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Über Leben Über Leben Über Leben - eBook-Ausgabe

Reinhold Messner
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„Selten habe ich ein so überzeugendes Plädoyer für Freiheit, Spiel und Eigenverantwortung gelesen wie diese Memoiren Reinhold Messners.“ - Der Tagesspiegel

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Über Leben — Inhalt

Wie riecht Heimat? Wie viel Freiraum braucht ein Kind? Wie überlebenswichtig sind Angst, Egoismus und Instinkt? Reinhold Messner skizziert in Etappen seinen Weg vom Südtiroler Bergbub zum größten Abenteurer unserer Zeit, zum kampflustigen Politiker, engagierten Bauern, Wanderfreund von Managern und Politikern, zum Gründer einer einzigartigen Museumslandschaft, zum Ehemann, vierfachen Vater und Familienmenschen. In ungezählten Expeditionen hat er ausprobiert, wie Überleben funktioniert. Freimütig hält er heute Rückschau auf sieben Jahrzehnte, die schon früh von extremen Naturerlebnissen und Begegnungen mit dem Tod geprägt waren, schreibt über Ehrgeiz und Scham, Alpträume und das Altern, über Neuanfänge und über die Fähigkeit, am Ende loszulassen.

€ 26,00 [D], € 26,80 [A]
Erschienen am 01.09.2014
336 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-89029-450-6
Download Cover
€ 18,00 [D], € 18,50 [A]
Erschienen am 01.03.2016
336 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-40594-2
Download Cover
€ 15,99 [D], € 15,99 [A]
Erschienen am 01.09.2014
336 Seiten
EAN 978-3-492-96877-5
Download Cover

Leseprobe zu „Über Leben“

Vorbemerkung

Wie oft habe ich beschrieben, was ich fühlte, wenn ich ganz oben auf dem Gipfel stand; wie ich es meinte mit meiner Art von Abenteuern; wie viel sie mir bedeuten. So bin ich in den Augen meiner Zuhörer und Leser immerfort der eine, der Grenzgänger geblieben.

Heute trainieren Millionen Klettersportler in der Halle, andere reisen zum Bouldern nach Südafrika, zum Kindergeburtstag und zu Incentive-Veranstaltungen für Manager trifft man sich im Hochseilgarten: Man hängt an Leitern, klettert über Abgründe, lässt sich von Brücken fallen. Alle diese [...]

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Vorbemerkung

Wie oft habe ich beschrieben, was ich fühlte, wenn ich ganz oben auf dem Gipfel stand; wie ich es meinte mit meiner Art von Abenteuern; wie viel sie mir bedeuten. So bin ich in den Augen meiner Zuhörer und Leser immerfort der eine, der Grenzgänger geblieben.

Heute trainieren Millionen Klettersportler in der Halle, andere reisen zum Bouldern nach Südafrika, zum Kindergeburtstag und zu Incentive-Veranstaltungen für Manager trifft man sich im Hochseilgarten: Man hängt an Leitern, klettert über Abgründe, lässt sich von Brücken fallen. Alle diese Großstadtabenteurer sind auf der Suche nach Emotionen, nach der Mutprobe, nach dem Kick. Alle wollen an ihre Grenzen gehen – aber bitte risikofrei und doppelt gesichert: auf TÜV-geprüften Klettersteigen, abgesicherten Pisten, im sorgfältig ausgeschilderten Als-ob-Gefahrenraum, einer vorgetäuschten Wildnis, die wie der Rest der zivilisierten Welt längst urbanisiert ist.

Wild sein ist heute vielfach nur Attitüde, Programm, auch weil es die Wildnis draußen kaum noch gibt. Man erzählt gerne von seinen „wilden Jahren“, macht „wilde Sachen“ und hat „wilde Ziele“. Immer aber im Rahmen des Vertretbaren, in kleinen Dosen, mit Netz und doppeltem Boden. So nur vertragen sich gezähmte Wildnis und gezähmtes Leben. Alles andere wäre doch gegen jede Vernunft, unverantwortlich, ja unmoralisch. Mir aber geht es um die Natur des Menschen, über das Hier und Jetzt hinaus, um einen Einblick über das domestizierte Dasein hinaus.

Zu meinem Menschenbild gehört die Autonomie des Individuums. Bin ich doch ein Leben lang gegen Willkür und Gängelung eingetreten. Das selbstbestimmte Dasein bleibt mir heilig, und deshalb befürchte ich mit der Digitalisierung aller Lebensbereiche einen Verlust an Freiheit. Das Mehr an Effizienz, Sicherheit und Tempo dabei wird aufgewogen durch ein Weniger an Lebensqualität, Demokratie und Menschlichkeit.

Ich habe mich nie „vernünftig“ verhalten, und mein Unterwegssein in der Wildnis war oft jeder Kontrolle entzogen. Mag sein, dass „richtiges“ Verhalten der Einzelnen billiger für die Gesamtheit ist als das Leben selbstbestimmter Individuen, deshalb aber will ich nicht einer totalen Kontrolle unterzogen werden, zur Summe der Daten gehören, die uns in Summe zu einer determinierbaren, nutzbaren, angepassten Konsumgesellschaft machen.

Auch einer direkten Demokratie mit ständigem Online-Voting kann ich als Demokrat nichts abgewinnen. Wo bliebe die Verantwortung der Politiker? Und wo die Möglichkeit der Reflexion? Dem individuellen Menschen gilt meine Neugier, und diesem begegne ich nur noch in jenem Rest der urbanisierten Welt, wo weder Religion noch Politik noch Technologie und Information hinreichen.

Abenteuerreisen, Extremsport und Aktivurlaub sind heute gefragt wie nie zuvor. Vielleicht, denke ich, steckt unbewusst der Wunsch dahinter, durch ein Fenster zurück auf unser früheres menschliches Dasein zu schauen. Um zu erfahren, wie es einst war mit uns und unseren Möglichkeiten? Wenn wir uns die Zeitspanne von sechs Millionen Jahren Menschheitsevolution vorstellen, sind 100 Jahre natürlich nichts. Selbstverständlich sind überall auf der Welt und in allen Kulturen allmähliche Veränderungsprozesse abgelaufen, im „zivilisierten“ Teil der Welt aber fand dieser Wandel beschleunigt statt, in der Wildnis allmählich. Der Begriff „allmählich“ ist dabei relativ, die nicht einmal 10 000 Jahre alte Stadtkultur ist lediglich ein Augenblick in einem Zeitraum von Millionen von Jahren. Unsere Menschwerdung fand also großteils im Nomadendasein statt, das genetisch immer noch tief in uns steckt. Viele Gesellschaften haben in jüngster Zeit so tief greifende Veränderungen durchgemacht, dass das Erfahren dabei nicht mitkommen konnte und frühes Wissen mehr und mehr abhandenkommen musste.

Nicht nur, weil ich im ländlichen Raum der westlichen Welt aufgewachsen bin und später bei meinen Expeditionen viele Aspekte traditioneller Gesellschaften kennengelernt habe, bin ich in einen unverwechselbaren Lernprozess über das Leben geworfen worden – ich bin auch ein Leben lang neugierig geblieben. Ohne es zu wissen, habe ich – im Grunde wie der Urmensch – in ungezählten Expeditionen ausprobiert, wie Überleben funktioniert: In archaischen Räumen geschieht das Erlernen von Leadership, Risikomanagement, Überlebenskunst automatisch. Denn das Zusammenspiel mehrerer Gruppen unter lebensgefährlichen Bedingungen ist der Menschennatur unterworfen, nicht irgendeiner Moral. Ich habe meine Experimente nicht gezielt und unter Kontrolle unternommen, nicht mit der Absicht zu beobachten, was passiert, wenn ich etwas wage. Immer aber habe ich aus dem, was tatsächlich geschah, lernen können. Zu Beginn unbewusst, später mit immer größerer Neugier. So beobachtete ich, wie ich in schwierigen Situationen ticke, wie Partner/innen unter extremen Bedingungen reagieren, was die Natur von uns fordert. So bin ich zu meiner Lebenserfahrung, ja auch zu meiner Lebenshaltung gekommen.

Das Instinktverhalten des modernen Homo sapiens, der in Zigtausend Jahren das gemeinsame Überleben lernte, hat unsere Welt – unsere Gene, unsere Kultur, unser Verhalten – nachhaltiger geprägt, als wir ahnen können. Alles Soziale – von den ersten Formen des Zusammenlebens in Gruppen über alle späteren Stadtregierungen bis zu den Staatsformen heute – entwickelte sich aus Notwendigkeiten heraus. Vor gut 5000 Jahren kamen wohl erste Regeln eines religiösen und zivilen Miteinander auf. Aber auch die Welt davor ist Teil von uns geblieben. In vielerlei Hinsicht steckt in uns allen immer noch etwas vom Urmenschen. Auch wenn wir glauben, den einstigen Nomaden in uns überwunden zu haben, bleiben wir immer auch die, die wir einst waren. Sogar gegen unseren Willen. In unserer Wahrnehmung der Welt, unseren Erfahrungsprozessen und erfolgreichen Überlebensstrategien mögen wir zwar vernetzte Weltbürger sein, gleichzeitig bleiben wir aber doch Frühmenschen. Wenigstens in unserem Unterbewusstsein und in unseren Genen steckt mehr von einem Tier, als viele von uns wahrhaben wollen.

Ich lernte das Leben in der Kombination einer doppelten Wahrnehmung: unterwegs in sogenannten primitiven Gesellschaften und in unserer urbanen Welt. Als stecke in der Summe von Wissen und Instinkt viel Überlebenspotenzial, lasse ich Ratio und Emotion zu. Wie weit dies für den Städter von heute wertvoll sein könnte, muss ich offenlassen, ein möglichst breiter Ausschnitt der menschlichen Erfahrungsvielfalt kann unter bestimmten Umständen allerdings nicht schaden. Für mich waren die Wildnis und das zeitweise Unterwegssein in traditionellen Gesellschaften jedenfalls wichtiger als die Schule. Meine Sicht auf die Welt und die Menschennatur wurde durch meine Abenteuer geprägt. Vor allem Gefahren haben mein Leben bereichert. Die weltweite Vorherrschaft der urbanen Kultur hat sich dank technischer, politischer und militärischer Überlegenheit zwar Vorteile gesichert, trotzdem fanden moderne Industriegesellschaften keine überlegenen Methoden des Zusammenlebens, des Interessenausgleichs, der Gerechtigkeit. Auch Kindererziehung oder Altersgestaltung liegen weiterhin im Argen. Bei Meinungsverschiedenheiten in der Wildnis fand ich immer zu einem Kompromiss, sei es mit den Einheimischen oder mit meinen Partnern. Streit in der Zivilisation hingegen findet oft kein Ende – als würden Lösungen gesellschaftlicher Konflikte in hoch entwickelteren Zivilgesellschaften zunehmend schwieriger. Vielleicht weil die Fragen falsch gestellt werden?! Ich will keine Antwort auf die alte Frage: Was ist der Mensch? Mir ist die Erkenntnis wichtig, wie er tickt. Wir müssen doch weiterhin Antworten darauf finden, wie die Menschen gemeinsam überleben können. Es ist die Frage, die seit Jahrhunderttausenden gestellt wird.


I

ÜB ERLEBEN

„Ich beobachte mich und verstehe dadurch die anderen.“

Laotse


1 Kindheit

Im Frühsommer 1945 trugen meine Eltern den älteren Bruder Helmut und mich auf die Brogles-Alm unter den Fermeda-Türmen. Wir Kinder litten an Keuchhusten, die Höhenluft sollte uns guttun. Mein Vater – wenige Wochen zuvor erst aus dem Krieg zurückgekehrt, den er zuletzt als Dolmetscher beim Rückzug der Wehrmacht in Italien überlebt hatte – holte Holz aus dem nahen Wald, ging auf die Jagd und einmal in der Woche ins Tal, wo er im kleinen Dorfladen des Schwiegervaters das Allernötigste einkaufte, um mit seiner noch kleinen Familie hoch oben in den Bergen überleben zu können. Ich kenne diese Geschichte nur aus Erzählungen und von ein paar Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die sie belegen: zwei Kleinkinder mit ihrer Mutter vor steil aufragenden Felstürmen.

Die erinnerte Kindheit beginnt bei mir mit langen Spaziergängen: zum Bärenloch nach St. Jakob, zu den Großeltern nach St. Magdalena, zum Flitzer-Wasserfall oder nach Miglanz, einem stattlichen Hof am Westrand des Tals, wo eine „Dableiber-Familie“ lebte – Bauern, die im Rahmen der Option für das Bleiben in ihrer Südtiroler Heimat gestimmt hatten. Bei unseren Ausflügen war meist nur unsere Mutter dabei, und sie erzählte vom letzten Bären, der 50 Jahre zuvor im Villnößtal geschossen worden war, von Bomben, die im großen Krieg in St. Valentin niedergegangen waren, und vom eiskalten Flitzerwasser, das eine heilende Wirkung habe. Wir füllten Feldflaschen damit und trugen sie im Rucksack nach Hause.

Aufregender waren nur unsere Spiele in Pitzack, einem Straßendorf unterhalb von St. Peter. Wir Kinder waren eine typische Horde, eine Kleingesellschaft, bestehend aus zwei Dutzend Schulkindern beiderlei Geschlechts zwischen vier und zwölf Jahren. Zum Spielen gingen wir in die umliegenden Wälder, zum nahen Bach oder auf den „Bühl“, einen Hügel, der auch als Schulhof diente. Wir spielten nie nach Buben und Mädchen oder Altersgruppen getrennt, wie es in großen Gesellschaften üblich ist, wir waren vielmehr ein einziger großer Haufen. Die einzelnen Großfamilien auf den Bauernhöfen und im Tal kannten einander, und so spielten wir auch in den Unterrichtspausen zwischen Stadeln und immer in Horden – häufig eine Gruppe gegen eine andere. Entscheidungen wurden in Gesprächen getroffen, es gab keine formelle Führerschaft – so wenig wie im Dorfgeschehen, das die Männer nach dem sonntäglichen Kirchgang besprachen. Nur in den Klassenräumen – es war keine Zwergschule; Jugendliche im pubertären Alter gingen nicht mehr zur Schule – und in der Kirche, dem größten Gebäude im Tal, war eine strenge Ordnung vorgegeben.

Damals gab es kaum soziale Unterschiede im Tal, keine Arbeitsteilung, wenig wirtschaftliche Probleme. Auch keine wirkliche Armut. Alle lebten wir sehr bescheiden. Die Talgemeinschaft war egalitär und demokratisch organisiert, wie wir Kinder beim Spielen auch. Alle in der Horde hatten die gleichen Chancen. So bildeten sich Persönlichkeitsstrukturen aufgrund individuell unterschiedlicher Fähigkeiten heraus, die alle respektierten.

Auf ähnliche Hordengesellschaften, wie es sie vor zehntausend Jahren und früher wohl allerorts gegeben haben mag, bin ich später bei meinen Reisen wieder gestoßen: im Hochland von Neuguinea, in Tibet oder Nepal. Hoch oben in kaum zugänglichen Himalaja-Tälern, mit oft weniger als hundert Familien, wo jeder jeden persönlich kannte, war ein Gemeinschaftsleben lebendig geblieben, wie ich es in Villnöß vor bald siebzig Jahren kennengelernt hatte. Es waren weniger die Verwandtschaftsbande oder der Clan als vielmehr die Gesellschaft der einzelnen Fraktionen, die ihr Leben lokal organisierten. Schafe und Jungvieh wurden den Sommer über in größerer Höhenlage auf Gemeinschaftsalmen gehalten, das Holz gemeinsam geschlagen, die Toten gemeinsam begraben. Für das Grünfutter im Tal stand bei jedem Hof eine Scheune, um es für den Winter trocken zu lagern. Für all das brauchte es keine Bürokratie, Rechte und Pflichten waren seit Jahrhunderten mündlich überliefert worden, und jede weitere Entscheidungsfindung ergab sich in persönlicher Unterhaltung. Führungspersönlichkeiten gab es nur insofern, als Erfahrung und Überzeugungskraft bei gemeinsamer Beratung mehr zählten als Unterwürfigkeit. Wir hatten einen Bürgermeister, den Gemeinderat, die Höfekommission. Ich erkannte damals in diesen Gremien keine institutionalisierten Machtmonopole, wohl aber im Pfarrer die oberste Instanz – wegen seiner „gottgewollten“ Stellung. Die Talgemeinschaft basierte weniger auf einer politischen Ideologie als auf einer territorialen und religiösen Identität. Weil aber bei Konflikten unmöglich alle Bewohner beteiligt werden konnten, galt zuletzt, was der Pfarrer, der Bürgermeister – meist der größte Bauer im Tal – und der Lehrer gemeinsam für richtig hielten.

Wir Kinder hatten zu gehorchen. Nur beim Spiel waren wir frei in unserer Lebensäußerung. Unbewusst stellten wir dabei das Leben der Erwachsenen nach, wie es Kinder in Clangesellschaften weltweit immer noch tun. Ihre Spiele sind die Kopie des Erwachsenenlebens.

Im Hochland von Neuguinea, das ich zwanzig Jahre später besuchte, schnitzten die Kinder Krieger und Schweine aus Holz – weil sich im Leben der Erwachsenen alles um Kriege und Schweine drehte. Bei den Massai in Ostafrika waren Rinder der Mittelpunkt des Lebens, und ihre Kinder stellten das Leben der Großen im Kleinen nach: mit Herden, Kogen, Hirten. In Grönland, wo die Männer auf Robbenjagd gingen, waren für die Inuit-Kinder Robben Gegenstand ihrer Spiele. Überall in Clangesellschaften, die ich später kennengelernt habe, bauten Kinder ihre Phantasiewelt – aus Schnee, Sand, Holz oder Lehm – und statteten diese mit selbst gemachten Spielzeugfiguren aus, mit denen sie Viehzüchter, Krieger oder Robbenjäger wurden.

Spielend haben auch wir unsere Umwelt kennengelernt – weit über das Zuhause hinaus. In ganz jungen Jahren schon sind wir so zu handwerklichen Fertigkeiten gekommen, wurden zu Kennern der Umgebung, des Tals, der lokalen Natur und Kultur. Im Spiel wurde auch meine Kreativität geweckt, das Vermögen, neue Ideen zu entwickeln, die Lust, alles immer wieder neu anzupacken, es anders zu sehen und besser zu machen. Auch das Verlieren, das Immer-wieder-Aufstehen und Weitermachen habe ich früh geübt. Obwohl ich später „Unmögliches“ unternommen habe, oft riskante Unternehmungen, bin ich der Junge geblieben, der spielt. Heute weiß ich: Es ist der Geist des Spiels, der mich ein Leben lang getragen hat.

In der Schule oder zu Hause war festgelegt, was zu tun oder zu lassen war, was die Gesellschaft von uns erwartete. Wir Bergbauern- und Dorfkinder hatten keinen Zugang zu den Ressourcen der Erwachsenen. Für sie galten andere Regeln als für uns Kinder. Uns wurde im Alltag ihr Wille aufgezwungen. Zu Hause und in der Schule war uns also vieles nicht erlaubt, mehr noch verboten. Beim Spielen aber waren wir Menschen, die weder benutzt noch beschützt werden wollten. Wir fühlten uns als Kinder unter Kindern fair behandelt. Intelligenz, Größe und Körperkraft wurden als das genommen, was sie waren, Tatsachen, die weder zu beneiden noch zu bestaunen waren.

Es war diese Nichterziehung, die uns zu selbstsicheren und widerstandsfähigen Menschen gemacht hat. Früh wusste ich, dass das Überleben von den eigenen Fähigkeiten und Stärken abhängt, der Lebensweg selbst entschieden wird. Wie beim Spiel. Wenn ich den Eltern, den Lehrern und Pfarrern immer zugehört hätte, wäre ich als Kind vielleicht besser zurechtgekommen. Meine emotionale Sicherheit, die Neugier, mein Selbstvertrauen sind mir allerdings im Widerstand ihnen gegenüber zugewachsen. Selbstständigkeit und soziale Fähigkeiten habe ich mir also nicht unter dem Schutz der Eltern oder in der Kirche, sondern zuerst beim Spielen und später beim Felsklettern geholt.

Fernsehen, Videospiele und Internet gab es damals nicht. Auch später, am Berg, war nichts, was mich ablenkte. Da war niemand, der sagte, was zu tun war. Die Berge wurden mein zweiter Spielplatz, Stadt und Tiefland empfand ich bald als das Gegenteil von Freiraum. Ich wollte mich nicht immerzu ein- und unterordnen. Nur mein Verstand fügte sich den menschengemachten Gesetzen, nicht aber der Instinkt oder das Gefühl. Diese beiden aber sind der Geist, der mein Wesen ausmacht. Seit damals erkenne ich nur die Natur als höheren Gesetzgeber an.


2 Ungerechtigkeit

Meine Mutter hat über jedes ihrer neun Kinder eine Art Psychogramm geschrieben. Dabei war sie eine einfache, gläubige Frau, die jeden Sonntag zur Frühmesse ging und ihre Zuneigung instinktiv gleichmäßig auf die Kinderschar verteilte, wobei das Jüngste jeweils mehr Aufmerksamkeit brauchte als die Älteren.

Ich weiß nicht, wann sie ihre Beobachtungen zu mir aufgeschrieben hat und wo sie diese aufbewahrte; ich erinnere mich nur noch an den Moment, als sie mir die drei handgeschriebenen Blätter übergab. Ich sollte sie mitnehmen, als ich – inzwischen 40 Jahre alt – das Villnößtal endgültig verließ. Wir saßen in der Wohnküche, und mein Blick ging über das Stadeldach des Nachbarn und ein Straßendorf auf dunkle Fichtenwälder, die das enge Tal südwestlich einrahmen. Dort, weit weg am Gegenhang – unter dem Porphyrrücken der Raschötz –, tauchten plötzlich Bilder auf, Erinnerungen: Wo in meiner Kindheit der Riegl-Hof gestanden hatte, erschien die steile Waldfläche eindeutig heller als weiter oben. Es war Jungwald, der alles überwucherte, wo einst Wiese und Acker, Haus und Stall gewesen waren.

„Der alte Riegler“, hatte die Mutter oft erzählt, „wollte nicht weggehen, die jungen Leut aber sind ausgewandert.“ Er ist notgedrungen mitgegangen – ›heim ins Reich‹, wie es damals hieß. Was hätte er auch allein auf Riegl machen sollen? Steile Felder, mehr als 100 Hektar Wald, Eigenjagd. Allein wäre er damit nicht fertig geworden. Inzwischen gehörten die Flächen einem Holzhändler, und die jungen Leute im Tal wussten nicht, dass auf Riegl nach der Abwanderung nachts ein Licht umging. Lange Zeit noch. Der Hof in der Steiermark, den die Nazis den Riegler-Leuten im „Reich“ zugesprochen hatten, war ebenfalls längst verloren – wie die Sippe auch, von der niemand in Villnöß Nachricht hatte. Wie schnell doch Vergessen einsetzt!

Wie oft sind wir Buben mit der Mutter nach „Maschisch“ – einem anderen, seit der Option 1939 verlassenen Hof – und weiter über Flitz nach Riegl gegangen. Das Balancieren über die Hängebrücke hoch überm Flitzer Bach war so aufregend, dass wir immer wieder hin- und herliefen. Hin und zurück. Darüber – senkrecht aufragend – hing eine schwefelgelbe Felswand, die schier bis zum Himmel reichte. Darüber „Riegel-Kofel“, der zweite, kleinere Einödhof mitten im Riegler-Wald. „Einmal“, erzählte die Mutter, „als die Bäuerin nach dem Kirchgang über diese Brücke heimwärts ging, erschrak sie zu Tode, als sie zwei ihrer Kinder im Geäst einer Fichte, die weit über die Oberkante des Felsabsturzes ragte, spielen sah.“ Der Baum war damals noch da. Ich schaute zuerst hinauf zu ihm und dann in die tiefe Schlucht unter mir. Einen Augenblick lang war mir schwindelig. Konnte ich doch die Gefühle der übermütigen Kinder ebenso nachempfinden wie die Verzweiflung der Mutter, die ein stilles Stoßgebet zum Himmel sandte. Ohne einen Laut von sich zu geben, aus Angst, mit einem Schrei ihre Kinder aus der Selbstvergessenheit ihres Spiels zu reißen und abstürzen zu sehen. Instinktiv hatte sie richtig reagiert. Und die Kinder haben gelernt, dass es zwar nicht falsch, der Mutter gegenüber aber ungerecht ist, sich grundlos Gefahren auszusetzen.

Meine Mutter hat nie gewertet. Ihr war ein feines Gespür für Unrecht eigen. Mit ihrem ausgleichenden Charakter aber gelang es ihr fast immer zu schlichten, wenn Verstimmung, Streit oder Ungerechtigkeit aufkamen. In der Familie wie im Dorf. Jeder Gesellschaft liegt eine eigene Vorstellung von Gerechtigkeit zugrunde, und fast jeder Mensch hat einen angeborenen Gerechtigkeitssinn. Er weiß auch, dass Gleichheit und Freiheit der Gerechtigkeit unterzuordnen sind.

„Allergisch gegen Ungerechtigkeit“, steht in dem Psychogramm über mich. Ich las es, während ich zurück zu meinem Wagen ging, um nach Juval, meinem neuen Wohnsitz, zu fahren. Richtig, dachte ich, wollte ich doch nie Gegenstand von Entscheidungen anderer sein. Wie oft bin ich wütend geworden, wenn auf Ungerechtigkeiten Bevormundung folgte. Diese Wut, wenn Autoritäten vorgaben, sie müssten mich vor mir selbst schützen, prägt mein Leben bis heute. Fehlt mir ein ausgleichendes Element, diese Großherzigkeit, die ein wesentlicher Charakterzug meiner Mutter war? Nein, ich bin nur allergisch gegen jede Art von Willkür, gegen die Gängelung ohne ausreichende Rechtfertigung. Bestimmt doch die Natur darüber, welche Chancen ich habe.

Es ist Ungerechtigkeit, die ich als Ursache für das allermeiste Leid der Menschheit ausgemacht habe. Streit, Krieg, Zerstörung haben ihren Ursprung in Ungerechtigkeit. Schon der Mythos von Kain und Abel erzählt davon: Die Opfer zweier Brüder, die sich miteinander vergleichen, werden vom Himmel nicht gleichwertig angenommen. Kain ist offensichtlich weniger wohlgefällig als sein Bruder Abel. Warum dieser Unterschied? Nur „Gott“, der seine Beduinen zu Siedlern machen will, weiß es. Weil aber der Unterschied gemacht worden ist, weicht Kain, der sich ausgegrenzt fühlt, seinem Bruder mehr und mehr aus. Zuletzt schlägt er ihn tot, als wolle er den Unterschied, das Unrecht eliminieren. Ungerechtigkeit ist auf Dauer nicht zu ertragen! In seiner Verzweiflung tut Kain zuletzt selbst Unrecht, und das Unheil geht weiter. Wer hat und warum die Autorität, Wohlwollen zu verteilen, über Gut und Böse zu bestimmen? Der Gerechtigkeitssinn will doch, dass wir als Gleiche Macht haben, über uns zu bestimmen.

Empörung über die „Ungerechtigkeit“ der Natur oder des Zufalls ist dabei wenig hilfreich. Die Natur hat immer recht, Ungerechtigkeiten schaffen nur die Menschen. Oft sind es Ungerechtigkeiten, die Katastrophen auslösen: Ressentiments, Ausgrenzung, Rassismus, – eine gerechte Gesellschaft bleibt ein Ideal, ein Projekt, das wohl nie abgeschlossen sein wird.

Neben dem Verständnis für die jeweils anderen, eine Art des Mitfühlens, hat mir meine Mutter mit ihrem Beispiel den einzig richtigen Weg in die Welt gezeigt. Einen Weg, den niemand anderer gehen konnte als ich selbst. Wohin er mich führen würde? Ich wusste es damals nicht. Ich wusste es nie im Voraus. Nur eines spürte ich von Anfang an: Im Gänsemarsch fühle ich mich nicht wohl. „Wenn eine Krähe auf einem Baum sitzt und ein Schwarm Spatzen fliegt vorbei, wird die Krähe nicht mitfliegen“, hatte die Mutter einst gesagt. Wohin die Mehrheit auch drängt, sollte das heißen, es muss nicht immer richtig sein. Wer sich dem größeren Schwarm anschließt, muss nicht die bessere Lösung haben. Ich jedenfalls bin immer meinen Weg gegangen, und von computergesteuerter Schwarmintelligenz halte ich bis heute nicht viel. Sie führt meist in die Irre.

„Allergisch gegen Ungerechtigkeit“ steht also in jenem Lebensbild meiner Mutter, das sie mir mitgab auf meinen weiteren Weg. Es ist keine Weissagung und keine Krankheit, die sie beschreibt, es war ihr Wissen über die Natur eines Menschen. Ich stelle ihre Erkenntnis deshalb an den Anfang dieses Buches.

Heute weiß ich: Es sind nicht allein die Taten meines Lebens, die meine Identität ausmachen, sondern vielmehr dieser Gerechtigkeitssinn, der, gepaart mit Zivilcourage, viel Widerstand mir gegenüber hat wachsen lassen. So nur konnte sich die Kraft entwickeln, Ungerechtigkeit zu überwinden. Immer wieder.

Wer ich als Kind war und wer ich geworden bin, soll nicht aus meinen Absichten gelesen werden. Denn nur die verwirklichten Taten zählen, sie verkörpern mein Sein. Es gibt weder einen tieferen Sinn darin, auch erwarte ich für meine Biografie keine Absolution. Unser Dasein gestattet uns kein Entkommen. Aber das Schritt für Schritt gelingende Leben kann später nicht Seite für Seite nachgelesen werden wie ein aufgeschlagenes Buch. So wenig ich den Anlagen, die meiner Mutter im Kleinkindalter an mir aufgefallen sind, entkommen bin – eine Erkenntnis wie eine Prophezeiung.

Reinhold Messner

Über Reinhold Messner

Biografie

Reinhold Messner, Grenzgänger, Autor und Bergbauer, wurde 1944 in Südtirol geboren und wuchs in einem Bauerndorf auf. Bereits 1949 ging er zum ersten Mal in Begleitung seines Vaters auf einen Dreitausender. Nach seinem Technik-Studium arbeitete er kurze Zeit als Mittelschullehrer, ehe er sich ganz...

Medien zu „Über Leben“
Pressestimmen
Soester Anzeiger

„Ein sehr einfühlsames Buch und auch der Autor wirkt nachdenklicher als in seinen anderen Büchern.“

BILD Online

„Packende Mischung aus Biografie und Bergsteiger-Philosophie.“

Outdoor Guide

„Dass seine Sicht auf die Welt meist dominiert, ist bei (s)einer Biografie wohl unvermeidlich – macht das Buch jedoch nicht weniger spannend. Denn genau diese starke Meinung hat den Südtiroler über die Jahre zu dem gemacht, der er ist: einer der größten Alpinisten unserer Zeit.“

outdoortraum.blogspot.de

„Diese Buch ist sehr persönlich und man erhält einen recht intimen Blick in die Seele des Autors.“

Dresdner Morgenpost

„Eine faszinierende Persönlichkeit.“

Der Tagesspiegel

„Selten habe ich ein so überzeugendes Plädoyer für Freiheit, Spiel und Eigenverantwortung gelesen wie diese Memoiren Reinhold Messners.“

Die Presse (A)

„Da ist alles drin, angefangen von der ungezwungen-spielerischen Kindheit im südtiroler Villnösstal, wo er als Fünfjähriger auf seinen ersten Dreitausender stieg.“

tv Hören und Sehen

„Reinhold Messners mutigstes Buch!“

HÖRZU

„Angst, Mut, Gott, Gefühle, Altern, Loslassen. Meinungsstark, vielschichtig, fesselnd.“

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