht mehrere unliebsame Ereignisse stattgefunden. Ein Unfall mit Fahrerflucht war gemeldet worden. Sylvie hatte soeben die Anzeige aufgenommen. Obwohl nur Sachschaden entstanden war, mussten sie und ihre Kollegin Carine Ferrières an diesem Morgen trotzdem versuchen, den Unfallverursacher aufzuspüren.

Noch dazu war in einem Gut im Nachbardorf Pernes-les-Fontaines während der Nacht eingebrochen worden; zwei Kollegen waren bereits dorthin gefahren.

Eine alleinstehende Frau, die ziemlich einsam auf dem Land lebte, hatte nicht weit von der kleinen Ortschaft Saumane entfernt in der Nacht die Gendarmerie gerufen, weil Jugendliche versucht hatten, in ihr Haus einzudringen. Die Gendarmen hatten die Bande zwar in die Flucht geschlagen, doch auch dieser Sache musste nachgegangen werden.

Sylvie wusste ganz genau, dass sie an diesem Sonntag keine ruhige Minute haben würde. Zu allem Überfluss schien ihre Kollegin und Partnerin Carine nicht besonders in Form zu sein. Sie war am Vorabend ausgegangen und hatte wohl zu viel getrunken.

Carine kam aus der Toilette, wo sie sich das Gesicht mit kaltem Wasser gewaschen hatte. Immer noch war sie weiß wie ein Laken und ihre türkisblauen Augen wirkten in ihrem Gesicht riesig, aber Sylvie musste zugeben, dass Carine trotz allem umwerfend aussah.

Carine war nicht nur hübsch, sie war mit ihren langen dunkelbraunen Haaren und ihrem fein geschnittenen Gesicht eine ausgesprochene Schönheit. Niemand hatte Augen wie sie, und wo immer Carine hinging, zog sie jede Menge Blicke auf sich.

Sylvie war das genaue Gegenteil ihrer Kollegin und Freundin: klobig, stämmig, mit einem breiten Gesicht. Trotz ihrer langen Haare wirkte sie relativ männlich. Kein Mann beachtete sie. Sylvie litt darunter, doch sie hoffte trotzdem darauf, eines Tages zu heiraten und eine Familie zu gründen. Sie würde denjenigen finden, der sie so mochte, wie sie war.

Sylvie erhob sich von ihrem Schreibtisch und wandte sich an ihre Kollegin. „Carine, ich befürchte, wir müssen raus!“

Leidend verzog die Freundin das Gesicht.

„Was hast du denn gestern getrunken?“, fragte Sylvie.

„Nicht besonders viel, aber viel Verschiedenes“, seufzte Carine. „Einen Aperol Spritz, eine Sangria, ein Glas Rotwein und dann einen Whiskey.“

Sylvie stöhnte auf. „Wie konntest du nur? Kein Wunder, dass dir heute schlecht ist!“

Carine zuckte mit den Schultern. „Es war ein Scheißabend.“

„Ach … und Kevin?“

„Eben. Genau deshalb war es beschissen. Er ist langweilig und nicht besonders intelligent.“

Sylvie nahm diese Aussage schweigend zur Kenntnis.

Der besagte Kevin kam aus Nordfrankreich und arbeitete in einer Obst- und Gemüsefirma in Cavaillon. Carine hatte ihn eine Woche zuvor durch eine gemeinsame Freundin kennengelernt, und Kevin hatte sich verständlicherweise unsterblich in sie verliebt. Natürlich hatte er sich erhofft, dass er und Carine an diesem Samstagabend ein Paar würden, doch das war anscheinend nicht geschehen.

„Ich bin dann um halb zwölf gegangen, er wollte mich unbedingt begleiten, doch ich habe abgelehnt. Ich empfinde nichts für ihn. Bei mir muss es sofort funken, sonst wird das nichts.“

„Aha!“ Mehr hatte Sylvie dazu nicht zu sagen.

Sie wusste wirklich nicht, auf welche Art von Typen Carine stand. Kein junger Mann schien in ihren Augen Gnade zu finden. Sylvie seufzte tief. Als sie nach dem Autoschlüssel griff, stürzte ihr Kollege Michel Bouvet in ihr Büro.

„Alarm in Fontaine-de-Vaucluse!“, rief er atemlos. „Im Quellteich treibt eine Leiche!“

„Eine … was?“ Entsetzt wandte sich Sylvie dem Kollegen zu.

„Ja. Du hast richtig gehört. Eine Leiche. Ein gefesselter toter Mensch! Sieht nach Mord aus.“

Carine sah Michel einige Sekunden lang wie erstarrt an, dann stürzte sie in die Toilette, wo sie sich übergab.

Michel verzog das Gesicht. „Was hat sie denn? Ist doch nicht die erste Leiche, über die wir sprechen!“

„Nein, ihr war schon vorher übel“, meinte Sylvie. „Was sollen wir jetzt machen?“

„Ich habe den Kommandanten angerufen, obwohl er frei hat. Er ist bereits nach Fontaine-de-Vaucluse unterwegs und hat die Spurensicherung kontaktiert. Lass Carine hier, sie soll sich ums Telefon kümmern! Wir beide brechen gleich auf.“

„Carine, ich fahre mit Michel nach Fontaine-de-Vaucluse. Du bleibst hier!“, rief Sylvie in Richtung Toilette.

Sie hörte Carine schwach protestieren, reagierte aber nicht darauf, sondern lief sofort hinaus. Sie wollte es der Kollegin in ihrem Zustand nicht zumuten, den Anblick einer Wasserleiche ertragen zu müssen.

Michel Bouvet und Sylvie Montillet sprangen ins Auto und rasten mit Blaulicht durch die geschäftige Stadt, in der wie jeden Sonntag der Markt und der Antiquitätenmarkt boomten, Richtung Fontaine-de-Vaucluse.

Dort angekommen, schien alles noch relativ ruhig.

„Ich glaube, wir müssen unten parken“, meinte Sylvie. „Wenn wir nach oben fahren, ist für die Spurensicherung und die Feuerwehr kein Platz mehr.“

Sie war sich ziemlich sicher, dass der Kommandant bereits die Feuerwehr kontaktiert hatte, um die Leiche aus dem Quellteich zu bergen.

Michel stellte den Wagen hinter dem Rathaus auf dem öffentlichen Platz ab. Der Parkwächter meinte, sie sollten das Gendarmerie-Auto links vom Eingang des Parkplatzes stehen lassen.

„Was ist eigentlich los?“, fragte er verwundert. „Vorhin ist gerade ein Gendarmerie-Auto mit Blaulicht hinauf zur Papiermühle gefahren!“

Sylvie senkte die Stimme. „Anscheinend wurde in der Quelle eine Leiche entdeckt. Aber sagen Sie im Moment niemandem etwas davon!“

Puuuutain!“ Der junge Mann hielt sich die Hand vor den Mund. „Eine Leiche … Hier bei uns in Fontaine! Das ist doch nicht möglich!“

„Anscheinend schon!“ Michel grinste schief.

Dann eilten Sylvie und er Richtung Quelle. Die meisten Geschäfte und Verkaufsstände öffneten gerade, und die Geschäftsleute sahen ihnen verwundert hinterher. In diesem winzigen Ort fielen zwei Gendarmen in Uniform so früh am Sonntagmorgen natürlich auf. Einige Minuten später kamen sie am Ende des Tales an.

Vor dem Zaun, der die Quelle begrenzte, standen schon einige Leute, die lautstark miteinander diskutierten. Sylvies Kollegen Simon Bellando und Dominique Monnier befanden sich mit vier weiteren Personen auf der anderen Seite des Zaunes. Kommandant Jean Calcin telefonierte einige Meter von ihnen hektisch und trat dabei von einem Fuß auf den anderen. Er beendete das Gespräch und kam auf Sylvie und Michel zu. Die beiden anderen Kollegen folgten ihm. „Gut, dass ihr da seid. Du bleibst hier bei mir, Sylvie.“

Dann wandte sich Calcin an die drei männlichen Gendarmen: „Schickt alle Leute nach unten. Sperrt unten beim Restaurant am Wasser den Weg, damit die Feuerwehr und die Spurensicherung bei ihrer Arbeit nicht behindert werden!“

Die vier Personen, die die Leiche entdeckt hatten – zwei junge Männer um die dreißig und ein älteres Ehepaar –, wollten den Weisungen der Gendarmen nicht gehorchen. Sie bestanden darauf, zu bleiben und zuzusehen, wenn der Tote aus dem Wasser gezogen wurde. Jean Calcin ging zu ihnen und begann, auf sie einzureden. Schließlich einigte man sich darauf, dass die vier sich ein wenig weiter oben hinstellen und der Arbeit der Feuerwehr und der Spurensicherung von Weitem zusehen durften. Doch alle anderen Leute mussten zum Restaurant hinuntergehen. Die Ausländer, die vor Ort waren, akzeptierten die Anordnungen der Gendarmerie ohne Murren, die paar anwesenden Franzosen verliehen jedoch ihrem Unmut lautstark Ausdruck. Eine Touristenattraktion so einfach zu sperren, nur weil ein Gegenstand in der Quelle trieb, das war in ihren Augen unerhört! Sylvies Kollegen hatten den Besuchern anscheinend den Blick auf die Quelle verwehrt und ihnen nicht mitgeteilt, um welche Art von Gegenstand es sich handelte.

Sylvie stieg zum Rand des Abgrunds hinunter und konnte bald erkennen, was dort einige Meter von ihr, direkt am Fuß des überhängenden Kalkfelsens, an der Wasseroberfläche trieb. Es bestand kein Zweifel, dass es sich um einen gefesselten Menschen handelte. Die junge Gendarmin fröstelte. Wer war dieser Tote, der einem so makabren Verbrechen zum Opfer gefallen war?

Die Kollegen von der Spurensicherung, zwei Männer und zwei Frauen, waren angekommen, begrüßten den Kommandanten und Sylvie, machten Fotos von der Quelle, ihrer Umgebung und dem im Wasser treibenden Körper und meinten dann, dass die Feuerwehr die Leiche nun bergen könnte.

Daraufhin kamen vier Feuerwehrmänner mit ihrer Ausrüstung, darunter Seile, Pickel und ein Schlauchboot, den Weg heraufgeeilt.

Sylvie kannte zwei von ihnen vom Sehen. Sie waren ungefähr in ihrem Alter, knapp dreißig, und gehörten zu den sportlichsten Burschen der Stadt. Sie nickten dem Kommandanten und Sylvie zu und machten sich sofort ans Werk.

Es ging relativ schnell. Das Schlauchboot wurde ins Wasser hinuntergelassen, zwei Männer seilten sich an der Felswand ab und stiegen direkt ins Boot.

Der jüngste Techniker, der relativ sportlich wirkte, begleitete sie. Sylvie sah ihm an, dass ihm beim Abseilen ziemlich mulmig zumute war. Die beiden Feuerwehrmänner, die ihn von oben sicherten, grinsten einander voller Genugtuung an. So durchtrainiert und furchtlos wie sie waren die Gendarmen natürlich nicht!

Sobald die drei Männer im Boot saßen, paddelten sie die paar Meter auf die Leiche zu. Bald waren sie unter dem Felsvorsprung angekommen, und der Techniker schoss einige Minuten lang Fotos.

Sylvie spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann, als die beiden Feuerwehrmänner schließlich ins Wasser griffen und die Leiche umdrehten. Zum Vorschein kam ein bläulich-weißes Gesicht. Sie hielt den Atem an.

Jean Calcin starrte in den Abgrund und sah zu, wie die drei Männer die Leiche ins Boot hievten. Wieder fotografierte der Techniker. Am Ufer begannen die beiden anderen Feuerwehrmänner bereits, Vorbereitungen zu treffen, um den Toten nach oben zu ziehen. Sylvie fiel auf, dass es sich bei der Leiche um einen relativ schmächtigen, braunhaarigen Mann in dunkler Sportkleidung – kurze Hose und T-Shirt – handelte, dessen Arme und Beine aneinandergefesselt waren. Gekrümmt wie ein Embryo lag er im Schlauchboot. Irgendwann, nach vielem Manövrieren und Herumschreien, hatten sie den Leichnam endlich nach oben gebracht. Sogar die Feuerwehrmänner, die doch an einiges gewöhnt waren, schienen von seinem Anblick schockiert zu sein.

„Wir lassen ihn hier liegen“, sagte der Einsatzleiter zu Calcin und den Technikern, und Sylvie hörte, dass seine Stimme zitterte. „Wir rühren ihn nicht mehr an.“

Die Leiche befand sich in einem fürchterlichen Zustand. Sylvies Magen verkrampfte sich, und sie spürte, wie ihr die Galle hochkam. Dominique, der gerade eben von der Absperrung zur Quelle zurückgekommen war, würgte einige Meter hinter ihr ebenfalls, und die Hände des Kommandanten zitterten wie Espenlaub.

„Er ist es!“ Jeans Stimme war kaum hörbar.

„Wer … er?“, fragte Sylvie bange. Das Gesicht sagte ihr nichts. Allerdings war es sehr entstellt, vollkommen aufgeschwemmt und halb verwest. In den kurzen braunen Haaren hingen grasgrüne Algen. Sie musste den Blick abwenden.

„Der Sohn des Trüffelkönigs, der im Juni verschwunden ist. Den wir tagelang gesucht haben. Der Schuldirektor. Der Cousin von Luis.“

Sylvies Hand fuhr an ihren Mund. Sie unterdrückte einen Schrei.

Der verschwundene Grundschuldirektor Pierre Pinet, den sie ab Ende Mai überall gesucht hatten! Tot. Ertränkt. Gefesselt. In einer der tiefsten Karstquellen Europas. Aber warum?

„Und nun?“, fragte Sylvie ihren Vorgesetzten. „Nun ermitteln wir?“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein. Wir geben den Fall ab. An die PJ.“

„An wen?“

„Die Police Judiciaire, die regionale Kriminalpolizei aus Marseille. Ich kann den Fall nicht übernehmen. Das Opfer ist der Cousin meines wichtigsten Mitarbeiters. Und der Sohn eines Mannes, mit dem wir schon genügend Probleme hatten. Wir haben gute Chancen, den Fall loszuwerden. Der Staatsanwalt kommt in wenigen Minuten und wird eine Entscheidung treffen.“

„Ach …“ Sylvie war ernüchtert. Obwohl der Tod dieses Mannes sie erschütterte und die fürchterliche, nur ein paar Meter von ihnen liegende entstellte und aufgeschwemmte Leiche sie abstieß, hatte sie dennoch gehofft, wieder einmal einen interessanten Fall bearbeiten zu dürfen.

Ihr Vorgesetzter schien ihre Enttäuschung zu bemerken.

„Dass wir ihn abgeben, heißt noch lange nicht, dass wir gar nicht mehr daran arbeiten. Die PJ schickt uns einen oder mehrere Ermittler. Wahrscheinlich werden sie unsere Hilfe trotzdem brauchen.“

Sylvie fand es reichlich seltsam, dass nun Leute aus Marseille ermitteln sollten, die mit den Verhältnissen vor Ort nicht vertraut waren und weder die Gegend noch ihre Einwohner kannten. Andererseits war es vielleicht besser, dass jemand an dem Fall arbeitete, der mit Pierre Pinets Vater Charles, dem berühmt-berüchtigten Trüffelkönig, bisher nichts zu tun hatte.

Bald verabschiedeten sich die Feuerwehrmänner, und die vier Leute von der Spurensicherung fuhren mit ihrer Arbeit fort.

Der Kommandant sprach vor sich hin in sein Smartphone. Er nahm seine eigenen Kommentare auf, um alle Details und Eindrücke in Erinnerung zu behalten.

„Dunkle kurze Sportkleidung, Adidas-Socken, schwarze Adidas-Joggingschuhe, eine Sportuhr am Arm …“

Sylvie erinnerte sich. Der Mann war eines Abends Ende Mai beim Joggen verschwunden. Er war in Isle-sur-la-Sorgue als Schulleiter ziemlich bekannt gewesen, und die Gendarmerie hatte zusammen mit unzähligen freiwilligen Helfern damals zwei Wochen lang nach ihm gesucht. Fast alle Gendarmen hatten ihn gekannt. Carine war als Kind in die Schule gegangen, in der er unterrichtet hatte. Dominiques Kinder besuchten dieselbe Schule, in der Pinet zehn Jahre zuvor Direktor geworden war, und er war auch bei mehreren Vereinen im Ort Mitglied gewesen. Pierre Pinet war geschieden gewesen, hatte jedoch zum Zeitpunkt seines Verschwindens mit einer Lehrerin seiner Schule zusammengelebt.

Er galt als ein Mann, über den man nichts Negatives sagen konnte. Ganz im Gegensatz zu seinem Vater. Der Trüffelkönig, der einige Kilometer von Isle-sur-la-Sorgue im Regionalpark Luberon lebte, war umso berüchtigter. Er war steinreich aufgrund seines Landbesitzes, der Trüffelwälder, der Lavendelfelder, der Weingärten und er zählte zu den wichtigsten und einflussreichsten Bauern der Gegend. Allerdings hatte er bereits im Gefängnis gesessen, weil er zwanzig Jahre zuvor einen jungen Mann erschossen hatte, der in der Nacht in einem seiner Wälder Trüffeln ausgegraben hatte.

Im Luberon war Pinet alles andere als beliebt, häufig hatte er Probleme mit seinen Nachbarn. Er galt als streitlustig, aufbrausend und korrupt. Sylvie überlegte: Konnte der Tod des Sohnes auf die Machenschaften des Vaters zurückführen sein?


Der Capitaine

Mathieu Dubois saß in seinem Büro im Kommissariat von Marseille und kämpfte sich seufzend durch einen Stapel Papiere. Er kümmerte sich nicht gern um administrativen Kram, aber ihm blieb keine Wahl. Es war in dieser Woche etwas ruhiger, und der Capitaine widmete sich all den Aufgaben, die er nicht erledigen konnte, wenn er sich mitten in einer Ermittlung befand. Er war sich sicher, dass er bald wieder in irgendeine Vorstadt aufbrechen musste, deshalb wollte er einiges wegschaffen, bevor der nächste Dealer erschossen wurde. Und tatsächlich kam eine Viertelstunde später sein Vorgesetzter, Kommissar Léautier, durch die Tür seines Büros und setzte sich Mathieu gegenüber auf den Sessel.

„Du hast seit zwei Tagen nichts zu tun“, begann der Kommissar.

Mathieu zuckte mit den Schultern. Diese Art, das Gespräch zu eröffnen, behagte ihm nicht besonders. Wahrscheinlich wollte sein Vorgesetzter ihm wieder eine komplexe Aufgabe übertragen.

„Ich habe einen recht interessanten Fall für dich. Es geht darum, außerhalb von Marseille eine Mordermittlung durchzuführen. Eher eine Seltenheit, weil wir normalerweise hier so eingespannt sind. André und Damien können dich begleiten und falls nötig, kriegst du weitere Unterstützung. Aber ich will, dass du dich ab sofort in dem besagten Ort niederlässt und dich in den Fall gut einarbeitest.“

Christophe Léautier fiel selten mit der Tür ins Haus, meistens schwafelte er eine Weile, bevor er mit den Details herausrückte. Diesmal schien er es ziemlich eilig zu haben, weil er relativ schnell zur Sache kam. Er reichte Mathieu ein Foto. Der Capitaine zuckte zurück. Dieu, das sah ja grausam aus! Ein gefesselter Körper mit einem weißlich-bläulichen, zur Unkenntlichkeit aufgedunsenen Gesicht, der zusammengekrümmt auf einem Kalkfelsen lag. Der Mann trug dunkle Sportkleidung, Hände und Füße waren mit einer starken Schnur aneinandergebunden.

„Nicht schön, hä?“, meinte der Kommissar.

Mathieu sah ihn fragend an.

Christophe Léautier schmatzte ein paarmal. Er machte es gern spannend, wenn er einem seiner Ermittler einen neuen Fall übertrug.

„Ein braver Bürger. Ein Grundschuldirektor aus Isle-sur-la-Sorgue. Wurde aus der Karstquelle von Fontaine-de-Vaucluse geborgen. Er war seit Ende Mai verschwunden. Vermutlich hat ihn jemand beim Joggen überfallen, gefesselt und in der Quelle versenkt. Die Rechtsmedizin hat herausgefunden, dass er ertrunken ist. Er war also noch nicht tot, als er ins Wasser geworfen wurde.“

„Ist die Quelle … tief?“, wagte Mathieu zu fragen.

Kommissar Leautier sah ihn durchdringend an und senkte die Stimme, wahrscheinlich, um seiner Erklärung noch mehr Spannung zu verleihen.

„Die Quelle wird der Abgrund genannt. Sie ist ein dreihundert Meter tiefes Loch. Eine der tiefsten Karstquellen Europas.“

„Was …?“

„Ja, doch sie hat viele Vorsprünge und Hohlräume. Die Leiche lag wahrscheinlich nicht in dreihundert Metern Tiefe. Auf jeden Fall wurde der Mann gefesselt in die Quelle geworfen und lag dort mehrere Monate. Und dann … du weißt ja selbst, die Verwesungsgase im Körper müssen die Leiche an die Oberfläche getrieben haben. Vor drei Tagen wurde sie dann von Spaziergängern entdeckt, wie sie direkt unter der Wasseroberfläche geschwommen ist. Jemand muss den Mann sehr gehasst haben, um ihm so einen Tod zu bescheren.“

„Allerdings.“

Der Fall war interessant. Außerdem fand die Ermittlung im ländlichen Milieu statt, was Mathieu, der zumeist in gefährlichen Vorstädten unterwegs war, sehr schätzte.

Die Frage war nun, warum die regionale Kriminalpolizei eine Ermittlung leiten sollte, die normalerweise die örtliche Gendarmerie übernahm.

Der Kommissar schien die Gedanken seines Capitaines zu lesen.

„Die Situation ist schwierig dort in der Kleinstadt Isle-sur-la-Sorgue“, erklärte er. „Der Tote war ein angesehener Bürger, ein Schuldirektor, sehr aktiv im Vereinsleben der Kleinstadt, allgemein sehr beliebt. Doch er stammt aus einer berühmt-berüchtigten Familie im Luberon, nicht weit von der Kleinstadt entfernt. Sein Vater ist einer der reichsten Bauern der Gegend. Trüffel, Lavendel, Wein, alles, was Geld bringt. Großgrundbesitzer. Man nennt ihn den Trüffelkönig. Und dieser Mann hatte bereits Probleme mit der Justiz. Er hat vor zwanzig Jahren einen jungen Mann erschossen, weil dieser ihm Trüffeln stehlen wollte. Er hat vier Jahre im Gefängnis gesessen, die Familie des Jungen hat Rache geschworen. Und der Trüffelkönig ist in der Gegend kein beliebter Mann. Er hatte Streitigkeiten mit Nachbarn, führte Prozesse mit anderen Bauern, der Aufenthalt im Gefängnis hat ihn äußerst streitlustig gemacht.“

„Aber warum sollte deshalb jemand seinen Sohn töten?“, unterbrach Mathieu seinen Vorgesetzten. „Es wäre doch viel logischer, sich an ihm selbst zu vergreifen.“

„Da bin ich nicht deiner Meinung“, widersprach Léautier. „Das Schlimmste für einen Menschen ist, sein Kind zu verlieren. Dieser Mann war der jüngste Sohn des Trüffelkönigs und der Einzige, der nicht mit ihm arbeitete. Der ältere Sohn und die Tochter managen den landwirtschaftlichen Betrieb zusammen mit dem Vater. Doch der jüngere befand sich weit vom Anwesen entfernt – geografisch und idealistisch gesehen. Er wollte mit dem Ganzen nichts zu tun haben. Und vielleicht hat jemand dem unbeliebten Kapitalisten beweisen wollen, dass Geld keine Garantie für Sicherheit ist?“

Mathieu zuckte mit den Schultern und sah seinen Vorgesetzten zweifelnd an.

„Nun ja, das ist lediglich eine Theorie“, meinte dieser. „Es kann auch etwas ganz anderes dahinterstecken.“ Er schwieg einen Moment lang, ehe er fortfuhr: „Und das Wichtigste habe ich dir noch nicht gesagt. Im Prinzip ist es die Brigade von Isle-sur-la-Sorgue, die diese Ermittlung durchführen sollte, doch der Kommandant hat darum gebeten, sie abgeben zu dürfen. An uns.“

„Ach so?“, fragte Mathieu erstaunt.

Es kam sehr selten vor, dass die Gendarmerie einen Kriminalfall freiwillig an die PJ abgab. Manchmal wurde eine Ermittlung den Gendarmen weggenommen, weil sich die Lösung eines Falls hinauszögerte und die Bevölkerung unruhig wurde. Doch die Gendarmen hielten an ihrer Kompetenz als Ermittler in Kriminalfällen im ländlichen Bereich eifersüchtig fest. Deshalb war es äußerst ungewöhnlich, dass dieser Kommandant den Fall loshaben wollte und ihn nicht an eine andere Brigade, sondern an die PJ abgab.

„Der Cousin des Opfers arbeitet in der Brigade von Isle-sur-la-Sorgue und ist nach dem Kommandanten einer der wichtigsten Gendarmen dort. Ein Adjutant. Dem Kommandanten ist das alles viel zu verfänglich mit dem Trüffelkönig, dessen krimineller Vergangenheit und dessen Neffen. Daher will er jemanden von außen, der die Ermittlung leiten soll. Doch die Gendarmen sind bereit, dir zu helfen. Wichtig ist, dass du dich reinkniest. Dass du dort Präsenz zeigst. Ich bezahle dir ein Zimmer oder eine Ferienwohnung. Du brichst ab morgen nach Isle-sur-la-Sorgue auf!“ Christophe Léautier erhob sich. „Du kannst André und Damien haben. Gérald bleibt hier bei uns.“

Nachdem der Kommissar Mathieus Büro verlassen hatte, wusste der Capitaine nicht, ob er sich über die unverhoffte Ermittlung auf dem Land freuen sollte oder ob es eher angebracht war, besorgt zu sein. Er sah sich im Internet Fotos der Fontaine-de-Vaucluse – der besagten Karstquelle – und des Städtchens Isle-sur-la-Sorgue an und musste zugeben, dass es sich um eine wahre Bilderbuchlandschaft handelte. Keine Luftverschmutzung, keine schmutzigen Straßen, keine dicht besiedelten Vorstädte, keine Staus. Dafür schöne Natur, zahlreiche Obstgärten, schmucke Dörfchen, viel Grün und viel Wasser.

Doch andererseits begab sich Mathieu nun in ein Gebiet, das ihm komplett fremd war. Er kannte die Leute, die Gepflogenheiten und die Dörfer nicht, und auch die Landschaft war ihm ziemlich fremd. Er war noch nie in Isle-sur-la-Sorgue oder Fontaine-de-Vaucluse gewesen und erst einmal im Regionalpark Luberon in der Stadt Apt.

Isle-sur-la-Sorgue befand sich gerade mal 90 Kilometer von Marseille entfernt im Hinterland der Mittelmeerküste, vom Kommissariat in einer guten Stunde Fahrt zu erreichen. Mathieu hätte jeden Tag hin- und herpendeln können. Doch der Kommissar hatte seinen Wunsch nur allzu deutlich gemacht, dass Mathieu vor Ort bleiben sollte.

Mathieu dachte an Martha und seufzte tief. Er lebte nun seit dreieinhalb Jahren mit seiner Freundin zusammen; vorher hatten sie in Paris gewohnt, sich jedoch beide zwei Jahre zuvor nach Marseille versetzen lassen. Martha Rainier war Lehrerin, hatte sehr geregelte Arbeitszeiten und konnte sich ihre Vorbereitung für den Unterricht so einteilen, wie sie es wollte. Mathieus Arbeit war eine ständige Konfliktquelle in ihrer Paarbeziehung. Martha warf Mathieu vor, zu viel zu arbeiten. Dabei war er schon Polizist gewesen, als sie einander kennengelernt hatten; außerdem hatte er in Paris nicht weniger gearbeitet als in Marseille.

Doch nun war diese Situation seit einem halben Jahr zu einem Problem geworden. Mathieu fand, dass Martha sich sehr verändert hatte. Aus dem fröhlichen jungen Mädchen war eine berechnende, etwas verbitterte Frau geworden. Sie verhielt sich ihm gegenüber besitzergreifend und war eifersüchtig. Er fragte sich oft, ob nicht er selbst an dieser Situation schuld war. Vielleicht schenkte er Martha zu wenig Beachtung und Zuwendung, sodass sie sich seiner Liebe nicht mehr sicher war? Sie hatten es bereits erwogen, eine Familie zu gründen. Und Martha behauptete, dass sie darauf hinarbeiten mussten, die idealen Bedingungen zu schaffen, um Kinder großzuziehen. Mathieus Arbeit war familienfeindlich, das wiederholte Martha ständig. Sie schlug ihm immer wieder vor, den Job zu wechseln. Doch das war für Mathieu keine Option. Er liebte seine Arbeit bei der Polizei, er hatte die Aufnahmeprüfung zum Lieutenant geschafft, hatte seit einigen Monaten den Dienstgrad Capitaine und wollte Karriere machen. Sein Ziel war, in einigen Jahren die interne Prüfung zum Kommissar zu absolvieren. Er wusste, dass er ein guter Ermittler war und dass er auch eine gewisse Begabung dafür besaß, seine Mitarbeiter anzuleiten und zu koordinieren. Im Moment verzichtete er lieber auf eine Familie als auf seine Arbeit. Und so, wie sich die Situation in den letzten Monaten entwickelt hatte, wollte Mathieu mit Martha ohnehin keine Familie mehr gründen. Viel eher fasste er eine Trennung ins Auge.

Auch Martha sprach häufig davon, ihn zu verlassen.

„Dann gehe ich!“, war bei ihr zu einem geflügelten Wort geworden, und Mathieu hatte in letzter Zeit zumeist geantwortet: „Ja, dann geh eben! Dann meckert wenigstens niemand mehr, wenn sich mein Dienstplan wieder einmal ändert oder wenn ich eine intensive Ermittlung zugeteilt bekomme.“

Mathieu arbeitete wie seine Kollegen, die anderen Lieutenants und Capitaines, weitaus mehr als die in Frankreich für Angestellte üblichen 35 Wochenstunden. Seine Arbeitszeiten waren unregelmäßig, und wenn er ermittelte, zählte er die Stunden nicht. Das war es, was Martha so unendlich grämte. Dass ihm die Arbeit wichtiger war als ihre Beziehung. Mathieu ertappte sich dabei, sich davor zu fürchten, Martha erklären zu müssen, dass er sich einige Tage – oder Wochen? – in Isle-sur-la-Sorgue niederlassen müsste und nur hin und wieder zu Hause vorbeischauen könnte.

Doch dann musste er zugeben, dass die Perspektive, eine Woche oder länger ohne seine Lebensgefährtin verbringen zu können, ihn Erleichterung spüren ließ. Er schüttelte unwillig den Kopf. Was war nur aus ihrer damaligen Verliebtheit geworden?

Mathieu zwang sich, seine Gedanken wieder auf die Arbeit zu lenken, und stand auf, um seine Kollegen Damien Falquier und André Fleuret über die neue Ermittlung zu informieren und sich weitere Informationen zu dem Fall von seinem Vorgesetzten zu holen.

Anna-Maria Aurel

Über Anna-Maria Aurel

Biografie

Anna-Maria Aurel wurde 1974 in Innsbruck geboren. Sie lebt schon seit dreißig Jahren in Frankreich. Ihr Übersetzerstudium absolvierte sie in Lyon und Paris, ihr Tourismusstudium in Avignon und Arles. Mehrere Jahre arbeitete sie im Tourismusmanagement und im Immobilienbereich. Mit ihrem Mann, ihren...

Kommentare zum Buch
Späte Rache?
Aimee am 23.08.2024

Inhalt: Die Leiche des vermissten Grundschuldirektors Pierre Pinet wird gefesselt in der Sorgue-Quelle gefunden. Doch wer hat den Direktor so sehr gehasst, dass er ihn in die Quelle geworfen hat? Die Kriminalpolizei erhält Verstärkung von drei weiteren Beamten aus Marseille. Der junge Capitaine Mathieu Dubois übernimmt die Leitung in diesem brisanten Fall. Alle Spuren führen die Beamten jedoch zu dem Vater des Opfers und „Trüffelkönig“ Charles Pinet. Dieser hat schon einige Jahre hinter Gittern verbracht, weil er vor Jahren einen Trüffeldieb in seinem Wald erschossen hat. Ist das hier etwa eine Art Abrechnung gewesen? Doch dann erfahren Mathieu und sein Team von dem schmutzigen Geheimnis, welches der Direktor hütetet. Sein Vater hat diese Schandtaten auch noch versucht zu vertuschen. Doch nicht nur das macht Mathieu zu schaffen: Auch privat läuft es bei dem Capitaine alles andere als rund.   Meinung: Das Cover finde ich sehr schön gestaltet und ich habe gleich Lust auf Urlaub bekommen. In das Buch habe ich leider einen kleinen Moment gebraucht um alles zuordnen zu können, doch dann ging es bergauf. Mathieu und sein Team möchte ich alle sehr gerne und man konnte alle nach und nach besser kennenlernen. Auch die Ängste und Problematiken konnte man in diesem Buch hautnahe erleben, was mir sehr gut gefallen hat. Allerdings hat es mir in diesem Krimi zeitweise an Spannung gefehlt, da das Privatleben des Capitaines einen sehr großen Teil der Geschichte eingenommen hat. Der Schreibstil der Autorin war angenehm zu lesen und mit dem Ende habe ich ebenfalls nicht gerechnet. Falls ihr also Lust auf einen Provence-Krimi habt, seid ihr hier an der richtigen Stelle!

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