Und vor uns das Meer Und vor uns das Meer - eBook-Ausgabe
Roman
— Ein Urlaubsroman mit Tiefgang für alle LeserInnen von Dora HeldtUnd vor uns das Meer — Inhalt
Eine unvergessliche Reise nach Sylt
Als Mette erfährt, dass ihre Schulfreundin Josefa mit Anfang fünfzig an Krebs verstorben ist, trifft deren Tod sie, obwohl sie schon lange keinen Kontakt mehr zu Josefa hatte. Ausgerechnet Ole, ein gemeinsamer Freund aus der Schulzeit, überbringt ihr die traurige Nachricht und berichtet ihr vom letzten Wunsch der Verstorbenen:
Gemeinsam sollen sie deren Asche auf Sylt verstreuen.
Auf der Insel angekommen, wird Mette von ihren Erlebnissen als Verschickungskind eingeholt und setzt sich endlich mit ihrer Vergangenheit auseinander. Nur die Gespräche mit dem einfühlsamen Ole lenken sie ab. Dabei wird ihre Verbindung zueinander immer stärker …
Einfühlsam und gut recherchiert erzählt Jule Henning vom Schicksal der Verschickungskinder auf Sylt und greift damit ein schwarzes Kapitel in der deutschen Geschichte auf.
Leseprobe zu „Und vor uns das Meer“
Eins
Mit dem Anruf fing es an. Er veränderte alles. Den Sommer und auch mein Leben.
Das Telefon läutete kurz vor acht, ich stand in der Küche und bereitete das Frühstück zu. Zwei Scheiben getoastetes Sauerteigbrot mit Konfitüre. Das Brot musste den richtigen Bräunungsgrad haben, da war meine Mutter eigen.
Sie hob den Blick. „Sei doch so lieb, mein Schatz.“
Ich ging auf den Flur, wo der Apparat in der Ladestation steckte, da verstummte es.
„Verwählt“, sagte ich, als ich zu ihr zurückkehrte.
Auf dem Festnetz rief kaum jemand an. Es gab ein paar wenige [...]
Eins
Mit dem Anruf fing es an. Er veränderte alles. Den Sommer und auch mein Leben.
Das Telefon läutete kurz vor acht, ich stand in der Küche und bereitete das Frühstück zu. Zwei Scheiben getoastetes Sauerteigbrot mit Konfitüre. Das Brot musste den richtigen Bräunungsgrad haben, da war meine Mutter eigen.
Sie hob den Blick. „Sei doch so lieb, mein Schatz.“
Ich ging auf den Flur, wo der Apparat in der Ladestation steckte, da verstummte es.
„Verwählt“, sagte ich, als ich zu ihr zurückkehrte.
Auf dem Festnetz rief kaum jemand an. Es gab ein paar wenige Freundinnen und Bekannte, doch die meldeten sich – das schien in der Generation 80plus ein unausgesprochenes Gesetz zu sein – nie vor elf. Wenn meine Mutter gefrühstückt, Lippenstift aufgetragen und mit dem Rollator eine Runde durch die Nachbarschaft gedreht hatte.
Ich stellte den Korb mit den getoasteten Brotscheiben auf den Tisch und goss mir Kaffee ein. Es war ein kurzer Moment, den ich am Morgen feierte. Durchatmen. Kraft schöpfen, bevor mich der Alltag mit seinen Anforderungen überrollte. Nicht, dass es mir etwas ausmachte, meine Mutter zu pflegen, es war nun mal so. Ein niemals endender Marathonlauf. Es gab Tage, da war sie voller Energie, an anderen schaffte sie es kaum aus dem Bett. Das waren die schlimmsten Augenblicke, weil ich glaubte, schuld an ihrer schlechten Verfassung zu sein. Und dass es ihr besser gehen würde, hätte ich neben dem täglichen Cocktail aus Einkaufen, Kochen und Den-Boden-Wischen mehr Zeit für sie. Um mit ihr zu reden, zu lachen und einen Spaziergang zu unternehmen, ohne dass mir der überfällige Waschgang oder die nächste Mahlzeit im Nacken saßen.
Ich trat mit der Kaffeetasse ans Terrassenfenster und schaute in den Garten. Die Rabatte waren zugewuchert, der Rasen vermoost, und die Bäume schienen förmlich darum zu betteln, zurückgeschnitten zu werden. Ich kam nicht dazu. Schon des Öfteren hatte ich einen Gärtner bestellen wollen, aber meine Mutter hatte jedes Mal protestiert. „Mette-Schatz, bitte keine fremden Leute im Haus.“ Und sie wollte auch keine Reinemachefrau in Anspruch nehmen. „Die putzen doch nur wischiwaschi und huschhusch“, lautete das Totschlagargument. Wenn ich ihr sagte, dass es mir zu viel wurde, die hundertfünfzig Quadratmeter allein in Schuss zu halten, griff sie selbst zum Putzlappen und schrappte mit dem Rollator übers Parkett. Sauber wurde das Haus davon nicht. Und weil ich Angst haben musste, dass sie stürzte und sich etwas brach, nahm ich ihr die Arbeit meistens ab.
Wieder klingelte das Telefon.
„Vielleicht ist es Renate.“ Meine Mutter streckte mir die Hand hin. „Es ging ihr gestern nicht so gut.“
Renates Gesundheitszustand war ein überzeugendes Argument, also eilte ich nach nebenan, um den Apparat zu holen. Meine Mutter meldete sich mit dem munteren Tonfall, den sie sich für Fremde aufgespart hatte. Waren wir unter uns, klang sie oft leidend, eine Spur anklagend.
„Einen Moment bitte.“ Sie hielt den Lautsprecher zu. „Für dich, Schatz.“
„Ja, hallo?“
„Ich bin’s, Ole“, sagte eine Stimme, und in Sekundenbruchteilen war ich wieder siebzehn. Spürte dieselbe Unsicherheit und Verwirrung.
„Ole … wer?“, erwiderte ich, obwohl ich sehr genau wusste, wer dran war.
„Ole August Graf von Freyendorf. Matthias-Claudius-Gymnasium. Kunst-AG. Erinnerst du dich …?“
Und ob ich mich erinnerte. Die ganze Oberstufe über hatte sein Name am Schwarzen Brett gestanden und sich wie die Derbys meines Englischlehrers, wie der Geruch der Turnhalle und wie der Geschmack des Kakaos, den es in der Milchausgabe zu kaufen gab, in mein Hirn gebrannt.
Alle Mädchen hatten für Ole geschwärmt, ich wohl mehr als meine beste Freundin Josefa, die ein paar Jahre mit ihm zusammen gewesen war. Ich hatte mir nie ernsthafte Hoffnungen gemacht. Der Leiter der Kunst-AG, ein ehemaliger Schüler des Gymnasiums, sah gut aus, keine Frage. Honigfarbene Locken, graublaue Augen, filigrane Hände. Aber er war weit über zwanzig und damit zu alt für ein Schulmädchen wie mich. Das hatte mich nicht davon abgehalten, in meinem Tagebuch Seite für Seite von ihm zu schwärmen. Und jede war mit seinen Initialen verziert. OAGvF. Zu oft hatte ich die Buchstabenkombination geschrieben, um sie jemals vergessen zu können.
„Ach, hallo … guten Morgen.“ Die Hand, mit der ich mir nervös den Nacken rieb, war eiskalt.
„Entschuldige, dass ich so früh anrufe. Ich hoffe, ich störe nicht.“
„Nein, nein, gar nicht.“
Ich gab meiner Mutter einen Wink und verzog mich in mein Zimmer im ersten Stock. Mehr und mehr beschlich mich ein mulmiges Gefühl, und ich wusste nicht, weshalb.
„Wie geht es dir?“, fragte ich, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Unverbindlicher Tonfall.
„Gut. Eigentlich sogar sehr gut.“
Ole erzählte, dass er eine Weile in Portugal gelebt und gearbeitet habe, vor neun Jahren nach Deutschland zurückgekehrt sei und seit vier Jahren in Berlin lebe. Ich stellte kurze Zwischenfragen, er antwortete ebenso knapp, und während ich die Bücher und den Laptop auf dem neuen Arbeitstisch hin und her rückte, lief parallel ein Film in meinem Kopf ab. Wie hatte es nur dazu kommen können, dass ich bisher keine Zeile zu Papier gebracht hatte? Dabei war es meine feste Absicht gewesen, als ich den Job als Deutschlehrerin am Spracheninstitut gekündigt, die Zwei-Zimmer-Wohnung in Kreuzberg aufgegeben hatte und in mein Elternhaus nach Friedenau gezogen war. Endlich wieder einen Roman schreiben, an den Erfolg von damals anknüpfen, auf Buchmessen fahren, Lesungen halten. Aber alles andere war immer wichtiger gewesen. Das Bettenbeziehen, die Einkäufe, die unzähligen Erledigungen, die anfielen, wenn man seine Mutter pflegte. Und wie ich so über die lederne Schreibunterlage strich, die von meinem Vater stammte, ging mir auf, dass ich mir mit der Angst vor dem leeren Bildschirm, den es mit Worten und Sätzen zu füllen galt, selbst im Weg gestanden hatte.
Ole ließ seinen Bericht mit einem heiseren Lacher ausklingen, dann erkundigte er sich, wie es mir ergangen sei. So hatte ich ihn in Erinnerung: stets korrekt, stets freundlich.
„Auch gut.“
Was sollte ich auch sonst sagen? Dass nichts Aufregendes in meinem Leben passierte? Weil ich um meine Mutter kreiste wie ein Satellit um die Erde und meine Mutter um mich? Dass ich beruflich versagt hatte, mir die Erkenntnis aber soeben erst gekommen war?
Ole hustete. Raucher. Jetzt fiel es mir wieder ein. Damals waren es selbst Gedrehte ohne Filter gewesen. Wir Mädchen hatten das sexy gefunden.
„Was gibt es denn?“, fragte ich, um dem unverbindlichen Geplauder ein Ende zu setzen.
„Mette“, sagte Ole mit Nachdruck, und es rührte mich, dass er mich mit meinem Vornamen ansprach. Früher hatte er das nie getan, sodass ich irgendwann angenommen hatte, er kenne ihn gar nicht. „Du klingst nicht so, als ob du es wüsstest.“
„Was meinst du?“
„Hast du heute keine Post gekriegt?“
„Nein, ich … Ich war noch nicht am Briefkasten.“
„Und gestern auch nicht?“
„Nein, gestern auch nicht.“
„Willst du eben nachschauen?“
Ich setzte mich auf die hellblaue Couch, die meine Eltern mir zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatten. Eine Handbreit von dem Rotweinfleck entfernt, der nie mehr rausgegangen war. Damals bei der Knutscherei mit Andreas. Wegwerfen mochte ich das Relikt aus meiner Jugend nicht. Weil es so wäre, als würde man einen Teil seiner selbst auslöschen.
„Nein, das kann warten. Aber erzähl. Worum geht’s?“
Wieder dieser Husten.
„Josefa.“
Ich hielt die Luft an. Vergaß zu atmen. Es war absurd, aber ich hatte so eine Ahnung gehabt. In dem Moment, als ich Oles Stimme am Ohr gehabt hatte.
Der Kontakt zu meiner Schulfreundin war vor Jahren abgerissen. Waren es fünf? Oder sechs? Und waren wir am Ende überhaupt noch Freundinnen gewesen? Oder wie nannte man das, wenn man von einem Tag auf den anderen nicht mehr miteinander sprach?
„Was ist mit ihr?“, stieß ich hervor.
„Es tut mir leid, es dir sagen zu müssen …“
Er stockte.
„Ja?“
„Josefa ist tot.“
Ein paar Sekunden verstrichen, in denen ich seine Worte zu begreifen versuchte. Aber es gelang mir nicht, da war nur dieser Druck, der sich hinter meinen Augen aufbaute.
„Mette?“
„Ja, ich bin noch dran.“
Ole atmete geräuschvoll ein und aus. „Ich habe die Trauerkarte schon vorgestern bekommen“, fuhr er fort. „Und heute einen Brief vom Notar. Darin standen deine Adresse und Telefonnummer.“
„Dann ist es also wahr?“, fragte ich so leise, dass ich mich selbst kaum hörte.
„Ja“, antwortete er, und endlich kamen die Tränen.
Ich wusste nicht, wie lange ich weinte, denn das, was Ole mir eröffnet hatte, war ungeheuerlich. Wie durch einen Schalldämpfer bekam ich mit, dass meine Mutter nach mir rief, aber ich ließ sie rufen. Es würde nichts Dringendes sein. Vielleicht machte sie sich auch nur Sorgen, weil meine Schluchzer bis zu ihr ins Erdgeschoss drangen.
„Es tut mir so unendlich leid, Mette, ich wollte dich nicht damit überfahren. Ich dachte … na ja, dass die Briefe am gleichen Tag rausgeschickt worden sind und du es schon weißt. Das ist ja auch alles kaum zu begreifen. Weil … tot … das ist so endgültig, da gibt es nichts, was die Sache irgendwie beschönigen könnte.“
Ole redete und redete, und ich wunderte mich darüber, da er früher nie gesprächig gewesen war. Er hatte nur das Nötigste gesagt und seine Schülerinnen dabei ernst angeschaut. Wir Mädchen hielten das damals für tiefgründig und verliebten uns umso heftiger in ihn. Wie ich es genossen hatte, wenn er abseits der Kunst-AG ein paar magere Worte mit mir gewechselt hatte. Jetzt wollte ich diese Worte nicht hören. Ich wollte, dass er schwieg und sich nicht weiter über die Sache, wie er es nannte, ausließ.
„Ich glaube, ich geh dann mal zum Briefkasten“, sagte ich, kaum, dass mich wieder im Griff hatte. „Wiedersehen, Ole. Und danke für deinen Anruf.“
Er schien noch etwas erwidern zu wollen, aber da drückte ich das Telefonat schon weg.
Josefa und ich waren Kinderfreundinnen. Beste Freundinnen. Herzensfreundinnen. Jeden Tag erfanden wir neue Schwüre, um uns gegenseitig zu versichern, wie viel wir uns bedeuteten. Wir teilten alles. Schokolade und Lakritzstangen, Spickzettel und Schwärme. Damals glaubte ich, wir würden für immer dieses unschlagbare Team sein. Mette und Josefa. Und dass uns nichts und niemand je würde auseinanderbringen können.
Ich war sechseinhalb, als Josefa mit ihrer Familie zu uns in die Siedlung zog. Sechseinhalb Jahre und einsam. Geschwisterlos, die Kinder in der Nachbarschaft waren jünger oder älter. Ein Dilemma, das ich mit Altklugheit wettzumachen versuchte. Kaum eingeschult, galt ich als Außenseiterin. Ich wollte ja mit den Klassenkameradinnen spielen, die Klassenkameradinnen aber nicht mit mir. Nachmittags, wenn meine Eltern bei der Arbeit waren, versorgte mich unsere Nachbarin Frau Binder. Sie war freundlich zu mir, trotzdem fand ich, dass ich sie gar nicht brauchte. Ich konnte Spiegeleier braten, Brötchen aufbacken und Tomatensuppe aufwärmen. Ich erledigte die Hausaufgaben gewissenhaft und ohne fremde Hilfe, und vor allem machte es mir nichts aus, allein zu sein. Stundenlang spielte ich mit Lego, ich reiste mit meiner Puppe Mimi zu den Pinguinen in die Antarktis, oder ich ließ die Feuerwehr anrücken, weil das Haus mal wieder lichterloh brannte. Manchmal rettete ich mich auf die Terrasse und ging hinter dem Johannisbeerstrauch in Deckung, wo mich die Katze von nebenan besuchte und sich von mir streicheln ließ. Die Freunde und Kollegen meiner Eltern waren voll des Lobes. Was für ein patentes Mädchen! Und weil mir alle immerzu applaudierten, gefiel ich mir in meiner Rolle der kleinen Erwachsenen.
Dass es viel schöner war, mit einer Freundin herumzustromern, begriff ich erst, als ich Josefa kennenlernte. Vom Küchenfenster unseres Bungalows aus sah ich sie auf ihrem feuerwehrroten Fahrrad, das für ihre Größe viel zu klein war, vorbeisausen, ihre dunklen Haare flatterten im Wind wie die Bänder am Richtkranz.
„Mette-Schatz, das Mädchen geht sicher schon in die zweite oder dritte Klasse“, sagte meine Mutter, als sie meine sehnsüchtigen Blicke bemerkte. Unterton: Die interessiert sich gar nicht für dich.
Doch sie irrte sich. Josefa war genauso alt wie ich, sie kam in meine Klasse und vom ersten Moment an waren wir unzertrennlich. Ich liebte ihre Bitterschokolade-Augen, sie das Sammelsurium aus aussortierten Kleidern, Knöpfen und Muscheln in unserem Keller. In Räuberkostümen, die wir uns dort unten zusammenklaubten, machten wir die Gegend unsicher. Wir spionierten gefährliche Gangster aus, halfen Fröschen über die Straße, spielten Gummitwist und ärgerten die jüngeren Nachbarskinder, indem wir sie mit Tuschewasser aus Wasserpistolen bespritzten. Im Winter zogen wir mit unseren Schlitten los, im Sommer lagen wir im Freibad auf Badetüchern, lutschten Salinos, und Josefa zählte die Sommersprossen auf meiner Nase, die von Tag zu Tag mehr wurden.
So war das mit Josefa, und jeder einzelne Nachmittag, den ich mit ihr verlebte, war ein schönerer Nachmittag als die unzähligen einsamen Nachmittage zuvor.
Geraume Zeit später, ich hatte die Küche aufgeräumt und einen Kaffee getrunken, wagte ich mich an den Briefkasten. Er war leer. Ole hatte von zwei Briefen gesprochen, die Trauerkarte und eine Sendung vom Notar. Das hatte er doch, oder? Aber warum sollte uns ein Notar schreiben? Wir waren weder mit Josefa verwandt noch ihre Wahlfamilie.
Erleichtert, dass mir die nächsten vierundzwanzig Stunden kaum Zeit zum Trauern bleiben würde, startete ich in den Tag. Der wöchentliche Großeinkauf stand an, ich musste eine neue Fußpflegerin für meine Mutter organisieren, die Betten beziehen, eine Waschmaschine aufsetzen und das Mittagessen kochen. Doch egal, was ich in Angriff nahm, immerzu hatte ich Josefa vor Augen. Mit dem straff gebundenen Zopf im Nacken. Den kirschroten Lippen. Den dunkel geschminkten Augen. Ich hatte imaginäre Gespräche mit ihr geführt, ihr ungezügeltes Lachen gehört, und bei der Erinnerung daran waren mir wieder die Tränen gekommen. Warum war sie krank geworden, ausgerechnet sie, die vor Kraft und Energie nur so gestrotzt hatte? Ganz im Gegensatz zu mir. Solange ich zurückdenken konnte, war ich dünn und kränklich gewesen, schwaches Immunsystem, wie mir unser Hausarzt Dr. Mommsen eingeflüstert hatte. Und jetzt war Josefa tot. Einfach so.
„Lass es gut sein für heute“, sagte meine Mutter, als ich die Linsensuppe erst gegen halb zwei auf den Tisch brachte. Für gewöhnlich aßen wir um eins. „Unternimm lieber etwas Schönes. Etwas, das dir Freude bereitet.“
Zwischen zwei Löffeln Suppe nickte ich meiner Mutter zu. Nur, was konnte das sein, wenn die ehemals beste Freundin gestorben war? Ein enges Band hatte sich mir um den Hals geschlungen. Auch meine Mutter litt, das spürte ich. Sie machte mir keine Vorwürfe wegen Josefa, das Leben verlief manchmal eben anders, als man es sich wünschte. Doch beim Nachtisch, ich hatte Erdbeeren vom Vortag im Kühlschrank entdeckt, wollte sie mit bitterer Stimme wissen: „Warum hast du sie eigentlich nie wieder angerufen?“
Die Frage fuhr mir wie ein Stromschlag in die Glieder.
„Ich mochte das Mädchen immer so“, sprach sie weiter, während ich auf den Löffel starrte, der in meiner Hand zitterte. „Ihr wart doch all die Jahre so eng, das wart ihr doch, oder?“
„Ich weiß es nicht.“
Das war gelogen. Josefa hatte mich verletzt, ein weiteres Mal. Ich kannte es ja nicht anders von ihr, über ihre Unzuverlässigkeit hatte ich mich schon als Kind geärgert. Doch dieses eine Mal war zu viel gewesen, ihre Dreistigkeit hatte jedes Maß überstiegen.
Erst später bei einer Tasse Kaffee, die meine Mutter und ich auf der Terrasse unter der Markise tranken, gestand sie mir, ein schlechtes Gewissen zu haben.
„Warum solltest du ein schlechtes Gewissen haben? Wir wussten alle nicht, dass sie krank ist.“
Meine Mutter presste die rot angemalten Lippen aufeinander. „Ich bin mit meinen mehr als vierundachtzig Jahren noch am Leben. Sie ist es nicht.“
„Mama“, sagte ich. Es war mir so rausgerutscht, sonst sprach ich meine Mutter mit Isolde an. „Es gibt keine vorgeschriebene Reihenfolge, in der die Menschen zu sterben haben. Und eine gerechte schon gar nicht.“
Sie nickte, dann hämmerte sie mit den Nägeln, die passend zum Lippenstift in einem Beerenton lackiert waren, auf die Tischplatte. „Dein Vater zum Beispiel. Er hätte noch eine gute Zeit haben können.“
Das stimmte. Womöglich wäre der Herzinfarkt vor sechs Jahren vermeidbar gewesen, hätten die Ärzte seine Beschwerden ernst genommen. Sein Tod hatte uns alle überrascht. Und nur, weil meine Mutter aus dem Tal der Trauer nicht mehr herausgefunden hatte, kündigte ich nach einigen Monaten des Zauderns meine Wohnung und zog zu ihr. In dieses Leben, das jetzt meins war und sich immer noch wie ein verkehrtes Paar Schuhe anfühlte.
Zwei
Am Tag darauf kam die Post später als gewöhnlich. Wir hatten Spaghetti mit grünem Spargel gegessen, und meine Mutter hielt ihren Mittagsschlaf. Leider war es meistens nur ein Schläfchen auf dem Sofa, und bereits zehn Minuten nachdem sie sich hingelegt hatte, rief sie nach mir, damit ich ihr beim Anziehen der Feinstrumpfhose half. Aber auch diese kurze Zeit war mir heilig. Ich räumte in der Küche die Teller in den Geschirrspüler, als ich die Briefträgerin auf dem E-Bike davonradeln sah. Eilig nahm ich den Schlüssel vom Haken im Flur und ging nach draußen. Diesmal lagen neben einer Wurfsendung und der Telefonrechnung zwei weitere Umschläge im Kasten. Einer von Familie Jensen, ein anderer von Kanzlei Schneider, Rechtsanwalt & Notar. Mein Herz hämmerte, und ein Schmerz flackerte in der Magengegend auf. Ich hatte mich also nicht verhört.
„Tach och!“
Unser Nachbar Herr Haas ging mit seinem Spaniel vorbei.
„Morgen“, erwiderte ich und zwang mich zu einem Lächeln.
Wir hielten ein Schwätzchen, erst diese Hitze im Frühjahr, der Dauerregen Anfang Juni, danach war ich gefasst genug, um die Briefe zu lesen. Ich kehrte in die Küche zurück und zog die Tür hinter mir zu. Hier war ich ungestört.
Ich goss mir einen Rest Kaffee ein, dann öffnete ich den Trauerbrief. Ich hätte damit rechnen müssen, dennoch erwischte es mich eiskalt, dieses Foto von Josefa zu sehen. Es musste in einem ihrer letzten Urlaube am Meer aufgenommen worden sein. Ihr Teint war olivfarben, ihre Haare kurz und lockig, und sie lachte so glücklich, den Kopf leicht in den Nacken gelegt, dass ich sie am liebsten in den Arm genommen und ihr verziehen hätte. Die Flatterhaftigkeit, die Egozentrik, die Unbeherrschtheit, einfach alles.
Ich überflog den Trauerspruch, er war belanglos, und ich vergaß ihn gleich wieder, weil er mit der Josefa, die ich kannte, nichts zu tun hatte. 12. Juli. Der Tag der Beerdigung. Sollte ich hingehen? Ich war unentschlossen. Denn was hatte ich dort verloren? Trauern und an sie denken konnte ich ebenso gut zu Hause.
Der Brief vom Notar lag nach wie vor unangetastet vor mir, als meine Mutter nach mir rief.
„Hab ich dich geweckt?“, fragte sie, als ich einen Blick ins Wohnzimmer warf.
„Nein, wieso?“
„Es ist so still.“
Ich brach in Gelächter aus. Meine Mutter erinnerte mich bisweilen an ein Kind. Sie musste immer genau wissen, was los war, und da, abgesehen von meinen hausfraulichen Aktivitäten, nichts geschah, war ich Dreh- und Angelpunkt ihrer überschaubaren Welt. Ich nahm ihr das nicht mal übel, aber manchmal wollte ich für mich sein und nicht über jeden Handgriff Rechenschaft ablegen.
„Übrigens“, fuhr ich fort, „die Traueranzeige ist da.“
Auf einmal kam Leben in meine Mutter. Sie setzte sich aufrecht hin, drückte ihr Kreuz durch und trommelte mit den Schuhspitzen aufs Parkett. Wann? Welcher Friedhof? Gehst du hin? Es hagelte immer mehr Fragen. Ich antwortete ausweichend, dann ging ich unter dem Vorwand, den Geschirrspüler einräumen zu wollen, in die Küche zurück.
In dem Umschlag von der Kanzlei Schneider befanden sich zwei Briefe. Der eine war vom Notar. Darin stand, dass Frau Jensen eine Nachricht für mich und Herrn Ole August Graf von Freyendorf hinterlassen habe und er befugt sei, sie uns nach ihrem Tod zukommen zu lassen. Der zweite Brief – er stammte von Josefa – machte mich nervöser. Ich brauchte einen Moment, bis ich ihn entfaltete. Diese chaotische Handschrift. Sie war mir so vertraut wie ihr Lachen und der schief stehende Eckzahn. Schon zu Schulzeiten hatte Josefa gekliert. Manche Buchstaben kippten nach links, andere nach rechts, eine Schrift, die außer ihr kaum jemand entziffern konnte.
Ich nahm einen Schluck Wasser, dann las ich:
Liebe Mette, lieber Ole,
während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich in meiner Lieblingswohnung auf Sylt. Mette, wir waren nur einmal zusammen hier, aber du, Ole, wirst dich an das Apartment 23 sehr gut erinnern. Du fandest das abgewetzte Ledersofa so lässig, weil du ein ähnliches in deinem Jugendzimmer hattest. Und du hast dich über die marode Einbauküche aus den 70ern amüsiert, in der die Spülmaschine gleich zweimal ausgelaufen ist. Keine Sorge, bis auf die Terrassenmöbel ist alles neu, wie für ein Fest herausgeputzt. Aber auch die sollen demnächst ausgetauscht werden. Weißt du noch, Ole, wie du mit dem wackeligen Stuhl umgekippt bist? Wir haben uns kringelig gelacht, Mann, wir waren so jung, das Leben eine einzige Party!
Wenn ich die Terrassentür öffne, höre ich die Möwen kreischen und das ferne Grollen der heranbrandenden Wellen. Je nachdem, wie der Wind steht, rauscht das Meer mal lauter, mal leiser, aber es ist nie vollkommen still. Wie ich das liebe! Dieser Melodie der Natur zu lauschen, die mit nichts zu vergleichen ist. Und weil es euch sicher genauso geht, möchte ich euch einladen, im kommenden Sommer eure Ferien hier zu verbringen. Eine Woche, gern auch zwei, drei oder vier. Die Vermieterin Frau Bergmann ist informiert; der komplette August ist für euch reserviert und bezahlt.
Ich riss das Fenster auf und schnappte nach Luft. Josefa lud Ole und mich nach Sylt ein? Das war bizarr.
Ich las weiter.
Sicher wundert ihr euch, dass ich euch beiden schreibe. Dir, Mette, meiner allerliebsten und engsten Freundin, die ich je hatte. Und dir, Ole. Ich muss dir nicht erklären, was du mir damals bedeutet hast.
Die Jahre sind vorübergezogen, es ist viel passiert, und nicht alles ist glattgelaufen. Aber ich schaue nicht mit Groll zurück. Im Gegenteil. In den letzten Wochen ist mein Leben so viel intensiver geworden, täglich steigen andere wundervolle Erinnerungen in mir auf.
Ihr Lieben, mir bleibt nicht viel Zeit. Wenn ihr diesen Brief lest, werde ich nicht mehr da sein. Das heißt, ich bin schon noch da, in Form von Atomen, nichts geht verloren. Verzeiht mir, dass ich ausgerechnet euch damit behellige, aber ziehe ich nüchtern Bilanz, fallt nur ihr beide mir ein. Weil ich euch geliebt habe, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. Es tut mir aufrichtig leid, dass wir so lange keinen Kontakt zueinander hatten. Manchmal laufen die Dinge eben anders, als man es sich wünscht. Verpasste Lebenszeit lässt sich nicht zurückholen, mein Guthaben ist verbraucht. Das ist mir nun klar geworden, und es tut weh, weil so vieles, was ich noch vorhatte, nicht mehr möglich ist. Macht es also besser, versprecht mir das. Schiebt nichts auf. Feiert das Leben.
Es fällt mir so schwer, und ich finde sicher nicht die richtigen Worte, aber ich habe einen allerletzten Wunsch. Besorgt euch bitte die Urne mit meiner Asche, und … Ja, ist sie verrückt geworden?, werdet ihr denken. Wir können die Urne nicht einfach so „besorgen“, sie ist längst unter der Erde. Das stimmt. Doch Verscharrtes kann man wieder ausgraben, nicht wahr? Ich habe verfügt, dass meine Beerdigung im engsten Kreis in Berlin stattfindet, dort, wo ich zuletzt gewohnt habe. Aber ich schweife ab. Beschafft euch also die Urne, und streut meine Asche auf Sylt ins Meer. Ich wünsche es mir von Herzen!
Mette, weißt du noch, wie wir damals unsere Füße im Sand eingegraben, uns gegenseitig Sonnenmilch auf den Rücken gekleckst und uns beim Baden an den Händen gehalten haben? Du warst mein Anker und ich hoffentlich auch deiner. Ole, dich konnte ich immerhin drei- oder viermal nach Sylt locken. Obwohl du lieber mit mir nach London, Paris oder Rom gejettet wärst. Nach Sylt kann ich immer noch fahren, wenn ich alt bin, hast du gepredigt. Wir haben uns deswegen fürchterlich in die Haare gekriegt. Du warst der Meinung, dass auf der Insel nur Schnösel herumlaufen. Natürlich gibt es sie, die Schönen und Reichen, die in ihren Schlitten zwischen Kampen und der Sansibar hin und her cruisen. Aber Sylt ist so viel mehr! Mette, ich erinnere mich wie heute an deine Worte. Dass sich der Sand wie Puderzucker unter den Fußsohlen anfühlt. Und dass man nicht von der Welt abtreten darf, bevor man nicht den Sonnenuntergang am Roten Kliff erlebt hat. Und dass du den Heckenrosenduft so gern in Fläschchen abfüllen wolltest, um ihn für den Winter zu konservieren.
Mir geht es genauso. Ich liebe dieses Fleckchen Erde mit seiner rauen Schönheit über alles. Bei Sonne und bei Schietwetter. Mit euch und ohne euch. Nur hier konnte ich mit mir allein glücklich sein. Das Meer war mein liebstes Element, und dorthin möchte ich zurückkehren.
Mir ist klar, das muss starker Tobak für euch sein. Und ich würde verstehen, wenn ihr den Brief zerreißt und in euren Alltag zurückkehrt. Aber falls es euch ans Meer zieht, falls ihr die salzige Luft atmen und den Wind in den Haaren spüren wollt, packt eure Koffer und fahrt los.
Verzeiht mir.
Eure Josefa
In der Nacht bekam ich Schüttelfrost, und ich fragte mich, wie ich es in diesem Zustand schaffen sollte, meine Mutter zu versorgen. Seit Monaten redete ich auf sie ein, es sei ratsam, einen Pflegegrad für sie zu beantragen. Doch sobald ich das Wort nur in den Mund nahm, kam Leben in sie, und sie tat Dinge im Haus, zu denen sie sonst nicht fähig war. Noch bevor ich mich aus dem Bett quälte, rief ich ihre Bekannte Karin an, eine fitte Dame Ende siebzig, die sich bereit erklärte auszuhelfen.
Drei Tage verbrachte in einem fiebrigen Dämmerzustand, Minuten und Stunden, an die ich mich später kaum erinnern konnte. Ich träumte wirr. Da waren Stimmen. Eine schwere Tür fiel zu, das Knirschen des Schlüssels im Schloss. Ich kauerte in Unterwäsche in der Ecke eines leeren Raums, hungrig, vor Kälte zitternd, und als ich um Hilfe rief, beugte sich eine schwarz gekleidete Gestalt über mich und warf mir eine Filzdecke über den Kopf. Dann wieder lief ich einen engen Gang entlang, von einer Horde Frauen gehetzt. Ich keuchte. Bekam kaum Luft. Beim Aufwachen war ich jedes Mal schweißgebadet. Ich sagte meiner Mutter nichts von dem Brief; das Fieber erklärte meinen desolaten Zustand. Nur einmal rief ich, eine wärmende Tasse Ingwertee in der Hand, meine Freundin Jule an und erzählte ihr alles. Sie bot sich an zu kommen, sie könne bei mir übernachten, aber ich lehnte dankend ab. Ich musste allein damit zurechtkommen, dass Josefa und ich uns aus den Augen verloren hatten. Dass keine von uns über ihren Schatten gesprungen und auf die andere zugegangen war. Die Frage meiner Mutter war berechtigt: Warum hatte ich mich zurückgezogen und darauf gewartet, dass Josefa den ersten Schritt machte? Weil ich mich im Recht fühlte? Aber war es nicht kleinlich, Schuld aufzurechnen?
Am vierten Tag sank das Fieber, ich schickte Karin nach Hause, warf ein Aspirin ein, und so schaffte ich den Tag. Meine Mutter war zwar der Meinung, dass ich immer noch leichenblass, eingefallen und überhaupt ganz fürchterlich aussah, und bat mich, zur Ärztin zu gehen, aber ich fand das maßlos übertrieben. So ein kleiner Infekt war auch im Sommer nichts Ungewöhnliches, das kam schon mal vor. Was mich tatsächlich aus der Bahn geworfen hatte, musste meine Mutter nicht wissen.
Drei
Zwei Wochen darauf fand die Beerdigung statt. Ich fuhr hin. Obwohl ich mich lieber davor gedrückt hätte. Ich hätte unzählige Ausreden erfinden können, allein irgendetwas wegen meiner Mutter, aber ich wollte mich nicht vor mir selbst für meine Feigheit verachten müssen.
Am Vortag hatte ich bei sechzehn Grad im Schatten gefroren, jetzt kratzte das Thermometer an der Dreißig-Grad-Marke. Die Stadt war voller ausgelassener Menschen, in luftigen Kleidern, Shorts und Sandalen saßen sie in den Cafés, aßen Eis, lachten und feierten das Leben. Wie konnte es sein, dass meine ehemals beste Freundin beerdigt wurde? An so einem sommerlichen Tag?
Ich war zu früh da, und weil ich niemandem aus Josefas Umfeld in die Arme laufen mochte, huschte ich in die Kapelle und setzte mich in die letzte Reihe. Es hätte sich nicht richtig angefühlt, weiter vorne einen Platz zu suchen. Dort gehörte ich nicht hin. Ich wollte Zaungästin sein, Josefa in Gedanken zuwinken und mit dem Schlussakkord gleich wieder verschwinden.
Richard Strauss schallte mir entgegen, die Töne erfüllten den Raum mit einer ungeheuren Tiefe, sodass ich wie auf Knopfdruck zu weinen anfing. Wie oft hatten Josefa und ich in ihrer Studentenbude Vier letzte Lieder gehört. Wir hatten uns daran ergötzt, in Weltschmerz gebadet, und jetzt fühlte es sich so an, als hätte der Komponist Im Abendrot allein für meine Freundin geschrieben. Zum Glück hatte ich meine Sonnenbrille dabei. Und eine dünne schwarze Strickjacke, die ich mir überwarf, weil ich fröstelte.
Nach und nach füllte sich die Kapelle. Den Blick stur nach vorne gerichtet, wo die Urne in einem Meer aus Sonnenblumen und Rosen stand, schritten die Trauernden durch den Mittelgang. Leute, die ich nicht kannte oder nicht einzuordnen wussten, weil ich sie etliche Jahre nicht gesehen hatte und Tränen mir die Sicht verschleierten. Viele Grauhaarige waren darunter – vielleicht auch Ole? –, Menschen, die ich in einem anderen Leben womöglich gekannt hatte. Die kleine, in sich zusammengesunkene Frau, die am Arm eines mir fremden Mannes eintrat, war Josefas Mutter. Für einen Sekundenbruchteil erhaschte ich ihren Blick und nickte ihr zu, aber kein Zeichen des Erinnerns glomm in ihren Augen auf. Es hieß, sie sei seit Langem dement und lebe in einem Heim in Niedersachsen. Die arme alte Frau. Man hatte sie extra hierhergekarrt, und vermutlich verstand sie nicht mal, warum. Ich schämte mich, sie nicht noch einmal besucht zu haben, als sie noch klar im Kopf war.
Meine Gedanken drifteten immer wieder ab, als die Trauerrednerin zu sprechen begann. Es waren aufgesagte, papierene Worte, die mich kaum berührten. Es ging um Josefas erste Lebensjahre in Wilhelmsburg, ihren kometenhaften Aufstieg bei der Bank und ihre Reisen nach Übersee, zwischendrin erklang eine Bachkantate, und als nach einem weiteren Klassikstück Sinéad O’Connor’s Nothing compares 2 U lief, schlich ich unter Tränen aus der Kapelle. Ich fand, ich hatte hier nichts zu suchen. Weil ich meiner besten Freundin zu Lebzeiten nicht verziehen hatte.
Ich hastete zur Tram-Station, verlief mich, da ich mich in der Gegend nicht auskannte, und als das U-Bahn-Schild Senefelder Platz in einiger Entfernung auftauchte, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich mich vor der Urnenbeisetzung gedrückt hatte. Und somit vor dem Wissen um die Grabstelle. Nun hatte ich, so meine naive Vorstellung, nicht mehr die Möglichkeit, Josefa ihren letzten Wunsch zu erfüllen. Selbst wenn ich es wollte.
Kaum saß ich in der U-Bahn, schrieb ich mir in Gedanken eine Entschuldigung. Isolde. Ich konnte sie nicht so lange alleinlassen. Womöglich bekam sie Herzbeschwerden oder stürzte beim Gang zur Toilette, und dann wäre ich schuld.
Doch meine Mutter war wohlauf, als ich nach Hause kam. Sie saß in ihrem Lieblingssessel an der geöffneten Terrassentür, die Lippen korallenrot geschminkt, und knabberte Butterkekse im Akkord. Für gewöhnlich krümelte sie alles voll, aber ich gönnte ihr den Spaß. Kekse waren ihr einziges Laster, und sollte ich ihr das auf ihre alten Tage verbieten?
„Schon zurück?“ Sie ließ die Packung unter den Fransen der Wolldecke verschwinden.
„Es hat nicht so lange gedauert.“
Ich streifte die schwarzen Pumps ab, die ich erst zweimal getragen hatte. Bei einem Opernbesuch im Februar und an Jules Geburtstag im Mai, den sie in einem Restaurant in Kreuzberg gefeiert hatte. Ich rieb mir die Zehen, hohe Schuhe war ich nicht gewohnt.
„Erzähl. Wie war’s?“
„Gut.“
„Gut?“
„Ja, gut und traurig und … Du weißt doch, wie das auf Trauerfeiern so ist.“
Meine Mutter nickte, und ich sah, dass ihr Kinn leicht zitterte. Sicher dachte sie in diesem Moment an den Tod meines Vaters. Auf der Beerdigung hatte sie einen Schwächeanfall erlitten und im Krankenhaus mit einer Infusion stabilisiert werden müssen. Am Ende stellte sich zwar heraus, dass sie lediglich zu wenig getrunken hatte und dehydriert war, trotzdem hatte mir ihre Ohnmacht einen ordentlichen Schrecken versetzt.
„Soll ich Kaffee kochen?“
„Eilt nicht, mein Schatz.“
Ich ließ mich aufs Sofa sinken und legte die Beine auf dem kühlen Glastisch ab. Erst jetzt merkte ich, wie erschöpft ich war. Viel zu erschöpft, um im Haus herumzuwirbeln und so zu tun, als wäre heute ein Tag wie jeder andere.
Und dann erzählte ich doch. Von der Trauerrede – ein paar Bruchstücke waren mir in Erinnerung geblieben –, von den Blumen, die in satten Farben geleuchtet hatten, und von der Musikauswahl. Richard Strauss und Bach, das war ganz nach Isoldes Geschmack. Ich verschwieg lediglich, dass ich mich als Erste aus der Kapelle davongestohlen und mir den Gang ans Grab sowie den Leichenschmaus erspart hatte.
„Wie geht es Frau Jensen?“
Sie und meine Mutter waren in meiner Kindheit gute Bekannte gewesen, und meine Mutter hatte nur deshalb nicht kondoliert, weil sie nicht wusste, in welchem Heim sie lebte.
„Sie ist dement. Weißt du doch.“
„Hast du mit ihr gesprochen?“
Ich verneinte.
„Aber du hast ihr dein Beileid ausgesprochen? Und sie von mir gegrüßt?“
„Ja, sicher“, sagte ich mit Blick auf meine Knie und schämte mich umso mehr, feige weggelaufen zu sein. Egal, ob sie mich erkannt hätte oder nicht: Das hätte ich tun müssen.
Meine Mutter schaute durch die offene Tür in den Garten, wo zwei Stare sich um eine letzte Süßkirsche stritten. Es zuckte um ihre Mundwinkel, dann sagte sie mit klarer, fester Stimme: „Du warst da. Bei Josefa. Das allein zählt.“
Sie ahnte es. Sie hatte Antennen dafür, wenn ich nicht hundertprozentig bei der Wahrheit blieb.
„Ja“, erwiderte ich und dachte, dass ich kaum mehr hätte falsch machen können.
Um mich abzulenken, ging ich in die Küche und setzte einen Kaffee auf. Wasser in den Kocher füllen. Fünf Löffel Pulver in die Drückkanne. Tassen aus dem Schrank nehmen. Den Zucker und die Milch für meine Mutter aufs Tablett stellen. Die mechanischen Handgriffe lenkten mich nur kurz davon ab, dass ich auf ganzer Linie versagt hatte. Gleichzeitig stieg Wut in mir auf. Wie war Josefa bloß auf die Idee gekommen, ausgerechnet Ole und mich zu beauftragen? Gab es denn niemanden, der ihr in den letzten Jahren mehr bedeutet hatte? Unvorstellbar.
Ich kämpfte mich durch den Tag. Irgendwie. Es gab viel zu erledigen, und mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks arbeitete ich einen Punkt nach dem anderen ab. Nur als meine Mutter nach dem Abendessen die Vier letzten Lieder auflegte, wurde es mir zu viel, und ich verließ das Haus, um mich mit Jule zum Spazierengehen zu treffen.
„Mach nur, mein Kind“, sagte sie. „Da kommst du auf andere Gedanken.“
Auf andere Gedanken kam ich zwar nicht, aber die leichte Brise belebte mich. Es hatte geregnet, die Luft war abgekühlt, und aus den Gärten und Grünstreifen auf dem Weg zur S-Bahn stieg ein erdiger Geruch auf.
Jule, die mit Mitte vierzig nach wie vor ein ausschweifendes Partyleben in Friedrichshain führte, schrieb für verschiedene Magazine über Lifestyle und stand mir näher als Alexandra, meine Freundin aus der Schulzeit, die immer noch in unserem Heimatort Winsen an der Luhe lebte. Vielleicht war Jule im Laufe der Jahre ein wenig zu dem Menschen geworden, der einst Josefa für mich gewesen war.
Wir trafen uns am Ostbahnhof, sie drückte mich an sich, bis ich kaum noch Luft bekam, dann liefen wir zur Spree hinunter. Um diese Uhrzeit waren an der East Side Gallery kaum Touristen unterwegs, und beim Plaudern betrachteten wir die Kunstwerke an den Resten der Berliner Mauer.
„War Ole eigentlich auch da?“ Jule war vor dem Bild Vergesst mir die Liebe nicht stehen geblieben.
„Keine Ahnung.“
„Wie bitte? Weißt du nicht mehr, wie er aussieht?“
„Er kann sich verändert haben. Außerdem …“ Meine Schultern hoben und senkten sich. „Ich hab nicht nach ihm Ausschau gehalten.“
„Dann war er nicht da. Bestimmt hätte er nach dir gesucht.“
„Was macht dich da so sicher?“
„Na, hör mal, er hat den Kontakt zu dir aufgenommen.“
Jule stopfte die Hände in die Taschen ihres schwarzen Blazers. Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, ein herber Kontrast zu den kurzen blondierten Haaren.
Ich erzählte Jule, dass ich es nicht ausgehalten und die Kapelle vor Ende der Trauerfeier fluchtartig verlassen hatte.
„Er hätte also gar keine Chance gehabt, mich anzusprechen.“
Sie nickte verständnisvoll. „Mach dir keine Gedanken. Du warst da. Das ist doch das Wichtigste.“
Meine Mutter hatte etwas Ähnliches zu mir gesagt. Als hätten die beiden sich abgesprochen. Aber vielleicht war es ja so, dass einem angesichts des Todes immer nur dieselben abgestandenen Worte einfielen.
Eine Weile liefen wir schweigend nebeneinander her, plötzlich stoppte Jule, sah mich aus ihren dunkel geschminkten Augen an und fragte, ob ich es machen würde.
„Was?“
„Zerstreust du Josefas Asche?“
So viele Gedanken waren in meinem Kopf, ich schob sie wie Schachfiguren hin und her, dann sagte ich: „Eher nicht.“
Jule lachte rau. „Was soll das heißen? Da gibt es ja wohl nur ein Ja oder Nein.“
„Eben nicht, Jule, ich …“
Überfordert brach ich ab. Wie sollte ich mein Zögern erklären? Weil es gegen das Gesetz verstieß? Weil es unbequem war und mich aus dem Alltagstrott riss? Weil es absurd war, mit Ole zu verreisen, ausgerechnet mit ihm? Weil ich meine Mutter nicht alleinlassen konnte? Es gab unzählige Gründe, doch sobald ich sie aussprach, klangen sie armselig.
„Würdest du es an meiner Stelle tun?“, stellte ich die Gegenfrage.
Schweigen. Wir schauten uns an. Und wie so oft dachte ich, was hat sie nur für ungewöhnliche Augen.
„Zum Beispiel für mich?“, fuhr ich fort.
Jule zögerte nicht eine Sekunde. „Ja.“
Ihre Antwort beeindruckte mich. Und als ich in der Nacht aufwachte, weil ich geträumt hatte, Josefa und ich würden einen endlos langen Strand entlanglaufen, wusste ich, was zu tun war.
Vier
Ich hatte Ole ein Café am Hackeschen Markt vorgeschlagen. Dorthin fuhr ich mit der S-Bahn und war aufgeregt wie vor einem ersten Rendezvous. Doch das hier war kein Rendezvous. Es war ein Treffen mit einem Mann, für den ich als Mädchen geschwärmt hatte und mit dem ich über den Brief reden musste. So etwas ging nicht am Telefon und in Anwesenheit meiner Mutter, die mir im Nacken saß.
Zur Mittagszeit war das Café brechend voll, und sofort überfiel mich die Befürchtung, Ole nicht zu erkennen oder von ihm nicht erkannt zu werden. Warum war ich nicht ein paar Minuten eher gekommen? Dann hätte ich mir die Peinlichkeit erspart, wie das Schulmädchen von damals im Eingangsbereich zu stehen und meine Blicke durch den Art-déco-Saal schweifen zu lassen.
„Hallo, Mette“, sagte eine vertraute Stimme hinter mir.
Ich fuhr herum.
Der Mann mit der Hornbrille, der auf mich zutrat, war unverkennbar Ole. Ich scannte ihn im Sekundenbruchteil. Die graublauen Augen, die langen Wimpern, das leicht spöttische Lächeln, das mich früher verunsichert hatte. Vermutlich schaute er immer so. Es war sein normaler Gesichtsausdruck und niemals geringschätzig von ihm gemeint gewesen. Ole war ergraut und trug die Locken kürzer als damals, und doch hatte er sich kaum verändert. Der nachlässige Kleidungsstil. Schon früher war er kein Modegockel gewesen, im Gegenteil hatte er absichtlich Sachen angezogen, die nichts hermachten. Um nicht als einer dieser Schnösel zu gelten – der Generalverdacht stellte sich bei seinem Namen unwillkürlich ein –, dessen Eltern ihm alles in den Hintern bliesen. Heute, mit Ende fünfzig, trug er Budapester zu Jeans, dazu ein schwarzes Jackett über einem weißen Shirt. Beim Sakko war ich mir nicht sicher. Es konnte etliche Jahre auf dem Buckel haben – es glänzte am Revers, als wäre es aus Versehen zu heiß gebügelt worden –, aber auch ein auf Vintage getrimmtes Designerstück sein.
Ich erwiderte den Gruß und streckte ihm die Hand hin. Er nahm sie, so betraten wir das Café, ohne dass er meine Hand losließ. Wie ein Paar. Oder wie gute Freunde, die sich seit ewigen Zeiten kannten.
„Wo möchtest du sitzen?“
Er ließ meine Hand wieder fallen und schaute sich um. Nur noch im Nebenraum schien ein Tisch frei zu sein.
„Egal“, sagte ich, obgleich wir ohnehin keine Wahl hatten.
Schon winkte uns die Kellnerin dorthin, und als wir saßen, über Eck, nicht gegenüber, fragte ich: „Du hast mich also gleich erkannt? Von hinten?“
Zu Schulzeiten hatte ich neonfarbene Jacken und Hosen getragen und mir die blonden Haare wild toupiert, vielleicht, um neben der auffälligen Josefa etwas sichtbarer zu werden. Heute trug ich einen kurzen Pferdeschwanz im Nacken, und die Farbpalette meiner Kleidung bewegte sich zwischen Schwarz, Anthrazit, Dunkelblau und Weiß.
Ole lachte, und mir fielen seine makellosen Zähne auf.
„Woran?“
„An deinem Gang, das war ganz leicht.“
Er gestand mir, dass er mir von der S-Bahn bis hierher gefolgt sei und ausgiebig Zeit gehabt hätte, mich zu beobachten.
„Wie gehe ich denn?“
„Mit nach auswärts gedrehten Füßen. Wie eine Ballerina.“
Ich war nie in einer Ballettschule gewesen, aber meine Mutter lief genauso. Am Rollator führte es bisweilen dazu, dass sie mit den Schuhen gegen die Räder stieß.
Wir wechselten ein paar belanglose Worte übers Wetter und die original erhaltene Kassettendecke im Café, zwischendurch warfen wir einen flüchtigen Blick in die Karte, und als ich meinte, dass es genug an Small Talk war, fragte ich Ole, ob er auf der Trauerfeier gewesen sei.
Er nickte in Richtung der aufgeschlagenen Menükarte.
„Ach, wirklich? Ich habe dich in der Kapelle nicht gesehen.“
„Konntest du auch nicht. Ich bin erst zur Urnenbeisetzung gekommen.“
„Da war ich schon wieder weg.“
Seine Nase krauste sich. „Warum?“
„Warum bist du erst so spät gekommen?“, gab ich die Frage zurück.
Er lächelte, und ich studierte das Liniengeflecht rund um seine Augen. Sein Gesicht wirkte hagerer, aber es stand ihm.
„Wie soll ich das jetzt sagen …“ Er setzte sich kerzengerade hin. „Ich hab eine Bahn verpasst. Und dann noch eine. Die dritte habe ich absichtlich wegfahren lassen. Und das aus gutem Grund.“
„Und der wäre?“
„Soll ich ehrlich sein?“
„Unbedingt.“
„Ansprachen und Reden … das ist nicht so mein Ding. Egal, ob Hochzeit, runder Geburtstag oder Trauerfeier.“ Er sah wieder in die Karte; inzwischen musste er sie auswendig können. „Bei den Musikstücken kommen mir manchmal die Tränen. Ich mag es nicht, wenn mich dann alle anstarren.“
„Da bist du nicht der Einzige.“
„Aber ich wette, du heulst nicht bei schmissiger Marschmusik.“
Erleichtert, dass Ole lockerer war, als ich ihn in Erinnerung hatte, lachte ich mit ihm.
„Sieht so aus, als hätten wir uns verpasst“, sagte er schließlich.
Die Kellnerin trat an unseren Tisch, und wir bestellten Kaffee.
„Und zwei von den Muffins. Schoko und Zitrone.“ Oles Blick glitt zu mir. „Das ist dir doch recht?“
Ich nickte. Kuchen war eine ausgezeichnete Idee und eine charmante Geste obendrein.
„Wie war die Feier in der Kapelle?“, fragte er.
„Sehr anrührend.“
„Was wurde gespielt?“
„Richard Strauss. Vier letzte Lieder.“
„Siehst du, Mette. So viele Taschentücher hätte ich gar nicht dabeihaben können.“
Ich erzählte von der Rede, von der nur Bruchstücke bei mir haften geblieben waren, er sagte, dass es ihm bei der Urnenbeisetzung nicht anders ergangen sei. Außerdem habe sein Handy ständig in der Hosentasche vibriert.
„Du siehst, ich bin einfach nicht für Trauerfeiern geschaffen.“
Ich auch nicht, ging es mir durch den Kopf. Und für krumme Dinger auf Friedhöfen sowieso nicht. Josefas Anliegen brannte mir mehr und mehr auf den Nägeln, doch erst, als Kaffee und Kuchen serviert wurden, fasste ich mir ein Herz und sprach Ole auf den Grund unseres Treffens an. Den Brief.
„Bizarr, oder?“
Er hielt mir das Milchkännchen hin, ich lehnte dankend ab.
„Dass sie sogar das Apartment bezahlt hat“, fuhr er fort. „Wer kommt bloß auf so eine Idee?“
„Josefa.“ Ich lachte leise. „Sie war schon früher so.“
Aber wie genau … so? So überdreht? So launenhaft? So eigenwillig? Es war seltsam. Jahrzehntelang waren wir engste Freundinnen gewesen, und trotzdem wusste ich ihre Art nicht treffender zu beschreiben.
„Wie hat sie sich das überhaupt vorgestellt?“, sagte Ole. „Um an die Urne zu kommen, müssten wir … nun ja … kriminell werden.“
„Du meinst, wir würden dafür in den Knast wandern?“, fragte ich mehr zum Spaß, aber Ole erwiderte: „Es ist illegal.“
Auch das war typisch Josefa. Mit dem Gesetz hatte sie es nie so genau genommen. Bereits als Kind nicht. Wie oft hatte ich Schmiere stehen müssen, während sie im Supermarkt Kaugummi und Schokoriegeln geklaut hatte, später waren es Boutiquen gewesen, in denen sie sich neue Sachen unter ihre Jacke gezogen hatte.
„Man könnte sich bei der Friedhofsverwaltung erkundigen“, schlug ich vor.
„Was willst du da fragen? Ob jemand so nett ist und die Urne für uns ausgräbt? Oder ob wir das machen dürfen? Einfach so?“ Ole lächelte mit diesem spöttischen Zug um den Mund, und diesmal war es wohl auch so gemeint. „Du würdest keinen Erfolg haben.“
„Wir haben den Brief über einen Notar bekommen.“
„Was Josefas Anliegen nicht legal macht. Wahrscheinlich kannte er nicht mal den Inhalt des Briefes. Außerdem, wir haben nun mal Gesetze in unserem Land. Die besagen, dass nur bestimmte Leute mit den sterblichen Überresten herumhantieren dürfen. Sonst würden sich vielleicht mehr Menschen einäschern und irgendwo verstreuen lassen.“
„Dann lassen wir es also?“
„Ich möchte dich nicht davon abhalten.“
Ich musterte ihn, schaute auf seinen Mund, auf seine Hände, und noch während ich dachte, dass er nach wie vor einer dieser Männer war, für die es sich zu schwärmen lohnte, sagte ich: „Entweder wir beide oder keiner.“
Ole grinste mich über den Rand der Tasse hinweg an. Nicht spöttisch. Einfach nur überrascht.
„Bonnie und Clyde?“
„Weißt du, was mein erster Gedanke war, als ich Josefas Brief gelesen habe?“, überging ich die Bemerkung.
„Nein?“
„Wie kann sie es wagen, mich noch nach ihrem Tod herumzukommandieren.“
„Hat sie das früher getan?“
Ich bemerkte, dass das Stimmengewirr um uns, das Geklapper des Geschirrs und die zischenden Geräusche der Espressomaschine abgeflaut waren. Die Mittagspause war vorüber; die Berufstätigen strömten in die Büros zurück.
„Mette?“ Ole beugte sich ein Stück vor und sah mich auffordernd an.
Ich hatte aus gutem Grund nicht geantwortet. Es widerstrebte mir, alte Geschichten von damals aufzuwärmen und Josefa womöglich schlechtzumachen. Als wollte ich sie nach dem Eklat vor fünf Jahren gar nicht wieder in mein Leben lassen.
„Sagen wir, sie war die dominantere von uns beiden“, räumte ich ein.
„Das kenne ich. Bei uns auch. Sie wusste immer ganz genau, was sie wollte. Und hat gesagt, wo es langgeht.“
„Aber du warst der Ältere.“
„Trotzdem. Sie hat mich in jeder Diskussion mit durchaus guten Argumenten mundtot gemacht. Und mich unter den Tisch getrunken, das auch.“
O ja, ich erinnerte mich sehr gut an ihre Trinkfestigkeit. War ich schon nach einem Glas Wein beschwipst, hatte Josefa Sekt, Schnaps und Bier in sich hineinschütten können und trotzdem den Überblick behalten. Und die Kontrolle. Sie hatte nie im Suff mit Typen geknutscht, an denen sie kein echtes Interesse hatte. Und sie hatte auch nicht angetrunken nackt im Fluss gebadet, während die ganze Klasse am Ufer stand und sich totlachte.
Ole schob mir den Teller mit dem Gebäck rüber. Ich griff nach dem Zitronenmuffin, der mit einer kandierten Zitronenscheibe garniert war.
„Ich hab’s gewusst! Zitrone, nicht Schokolade.“
„Wieso?“ Einen Moment hatte ich gezögert, ob ich nicht doch lieber den anderen Muffin nehmen sollte.
„Hattest du nicht früher immer diese sauren Zitronendrops dabei? In so einer kleinen Dose?“
Ich nickte. Dass er sich daran erinnerte. Wir kosteten den Kuchen, kamen auf die besten Bäckereien Berlins zu sprechen, tauschten uns über Wochenmärkte und Käsestände aus. Und im gleichen Maße, wie die Themen belangloser wurden, rückte die Frage, was wir tun sollten, in den Vordergrund. Oder ob wir uns so verhielten, als hätten wir die Post vom Notar nie bekommen.
„Als du mich angerufen hast …“ Ole schaute mich ohne Wimpernschlag an. „Warst du da schon entschlossen, es zu tun?“
Ich nickte langsam.
Ole hob die Augenbrauen, so als hätte ich etwas wirklich sehr Seltsames gesagt, und ich sah mich bemüßigt, mich zu rechtfertigen.
„Ich wollte es erst auch nicht. Im Ernst, es war das Letzte, was ich tun wollte. Auf der Trauerfeier hab ich noch gedacht, nein, das mache ich nicht, auf gar keinen Fall, Josefa, das kannst du dir abschminken, ein Grab ausheben, also wirklich …! Deswegen wollte ich auch gar nicht wissen, wo die Urne in die Erde kommt.“ Ich hatte zu schnell gesprochen, die Sätze waren aus mir hervorgebrochen, und ich musste erst wieder zu Atem kommen. „Aber ganz ehrlich … Tut man so was nicht für die beste Freundin? Für einen Menschen, der einem mal sehr nah war?“
Ich leerte die Kaffeetasse in einem Zug und stellte sie klirrend ab.
„Soso.“ Ole lehnte sich nach hinten, verschränkte die Hände am Hinterkopf und kniff die Augen zusammen. Ähnlich wie früher in der Kunst-AG, wenn er sich unsere Bilder angesehen und sie zerpflückt hatte. An Josefas Werken hatte er nie ein gutes Haar gelassen, doch mich hatte er gelobt, damals an diesem heißen Tag Anfang Mai. Ich hatte mich an einem weiblichen Akt versucht, was mir peinlich vor ihm war, aber er hatte nur ein Wort gesagt: „Magisch.“ Vermutlich war das der Moment, in dem ich mich in ihn verliebt hatte, an jenem Tag im Frühsommer. Ich hatte Josefa erzählt, wie süß, wie absolut hinreißend ich sein Lächeln fand, aber dass das ja eh alles Quatsch sei, weil Ole viel zu alt für mich sei. Wenige Wochen darauf war meine Freundin mit ihm zusammengekommen. Nur, dass es diesmal kein Quatsch war, zumindest nicht für die beiden.
„Hab ich was Falsches gesagt?“, fragte ich, weil Ole mich immer noch taxierte.
„Nein.“ Er schüttelte sacht den Kopf. „Nein, Mette! Mich beeindruckt nur deine Entschlossenheit. Früher dachte ich immer …“
„Nein, Ole, ich bin nicht mehr das unbedarfte Mädchen von damals.“
„So hab ich nie über dich gedacht.“
„Sondern?“
„Du warst zurückhaltend, nicht so extrovertiert wie Josefa. Es war schwer, hinter deine Fassade zu blicken.“
„Das musstest du auch nicht“, erwiderte ich eine Spur gereizt. „Als mein Lehrer.“
„Also gut, Mette.“ Ein schabendes Geräusch entstand, als er sich das unrasierte Kinn rieb. „Dann machen wir es.“
„Sicher?“
„Ja.“ Ein kleines Lächeln fräste sich in sein Gesicht. „Ich war noch nie kriminell. Es wird Zeit, neue Wege einzuschlagen.“
Er nahm eine zerfledderte Ledergeldbörse aus der Hosentasche und legte einen Zwanziger auf den Tisch. „Ich lade dich ein.“
„Danke.“
„Hast du ein Auto?“, fuhr er fort.
Ich nickte.
„Das trifft sich gut. Ich nämlich nicht.“
„Aber erwarte keinen Luxusschlitten.“
„Keine Sorge, ich hab mir noch nie was aus Autos gemacht.“
Als Josefa mit ihm zusammen war, hatte sie sich öfter darüber beklagt, dass er sie nicht in einem der repräsentablen Familienschlitten ausgeführt hatte, sondern mit seinem klapprigen Fahrrad angefahren kam. Und sie ihr eigenes klappriges Rad hatte nehmen müssen. Nicht mal ein schäbiges Mofa, wie es in der Generation der Babyboomer üblich war, hatte er besessen.
„Weißt du, was wirklich Luxus ist?“, fuhr er fort.
Ausschlafen, nicht nach der Pfeife meiner Mutter tanzen, mich immer, wenn ich Lust habe, mit Jule treffen, rasselte ich in Gedanken herunter.
„Die Freiheit, tun und lassen zu können, was man will“, sagte er.
„Mein Reden“, erwiderte ich, und dann brachen wir auf.
"Das Verschickungsheim Schloss am Meer in Hörnum auf Sylt ist fiktiv, ebenso Tante Walli und alle anderen Figuren in meinem Roman. Der Hintergrund der Geschichte, das Martyrium der Verschickungskinder, ist es nicht. Schätzungen zufolge sind zwischen den 1950er- und 1980er-Jahren acht bis zwölf Millionen Kinder in Kindererholungsheime verschickt worden, von Jugend- und Gesundheitsämtern, Krankenkassen und Rentenversicherungen initiiert.
Ein Massenphänomen und zudem lukrativer Wirtschaftszweig. Ärzte verschrieben die Kuren, auf denen viele Kinder systematisch gedemütigt und gequält wurden, oft ohne nachvollziehbare medizinische Indikation. Prügel, Esszwang, Toilettenverbot – es gab unzählige grausame Erziehungsmaßnahmen der sogenannten Schwarzen Pädagogik. Viele Betroffene leiden noch heute unter Depressionen, Angst-, Schlaf- und Essstörungen." Jule Henning
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