Unter dem Deich Unter dem Deich - eBook-Ausgabe
Roman
„Ein wunderbares, zeitlos-altmodisches, träges, melancholisches, altersweises Buch über Heimat, Kindheit, Glaube, Gott, die Jugend, das Leben, die Zeit.“ - Badische Zeitung
Unter dem Deich — Inhalt
Die Neuentdeckung eines wundervollen Romans des niederländischen Romanciers!
In Maassluis, dem Ort von Maarten ’t Harts Kindheit, trennt der Deich reich und arm. Steigt man nur wenige Schritte den steilen Hang empor, befindet man sich sogleich in der besseren Gesellschaft. Genau dorthin möchte auch die junge, mittellose Clazien. Sie verliebt sich leidenschaftlich in den neuen Lehrer und verlässt gegen jede Vernunft ihren Mann.
Leseprobe zu „Unter dem Deich“
Topografischer Prolog
Lassen Sie uns ein Paradies besuchen. Wir gelangen über einen Grünstreifen hinein, der doppelt so breit wirkt wie der Weg, an dem er entlangführt. Wir weichen dem Klatschmohn aus, den goldgelben Löwenmäulchen und dem Raps. Der betörende Duft der letzten Pflanze begleitet uns auf unserem Weg. In der Ferne, dort, wo der Weg zum Deich ansteigt, erblicken wir die schlanke Gestalt der Galeriekornmühle De Hoop. Schräg dahinter erstreckt sich ein Viertel, das namenlos geblieben ist. Es besteht aus vier Straßen und zwei Querstraßen, die [...]
Topografischer Prolog
Lassen Sie uns ein Paradies besuchen. Wir gelangen über einen Grünstreifen hinein, der doppelt so breit wirkt wie der Weg, an dem er entlangführt. Wir weichen dem Klatschmohn aus, den goldgelben Löwenmäulchen und dem Raps. Der betörende Duft der letzten Pflanze begleitet uns auf unserem Weg. In der Ferne, dort, wo der Weg zum Deich ansteigt, erblicken wir die schlanke Gestalt der Galeriekornmühle De Hoop. Schräg dahinter erstreckt sich ein Viertel, das namenlos geblieben ist. Es besteht aus vier Straßen und zwei Querstraßen, die unmerklich in eine Grünfläche übergehen, die Julianapark genannt wird, obwohl sich dort nicht mal ein Pferd umdrehen kann. Hinter dem Park versteckt liegt der 1887 angelegte Städtische Friedhof, auf dem pro Woche durchschnittlich anderthalb Beerdigungen stattfinden. Es ist der einzige dicht belaubte Ort in der Stadt, weshalb sich die gesamte Vogelpopulation dort niedergelassen hat. In jedem Frühling übertrifft die Zahl der Geburten die Zahl der Todesfälle bei Weitem. Den ganzen Tag lang ertönt das Gurren der Ringeltauben, und im hohen Schilf, das den Graben zwischen Friedhof und Bahnlinie vollständig den Blicken entzieht, erklingen der schrille Ruf des kleinen Schilfrohrsängers und das Murmeln des Teichrohrsängers.
Ungeachtet der Tatsache, dass der Julianapark mit seinem verwitterten, auf einer kleinen Säule ruhenden Blumenkasten im Grunde nicht mehr ist als ein paar Grasstreifen mit ein paar Bänken, verfügt die Stadt doch über einen Grünflächendienst. Dieser wiederum besteht aus zwei Männern in von der Gemeinde gestellten braunen Cordanzügen, die beide Onderwater heißen. Im Volksmund werden sie die Brüder Onderwater genannt, obwohl sie nicht miteinander verwandt sind. Über den jüngeren Onderwater wird berichtet, sein Vater habe ihm an seinem Hochzeitstag den Rat gegeben: „Schlafe nie morgens mit deiner Frau, im Laufe des Tages kann dir immer noch etwas Besseres begegnen.“
Weil die beiden Onderwater sich den Park höchstens einmal im Monat vornehmen müssen, verbringen sie im Sommer ihre Zeit damit, die steile Böschung des hohen Seedeichs zu mähen, der die Stadt in zwei Teile trennt: einen außerhalb und einen innerhalb des Deichs. Beide benutzen zum Mähen eine Sense, und sie stehen den ganzen Tag mit den Füßen schräg am Hang, sodass sie sich anschließend, wenn sie ganz normal über die Straße gehen, weit nach hinten lehnen. Der ältere Onderwater schleift seine Sense auffallend oft und singt dabei das folgende Lied:
„Die Sense wetzen,
da darf man nicht hetzen.
Man wird dadurch fit
und verbessert den Schnitt.“
Manchmal fügt der jüngere Onderwater noch eine Strophe hinzu :
„Die Hand fest am Schaft
mäh’n wir mit wenig Kraft.
Und bei gemächlichem Schwung
fühl’n wir uns abends noch jung.“
An schönen Sommertagen folgt dann gelegentlich noch ein zweistimmig gesungener Refrain:
„Ja, wir mähen den Deich,
unten arm, oben reich.“
Zweimal pro Jahr haben die beiden Onderwater den Auftrag, auch das Gras am Graben entlang der Gleise zu mähen. Jenseits des Grabens donnert einmal am Tag der Rheingold-Express vorbei. Am Bahnhof, der auch als Wohnhaus dient, halten pro Stunde vier Züge. Die Fahrgäste rennen hier nicht, um den Zug noch zu kriegen, sondern sie laufen los, sobald sie aus dem Zug ausgestiegen sind. Sie versuchen, den Bahnhof zu verlassen und die Gleise zu überqueren, bevor der Zug zwischen den heruntergelassenen Schlagbäumen hindurch in Richtung Westen weiterfährt. Meistens schaffen es nur die Allerschnellsten, auf die Stadtseite zu gelangen, ehe die Schranke sich schließt. Immer wieder kommt es vor, dass Evangelisten auf die ankommenden Züge warten, um den Aussteigenden die Zeitschrift Die frohe Botschaft in die Hand zu drücken. Wer nach dem Verlassen des Zuges sofort losrennt, hat umgehend einen trabenden Glaubensverkünder an seiner Seite, der ihm im Dauerlauf Die frohe Botschaft überreicht. Die Reisenden, die zu langsam sind und sich folglich vor der geschlossenen Schranke versammeln, erhalten dort ihr Exemplar der Frohen Botschaft ausgehändigt, und meistens ist vor den rotweiß gestreiften Schlagbäumen dann auch noch Zeit für einen kurzen Vortrag des Missionars. Noch ehe man die Stadt erreicht, ist man schon bekehrt worden.
Hinter dem Bahnhof erstreckt sich das Firmengelände von Key & Kramer. Von dort werden Röhren in alle Teile der Erde verschickt. Bevor das geschieht, müssen die Röhren geteert und pyramidenförmig aufgestapelt werden. Diese Röhrenpyramiden bilden an der Ostseite von Key & Kramer die Grenze zur Müllverbrennungsanlage, die schlauerweise hinter dem strengen Dieselpumpwerk versteckt worden ist. An diesem Pumpwerk vorbei verläuft ein im Zickzackmuster gepflasterter Weg über den breiten Deich. Da aller Sand zwischen den Steinen weggeschwemmt worden ist, ertönt ein lautes Holpern und Klappern, wenn ein Fahrrad die Stadt verlässt. Im Chor rufen die Klinker: „Geh nicht weg, verlasse nicht die Stadt, woanders herrscht nur Elend. “
Auf der Südseite wird das Firmengelände von der Scheur begrenzt, einem kleinen Fluss, der in der Stadt einfach nur Maas genannt wird, während sich auf der Westseite ein Viertel anschließt, das Hoofd heißt und in dem Wasserheizer de Vries seine Kunden empfängt. Insgesamt umfasst das Hoofd zehn nach lokalen Widerstandskämpfern aus der französischen Zeit und nach Helden aus den Burenkriegen benannte Straßen. Da aber vier der zehn Straßen nur die Verlängerung anderer Straßen sind, gibt es eigentlich nur acht. Geht man näher heran, entpuppt sich ein massives Bauwerk mit echten Zinnen als Wasserturm, und dahinter, auf der Grenze zwischen dem Hoofd und der Scheur, liegt das dreieckige Schwimmbad, das durch einen Basalthang von der Maas abgetrennt wird und durch eine Rohrleitung sein Badewasser kurzerhand aus dieser bezieht.
Im Sommer ist das Schwimmbad bereits um sechs Uhr am Morgen geöffnet. Dabei gilt zu beachten, dass an dem einen Tag die Jungen von sechs bis acht schwimmen dürfen und am nächsten Tag die Mädchen, wobei anschließend von acht bis zehn dann das jeweils andere Geschlecht im brackigen Wasser Brustschwimmen oder Schmetterling übt. Von zehn bis zwölf steht Schulschwimmen auf dem Programm. Von zwölf bis drei ist das Schwimmbad geschlossen. Dann kommen die beliebtesten Zeiten: von drei bis halb fünf, von halb fünf bis sechs und von sechs bis halb acht. Und immer wechseln die Geschlechter einander ab. Von halb acht bis neun ist es dann meist recht ruhig.
Das Schwimmbad verfügt über sechzig Kabinen. Gibt es mehr als sechzig Schwimmer, müssen sich die Übriggebliebenen hinten auf dem dreieckigen Rasen umziehen. Weil jeder eine Kabine haben möchte, drängeln sich bereits eine halbe Stunde vor dem Geschlechterwechsel Dutzende Jungen oder Mädchen vor dem Eingang. Sobald die Tür sich öffnet, stürmt die Menge hinein. Bademeister Jacobs wird rücksichtslos über den Haufen gerannt, und innerhalb von einer Minute sind alle Kabinen besetzt. Gute Freunde oder Freundinnen gehen zusammen in eine Kabine. Selbst Senioren sagen von einem Bekannten nicht: „Das ist mein Freund “, sondern : „ Ich durfte früher zu ihm in die Kabine. “
In den Kabinen betrachten Elfjährige die Geschlechtsorgane des anderen und entdecken so die erstaunliche Formenvielfalt von Kinderpimmeln. Es gibt gerade nach vorn zeigende schmale Stöckchen, kommaförmige Anhängsel, Schrumpelpimmel, die sich in der Falte zwischen den Hoden verstecken – alles scheint möglich zu sein. In den sechzig Kabinen werden Freundschaften fürs Leben geschlossen. Mancher ist so glücklich über seine Kabine, dass er anderthalb Stunden darin hocken bleibt.
Am Tag des Herrn ist das Schwimmbad geschlossen. Schon seit Jahren bemüht sich der sozialdemokratische Ratsherr Smit darum, dass Schwimmbad auch sonntags zu öffnen. Regelmäßig veröffentlicht er in der Lokalzeitung De Schakel ein Umfrageformular. Jedes Mal, wenn die Zeitung ein solches Formular abdruckt, steigen dreitausend Reformierte die Deichtreppen hinauf, werfen ihr Formular mit NEIN in den Briefkasten des Ratsherrn, und das Schwimmbad bleibt am Sonntag weiter geschlossen.
Schräg vor dem Schwimmbad liegen auf acht unterschiedlichen Höhen die acht Anlegestellen der Fähre. Ob Ebbe oder Flut, die Fähre kann immer anlegen. Soweit man weiß, besteht hier seit 1365 die Möglichkeit, den Fluss zu überqueren, und das, obwohl 1365 weder von der Stadt noch von der gegenüberliegenden Insel etwas zu sehen war! Von einer Stadt konnte man selbst im Jahr 1498 noch kaum sprechen. Dennoch kamen in ebendiesem Jahr zehn Boote und vier Tjalken den Fluss herab, aus denen dreihundert Mann hier an Land gingen, um zu plündern.
Das Hoofd wird durch den Hafen und die Bahnlinie abgegrenzt, die miteinander einen rechten Winkel bilden. Auf der anderen Seite des Hafens liegt das Schanshoofd, kein Viertel, sondern ein Reihenbau entlang des Wassers. Hinter dem Reihenbau erstreckt sich die Maaskant, ein Gebiet voller Schilf und Ranken. Der Begriff Maaskant hat in der Stadt eine merkwürdige Nebenbedeutung bekommen. „ Mit dir würd ich gerne zur Maaskant gehen“ bedeutet: „Ich finde dich nett. “ Und : „ Sie gehen zusammen zur Maaskant “ heißt: „Die beiden sind ein Paar.“ Was anderswo eine „Stichprobe“ genannt wird, nennt man hier ein „Maaskantje“, was gemeinhin mit „Kantje“ abgekürzt wird, und das Resultat von so einem Maaskantje wird „Kantertje“ genannt. Wie die normalen Kinder auch werden die Kantertjes beim Standesamt in der Roten Villa angemeldet, die nicht weit vom Bahnübergang des Schanshoofds entfernt liegt.
Beim Schanshoofd liegt ein Motorboot von Dirkzwagers Schiffsagentur im Hafen, das ausläuft, wenn ein großes Schiff vorbeikommt. Von den Ozeanriesen werden Flaschen oder Köcher mit Angaben über Schiff und Zielhafen in das längsseits fahrende Boot hinuntergelassen. Offenbar ist das Abholen dieser Informationen ein so lukratives Geschäft, dass Dirkzwager in den Fünfzigerjahren gleich neben dem Schanshoofd ein beeindruckendes, aus beigefarbenen Steinen gebautes, halbrundes Büro errichten lassen konnte. Ob dies wohl das Gebäude ist, von dem K. Norel in seinem Buch Auf großer Fahrt sagt: „Der Pfefferstreuer ist weiß im hellen Licht “?
Zwischen den Gleisen und dem Deich liegen, abgesehen von dem Viertel neben dem Friedhof, das wir schon früher besucht haben, noch zwei Viertel und eine Insel. Von der Mühle De Hoop aus erstreckt sich bis zum Hafen ein Wohngebiet, das aus einer Hauptstraße, der Fenacoliuslaan, und sieben kurzen Nebenstraßen besteht, die alle am Gelände der Kistenfabrik De Neef & Co. enden. Der schrille, durchdringende Pfiff der mit Dampf angeblasenen Fabrikspfeife sorgt dafür, dass alle Bewohner der Stadt um sieben Uhr morgens senkrecht aus den Betten hochschrecken. Sobald der Pfiff verklungen ist, sind alle hellwach. Auch der Beginn und das Ende der Mittagspause wird durch die Pfeife markiert.
Rings um das Fabrikgelände von De Neef & Co. verläuft ein Wassergraben, der unglaubliche Reichtümer birgt. Wenn man seinen Kescher nur ganz beiläufig durchs Wasser zieht, fängt man sofort etwa zwanzig kleine Teichmolche, zwei Wasserskorpione, eine Wassernadel, Dutzende Süßwassergarnelen, Wasserspinnen, Eintagsfliegen, Wasserasseln, zwei oder drei Larven des Gelbrandkäfers, einen ausgewachsenen Gelbrandkäfer, einen Großen Kolbenwasserkäfer (aufpassen, der beißt) und unzählige wimmelnde Rückenschwimmer.
Zwischen der Fenacoliuslaan und dem Hafen liegen der Wijde Slop und die Taanstraat, die beide über Schlitze im Pflaster verfügen, in die bei Hochwasser Flutplanken gesteckt werden können. Und parallel zur Fenacoliuslaan verläuft noch der Zandpad, der durch den Zure Vissteg mit dem Hafen verbunden ist. Auch diese Gasse kann durch Flutplanken gesichert werden.
Auf der anderen Seite des Hafens liegt hinter den Lagerhäusern ein Viertel, das Stort genannt wird. Dabei handelt es sich um einen ehemaligen Polder, den man zugeschüttet und anschließend bebaut hat. Zwischen dem Stort, dem Deich und dem Hafen liegt eine Insel, die Schans heißt. Von 1629 bis 1639 wurde auf Schans die Grote Kerk errichtet, an die 1649 noch ein Turm angebaut wurde. Die Insel wird daher auch Kerkeiland genannt. 1732 wurde die Kirche mit der nicht genug zu bewundernden Garrels-Orgel ausgestattet, ein Ereignis, das merkwürdigerweise, obwohl die Stadt nie einen Autor oder Dichter von Bedeutung hervorgebracht hat, eine kurzfristige literarische Explosion nach sich zog. Pieter Schim dichtete „Die Orgel mit Davids Harfe vermählt“, und auch seine beiden Söhne, Hendrik und Jacob Schim, veröffentlichten Gedichte, die in dem Band Gesänge anlässlich der Einweihung der Maassluiser Orgel zu finden sind. Das Instrument inspirierte auch den Dichter Rijkje Bubbezon zu einem Vers.
Am 1. Januar des Jahres 1835 erschien Huiberdina Quack ein Engel und teilte ihr mit, dass die Orgel am großen und erlauchten Tag der Wiederkunft nicht durch das Feuer vernichtet, sondern Pfeife für Pfeife, in Stroh verpackt und von Engelflügeln in den Himmel gebracht werden würde. Dort werde sie vorerst eingelagert, um später in einer Replik der Grote Kerk auf der Neuen Erde wieder aufgebaut zu werden. Und in dieser Kirche dürften dann die Organisten, kraft ihres Amtes allesamt in die Ewigkeit eingegangen, abwechselnd spielen, in Anbetracht der großen Anzahl von Kandidaten allerdings lediglich alle zweitausend Jahre einmal.
In der Nähe der Schans befindet sich die Mündung des Noordvliet, die durch ein Siel vom Hafenbecken getrennt ist. Hier scheint der Ursprung der Stadt zu liegen. Dieses Siel, die Monsterse Sluis, wird 1367 in einem Brief erwähnt, aus dem hervorgeht, dass bereits vor diesem Zeitpunkt das bei der Trockenlegung des Dorfes Maasland anfallende Wasser an dieser Stelle in die Maas geleitet wurde. Zwei Hütten aus Lehm und Schilf, in denen die Sielwärter wohnten, haben angeblich die erste Bebauung des Ortes gebildet. Zwei Jahrhunderte später ging dort, davon sind alle Einwohner überzeugt, Jan Koppelstock in seinem Haus ein und aus. Das Haus steht heute noch, obwohl Koppelstock allem Anschein nach in Den Briel gewohnt hat. Er war derjenige, der um 1572 zwischen Den Briel und der damals noch nicht existierenden Stadt einen Fährdienst betrieb. So wurde an jenem denkwürdigen Dienstag, dem 1. April, als mit der Eroberung von Den Briel der Aufstand gegen die Spanier begann, eine entstehende Stadt aus der Anonymität geholt und für kurze Zeit mit dem großen Weltgeschehen in Verbindung gebracht.
An der Monsterse Sluis landete 1597 ein Schiff. „Am 29. Oktober gelangten wir mit ostnordöstlichem Wind in die Maas und gingen dort in der Nähe der Maaslandschleuse an Land.“ Es liegt nahe, dass die Seeleute ihr Schiff an den Anlegestellen festgemacht haben, die damals aus dem Deich ragten. Und dann? Hat der Sielwärter sie an Land gehen sehen? Oder haben die Männer, die den Winter im Nordpolarmeer auf der Insel Nowaja Semlja überlebt hatten, unbemerkt ihren Fuß an Land setzen können, nachdem sie am 14. Juni desselben Jahres in zwei offenen Booten in See gestochen waren?
Der Seedeich, an dem das Schiff damals vertäut wurde, teilt die Stadt in einen höher und einen niedriger gelegenen Teil. Der tiefer gelegene Teil, innerhalb des Deichs, beherbergte früher in dem Gebiet um die Vliete herum diejenigen, die man die „kleinen Leute“ nannte und später die „Unterprivilegierten“ nennen sollte. Die besser Situierten – man denke dabei nicht an reiche Leute, die gibt es dort nicht – wohnen in dieser Stadt vier Meter höher als die Armen. So ist der Standesunterschied sehr genau messbar. Natürlich hat sich der ein oder andere Reiche „unter dem Deich“ niedergelassen, und umgekehrt wohnen im Hoofd und im Stort viele Unterprivilegierte, aber allein schon die Tatsache, dass man „über dem Deich“ wohnt, verschafft einem einen Vorsprung, hebt einen vier Meter über die anderen Bewohner empor.
An einigen Stellen kann man mithilfe einer Treppe auf den Deich steigen. Zu beiden Seiten der Monsterse Sluis verläuft die älteste Treppe der Stadt, die Steenen Trappen aus dem Jahr 1732. Sie wird auch Breede Trappen genannt, obwohl ihre Stufen gar nicht breit und eher für kleine Füße berechnet sind.
Drei andere Deichaufgänge tragen die Namen Wedde, Afrol und Wip. Anders als Wedde und Afrol, die parallel zum Deich hinaufführen, ist die Wip im Neunzig-Grad-Winkel zum Deich angelegt. Sie ist dadurch steiler als die beiden anderen Treppen. Im Träumen und Denken der Sluiser – wie sich die Bewohner der Stadt selbst nennen – spielt die Wip eine wichtige Rolle. Wenn ein Sluiser stirbt, hört man die Leute zueinander sagen: „Hast du schon gehört? Lagrauw ist tot.“
„Mensch, wie ist es möglich! Vorigen Samstag habe ich ihn noch auf der Wip Richtung Seemannshaus gehen sehen . “
Oder sie sagen: „Van Vuuren ist ziemlich krank, wie man hört. “
„So was, erst gestern ist er die Wip hochgeflitzt.“
Wenn man sich in der Stadt begegnet, dann geschieht dies grundsätzlich auf der Wip. Es muss nicht wirklich dort passieren, doch einfachheitshalber verlegt man jede Begegnung, wenn man später von ihr erzählt, auf die Wip. Wenn man wissen will, ob man von einer Krankheit vollkommen genesen ist, dann schaut man, ob man die Wip wieder hochrennen kann. Die Wip ist lange Zeit der erste und einzige Weg gewesen, der elektrisch beleuchtet wurde. Oben an der Wip, dort, wo das Rathaus steht, beginnt Leen van Buren seinen Gang durch die Stadt, wenn er als Ausrufer eine Nachricht der Gemeindeverwaltung verkündet. Dort auf der Wip wird später einmal Heleentje Lub von einem Lastwagen der Vereinigten Seilfabriken überfahren werden. Sie wird unverletzt bleiben, obwohl die Reifenspuren noch monatelang auf ihrem Gesicht zu sehen sind.
Auf der Wip lassen die Gäule von Gemüsehändlern, Milchhändlern, Scherenschleifern und Petroleumhändlern aus Angst vor dem steilen Abhang ihre Pferdeäpfel fallen. Deshalb leben auf den Dächern der umliegenden Häuser konkurrierende Spatzenpopulationen. Hinaufgehende Pferde schaffen es manchmal nicht bis oben, hinabgehende Pferde werden auf der Wip des Öfteren kopfscheu, und ebendiese Wip, das eigentliche Zentrum der Stadt, wird sich später als uneinnehmbare Barriere für diejenigen Händler erweisen, die sich den Luxus eines kleinen einachsigen Schleppers geleistet haben.
Neben der Wip liegt die Mündung des Zuidvliet, die Wateringersluis. Noordvliet und Zuidvliet verlaufen parallel zueinander in nordöstlicher Richtung. Wer oben auf der Wip oder den Steenen Trappen steht, kann die Vliete bis zum Horizont sehen. Von beiden Stellen aus erblickt man einen langen geraden Wasserstreifen, der zuerst von Häuserreihen gesäumt und von zwei Brücken überspannt wird. Weiter weg fehlen die Häuser, weshalb der Wasserstreifen dort viel mehr Licht fängt. Tatsächlich wirkt der vom grünen Polderland umgebene helle Wasserstreifen näher am Betrachter als der dunkle Teil zwischen den Häusern. Gleichzeitig sieht es so aus, als steige der Streifen in Richtung Himmel, und das verschafft dem Auge und der Seele ein Gefühl des Friedens und der Geborgenheit. Es gibt auf der ganzen Welt kaum einen schöneren Anblick. Trotzdem hat die Gemeindeverwaltung beschlossen, das ganze Viertel unterhalb des Deichs rund um die Vliete zu sanieren.
»Maarten´t Harts Erinnerungen sind so wunderbar einfühlsam, so sanft ironisch und liebevoll geschrieben, wie alle Werke des verehrten Autors.«
„Ein wunderbares, zeitlos-altmodisches, träges, melancholisches, altersweises Buch über Heimat, Kindheit, Glaube, Gott, die Jugend, das Leben, die Zeit.“
„›Unter dem Deich‹ ist mehr als ein Roman, es ist ein Füllhorn an Geschichten, die alle erzählt werden wollen, so klein sie auch sind, und die einem ein Gefühl des Glücks schenken darüber, dass Maarten t'Haart da ist, sie uns zu erzählen.“
„Liebevoll und blumig erzählt Maarten 't Haart von den Menschen.“
„Fesselnd.“
„Harts kleine Geschichten sind genau beobachtet und liebevoll in Szene gesetzt.“
„Harts kleine Geschichten sind genau beobachtet und liebevoll in Szene gesetzt. Sie erinnern an die Betrachtungen von Guy Maupassant.“
„Es sind kleine Geschichten, genau beobachtet und liebevoll in Szene gesetzt.“
„Ein wenig erinnern Milieu und die Liaison Claziens mit Jan an die großen Romane Flauberts. (...) Eine zarte Wehmut hängt über diesem Text, der eine Zeit zurückholt, die es so nicht mehr gibt.“
„Ein beeindruckender Roman über die Niederlande der Nachkriegszeit, doch auch ein Buch von universellem Interesse, befasst es sich doch mit einer religiösen Intoleranz, die man auch in Deutschland zu jener Zeit sehr wohl gekannt hat.“
„Ein sehr warmes, liebevolles Buch, eines der stärksten dieses Autors.“
„Schön und ein wenig traurig zu lesen.“
„Bezaubernd warmherziges Buch.“
„Liebevoll, mit viel Humor und Selbstironie. [...] Der unterhaltsame Roman ist eine nostalgische, emotional berührende Liebeserklärung an die Heimat.“
„Es ist die Erzählkunst des Autors, sein Humor und Sinn für Skurrilitäten, die eine untergegangene Welt wieder zum Leben erwecken. Man folgt gerne seinem gradlinigen, schnörkellosen Stil, den witzigen Dialogen, den Einsichten in die menschliche Natur.“
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