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Unersättlich (Amanda Paller 2)

Unersättlich (Amanda Paller 2) - eBook-Ausgabe

Anna Karolina Larsson
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Thriller

„Rasant, spannend und nichts für schwache Nerven!“ - OK!

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Unersättlich (Amanda Paller 2) — Inhalt

Stockholm wird von einer grauenhaften Mordserie erschüttert: Völlig unbescholtene Menschen fallen im Drogenrausch über ihre Angehörigen her und verspeisen sie. Drei solcher „Kannibalenmorde“ muss Amanda Paller, inzwischen alleinerziehende Mutter von Zwillingen, aufklären. Gleichzeitig wird Amanda von ihrer Vergangenheit und ihren Verbindungen zum kriminellen Milieu eingeholt. Denn auch Adnan, der Vater ihrer Kinder, ist wieder in der Stadt ...

€ 7,99 [D], € 7,99 [A]
Erschienen am 01.12.2017
Übersetzt von: Max Stadler
304 Seiten
EAN 978-3-492-97866-8
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Leseprobe zu „Unersättlich (Amanda Paller 2)“

Sie nahm das oberste Messer aus der Besteckschublade. Legte es beiseite und suchte nach einem anderen. Größeren. Schärferen. Gabeln, Löffel und Käsehobel schwebten an ihr vorüber. Sie befand sich in einer anderen Welt, obwohl sie wusste, dass sie im Haus in Duvbo war. Sie stützte sich mit beiden Händen auf der Arbeitsplatte ab und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Schließlich fand sie das größte Messer. Sie fuhr mit dem Daumen über die Klinge. Die Haut entfaltete sich wie eine Blume. Entblößte das Fleisch. Blut. Leben. Sie leckte und saugte es [...]

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Sie nahm das oberste Messer aus der Besteckschublade. Legte es beiseite und suchte nach einem anderen. Größeren. Schärferen. Gabeln, Löffel und Käsehobel schwebten an ihr vorüber. Sie befand sich in einer anderen Welt, obwohl sie wusste, dass sie im Haus in Duvbo war. Sie stützte sich mit beiden Händen auf der Arbeitsplatte ab und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Schließlich fand sie das größte Messer. Sie fuhr mit dem Daumen über die Klinge. Die Haut entfaltete sich wie eine Blume. Entblößte das Fleisch. Blut. Leben. Sie leckte und saugte es auf. Der Eisengeschmack war himmlisch. Wenn sie nicht bald mehr davon bekam, würde sie verhungern. Sie machte die Schublade zu und hörte die Kindersicherung einrasten. Die Uhr an der Wand tickte zu laut, zu schnell. Sie konnte nicht erkennen, wie spät es war. Die Zeiger bogen sich und lebten ihr eigenes Leben. Ihr blieb keine Zeit mehr. Sie verließ die Küche und ging ins Wohnzimmer.

Das Mädchen hockte mit angezogenen Knien auf dem Sofa, den Blick auf einen Zeichentrickfilm geheftet, während seine Hand rasch zwischen der Schale mit Popcorn und dem Mund hin- und herwanderte.

Süßes Kind. Die Kleine hatte noch immer die Zöpfe, die sie am Vormittag gemacht hatten.

Morgen würden sie zusammen zum See gehen und die Vögel mit den Brotresten füttern, die sie gesammelt hatten. Morgen.

Vorher musste sie nur essen.

Das Messer sauste herab. Ein Mal. Zwei Mal. Unzählige Male.

Das Blut erbot so viel Gutes. Sie schleckte. Kaute. Riss.

Doch irgendetwas war komisch.

Ein Gefühl. Intuition.

Und die Stimme. Die seltsame Stimme im Hintergrund, die ihr ruhig und bestimmt sagte, dass alles in Ordnung sei, und sie leitete.

Sie schluckte etwas Zähes, bevor sie das verschmierte Messer beiseitelegte. Warme Flüssigkeit rann aus ihren Mundwinkeln, und sie wischte sie mit dem Handrücken weg.

Merkwürdig. Die Gestalten im Fernsehen tanzten und lachten höhnisch.

Sie schaltete das Gerät aus und hob ein Stück Popcorn vom Boden auf.

Schlampiges Kind. Morgen würden sie zusammen die Vögel füttern. Sie lächelte bei dem Gedanken. Schön.

Die Stimme sprach sanft zu ihr.

Verlierst du erst einen, dann bleibt dir niemand mehr.

„Hast du gehört, was passiert ist?“

Amanda war noch nicht einmal ganz aus dem Aufzug getreten, als Crippe ihr die Frage schon aus dem Flur entgegenrief. Sie ahnte, dass er unterwegs zum Pausenraum war. Der Kaffeeduft erfüllte das halbe Treppenhaus.

„Guten Morgen.“

Crippe schüttelte den Kopf. „So etwas Krankes. Wir beide sollen das Verhör übernehmen. Komm.“ Er ging weiter, und sie folgte ihm. Es musste etwas Außergewöhnliches geschehen sein. Crippe regte sich nicht so leicht auf. Er hatte schon einiges miterlebt. Genauso wie sie und alle anderen im fünften Stock des Polizeigebäudes von Västerort.

Crippe hatte sich bereits Kaffee eingegossen. Amanda öffnete einen Schrank und holte ihre eigene Tasse hervor, auf der zwei lächelnde Gesichter prangten, deren gute Laune sogleich auf sie abfärbte. Ihr wurde ganz warm innerlich, als sie ihre Zwillinge erblickte. Die beiden fehlten ihr schon, obwohl sie die Kleinen erst vor einer Viertelstunde in der Krippe abgegeben hatte.

„Erzähl“, sagte sie.

„Sie haben heute Nacht eine Frau verhaftet. Sie hat ihre sechsjährige Tochter verspeist.“

„Was hat sie getan?!“

„Der Nachbar hat es gemeldet. Er hat die Frau blutüberströmt aufgefunden und Alarm geschlagen. Dachte, dass sie die Verletzte sei. Als die Streife ankam, stießen sie auf ein Mädchen im Wohnzimmer. Es sah aus wie in einem Schlachthaus. Die Jungs sind noch in der Station, falls wir mit ihnen reden wollen. Sie haben eine Nachbesprechung mit den Sanitätern. Aber ich hab alles schriftlich. Das kannst du lesen“, sagte Crippe.

Sie blätterte den Stapel durch. Festnahmeprotokoll, Anzeige, Vernehmung der Nachbarn, die Liste der beschlagnahmten Gegenstände.

„Die Techniker sind im Moment dort“, fuhr Crippe fort, „und die Kripo hat schon die Nachbarn vernommen, aber das scheint nichts gebracht zu haben.“

Amanda blickte wieder auf das Protokoll: Nina Liljedahl. Fünfunddreißig Jahre alt. „Woher wissen sie, dass sie es war? Hat sie gestanden?“

„Bis jetzt konnte sie noch nicht vernommen werden. Offenbar war sie völlig zugedröhnt. Aber sie kaute an einem Ohr, als die Streife eintraf.“ Crippe verzog das Gesicht. „Wir sollen es jetzt probieren, der Wärter meinte, dass sie wieder halbwegs zu sich gekommen ist und die ganze Zeit fragt, was passiert ist.“

„Weiß sie das nicht?“

Crippe zuckte die Achseln. „Wir werden sehen, was sie uns erzählt. Was sie mit ihrer Tochter getan hat, ist doch vollkommen krank. Die Drogen müssen ihr den Verstand geraubt haben.“

Amanda ging in den Umkleideraum, um ihre Sachen zu holen. Eigentlich war es ein Büro, in dem provisorisch einige alte Holzschränke untergebracht waren, in denen sie ihre persönliche Ausrüstung aufbewahrten. Sie zog ihre schwarze hüftlange Lederjacke und den Schal mit dem Leopardenmuster aus und fädelte einen schwarzen Gürtel mit dem Aufdruck POLIZEI durch die Ösen ihrer Jeans. Daran hingen die Handschellen und ein Holster. Mehr konnte sie nicht tragen, ohne dass es zu sehr auffiel. Sie ging zu ihrem Schreibtisch, der an einer Wand in der Bürolandschaft stand, und loggte sich in ihren Computer ein. Während er hochfuhr, zog sie die Gardinen ein wenig zur Seite, um etwas von dem grauen Tageslicht hereinzulassen. Crippe wartete ungeduldig. Amanda hatte bemerkt, dass er sich seit einiger Zeit bewusster kleidete. Heute trug er ein armeegrünes T-Shirt, das sich über seinen Brustkorb spannte. Er befand sich in einem Scheidungsverfahren und hatte plötzlich rund zehn Kilo abgenommen. Jeden Tag ging er in den Kraftraum und achtete sehr auf seine Ernährung. Oft aß er Thunfisch oder Hühnchen. Amanda holte erneut das Festnahmeprotokoll hervor und suchte nach Nina Liljedahls Personennummer in der Datenbank. Sie stockte, als sie das Ergebnis las.

Sie schnappte sich die Ermittlungsakte und ging zu Crippe. Im Aufzug auf dem Weg ins Erdgeschoss vereinbarten sie, dass Amanda die Gesprächsführung übernehmen sollte. Micke, der Wärter, wirkte erleichtert, als sie zu ihm kamen. Offenbar schlug Nina seit einer Stunde ununterbrochen gegen die Tür und schrie hysterisch. Micke wollte eine Pause einlegen und frühstücken. Doch nun führte er sie erst einmal durch den langen Korridor. Schon von Weitem hörten sie Nina schreien, und als sie die Tür öffneten, sank eine zierliche Frau zu Boden. Sie weinte und fragte immer wieder, warum man sie eingeschlossen habe. Amanda und Crippe versuchten, sie auf dem Weg zum Vernehmungsraum zu beruhigen. Sie nahmen Platz. Ein Schreibtisch stand zwischen ihnen und Nina. Amanda verzichtete auf Notizblock und Stift. Sie wollte erst einmal so mit der Frau sprechen, ohne den Eindruck zu erwecken, dass sie ein reguläres Verhör führten.

„Wissen Sie, warum Sie hier sind?“

Nina sah auf und schüttelte den Kopf. Schluchzend sagte sie: „Als ich aufgewacht bin, war ich hier eingeschlossen. Ich habe Panik bekommen. Warum will mir niemand sagen, warum ich hier bin? Und wo ist Olivia? Um Himmels willen! Johan ist ja weg. Wer kümmert sich um Olivia?“

„Wir haben Johan erreicht, und er ist auf dem Nachhauseweg.“

Ninas Unterlippe zitterte. „Aber warum bin ich hier? Ich kann mich an nichts erinnern. Ich habe einen totalen Blackout.“

„Nina, sehen Sie mich an.“ Amanda blickte ihr in die Augen und erkannte Verzweiflung und Angst. Sie würde gezwungen sein, das alles noch schlimmer zu machen. „Ich werde Sie jetzt vernehmen.“ Sie schluckte. „Sie werden verdächtigt, Ihre Tochter umgebracht zu haben.“

Stille. Der Stuhl, auf dem Nina saß, bebte.

Tränen stiegen Amanda in die Augen, und mühsam hielt sie sie zurück. Sie starrte auf eine Büroklammer, die auf dem Schreibtisch lag, und dachte, welch schöne Form sie doch hatte. Welch eine intensive blaue Farbe. Sie versuchte, sich abzulenken, nur damit sie nicht losweinte.

Dann nahm sie all ihre Kraft zusammen und blickte wieder in Ninas Gesicht. „Der Mord geschah in Ihrem Haus in der Nacht von gestern auf heute, also zwischen dem fünften und sechsten April. Sie sollen wissen, dass Sie ein Recht auf einen Verteidiger während der weiteren Vernehmung haben. Möchten Sie das?“

Nina umklammerte die Tischkante und sah aus, als könnte sie jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. „Das muss ein Irrtum sein“, stammelte sie.

„Sollen wir warten, bis ein Verteidiger da ist, bevor wir weitermachen?“

„Nein! Ich will wissen, was passiert ist!“ Nina schlug mit den Fäusten auf den Tisch. „Was ist passiert? Was ist passiert?“, schrie sie. Das braune Haar blieb an den mit Tränen überströmten Wangen kleben.

„Ganz ruhig. Bleiben Sie ruhig.“ Es kam nicht infrage, jetzt irgendwo einen Anwalt aufzutreiben, der erst noch aus Stockholms Innenstadt zum Polizeirevier von Solna fahren musste. Sie würde es kurz machen. Es war ja trotz allem nur eine einleitende Vernehmung. „Können Sie uns sagen, was Sie gestern Abend gemacht haben?“

„Ich weiß es nicht! Ich erinnere mich an nichts!“ Dann, plötzlich, verstummte Nina mit angsterfülltem Blick. Sie schob die Ärmel ihres viel zu großen Pullovers hoch und betrachtete ihren Arm. „Ich hatte Blut an den Armen. Oh Gott, ich hatte Blut an den Armen! Und in den Haaren!“ Sie packte eine tränendurchnässte Strähne. Ihre Finger nahmen ein schwaches Rosa an. „Ich habe noch immer Blut in den Haaren! Was ist bloß passiert?! Wo ist Olivia?!“ Sie sprang voller Entsetzen auf, und der Stuhl fiel um.

Crippe legte ihr den Arm um die Schultern. „Wie wir Ihnen schon gesagt haben: Ihre Tochter wurde ermordet. Es tut uns schrecklich leid.“

Nina sackte in sich zusammen. Sie zitterte und gab jammernde unkontrollierte Laute von sich, die Amanda erschaudern ließen. Crippes beruhigende Worte erreichten sie nicht.

„Wir beenden die Vernehmung an dieser Stelle“, sagte er schließlich.

Amanda wollte sich wieder auf die Büroklammer konzentrieren, um sich selbst zu beruhigen. Aber ihre Sicht verschwamm. Mit dem Zeigefinger fuhr sie über ihre Lider, atmete tief durch. Sie versuchte, die Mascara nicht zu verschmieren. Dann erst folgte sie Crippe und Nina in Richtung Zelle.

Nina protestierte nicht. Sie war verstummt. Ihr Körper glich einem ausgewrungenen Lappen. Sie ging in die Zelle und setzte sich auf das Bett mit der Gummimatratze.

Crippe schloss hinter ihr die Tür ab. Er drehte sich zu Amanda und stieß schließlich einen gequälten Seufzer aus. „Was denkst du?“

„Sie sagt die Wahrheit.“ Amanda räusperte sich, um ihre Stimme zu festigen. „Sie erinnert sich wirklich an nichts.“

„Ich habe gespürt, dass wir nicht weiterkommen würden. Deshalb habe ich abgebrochen. Wie geht es dir?“

„Alles okay. Doch man sollte sie in die Psychiatrische bringen.“

Crippe nickte. „Ich bespreche das mit der Einsatzleitung.“

Sie gingen durch den Korridor zurück, in dem nun vollkommene Stille herrschte. Niemand schrie mehr. Der Wärter befand sich vermutlich noch immer im Pausenraum. Amanda dachte nach. Ja, das war das Angenehme an der Arbeit mit Crippe, sie schuldete ihm nie eine Entschuldigung oder Erklärung. Seit sie selbst Kinder hatte, war sie dünnhäutiger geworden. Der Hebamme zufolge lag das an einem Hormonschub, der sie ihr restliches Leben begleiten würde. Das hatte etwas Gutes und Schlechtes, fand Amanda. Sie hasste es allerdings, in Situationen zu geraten, in denen sie unprofessionell reagierte. Aber Nina Liljedahl war keine gewöhnliche Verdächtige. Sie hatte ihre Tochter verspeist. Und sie erinnerte sich an nichts, weil sie unter starkem Drogeneinfluss stand. Seltsam war auch, dass sie im Polizeiregister nicht im Zusammenhang mit Drogendelikten auftauchte. Nina Liljedahl war ein unbeschriebenes Blatt. Dasselbe galt für ihren Mann Johan. Warum rutschte eine Frau mit einem scheinbar normalen Familienleben auf einmal ins Drogenmilieu ab? Amanda würde sie das bei der nächsten Vernehmung fragen müssen.

 

Amanda drehte den Wasserhahn zu, und das donnernde Geräusch im Badezimmer verstummte. Zu hören waren nur noch das Planschen und die fröhlichen Ausrufe, wenn Charlie und Greta Boote ineinanderkrachen ließen und Springbrunnen spielten. Ihre Kinder waren ihr Ein und Alles. Und so unschuldig. Sie wurden noch von der Wirklichkeit da draußen verschont.

Doch wie hatte alles nur so schiefgehen können? Hätte sie etwas anders machen sollen? Ihre Gedanken waren unsortiert und schwer zu greifen.

Nach der Vernehmung von Nina Liljedahl hatten Amanda und Crippe mit der Streife und den Sanitätern gesprochen, die als Erste am Tatort eingetroffen waren. Sie berichteten, dass Nina nicht ansprechbar gewesen sei. Sie sei wie in Trance umhergewandert und habe unzusammenhängende Dinge gemurmelt. Überall sei Blut gewesen. Auf ihrer Kleidung, an den Händen, im Gesicht. Erst hätten sie gedacht, sie kaue auf einem Kaugummi herum. Dann hätten sie das Ohr in ihrem Mund entdeckt. Sie fanden den Körper des toten Mädchens auf dem Sofa im Wohnzimmer. Für die Helfer gab es nichts mehr zu tun. Der Kopf war abgetrennt und das halbe Gesicht zerstört. Doch mitten im Gespräch heulte der interne Alarm los, und die blaue Lampe an der Decke rotierte. Jemand auf dem Revier hatte den Überfallalarm ausgelöst. Amanda wusste instinktiv, dass er von den Arrestzellen kam, und rannte zur Tür. Mehrere Kollegen eilten hinterher, da sie erwarteten, dass Micke allein war und Hilfe brauchte. Amanda hingegen dachte nur an Nina Liljedahl und ahnte das Schlimmste. Sie hielt ihre Karte über das Lesegerät und lief zu Ninas Zelle. Micke stand da und deutete ins Innere, ohne etwas zu sagen. Unfähig, sich vom Fleck zu bewegen.

Nina hockte am Boden, schräg nach vorn gelehnt. Das eine Hosenbein war um den Hals geknotet, das andere an einem Wasserrohr befestigt. Mehr brauchte es nicht, um sich zu erhängen. Den Rest erledigte das Körpergewicht.

Amanda hielt sie fest, während Crippe versuchte, den Knoten um den Hals aufzukriegen. Jemand gab ihm ein Messer, und er schnitt die Hose durch. Der Notarzt wurde gerufen.

Schließlich lag sie auf dem kalten Betonboden. Nina Liljedahl, fünfunddreißig Jahre. Bleich und tot. Noch ein Selbstmord in polizeilichem Gewahrsam, der geklärt werden musste.

Amanda zuckte zusammen, als sie Wasserspritzer ins Gesicht bekam. Charlie krümmte sich vor Lachen. Ganz im Gegensatz zu Greta, der ihr Bruder eine ganze Kanne über den Kopf geschüttet hatte.

„Raus, Mama. Will raus, Mama.“ Greta streckte die Arme nach Amanda aus, die ihr über den Rand der Badewanne half. Sie trocknete die Kleine mit einem Handtuch ab, auf dem Pippi Langstrumpf abgebildet war. Wickelte das dunkelbraune Haar darin ein und formte damit einen Turban auf dem Kopf. Greta liebte das. Sie wollte immer alles so machen wie ihre Mutter. Sie kicherte entzückt, verstummte aber sogleich und blickte Amanda mit großen Augen an.

„Warum hast du eine andere Farbe, Mama?“ Greta vergrub die Finger in Amandas blondem Haar.

Amanda lächelte. „Weil das manchmal so ist. Ich habe helle Haare, und euer Papa hat dunkle, wie du und Charlie.“

„Aber wir haben keinen Papa. Wo ist sie?“

„Er. Papa ist ein Er. Und ihr habt natürlich einen Papa. Alle haben einen Papa.“

„Aber wo ist sie?“

Amanda gab ihr einen Kuss auf die weiche, runde Wange. „Das erzähle ich euch irgendwann mal, wenn ihr ein bisschen größer seid.“

„Ich bin ein großes Mädchen.“

„Ja, das bist du. Wie alt bist du?“

Greta verzog den Mund, während sie nachdachte. „Eins, zwei, vier.“

„Du bist bald drei Jahre alt. Das weißt du doch, oder?“

Greta schien mit der Unterhaltung zufrieden zu sein und lief hinaus, um ihren Schlafanzug zu holen. Unter wildem Protest holte Amanda Charlie aus der Wanne und zog den Stöpsel heraus. Das Wasser rann gurgelnd den Abfluss hinab. Die beiden waren sehr unterschiedlich. Greta war schüchtern und nachdenklich. Charlie ein Wirbelwind, der mit allem Möglichen kollidierte. Mehr wie sein Vater, nahm Amanda an. Schwer zu sagen, nachdem sie nur sehr kurze Zeit zusammen gewesen waren.

Aber sie hatte das Beste bekommen. Etwas, das sie sich nie erträumt hätte.

Zwillinge.

Greta und Charlie.

Ihr Ein und Alles.

Adnan goss Tequila in fünf Gläser und stellte Salz und einen Teller mit Zitronenscheiben hin. Die Typen an der Bar johlten begeistert und schleckten sich übers Daumengelenk. Sie schütteten Salz darauf und leckten es ab. Kippten ihren Tequila hinunter und schmatzten stolz. Die Zitronen ließen sie links liegen. Wollten sich wohl gegenseitig beeindrucken. Adnan hatte die Schnauze voll von trinkfreudigen Touristen, aber mit dem Mixen von Drinks hielt er sich immerhin gut über Wasser. Seit einem Jahr etwa arbeitete er für Ragnar Johnsson, einen Schweden, der mit seiner kambodschanischen Frau in Sihanoukville ein Restaurant und eine Bar betrieb. Sie waren sich in der Wildweststadt über den Weg gelaufen, wie Ragnar den Ort nannte. Ein Loch, in dem man landete, wenn man mit dem Boot aus Thailand nach Kambodscha reiste. Und Adnan sah das ähnlich, es war eine gesetzlose Gemeinschaft. Bärtige Europäer, die sich hier zur Ruhe gesetzt hatten und das Geschäft mit Bestechung und Versprechen von einem besseren Leben am Laufen hielten. Nur die Tatsache, dass statt Pferden Mopeds umherrasten, verhinderte das Aufkommen eines wahrhaftigen Clint-Eastwood-Feelings. Nachdem sie ein paar Biere getrunken hatten, während sie auf das Boot nach Sihanoukville warteten, hatte Ragnar Adnan einen Job angeboten. Adnan war baff gewesen. Ein Job! Auch wenn es erst einmal nur auf Probe war. Für solche wie ihn gab es keinen Zugang zum Arbeitsmarkt, zumindest nicht in Schweden. Aber nach nur wenigen Stunden in dem neuen Land hatte er sich eine Einkommensquelle verschafft. Eigentlich waren feste Arbeitszeiten und ein regelmäßiges Gehalt nicht Adnans Ding. Aber für eine Weile war es ganz nett, sich an einem Ort niederzulassen. In Sihanoukville. Dass er den Namen nicht aussprechen konnte, machte nichts.

Die Küstenstadt hatte ihn beeindruckt. Vielleicht lag es auch daran, dass er so fulminant im Wilden Westen durchgestartet war. Sihanoukville verfügte über das meiste: Bistros, Fitnessstudios, asphaltierte Wege. Luxuriöse Hotels konkurrierten mit einfacheren Bungalows, und die Touristen fuhren mit Mopedtaxis, ganz egal, wie viel Gepäck sie dabeihatten.

Morgens joggte Adnan am Strand, abends stemmte er Gewichte. Er aß Currygerichte und fuhr Moped. Jobbte in der Bar. Das war es auch schon.

„Fünf Angkor bitte.“ Einer der Typen wedelte mit einem Geldschein.

Er holte die Flaschen aus dem Kühlschrank und öffnete sie. Stellte sie in wattierte Halterungen, die das Kondenswasser auffingen. Die Kerle becherten um ihr Leben, prosteten einander zu und johlten. Einer von ihnen hatte erzählt, dass sie aus Nordschweden kämen. Aus Lule. Adnan hatte nie kapiert, weshalb man bei jedem zweiten Wort unbedingt den letzten Buchstaben weglassen musste. Aber sonst waren sie in Ordnung. Redeten ziemlich viel, wenn sie tranken.

Er schaute auf seine Uhr, eine falsche Rolex, die er auf dem örtlichen Markt erstanden hatte. Noch eine Stunde bis zum Feierabend. Er stellte noch ein paar Bier in den Kühlschrank. Wischte die Spüle trocken und knotete einen Müllbeutel zu.

Da sah er ihn. Den Rollstuhl vor der Bar. Er schaute genauer hin. Fuhr sich mit einem Handtuch über die verschwitzte Stirn. Das konnte nicht sein! Zwei Gäste versperrten ihm einen Augenblick die Sicht, als sie dem Mann im Rollstuhl über die Schwelle halfen.

Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er war es: Hajir. Adnan konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Zugleich: Furcht. Die Erinnerungen, vor denen er geflohen war, übermannten ihn. Warum war er hier? Hajir El-Batal. Sein bester Kumpel von früher.

Ihre Blicke kreuzten sich. Ein Billardtisch zwischen ihnen. Zwei Tussis und zwei Typen lieferten sich ein Match. Die Nordschweden johlten und versuchten, ein paar Amerikanern beizubringen, „Skål“ zu sagen. Hajir rollte um den Billardtisch herum und musste sich wegen eines Billardqueues wegducken. Als er ihn packte, blickte die junge Frau irritiert auf und wollte sich schon beschweren, doch dann sah sie den Behinderten. Oder war es Hajirs Blick, der sie verstummen ließ? Das Irre, das stets in seinen Augen leuchtete, das hinter der ruhigen Fassade zu erahnen war?

Hajir ließ den Queue los und rollte weiter. Er hatte ordentlich zugelegt und sah viel lebendiger aus als bei ihrer letzten Begegnung. Starke Arme, vermutlich, weil er den Rollstuhl bewegen musste. Der Bauch ragte ein bisschen zu sehr unter dem hellblauen Polohemd hervor. Die Beine hingen herab.

„Was empfiehlt der Barkeeper?“ Die vertraute Stimme. Tief. Rau.

„Ein Angkor vielleicht?“

„Dann nehme ich das.“

Adnan öffnete zwei Flaschen. Das Wiedersehen musste gefeiert werden, selbst während der Arbeitszeit.

„Verdammt.“ Er schüttelte den Kopf. Streckte die geballte Faust aus. Hajir schlug dagegen. „Schön, dich zu sehen, Mann.“

„Dito.“

Sie nahmen ein paar Schlucke von dem eiskalten Bier. Es schmeckte schwindelerregend gut. Adnan hatte seit mehreren Wochen keinen Alkohol getrunken, weil er sich voll aufs Training konzentrieren wollte. Sein Bizeps war größer als je zuvor. Der Sixpack steinhart. Die Kondition top.

„Wie hast du hergefunden?“

„Wie viele Ragnar gibt es in Sihanoukville?“

Adnan lachte über die Aussprache. „Sag das noch mal.“

Hajir übertrieb: „Si…ha…nouk…ville.“

Sie lachten noch lauter.

Das erste Mal seit drei Jahren fühlte sich Adnan wieder wie er selbst. Sie prosteten einander erneut zu und tranken. Zwischendurch bediente Adnan Gäste. Hajir machte Bekanntschaft mit Ragnar und seiner Frau Arun. Ragnar wirkte erstaunt, ihn zu sehen, schien sich aber für Adnan zu freuen. Adnan hatte Ragnar viel erzählt. Auch, wie Hajir im Rollstuhl gelandet und es in gewisser Weise Adnans Schuld gewesen war. Dass er selbst nur noch mit Hajir in seiner Heimat Kontakt hatte, nach allem, was passiert war. Er hatte Ragnar mehr anvertraut als beabsichtigt. Aber natürlich hatte er ihm nicht alles verraten. Wie erzählte man Dinge, die man jeden Tag verzweifelt zu vergessen suchte? Er war froh, überhaupt am Leben zu sein. Obwohl alles so gründlich in die Hose gegangen war.

Eine Stunde später hatte Adnan die letzten Gäste nach draußen gescheucht, und Hajir und er waren allein. Sie saßen an einem Holztisch, an dem Adnan einen Stuhl entfernt hatte, um Platz für Hajir zu schaffen.

„Ist es nicht Zeit für dich, nach Hause zu gehen?“ Hajir sah ernst drein.

Adnan wand sich und nahm noch einen Schluck von seinem Bier.

„Gefällt es dir hier?“, fragte Hajir weiter.

Adnan nickte. „Ich hab mich dran gewöhnt. Ragnar ist ein feiner Kerl. Klar ist es …“

„Ich hätte einen Job für dich, falls du interessiert bist.“

Adnan horchte auf. Zugleich mahnte er sich, keine zu großen Hoffnungen zu hegen. „Was für einen Job?“

„Kein Drogenmist wie früher“, antwortete Hajir. „Damit hab ich nichts mehr zu tun, das weißt du. Ich handle jetzt mit Autos. Luxuskarossen. Hab eine eigene Firma.“ Hajir berichtete.

Die Nachfrage nach den Wagen war riesig. Sie klauten die Fahrzeuge mit Schlüsseln und waren schon über die Öresundbrücke, bevor die Besitzer überhaupt checkten, dass ihre Karre weg war. Werkstätten in Europa besorgten neue Nummernschilder und änderten die Fahrgestellnummer. Hajir hatte ein kleines Imperium aufgebaut. Fünfzehn Angestellte, musste aber noch weiter expandieren. Er brauchte Leute, auf die er sich verlassen konnte. Ein Nullachtfünfzehn-Normaloleben sei nicht drin, meinte er. Nicht, wenn man so sei wie sie. Wie er und Adnan. Ihre Herkunft verhindere das.

Adnan kam das alles sehr bekannt vor. Die Action lockte. Die Kohle. Die Freiheit. Das war nichts Neues. Er hatte das alte Leben nur eine Weile lang beiseitegeschoben und war eigentlich davon ausgegangen, dass Hajir es ebenso gemacht hatte, nachdem man ihm in den Rücken geschossen hatte und er fast gestorben wäre. Nachdem er mit Isabella eine Familie gegründet und zwei Kinder und einen Nachzügler als Extrazugabe bekommen hatte. Aber Hajir hatte es sich anders überlegt. Er hatte begriffen, dass die schwedische Gesellschaft niemanden begnadigte. Im Gegenteil, sie zwang jeden verurteilten Menschen zurück in die Kriminalität. Ob dieser wollte oder nicht. Einmal Ganove, immer Ganove. Aber im Laufe der Jahre wurde man klüger. Warum Koks verticken, wenn man viel Moos mit schnellen Karossen verdienen konnte? Es gab weniger Risiken und höhere Summen für alle Beteiligten.

Adnan lauschte. Zermarterte sich das Hirn. Diskutierte mit Hajir. Öffnete sein sechstes Bier.

Dann kam die unausweichliche Frage, die Adnan stellen musste: „Was ist mit Miran?“

„Er ist stinksauer“, gab Hajir brüsk zurück. „Du bist mit der Kohle verschwunden. Was glaubst du denn?“

Adnan begriff. Er hatte selbst viele Nächte schlaflos dagelegen und sich gefragt, wo die Beute abgeblieben war. In seinen Augen kamen nur die Bullen infrage. Aber warum logen die Schweine und erzählten den Journalisten, dass das Geld weg war? Er ahnte, was passiert war. Erst wollte er es nicht glauben. Aber je mehr er grübelte, desto schärfer wurde das Bild. Er war schlimmer übers Ohr gehauen worden, als er sich je hätte vorstellen können. Er war verraten und ausgenutzt worden. Aber das konnte er Miran nicht sagen. Kein Wunder, dass er wütend war.

„Wie geht es ihm?“, fragte Adnan.

Hajir schnaubte. „Ich hab ihn schon länger nicht gesehen. Das Letzte, was ich gehört habe, war, dass er jemanden kennengelernt hat. Ich hoffe, sie hat einen guten Einfluss.“

„Arbeitet er nicht für dich?“

„Nein, Mann.“

Hajir brauchte nicht mehr zu sagen. Miran hing noch immer an der Nadel. Adnan fragte sich, wie tief er wohl in der Scheiße steckte. War es Kokain? Heroin? Spice? Was nahm man heutzutage? Ihm ging auf, dass er in den vergangenen Monaten in einer geschützten Blase gelebt hatte. Er hatte den Bezug zur Wirklichkeit verloren. Das war gut und schlecht zugleich. Doch die Sehnsucht nach etwas anderem juckte unter der Haut.

Aus der Nacht wurde früher Morgen, und Adnan besorgte eine Mitfahrgelegenheit für Hajir in Richtung des Sokha Beach Resort. Ein Fünfsternehotel mit Privatstrand. Isabella und die Kinder seien auch dort, hatte Hajir erzählt. Adnan fuhr mit dem Moped nach Hause. Es war still, und die Sonne ging gerade auf. Sonst joggte er jeden Tag um diese Zeit. Aber das würde er heute mal ausfallen lassen. Der Alkohol gab ihm trainingsfrei.

Sein Bungalow war einfach, enthielt aber das Nötigste. Ein Bett mit Mückennetz, eine Toilette und eine Dusche. Er aß entweder in Ragnars Restaurant, oder er besorgte sich etwas an einem Straßenstand. Zu Hause machte er sich höchstens mal einen Kaffee. Den Wasserkocher hatte er von Arun geschenkt bekommen.

Adnan duschte, bevor er sich ins Bett legte. Nach einem Abend in der Bar roch er nach Schweiß und Rauch. Er trocknete sich mit einem weißen Handtuch ab und kroch nackt unter die Decke. Seine Gedanken überschlugen sich. Alles war so plötzlich und unerwartet gekommen. Natürlich hatten sie ihn ständig im Hinterkopf begleitet. Die Fragen. Die unendlichen Fragen. Was sollte er mit seinem Leben anstellen? Konnte er eines Tages wieder nach Hause zurück? Wollte er das? Wurde noch nach ihm wegen des Raubüberfalls gefahndet? Vermutlich nicht. Und wegen des Polizistenmords?

Er schlief ein, während um ihn herum eine Mücke surrte, die ein Loch im Netz gefunden hatte.

 

Das Laken klebte ihm am Leib, als er um die Mittagszeit aufwachte. Sein Mund war wie ausgedörrt, und er stand auf, um eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank zu holen. Er sah nach, ob es auch etwas zu essen gab. Leider nicht. Adnan zog Badeshorts und ein weißes T-Shirt an, nahm ein Handtuch und fuhr mit dem Moped zum Strand. Er sollte sich dort mit Hajir und seiner Familie treffen. Isabella und den Kindern. Ob Isabella immer noch sauer auf ihn war?

Er hielt am Straßenrand und kaufte gegrillte Hühnchenspieße. Er bekam sie in einer Plastiktüte serviert, in der die Soße schwamm. Die Verkäuferin winkte fröhlich, als er davonfuhr, und entblößte eine lückenhafte Zahnreihe.

Schon lange war Adnan nicht mehr tagsüber am Strand gewesen. Die Leute lagen auf Liegestühlen unter farbenfrohen Sonnenschirmen, die im Wind flatterten. Er erblickte die Familie unter einem großen Baum, dessen dichtes Laubwerk Schatten spendete. Hajir lag auf einem Handtuch und stützte sich auf die Ellbogen. Isabella fütterte ihren Jüngsten mit einer Banane.

Adnan streckte ihr die Hand hin. „Wir haben uns schon einmal getroffen, leider unter keinen besonders schönen Umständen.“

„Ich weiß.“ Sie lächelte. Ein gutes Zeichen?

„Wo sind die anderen?“, fragte Adnan und blickte sich um.

„Sie sind am Wasser“, sagte Hajir.

Adnan schaute zum Ufer. Ein Mädchen in einem rosafarbenen Bikini baute zusammen mit einem kleinen Jungen ein Sandschloss. Das mussten sie sein. Sandra und Marco. Adnan hatte sie noch nie getroffen. Isabella war schwanger gewesen, als Adnan Schweden verlassen hatte, Marco müsste also ungefähr drei Jahre alt sein. Sandra war älter.

Adnan breitete sein Handtuch aus und setzte sich so, dass nur die Beine in der Sonne waren.

„Hier versteckst du dich also“, sagte Isabella.

Die Bemerkung fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht. So hatte Adnan noch nie darüber gedacht. Er war auf der Flucht vor den Bullen, vor der Rechtsprechung, vor sich selbst. Aber sich zu verstecken war gleichzusetzen mit feige. Er hatte seinen besten Kumpel, der nun im Rollstuhl hockte, im Stich gelassen. Er hatte sich geweigert, vor Gericht gegen denjenigen auszusagen, der Hajir bei einem schiefgegangenen Drogendeal in den Rücken geschossen hatte. Aber Adnan hatte ihm versprochen, dass er sich auf andere Weise darum kümmern werde. Auf die übliche Weise. Niemand kooperierte mit den Bullen. Das wussten Adnan und Hajir. Ganz egal, was geschah.

„Ich bin ein bisschen umhergereist“, antwortete er.

„Aha, wie schön.“

„Aber jetzt ist es an der Zeit, dass du wieder nach Hause kommst“, warf Hajir ein.

„Vielleicht.“

„Was willst du denn hier?“, fragte Isabella. „Kann mir schon vorstellen, dass es eine Weile ganz nett ist, so als Urlaub. Aber auf Dauer … Vor wem versteckst du dich? Kannst du nicht für das geradestehen, was du getan hast?“

„Es reicht.“ Hajir klang ruhig, aber er duldete keinen Widerspruch. Er wandte sich an Adnan. „Mir ist klar, was du gedacht hast. Damals war ich zu sehr Opfer. Aber das bin ich nicht mehr. Wir regeln die Dinge auf unsere Weise. Wie wir es immer getan haben.“

Isabella stand auf, den Kleinsten im Arm, und ging zu Sandra und Marco hinüber, die ins Wasser wateten. Marco mit orangefarbenen Schwimmflügeln.

„Du bist jetzt Vater.“ Adnan kniff die Augen zusammen. Merkte, dass er seine Sonnenbrille vergessen hatte.

Hajir nickte stolz. „Drei Kinder. Wer hätte das gedacht?“

Sie schwiegen eine Weile. Ein Junge mit missgebildeten Beinen und zerrissenem Hemd schleppte sich durch den Sand und hielt ihnen auffordernd eine Plastiktüte voller Geld entgegen. Als Hajir ein paar Geldscheine hineinwarf, entblößte der Junge einen einzelnen braunen Schneidezahn. Dann kroch er weiter zur nächsten Gruppe. Adnan wunderte sich über die neue Seite von Hajir. Vielleicht empfand er Sympathie für den Jungen, der nicht gehen konnte. Er selbst gab nie etwas. Er wusste, wie das Ganze funktionierte. Verkrüppelte Kinder waren in diesen Ländern eine harte Währung und wurden benutzt, um den reichen Touristen Geld abzuknöpfen.

Er blickte zum Uferbereich, wo Isabella Marco immer wieder hochhob, wenn eine Welle kam, die leicht schäumend ans Land schlug. Sandra hielt derweil den Kleinsten fest. Adnan ging zu ihnen, um zu helfen. Das letzte Stück rannte er, um sich die Fußsohlen in dem heißen Sand nicht zu verbrennen. Er packte Marco und schwang ihn durch die Luft. Der Junge jauchzte vor Vergnügen.

„Noch mal, noch mal!“, rief er.

Adnan schwang ihn vor und zurück. Das Wasser spritzte, als die kleinen Füße die türkisfarbene Oberfläche streiften.

Isabella und Sandra lachten und sahen zu, wie Marco sich an Adnan festklammerte und bettelte: „Noch mal!“

„Hast du Kinder?“, fragte Sandra neugierig.

Adnan zögerte. „Nicht dass ich wüsste.“

Sie runzelte die Stirn.

Adnan mied Isabellas misstrauischen Blick und schaute hinüber zu Hajir, der sie aus seiner halb liegenden Position unter dem Baum beobachtete. Hajir war nicht in der Lage, seine Kinder durch die Luft zu werfen. Er lächelte ihnen zu. Aber seine Körperhaltung verriet etwas anderes.

Über Anna Karolina Larsson

Biografie

Anna Karolina Larsson wuchs in Finspång auf, ging aber 2001 nach Stockholm um dort als Polizistin zu arbeiten. 2010 zog sie nach Malmö, wo sie auch heute noch mit Mann und zwei Kindern lebt. In Malmö begann sie, neben ihrer Arbeit bei der Polizei, zu schreiben.

Pressestimmen
OK!

„Rasant, spannend und nichts für schwache Nerven!“

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