Transatlantik (Die Gereon-Rath-Romane 9) Transatlantik (Die Gereon-Rath-Romane 9) - eBook-Ausgabe
Der neunte Rath-Roman
— Vom Autor der Romanvorlage zu Babylon BerlinTransatlantik (Die Gereon-Rath-Romane 9) — Inhalt
Der 9. Rath-Roman – Die Bestsellerserie geht weiter
April 1937, die Familie Rath ist zersprengt. Eigentlich wollte Charlotte Rath, geborene Ritter, schon längst im Ausland sein, doch halten die Umstände sie in Berlin fest. Ihr ehemaliger Pflegesohn Fritze ist in die geschlossene Abteilung der Nervenheilanstalt Wittenau gesteckt worden, ihre beste Freundin Greta spurlos verschwunden und steht unter Mordverdacht. Dem untergetauchten und von den Behörden für tot gehaltenen Gereon Rath wird es derweil zu gefährlich in Deutschland, er besteigt den Zeppelin, um in die USA zu entkommen. Während Charly versucht, Fritze aus der Klinik rauszupauken, das Verschwinden von Greta zu klären und den Mordfall zu lösen, geschehen jenseits des Atlantiks Dinge, die sie niemals für möglich gehalten hätte.
Babylon Berlin – Preisgekrönte Serie setzt Erfolg fort
Volker Kutschers Romane bilden die Grundlage für die Kultserie „Babylon Berlin“. Die Sky- und ARD-Serie gilt als eine der erfolgreichsten deutschen Fernsehproduktionen und ist unter anderem Träger des Grimme-Preises und des Deutschen Fernsehpreises. Auch Kutscher wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem BZ Kulturpreis und dem Berliner Krimifuchs.
„Ein spannender, gut konstruierter und gelungener historischer Thriller.“ ARD „druckfrisch“
Leseprobe zu „Transatlantik (Die Gereon-Rath-Romane 9)“
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Die Fenster waren sämtlichst geschlossen, dennoch drang das Scheppern und Schnaufen der Züge, die den Bahnhof Alexanderplatz verließen, zu ihnen in den Verhandlungssaal. Auf der anderen Seite der Stadtbahntrasse glänzten die vom letzten Regenschauer durchnässten Backsteine des Polizeipräsidiums in der schüchternen Aprilsonne. Charly konnte immer noch genau sagen, hinter welcher Fensterreihe die Büros der Mordinspektion lagen, obwohl es Jahre her war, dass sie dort gearbeitet hatte. Das regelmäßige Rattern der Eisenbahn, das ihren Arbeitstag begleitete, [...]
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Die Fenster waren sämtlichst geschlossen, dennoch drang das Scheppern und Schnaufen der Züge, die den Bahnhof Alexanderplatz verließen, zu ihnen in den Verhandlungssaal. Auf der anderen Seite der Stadtbahntrasse glänzten die vom letzten Regenschauer durchnässten Backsteine des Polizeipräsidiums in der schüchternen Aprilsonne. Charly konnte immer noch genau sagen, hinter welcher Fensterreihe die Büros der Mordinspektion lagen, obwohl es Jahre her war, dass sie dort gearbeitet hatte. Das regelmäßige Rattern der Eisenbahn, das ihren Arbeitstag begleitete, hatte damals etwas Beruhigendes gehabt, heute jedoch verstärkte es ihre nervöse Gereiztheit.
Sie hörte dem Mann im Zeugenstand zu und konnte ihre Ungeduld kaum im Zaum halten. Doktor Wolfgang Gerloff, SS-Mitglied und Amtsarzt der Staatspolizei, betete genau das herunter, was er Heiligabend des Jahres 1936 bereits schriftlich niedergelegt hatte, und das Familiengericht ließ ihn gewähren. Genausogut hätte der Vorsitzende das psychiatrische Gutachten verlesen lassen können. Dabei ging es in dieser Verhandlung um die Stichhaltigkeit genau dieses Gutachtens, aber statt dem Amtsarzt auf den Zahn zu fühlen und dessen Befund zu hinterfragen, bestätigte der Richter lediglich das gerade Gehörte. Stünde nicht so viel auf dem Spiel, Charly wäre eingeschlafen. So aber heizte die Schlafmützigkeit der Zeugenbefragung ihre Ungeduld nur an. Sie ertappte sich dabei, wie sie mit ihrem Stuhl zu wippen begann. Theo Contzen hingegen, der Rechtsanwalt neben ihr, wirkte so interessiert wie ein Atheist bei der Sonntagspredigt in der Kirche.
„Die staatspolizeilich veranlasste Einweisung des Thormann, Friedrich, in die geschlossene Abteilung der Wittenauer Heilstätten am vierundzwanzigsten Dezember sechsunddreißig“, wiederholte der Richter tausendfach bereits Durchgekautes, „folgte also letztlich nur dem von Ihnen, Doktor Gerloff, diagnostizierten amtsärztlichen Befund vom selben Tage, der dem Thormann schizoide paranoide Wahnvorstellungen attestiert?“
Der Arzt im Zeugenstand nickte.
„Richtig, Herr Vorsitzender. Wie ich bereits ausführte, äußerten sich die schizoiden paranoiden Wahnvorstellungen des Patienten in den wiederholten haltlosen Beschuldigungen zu Lasten eines ehemaligen SS-Angehörigen, dieser habe im August sechsunddreißig einen Mord im olympischen Dorf begangen. Dabei handelt es sich um einen Suizid, dessen Zeuge der Thormann geworden ist. Dabei ist nicht auszuschließen, dass genau dieses traumatische Ereignis den bereits schlummernden Wahn in dem Patienten ausgelöst hat.“
„Bereits schlummernd?“, fragte der Richter. „Wie ist das zu verstehen, Doktor Gerloff?“
„Nun, Herr Vorsitzender, natürlich muss eine Person, damit solch ein Wahn ausgelöst werden kann, eine gewisse Disposition mitbringen. Aufgrund der ungeklärten Vaterschaft des Thormann ist ein Defekt aus minderwertiger rassischer Vererbung daher höchst wahrscheinlich.“ Der Amtsarzt machte eine Kunstpause, um seine Worte wirken zu lassen. „Allein schon deswegen, um eine Verschmutzung der Volksgemeinschaft durch solche Subjekte zu verhindern, war eine dauerhafte Unterbringung des Thormann in der geschlossenen Psychiatrie unabdingbar. Dies habe ich in meiner Expertise daher auch in aller Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht.“
Das stimmte. Es war sogar beinahe wortwörtlich die Formulierung, die Doktor Gerloff in seinem Gutachten gewählt hatte, mit dem einzigen Unterschied, dass er dort das Präsens benutzt hatte und nicht das Präteritum. Ist eine dauerhafte Unterbringung des Thormann in der geschlossenen Psychiatrie unabdingbar. Mit derselben Begründung, denselben Worten. Minderwertig. Verschmutzung. Es hörte sich an, als rede man über Ungeziefer. Kaum zu glauben, dass es hier um einen sechzehnjährigen Jungen ging.
„Vielen Dank für Ihre deutlichen Ausführungen, Doktor Gerloff, das Gericht hat keine weiteren Fragen.“
Der Amtsarzt knöpfte sich das Jackett zu und machte Anstalten, aus dem Zeugenstand zu treten.
Charly stand auf. „Moment bitte“, sagte sie. „Wir hätten noch ein paar Fragen an den Zeugen.“
Doktor Gerloff fror mitten in der Bewegung ein und schaute sie überrascht an.
Ebenso der Richter. „Gnädige Frau“, begann er, „wäre es nicht eigentlich Sache des Rechtsanwaltes, den Zeugen zu befragen …“
„Herr Vorsitzender, Doktor Contzen und ich vertreten die Interessen von Friedrich Thormann gemeinsam. Ich darf Sie daran erinnern, dass ich Jura studiert habe.“
„Nun ja, aber …“
„Und wenn die Regierung mir nicht das zweite Staatsexamen verweigert hätte“, fuhr Charly fort, „dann wäre ich heute ebenso Rechtsanwalt wie Doktor Contzen.“
Der Richter schaute in seine Akten. „Nach meinen Informationen“, sagte er dann, „haben Sie zwei Jahre und zehn Monate als Rechtsanwaltsgehilfe gearbeitet. Das ist dann doch etwas anderes als ein Rechtsanwalt.“
Mit so etwas hatte Charly gerechnet. Deswegen saß Theodor Contzen neben ihr, ein ehemaliger Kommilitone, der es in seinem Beruf nicht allzuweit gebracht hatte und froh war über jede Mark, die er sich dazuverdienen konnte. Mehr als ein Strohmann war Theo nicht, und mehr benötigte Charly auch nicht.
Eigentlich hatte sie Guido Scherer mit dem Fall betrauen wollen, doch der hatte abgewinkt. Keine Zeit. So hatte er ihr mit einem bedauernden Achselzucken zu verstehen gegeben.
Keine Zeit. Charly hatte gewusst, dass das gelogen war. Kein Mut, das wäre ehrlicher gewesen. Guidos Kanzlei lief seit einiger Zeit so gut, dass er seinen einstigen Vorsatz, den Benachteiligten und Mittellosen zu helfen, längst vergessen hatte. Ein paar Fälle in Not geratener armer Schlucker übernahm die Kanzlei Scherer & Blum immer noch, vorausgesetzt allerdings, bei den armen Schluckern handelte es sich um solche, die weltanschaulich ohne jeden Zweifel die Sache des Nationalsozialismus unterstützten und vollwertige Mitglieder der vielbeschworenen Volksgemeinschaft waren. Wenn der Fall überdies noch positive Schlagzeilen versprach, dann waren die Herren Blum und Scherer dabei, andernfalls nicht. In der Sache Thormann war nichts zu verdienen, weder Ruhm noch Geld. Man konnte sich höchstens die Finger verbrennen.
Aber das war Charly egal. Es ging hier nicht darum, ob man sich die Finger verbrannte, es ging um den Jungen, einzig und allein um den Jungen. Seit fast vier Monaten saß Fritze nun in der Heilanstalt, und es war nur einem Zufall zu verdanken, dass sie überhaupt davon erfahren hatte. Hätte der Junge sein Pensionszimmer in Breslau im Voraus bezahlt, hätte es sich bei der Pensionswirtin nicht um eine Jüdin gehandelt, würde Charly immer noch in Prag sitzen und denken, Fritze gehe es gut, er habe sich eben nur dafür entschieden, in Deutschland zu bleiben, statt ihr ins Ausland zu folgen.
Doch das hatte er nicht, das hatten andere getan. Die Geheime Staatspolizei hatte Friedrich Thormann in die geschlossene Abteilung der Wittenauer Heilstätten einweisen lassen, aufgrund eines fadenscheinigen psychiatrischen Gutachtens, das ein Amtsarzt der Gestapo verfasst hatte, ebenjener Doktor Gerloff, der schon beim Betreten des Gerichts den im Gang wartenden Staatspolizeibeamten vertraulich zugenickt hatte. Einen der Beamten kannte Charly noch aus der Burg. Michael Steinke hatte seinerzeit, im selben Kommissaranwärterjahrgang wie sie, bei der Kriminalpolizei gearbeitet, einer der unbegabtesten Kriminalisten, denen sie jemals über den Weg gelaufen war.
Sie fragte sich, ob Steinke sich auch an sie erinnerte. Wenn dem so sein sollte, hatte der Mann nichts dergleichen erkennen lassen. Oberkommissar Steinke, auf dessen Anordnung Fritzes Einweisung erfolgt war, hatte bereits als Zeuge ausgesagt. Das psychiatrische Gutachten sei eindeutig und habe ihm keine andere Wahl gelassen. Charly und Theo hatten ihn reden lassen, ohne sich einzumischen, den Gefallen konnten sie dem Amtsarzt nicht tun.
Theo stand auf. „Ich darf darauf hinweisen, Hohes Gericht, dass Frau Rath hier nicht die Rolle einer Rechtsanwaltsgehilfin übernommen hat. Sie vertritt die Rechte von Herrn Thormann ebenso wie ich und genießt mein volles Vertrauen. Ich darf Sie also darum bitten, die Worte aus ihrem Munde ebenso ernst zu nehmen, als kämen sie aus dem meinen.“
„Wie Sie wünschen, Herr Rechtsanwalt“, sagte der Richter, „dann stellen Sie bitte Ihre Fragen. Oder lassen sie stellen.“
Der Amtsarzt warf einen irritierten Blick auf die Richterbank, dann auf Contzen und zuletzt auf Charly, setzte sich aber, als der Richter ihm dies mit einem energischen Wink bedeutete, wieder in den Zeugenstand.
Theo nahm Platz, und Charly stand auf.
„Herr Doktor Gerloff“, begann sie. „Sie messen der Herkunft von Friedrich Thormann einen großen Wert in Ihrer Diagnose bei.“
„Richtig.“
„Ist es denn Ihrer Meinung nach zulässig, rassenhygienische Gesichtspunkte in eine psychiatrische Begutachtung einfließen zu lassen?“
„Es ist nicht nur zulässig, es ist zwingend geboten.“ Der Amtsarzt schaute beifallheischend zum Richtertisch. „Der Wert der Rasse für die Volksgesundheit, auch die psychische Volksgesundheit, kann gar nicht oft und stark genug betont werden. Die Aspekte der Rassenforschung spielen eine weitaus wichtigere Rolle in der Bewertung des Zustandes eines geistig gestörten Menschen als die Hirngespinste irgendeines dahergelaufenen jüdischen Quacksalbers aus Wien.“
„Demnach ist die Vererbungslehre also ein entscheidender Faktor für Ihre Diagnose.“
„Die schädliche Wirkung minderwertigen Erbguts. Selbstverständlich! Die zeigt sich hier ja in aller Deutlichkeit. Sie ist nicht ein, sie ist der entscheidende Faktor!“
Charly nickte. „Haben Sie vielen Dank, Doktor Gerloff“, sagte sie. „Mehr wollte ich nicht wissen.“
Sie setzte sich wieder hin, kritzelte ein paar Notizen in ihre Akte und tuschelte kurz mit Theo Contzen.
Der Amtsarzt schaute irritiert. Sein Blick wanderte zwischen Charly und der Richterbank hin und her. Dann platzte ihm der Kragen.
„Ich weiß nicht, worauf Sie mit Ihrer Fragerei hinauswollen“, rief er und stand auf. „Aber um solche Kinder, die doch nur aufgrund unverantwortlicher Fortpflanzung überhaupt existieren, hat sich der Staat zu kümmern. Und sie aus dem Volkskörper zu entfernen. Eine Einweisung in die Psychiatrie ist in solchen Fällen nicht nur angezeigt, sondern unerlässlich! Wie wollen Sie dem denn sonst Einhalt …“
„Es ist gut, Doktor Gerloff“, unterbrach ihn der Richter. „Wir haben alles Wichtige gehört. Wenn Frau Rath – oder Herr Contzen – keine weiteren Fragen haben, sind Sie aus dem Zeugenstand entlassen.“
„Wir sind fertig“, sagte Charly.
Gerloff, hochrot im Gesicht, warf ihr einen bösen Blick zu und verließ den Saal.
„Wie ich das sehe“, sagte der Richter, „wäre die Zeugenvernehmung hiermit abgeschlossen.“
„Einen Moment noch, Herr Vorsitzender“, sagte Theo Contzen und stand auf. „Wir bitten darum, dass das Gericht einen weiteren Zeugen aufruft.“
„Herr Rechtsanwalt!“ Der Richter blätterte in der Akte. „Auf der Ladungsliste sehe ich keine weiteren Zeugen, daher …“
„Keinen geladenen Zeugen, einen präsenten.“
Der Richter zog die Augenbrauen hoch. „Sie haben einen Präsenzzeugen?“
„So ist es“, sagte Theo Contzen und las den Zettel ab, den Charly ihm zugesteckt hatte. „Wir beantragen, dass Major Friedrich von Randow in den Zeugenstand gerufen wird.“
Der Richter nahm, kaum hatte der Anwalt den Offiziersrang genannt, unwillkürlich Haltung an.
„Befindet sich Major von Randow denn im Gebäude?“
„Jawohl, Herr Vorsitzender“, sagte Theo. „Er wartet draußen im Gang.“
Der Richter räusperte sich. „Gerichtsdiener? Schauen Sie bitte draußen nach Major von Randow und bitten ihn in den Zeugenstand.“
Der Uniformierte neben der Tür salutierte. „Major von Randow in den Zeugenstand, jawohl!“
Er verließ den Saal und kehrte kurz darauf mit einem Mann zurück, dessen Erscheinungsbild unbestritten Eindruck machte: ein silberblonder Hüne in grauer Wehrmachtsuniform, auf dessen Schultern die rot-silbern geflochtenen Epauletten eines Majors prangten. Gemessenen Schrittes trat Randow nach vorn, die Uniformmütze unterm Arm. Kein Laut war zu hören, als der Major den Zeugenstand betrat, alle Blicke ruhten auf dem großen blonden Mann. Ein überzeugender Auftritt, Charly war zufrieden.
Der Richter belehrte den Zeugen vorschriftsgemäß, und Randow hörte sich die Ausführungen ruhig an, machte dazu jedoch ein Gesicht, als werde er gerade aufs Tiefste beleidigt, allein durch das Andeuten der Möglichkeit, er könne eventuell nicht die Wahrheit sagen.
Charly stand auf.
„Können Sie sich kurz vorstellen, Major von Randow?“, bat sie.
Der Major nickte. So ruhig und souverän er auch wirkte, ganz wohl zu fühlen schien er sich in seiner Rolle vor Gericht nicht.
„Mein Name ist Friedrich von Randow, geboren am achtzehnten Mai achtzehnhundertfünfundneunzig auf Schloss Randow in Pommern.“
„Wollen Sie kurz Ihren Werdegang schildern?“
„Meine Kindheit verbrachte ich auf dem elterlichen Schloss. Als ich zwölf Jahre alt war, schickte mich mein Vater, der Familientradition folgend, auf die Hauptkadettenanstalt in Groß-Lichterfelde, wo ich meine militärische Ausbildung durchlief. Im Weltkriege diente ich als Offizier in der dritten Infanteriedivision, zunächst an der Westfront und später an der Ostfront.“
„Für Ihre Verdienste um das Vaterland verlieh Ihre Majestät der Kaiser Ihnen das Eiserne Kreuz erster Klasse …“, fragte Charly.
„Jawohl.“
Sie hasste es, so vaterländisch daherzureden, doch für ihre Zwecke war es nötig.
„Wollen Sie kurz berichten, Herr Major, wie es Ihnen nach dem Krieg ergangen ist?“
„Ungern. Es war keine schöne Zeit.“
„Das war es für die wenigsten hier im Saal, denke ich.“
„Ich war dreiundzwanzig und Oberleutnant. Mein Wunsch war es, weiterhin dem Vaterlande in der Armee zu dienen, doch unsere Division wurde aufgelöst.“
„Und Sie schlossen sich einem Freicorps an.“
„Ich war froh, weiter für die deutsche Sache kämpfen zu können. Im Baltikum.“
„Aber im März zwanzig kehrten Sie nach Berlin zurück.“
„Richtig. Mit meinem Corps. Um die Novemberverbrecher aus der Stadt zu jagen.“
„Was bekanntlich fehlgeschlagen ist …“
„Es war eine große Enttäuschung für mich. Man wusste ja nicht mehr, wie es weitergeht. Mit Deutschland. Mit Preußen. Mit der Armee.“
„Und in dieser Situation haben Sie jemanden kennengelernt.“
„Jawohl. Eine Dame.“
Die Stimme des Majors war leise geworden.
„Eine Dame, bei der Sie Zerstreuung gefunden haben.“
„Wie Sie das ausdrücken! Wir haben uns geliebt, Anna und ich.“
„Anna Thormann.“
„Ja.“
Der Richter merkte auf. Langsam schien ihm zu dämmern, worauf die Sache hinauslief.
„Aber Sie haben Fräulein Thormann nicht geheiratet?“, fragte Charly.
„Nein, das ging nicht.“
„Warum nicht?“
„Nun, es war eine … nicht standesgemäße Verbindung.“
„Eine Verbindung, die Sie gelöst haben. Bevor Sie sich im Dezember neunzehnhundertzwanzig mit einer standesgemäßen Dame verlobt haben. Ihrer jetzigen Frau. Carola von Sternheim.“
„Hören Sie!“ Von Randow wurde wieder lauter. „Ich habe eingewilligt, vor Gericht auszusagen, aber wir müssen hier nicht jedes Detail meines Privatlebens beleuchten. Es geht allein um den Jungen, über den sollten wir reden, über nichts sonst!“
„Sie haben Recht, Major von Randow, reden wir über den Jungen. In welchem Verhältnis stehen Sie zu Friedrich Thormann?“
„Wie meinen Sie das?“
„Nun … verwandtschaftlich.“
Der Offizier zögerte einen Moment. Dann machte er sich gerade und sagte den entscheidenden Satz. „Friedrich ist … nun ja, er ist mein Sohn.“
Im Saal war es für einen Moment so leise, dass man die berühmte Stecknadel tatsächlich hätte fallen hören können.
„Für das Protokoll bitte ich festzuhalten“, sagte Charly in die Stille, „Friedrich Thormann ist der leibliche Sohn von Anna Thormann und Major Friedrich von Randow.“ Sie schaute auf die Richterbank. „Des Weiteren bitte ich das Hohe Gericht zu berücksichtigen: Das amtsärztliche Gutachten fußt, wie Doktor Gerloff soeben erläutert hat, auf der Annahme, dass Friedrich Thormann von minderwertiger rassischer Herkunft sei. Diese Annahme aber ist falsch, das genaue Gegenteil ist der Fall. Und so sehen wir die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt als ungerechtfertigt an und bitten um die schnellstmögliche Entlassung des Jungen.“
Der Richter räusperte sich. „Major von Randow“, begann er. „Haben Sie diese Vaterschaft auch offiziell anerkannt?“
„Jawohl.“
„Und dennoch wurde Friedrich in die Obhut der staatlichen Jugendfürsorge gegeben.“
„Seine Mutter konnte sich nicht um ihn kümmern, sie wurde schwer krank, nachdem sie ihn zur Welt gebracht hatte.“
„Und Sie konnten sich nicht zu Ihrem Sohn bekennen.“
„Ich habe mich zu ihm bekannt.“
Der Richter blätterte in der Akte. „Und dennoch wurde der Junge im April einundzwanzig dem städtischen Waisenhaus Rummelsburg übergeben.“
„Richtig.“
„Herr Vorsitzender!“ Charly stand auf und holte einen großen braunen Umschlag aus ihrer Tasche. „Erlauben Sie, dass ich Ihnen etwas zeige.“
Sie trat an den Richtertisch und holte ein Papier aus dem Umschlag.
„Dieses Schreiben beweist, dass der hier anwesende Major von Randow der leibliche Vater von Friedrich Thormann ist. Es ist ein Vertrag zwischen ihm und dem städtischen Waisenhaus Rummelsburg, dem er seinen Sohn anvertraut, indem er sich zu einer monatlichen Zahlung verpflichtet. Die Summe muss hier nicht öffentlich genannt werden. Aber ich bitte darum, dieses Schreiben zu den Akten zu nehmen.“
Der Richter schob seine Brille zurecht und las. Charly ging zurück zu ihrem Platz.
„Wenn sich das Waisenhaus, wie hier zu lesen ist, zur Diskretion verpflichtet, wie kommt es dann, dass wir hier und heute über dieses Schreiben reden?“
„Wissen Sie, Herr Vorsitzender, ich habe nicht nur Jura studiert, sondern bei der Berliner Polizei auch eine kriminalistische Ausbildung genossen.“
„Ah ja.“
Der Richter wirkte nicht sonderlich erfreut. Eine scheinbar belanglose Angelegenheit, die man schnell vom Tisch zu haben glaubte, hatte plötzlich unerwartete Dimensionen angenommen.
„Das Gericht wird die neue Sachlage eingehend werten“, sagte er. „Die Sitzung ist geschlossen. Die Verhandlung wird nächste Woche Mittwoch fortgesetzt.“
Charly packte die Akte ein und schloss ihre Tasche. Als sie den Saal an der Seite von Theo Contzen verließ, erhaschte sie den Blick von Oberkommissar Steinke, dem man die Vertagung offenbar bereits zugetragen hatte. Der ehemalige Mordermittler, der bei der Gestapo Karriere gemacht hatte, schien Charly nun doch zu erkennen. Und er sah nicht glücklich aus.
2
Glas, Stahl und Beton. Der schlichte moderne Kasten wirkte wie ein Fremdkörper in der altehrwürdigen, stuckbewehrten Häuserreihe. KANT GARAGEN-PALAST stand in großen Buchstaben ganz oben auf der gläsernen Fassade, Werbeschilder für Shell- und Olexbenzin zierten die Einfahrten. Ein Paradies für Automobilisten und eine fremde Welt für Andreas Lange. Der Kriminalkommissar hatte immer noch keinen Führerschein, deswegen saß er auch auf dem Rücksitz des Mordautos. Am Steuer saß ein Kriminalsekretär, Kowalski, der Neue aus Königsberg.
„Hier ist es“, tönte Czerwinski vom Beifahrersitz. „Da vorne links.“
Ein überflüssiger Hinweis, Kowalski hatte den Winker längst gesetzt, doch seit Anton Kowalski Anfang des Jahres vom Polizeipräsidium Königsberg an die Burg gewechselt war, tat Czerwinski so, als müsse er, der altgediente Berliner Bulle, dem Neuen aus der ostpreußischen Provinz zeigen, wo es in dieser Stadt denn langging.
Lange mischte sich nicht ein, schließlich war er Kriminalkommissar und kein Kindergärtner. Außerdem war es kurz vor halb acht, und er hatte noch keinen Kaffee getrunken. Das Telefon hatte geklingelt, als er sich gerade für die Rasur eingeseift hatte, und noch bevor er den Hörer abnahm, wusste er, dass der Anruf vom Alex kam.
„Wir haben einen Leichenfund“, hatte Wiesenkötter vom Bereitschaftsdienst gesagt, „das Mordauto ist schon unterwegs. Die Kollegen müssten in zehn Minuten bei Ihnen sein.“
Sie waren es in neuneinhalb. Lange hatte den Rest seiner Morgentoilette so schnell wie möglich hinter sich gebracht, für einen Kaffee allerdings hatte die Zeit nicht mehr gereicht. Der Wasserkessel hatte gerade zaghaft zu pfeifen begonnen, da hatte es auch schon an der Tür geklingelt. Seine neue Wohnung lag einfach zu nah am Präsidium.
Vor einem Jahr erst war Lange vom Prenzlauer Berg an den Werderschen Markt gezogen, die alte Adresse in der Franseckistraße war nicht mehr standesgemäß. Und insgeheim hatte er, wenn er ehrlich war, mit der Beförderung zum Oberkommissar gerechnet, die meisten aus seinem Jahrgang hatten die schon erfahren dürfen. Doch da tat sich seit Jahren nichts. Niemand sagte ihm, warum er so konsequent übersehen wurde, und das war auch nicht nötig. An seiner Aufklärungsquote konnte es nicht liegen, die war die beste in der ganzen Kriminalgruppe M. Es lag allein daran, dass er bislang weder in die NSDAP noch in die SS eingetreten war, nicht einmal in die SA. Genau wie sein Chef, Oberregierungsrat Ernst Gennat, hatte Andreas Lange sich jeglicher Annäherung an die neuen Machthaber verweigert.
Nun saß er ebenso schlecht gelaunt wie rasiert neben Christel Temme auf der Rückbank des Mordautos und beschäftigte sich vor allem mit der Frage, wann er heute wohl die erste Tasse Kaffee bekommen würde. Sein Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt.
Kowalski ließ den Gegenverkehr passieren und bog in die Einfahrt des Garagenhauses. Czerwinski hatte bereits das Beifahrerfenster geöffnet und zeigte dem Schupo, der unter dem Olex-Werbeschild unauffällig Wache schob, die Dienstmarke der Kriminalpolizei.
Der Blauuniformierte wies in das von Neonlicht erhellte Innere des Gebäudes. „Leiche liegt im dritten. Dahinten geht’s ruff“, sagte er.
Kowalski nickte und steuerte mit solchem Schwung die enge, gewundene Rampe hinauf, dass die Reifen auf dem glatten Betonboden quietschten. Lange konnte das Geräusch kaum ertragen, geschweige denn den Blick aus dem Wagenfenster. Er schloss die Augen.
„Hier darf einem auch keiner entgegenkommen“, meldete sich Czerwinski vom Beifahrersitz.
„Passiert auch nicht“, entgegnete Kowalski. „Außer, einer vertut sich. Die Ausfahrt ist auf einer anderen Rampe.“
„Ach ne?“
„Ach ja. So baut man Parkgaragen. Sowas haben wir in Königsberg auch.“
Czerwinski sagte nichts mehr, er verschränkte die Arme und schaute beleidigt aus dem Fenster.
Etage für Etage schraubte sich das Mordauto nach oben, bis Kowalski im dritten Obergeschoss von der Rampe aufs Parkdeck lenkte. Er stellte den Wagen in respektvollem Abstand zu einer Menschentraube ab, die sich an der Wand vor einer weit geöffneten Fensterreihe gebildet hatte: drei Schupos und eine Handvoll Zivilisten, die sich um etwas scharten, das man nicht sehen konnte.
Lange stieg aus und öffnete der Stenotypistin den Wagenschlag, die so viel Zuvorkommenheit mit einem scheuen Lächeln beantwortete. Dann erteilte er seine Befehle.
„Czerwinski, holen Sie den Fotoapparat aus dem Wagen. Kowalski, Sie und Fräulein Temme kommen mit mir.“
Czerwinski schien einen Protest auf den Lippen zu haben, doch Lange ignorierte das, setzte seinen Hut auf und ging zu den Schupos hinüber.
„Kriminalkommissar Lange, Mordkommission“, stellte er sich vor. „Wer ist denn hier der befehlshabende Beamte.“
„Melde gehorsamst, das bin ich, Kommissar“, sagte ein Mann mit akkurat gestutztem Schnauzbart, „Oberwachtmeister Bertram, hundertzweiundzwanzigstes Revier.“
Bevor Lange etwas sagen konnte, riss Bertram den rechten Arm hoch. „Heil Hitler, Kommissar!“
Lange quittierte den Deutschen Gruß mit einem Nicken und schaute auf den Betonboden. Dort lag ein athletisch gebauter, dunkelhaariger Mittdreißiger, der einen eleganten, aber dreckverschmierten Anzug trug, jedoch keinen Hut. Aus dem bleichen Gesicht starrten zwei leblose blaue Augen an die Betondecke.
„Wegen dem da sind wir geholt worden“, sagte Bertram.
„Wer hat die Leiche denn gefunden?“
„Der Herr da mit der Chauffeursmütze.“
Die Beschreibung war unvollständig. Der hagere Mann, auf den Oberkommissar Bertram mit seinem fleischigen Zeigefinger wies, trug außer der grauen, mit goldener Kordel verzierten Schirmmütze auch Lederstiefel, Lederhandschuhe und einen eindrucksvollen, von zwei Knopfreihen zusammengehaltenen dunklen Mantel. Kompletter konnte man als Chauffeur nicht eingekleidet sein.
„Gestatten, Meinecke“, stellte sich der Mann vor. „Stefan Meinecke. Ich fahre Herrn Carlsen.“
„Carlsen? Ist das der Mann da auf dem Boden?“
„Gott bewahre! Nein! Das muss ein Selbstfahrer sein.“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Nun, es ist jedenfalls keiner von uns. Die Kollegen kenne ich alle. Wenn wir Pause haben, sitzen wir unten im Groschenkeller zusammen.“
„Wer ist wir?“
„Na, die Chauffeure, die hier arbeiten. Noch. Werden ja immer weniger. Die meisten Herren steuern ihre Automobile lieber selbst.“
„Und als Sie heute morgen zur Arbeit kamen, lag der tote Mann dort auf dem Parkplatz?“
„Ne, da habe ich ihn ja erst hingebracht. Er saß im Auto. Da drüben.“
Meinecke zeigte auf eine hellgrüne Stahltür, die halb zur Seite geschoben war. Im Inneren der Garagenbox war ein dunkelgrüner Opel Olympia zu erkennen, dessen Fahrertür offenstand.
„Sie haben den Mann also bewegt?“
„Natürlich. Ich musste ihn doch da rausholen, hätte ja sein können, dass er noch lebt.“
„Und?“
„Wie: Und?“
„Lebte er noch?“
„Ne, der war tot. Ist ja auch kein Wunder bei so viel Abgasen.“
„Nun mal langsam: Was genau ist passiert?“
„Ich war in der Garage, um unser Automobil abzuholen.“
„Wann?“
„Ziemlich früh, so gegen sechse. Wollte den Wagen noch waschen, bevor ich Herrn Carlsen ins Büro fahre.“ Meinecke wies auf eine geschlossene Garagenbox, auf deren Tür die Zahlen 313 gemalt waren. „Da drinne steht unsere Adler-Limousine. Also: die von Herrn Carlsen.“
„Solche Einzelheiten interessieren im Augenblick nicht.“
„Wie Sie meinen. Jedenfalls: Als ich aufschließen will, höre ich aus der Garage nebenan einen Motor im Leerlauf tuckern. Obwohl die Tür fest verschlossen war. Sowas ist ja gefährlich.“ Der Chauffeur zeigte auf eines der Schilder, die in regelmäßigen Abständen an den Wänden des Garagenpalastes hingen.
MOTOR ABSTELLEN. VERGIFTUNGSGEFAHR.
„Und?“, fragte Lange.
„Ich habe geklopft. Hat aber niemand reagiert. Die Gase kamen schon durch den Türschlitz, also bin ick runter zur Pforte, die haben ja für alles einen Schlüssel, und bin mit Herrn Mölders so schnell es ging wieder hoch.“
„Moment, wer ist das?“
„Einer von den Garagenwärtern hier.“
Lange notierte sich den Namen.
„Jedenfalls“, fuhr Meinecke fort, „haben wir aufgeschlossen, und ick bin rein, hab mir ein Taschentuch vor die Neese gehalten, bin hin zum Auto und hab den Motor abgestellt. Und dann den Mann so schnell es ging aus der Garagenbox gezogen, die war ja schon völlig vernebelt.“
„Wo haben Sie den Mann denn vorgefunden?“
Meinecke schaute ihn an, als habe er in seinem ganzen Leben noch keine idiotischere Frage gehört. „Na, hinterm Steuer natürlich. War doch ein Selbstfahrer. Hatt ick Ihnen dette nich jesacht?“
Lange ließ sich von der eigenwilligen Berliner Freundlichkeit nicht irritieren, schließlich lebte er schon seit sieben Jahren in der Stadt. „Er saß also noch im Auto“, sagte er.
„Ja. Ist wohl zu lange sitzen geblieben. Und hat den Motor nicht ausgemacht. Selbstfahrer eben. Die wissen ja gar nicht, wie gefährlich so ein Automobil ist.“
„Und dann? Nachdem Sie den Mann aus der Garage gezogen haben?“
„Na, Mölders hatte inzwischen die Fenster hier aufgerissen. Da haben wir den Mann hingelegt, an die frische Luft. Hab noch Wiederbelebung versucht, war aber zwecklos.“
„Gibt es dafür weitere Zeugen?“
„Na, Herrn Mölders eben. Sonst wüsste ick keenen. Alle anderen kamen später, da war die Polente schon da. Also: Ihre Kollegen.“
Lange nickte. „Danke, Herr Meinecke. Das reicht fürs Erste. Wir müssen Sie gleich noch ausführlicher befragen. Halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung.“
„Aber …“ Meinecke schaute auf die Uhr. „Wie lange wird das denn dauern? Herr Carlsen …“
„Ihr Chef, fürchte ich, wird sich heute eine Kraftdroschke gönnen müssen.“ Lange wandte sich an den Kriminalsekretär. „Kowalski, kümmern Sie sich doch bitte um Herrn Meinecke. Und prüfen Sie, ob es noch weitere Zeugen gibt, insbesondere diesen Herrn Mölders. Ich schaue mir den Fundort derweil genauer an.“
„Jawohl, Herr Kommissar.“
Kowalski nahm sich des Chauffeurs an, der auch nicht glücklicher dreinschaute, als er es mit einem neuen Gesprächspartner zu tun bekam, und Lange wandte sich der Garage mit dem grünen Opel zu. Das stählerne Tor war zwar ein ganzes Stück zur Seite geschoben, ungefähr so weit, dass ein Mensch gut hindurchpasste, dennoch musste Lange sich ein Taschentuch vor Mund und Nase halten, als er hineinging und an den Wagen trat. Die Fahrertür stand offen, der Zündschlüssel steckte. Der Olympia war ein neueres Modell, von Opel eigens anlässlich der Olympischen Spiele herausgebracht.
Etwas Ungewöhnliches konnte Lange auf den ersten Blick nicht feststellen. Aber er merkte, dass ihm das Atmen immer schwerer fiel; das Taschentuch half nicht viel, er musste zurück an die frische Luft. Draußen schaute er sich die Konstruktion an und notierte die Nummer auf dem Garagentor. 314. Die Schiebetore liefen auf stählernen Schienen und verschwanden in geöffnetem Zustand komplett in den Seitenwänden der Garagenboxen. Sehr platzsparend.
Drüben bei der Leiche hatte Kriminalsekretär Kowalski damit bgonnen, die Zeugen zu befragen. Zwei Schupos hatte er an den Treppenhauszugängen postiert, um weitere Schaulustige fernzuhalten. Wer eine Garage in der dritten Etage sein Eigen nannte, der hatte heute morgen Pech gehabt. Eine Todesfallermittlung durfte nicht gestört werden; eine Selbstverständlichkeit, von der die Schutzpolizei im 122. Revier noch nichts gehört zu haben schien. Doch Kowalski war dabei, Ordnung ins Chaos zu bringen und die Menschentraube aufzulösen.
Czerwinski hatte es derweil immerhin fertiggebracht, die Kamera aufzubauen, und begann, die Leiche zu fotografieren.
„Nicht den Toten, Czerwinski!“, rief Lange.
Der dicke Kriminalsekretär schaute ihn irritiert an.
„Nicht die Leiche fotografieren. Das ist nicht die Auffindesituation. Wir brauchen Bilder aus Garage drei-eins-vier.“
Czerwinski murrte etwas Unverständliches, schulterte dann aber das Stativ und trottete zur Garagenbox hinüber.
„Machen Sie Aufnahmen von dem Opel“, sagte Lange. „Innen und außen. Und von der Garage selbst.“
Czerwinski versuchte, den Fotoapparat durch den Türspalt zu hieven, und verhakte sich mit dem Stativ.
Da hallte eine Stimme durch den Raum.
„An Ihrer Stelle würde ick damit noch ein bisschen warten.“
Lange drehte sich um. Dort stand ein Mann mit schütterem Haar, der einen grauen, groben Einteiler trug, auf dessen linker Brust ein Aufnäher mit den gelbgestickten Buchstaben KANT GARAGEN-PALAST prangte.
„Da drinne is noch allet voll mit Abjasen“, fuhr der Garagenmann fort. „Bevor Se da rinjehen, solltense erst ma jut lüften. Die Schilder hängen ja nich umsonst hier, wa?“
Czerwinski blieb stehen, das Stativ geschultert, und schaute seinen Vorgesetzten an.
„Sie sind hier angestellt?“, fragte Lange den Störenfried.
„Sieht man det nich?“
„Und Ihr Name?“
„Mölders. Erwin.“
„Sie haben Herrn Meinecke die Garage dreihundertvierzehn aufgeschlossen?“
„Richtig.“
„Prima, Herr Mölders, wir müssen uns unterhalten. Haben Sie auch einen Büroraum oder so etwas?“
„Sicher. Unten.“
„Das trifft sich gut. Wir brauchen einen Raum, in dem wir ungestört Zeugen vernehmen können.“
„Zeugen vernehmen? Können Se det nich am Alex machen?“
„Wenn Sie mit uns zum Alex kommen wollen, dann gerne.“
„Wie? Bin icke denn Zeuge? Ick hab nüscht jesehen. Nur die Jaraasche uffjeschlossen.“
„Glauben Sie mir, Sie sind Zeuge. Dann lassen Sie uns mal nach unten gehen. Und wenn Sie irgendwo noch eine Tasse Kaffee auftreiben könnten?“
Eine Viertelstunde später saß Andreas Lange sogar vor einem ganzen Kännchen. Erwin Mölders hatte sie in ein nach Motoröl riechendes Büro geführt und einen Kollegen zum Kaffeeholen in die benachbarte Kneipe geschickt, den Groschenkeller, von dem Meinecke bereits gesprochen hatte. Lange schenkte Kaffee nach und trank. So langsam wurde er wach.
Als Erstes vernahm er den Chauffeur noch einmal und ließ dessen Aussage von Christel Temme stenografieren. Kowalski stand an der Tür und hörte aufmerksam zu. Lange hatte ihn mit nach unten genommen, nachdem der Kriminalsekretär die Personalien sämtlicher Anwesenden aufgenommen und die Schaulustigen von den Zeugen getrennt hatte. Wobei die meisten Schaulustigen darauf bestanden hatten, gar keine zu sein, sondern nur ihr Auto abholen zu wollen. Kowalski hatte sie alle fortgeschickt. Ohne Auto. Letzten Endes waren tatsächlich nur zwei brauchbare Zeugen übriggeblieben, der Chauffeur Stefan Meinecke und der Garagenwärter Erwin Mölders.
Erst nachdem Meinecke seine Aussage gemacht hatte, die sich im Wesentlichen mit dem deckte, was er schon auf dem Parkdeck erzählt hatte, war Mölders an der Reihe. Der Parkhausangestellte, sichtlich unglücklich mit der Situation, die Polizei im Haus zu haben, konnte die Schilderungen des Chauffeurs bestätigen: Gegen viertel sieben sei Meinecke ganz aufgeregt im Büro aufgekreuzt, weil da jemand in einer verschlossenen Garage seinen Motor laufen lasse. Er, Mölders, sei mit dem Schlüsselbund hoch und habe die Box aufgeschlossen, Meinecke habe sich todesmutig hineingestürzt, den Motor abgestellt und den Fahrer aus dem Auto gezogen.
„Und Sie?“, fragte Lange.
„Icke? Hab die Fenster uffjerissen, wa? Is ja saujefährlich, det Zeuch.“
„Kohlenmonoxid.“
„Richtich. Sieht man ja auch an dem armen Rekowski.“
„An wem?“
„Klaus von Rekowski. Der Tote. Sie wissen wohl noch jar nüscht, wa?“
„Sie kennen den Mann?“, fragte Lange.
„Natürlich. Ick kenne all unsere Mieter. Und deren Chauffeure, falls die noch welche haben. Aber et jibt ja fast nur noch Selbstfahrer.“
„Und Herr von Rekowski war ein Selbstfahrer?“
„Sonst wäre ja wohl sein Chauffeur jestorben und nich er.“
„Hat der Mann noch gelebt?“
„Ne, der war mausetot. Meinecke hat Herzmassage jemacht und Mund-zu-Mund-Beatmung und so, aber da war nüscht mehr zu machen.“
„Und dann?“
„Na, icke runter und Ihre Kollegen anjerufen.“
„Das haben Sie genau richtig gemacht.“
„Schön. Nu sind Se ja ooch hier. Aber wie lange wollen Se eijentlich noch bleiben? Sie blockieren mir hier den janzen Betrieb.“
„Eine kriminalpolizeiliche Untersuchung braucht ihre Zeit.“
„Alle Automobilisten aus der Nachbarschaft jehören zu unseren Kunden. Die müssen doch irjendwohin mit ihren Fahrzeugen. Wat sollen die denn machen? Unter der Laterne parken und eenen Strafzettel riskieren? Wie sollen det aussehen, wenn die alle am Straßenrand parken? Stellen Sie sich det doch mal vor: die Kantstraße rechts und links mit Autos zujeparkt. Warum, meinen Se, jibt’s denn solche Großgaragen wie die unsere?“
Lange ließ den Redeschwall tapfer über sich ergehen. „Tut mir leid, Herr Mölders“, sagte er dann, „aber das kann ich Ihren Kunden nicht ersparen. Allerdings könnte ich die Kollegen von der Schutzpolizei anweisen, dass sie beim Ahnden von Laternenparkern in den nächsten Tagen hier in der Gegend etwas gnädiger vorgehen.“
Mölders sagte nichts, aber er sah nicht glücklich aus.
„Ist so etwas hier schon einmal passiert?“, fragte Lange. „Dass jemand bei laufendem Motor in seinem Auto erstickt ist?“
„Hier nicht. Soll aber vorkommen, wa? Det eener, der nich mehr leben will, sich seine Abjase direktemang vom Auspuff ins Auto leitet.“
Lange horchte auf. Meinecke war von einem Unfall ausgegangen. Ein Fahrer, der bei laufendem Motor zu lange in seinem Fahrzeug sitzen geblieben war.
„Könnten Sie sich das bei Herrn von Rekowski auch vorstellen?“, fragte er. „Dass es Selbstmord war?“
„Schwerlich.“
„Sie sind sich da sehr sicher. Kannten Sie ihn so gut?“
„Sie können ja mal kieken, inzwischen sollte man wieder rinkönnen in die Box. Dann sehense ja, ob da ’n Schlauch is oder so. Ick denke eher nich.“
Lange nahm seine Kaffeetasse und stand auf.
„Gut, Fräulein Temme, dann gehen wir mal nach oben und schauen uns die Sache an.“
„Jut, kann icke dann wieder an die Arbeit?“
„Sie kommen mit, Herr Mölders. Die Vernehmung ist noch nicht beendet.“
Missmutig folgte Erwin Mölders ihnen nach oben. Czerwinski hatte die Garagenbox inzwischen gut durchgelüftet und beide Türen ganz beiseitegeschoben. Das war auch das einzige, was er geändert hatte; der Opel stand genauso da wie vorhin, mit geöffneter Fahrertür. Auch die Leiche lag noch an ihrem Platz bei den Fenstern. Allerdings hatte sich gerade ein hagerer Mann im weißen Kittel darübergebeugt.
„Keine besonderen Vorkommnisse“, sagte Czerwinski eilfertig, kaum war Lange mit den anderen aus dem Treppenhaus getreten. „Nur Doktor Karthaus ist gerade gekommen.“
„Unübersehbar“, meinte Lange und ging hinüber. „Schon irgendwelche Erkenntnisse, Doktor?“
Karthaus schaute auf. „Nun mal langsam mit den alten Pferden. Habe mir den Mann ja gerade erst angeschaut. Die genaue Diagnose bekommen Sie nach dem Bluttest.“
„Und die ungenaue Diagnose?“
„Totenflecken von hellroter Färbung. Deutet auf eine Kohlenstoffmonoxidvergiftung hin.“
„So weit waren wir auch schon.“
„Na, was fragen Sie dann?“, sagte Karthaus unwirsch und leuchtete dem Toten mit einer kleinen Taschenlampe in die weit geöffneten Augen. „Gehen Sie von einem Unfall aus? Oder war es ein Suizid?“
„Genau das wollen wir uns gerade anschauen.“
Lange betrat die offene Garagenbox und schnupperte vorsichtig. „Wie kann ich denn sicher sein, Doktor, dass man die Luft hier wieder atmen kann?“
„Riechen können Sie das nicht. Aber solange Sie keine Kopfschmerzen bekommen, Ihnen nicht übel wird und Sie nicht tot umfallen, sollte es gehen.“
Niemand lachte. Bei Karthaus konnte man nie sicher sein, ob so etwas als Witz gemeint war oder bierernst.
„Dann können Sie jetzt wohl loslegen, Czerwinski“, sagte Lange. „Sie haben den Doktor gehört: Sollten Sie tot umfallen, sagen Sie bitte Bescheid.“
Der Kriminalsekretär schulterte das Stativ und verfrachtete den Fotoapparat in die Garagenbox, während Lange den Opel unter die Lupe nahm. Ein Schlauch war nirgends zu sehen, weder im Innenraum noch am Auspuff.
„Sie scheinen recht zu haben“, meinte er zu Mölders, der sich die ganze Sache unbeeindruckt anschaute. „Sieht nicht nach Suizid aus.“
„Det jeht ooch ohne Schlauch, wenn die Garage nur schön dicht verrammelt ist. Aber trotzdem jloobe ick nich an Selbstmord.“
„Sie meinen, Rekowski ist hinter dem Steuer eingeschlafen?“
„Ne. Blödsinn. War ja abjeschlossen, und jenau det wundert mir.“
„Wieso?“
„Na, erstens: Warum sollte eener seine Garage abschließen, wenn er drinne is? Und zweitens: Selbst wenn er wollte, könnte er det jar nich. Unsere Garagenboxen lassen sich nur von außen abschließen.“
„Und das sagen Sie mir erst jetzt?“
„Vorher haben Se ja nich danach jefragt.“
„Das heißt, jemand muss Herrn Rekowski in seiner Garage eingeschlossen haben.“
„Anders isses nich möglich. Er selber kann’s jedenfalls nich jewesen sein. Außer er kann durch Wände jehen.“
„Verdammt, Herr Mölders“, sagte Lange. „Sie wissen, was das bedeutet?“
„Nö.“
„Die Polizei wird Ihre schöne Parkgarage noch etwas länger sperren müssen. Wir haben es jetzt mit einer Mordermittlung zu tun.“
Mölders riss die Augen auf und machte Anstalten, etwas zu sagen, winkte dann aber ab. Mittlerweile schien er sich in sein Schicksal zu fügen.
Lange winkte Kowalski heran. „Lassen Sie sich von Herrn Mölders einen Fernsprecher zeigen, und rufen Sie am Alex an. Wir brauchen den ED für eine umfangreiche Spurensicherung im ganzen Gebäude. Das hier war kein Unfall. Und auch kein Suizid.“
Kowalski verschwand mit Mölders im Treppenhaus. Lange wartete, bis Czerwinski mit dem Fotografieren in der Box fertig war, dann zog er seine Handschuhe über und schaute sich das Innere des Wagens an. Auf der Rückenlehne der vorderen Sitzbank entdeckte er einen dunklen Fleck und tippte mit der Fingerspitze darauf. Der weiße Stoff seines Handschuhs färbte sich rot. Das war tatsächlich Blut. Noch nicht ganz geronnen. Ihn wunderte, dass sich der Blutfleck auf der Beifahrerseite befand, Meinecke hatte doch ausgesagt, der tote Rekowski habe hinter dem Steuer gesessen, also auf der Fahrerseite.
Lange kniete auf dem weichen Polster der Sitzbank und warf einen Blick in das Handschuhfach. Darin lagen tatsächlich Handschuhe, zudem eine Brieftasche, aus demselben schwarzen Leder gefertigt. Lange klappte sie auf und fand diverse Ausweispapiere, alle ausgestellt auf den Namen Klaus von Rekowski, einen Führerschein, einen Reisepass und einen Mitgliedsausweis. Darauf war der Tote in einer schwarzen Uniform abgelichtet. Klaus von Rekowski war Hauptsturmführer bei der Schutzstaffel. Lange steckte seinen Fund in eine Beweissicherungstüte und seufzte. Ein SS-Mann. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.
Er suchte weiter, aber Hutablage und Rücksitz waren leer, ebenso der Fußraum. Unter der vorderen Sitzbank jedoch ertastete er einen kleinen Gegenstand auf der Beifahrerseite und kramte ihn hervor. Ein Lippenstift. Guerlain Paris stand in feinen Buchstaben auf der Hülle. Ne m’oubliez pas. Und das im Wagen eines SS-Offiziers. Frauen, die sich die Lippen anmalten, waren im neuen Deutschland eigentlich verpönt. Von Rekowski jedoch schien kein Faible für ungeschminkte, blondbezopfte Gretchen gehabt zu haben. Lange konnte ihn verstehen. Er tütete auch diesen Fund ein und tastete den Fußraum unter der Sitzbank weiter ab, bis seine Fingerspitzen an etwas Weiches stießen. Textil. Ein Stück Stoff. Mit spitzen Fingern zog er es hervor und betrachtete es. Ein Taschentuch. Ein weißes, zerknülltes Taschentuch mit einer filigranen goldfarbenen Stickerei, die einen Schlüssel zeigte, der mit einem Anker über Kreuz lag. Lange wollte das Tuch schon eintüten, da bemerkte er den Duft, der von dem weißen Leinen ausging. Der Kommissar führte das Taschentuch vorsichtig an seine Nase und schnupperte. Unangenehm süßlich. Ein Geruch, den er kannte. Von seinem Zahnarzt.
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