Unwiderstehlich Unwiderstehlich - eBook-Ausgabe
Der Aufstieg suchterzeugender Technologien und das Geschäft mit unserer Abhängigkeit
„Ein lesenswertes Stück Zeitkritik.“ - Mittelbayerische Sonntagszeitung
Unwiderstehlich — Inhalt
Der Sozialpsychologe Adam Alter warnt eindringlich vor dem bedrohlichen Anstieg der Verhaltenssüchte im digitalen Zeitalter – und zeigt auf, wie wir ihnen widerstehen können.
Etwa die Hälfte der westlichen Bevölkerung ist nach mindestens einer Verhaltensweise süchtig. Wie unter Zwang hängen wir an unseren E-Mails, Instagram-Likes und Facebook-Posts; wir schießen uns mit Fernsehserien ins Koma, können das Online-Shoppen nicht lassen, arbeiten jedes Jahr noch ein paar Stunden länger; wir starren im Schnitt drei Stunden am Tag auf unsere Smartphones. Ein Grund dafür liegt im suchterzeugenden Design dieser Technologien.
Das Zeitalter der Verhaltenssüchte ist noch jung, doch immer deutlicher wird, wie sehr es sich um ein gesellschaftlich relevantes Problem handelt – mit zerstörerischer Wirkung auf unser Wohlergehen und besonders die Gesundheit und das Glück unserer Kinder. Der Psychologe Adam Alter zeigt, warum sich Verhaltenssüchte so wild wuchernd ausbreiten, wie sie aus der menschlichen Psyche Kapital schlagen und was wir tun müssen, damit wir und unsere Kinder es einfacher haben, ihnen zu widerstehen. Denn die gute Nachricht lautet, dass wir den Verhaltenssüchten nicht unumstößlich ausgeliefert sind.
Leseprobe zu „Unwiderstehlich“
Prolog
Never get high on your own supply – Nimm nie selbst die Drogen, die du verkaufst
Auf einem Apple-Event im Januar 2010 stellte Steve Jobs der gespannten Öffentlichkeit das iPad vor:
Was dieses Gerät kann, ist wirklich einzigartig … Besser kann man im Netz nicht surfen; besser noch als mit einem Laptop und viel besser als auf einem Smartphone … ein unglaubliches Erlebnis … Es eignet sich hervorragend für E-Mails; darauf zu tippen ist ein Traum.
Neunzig Minuten lang erklärte Jobs, warum es nichts Besseres als das iPad gebe, um Fotos anzusehen, Musik zu [...]
Prolog
Never get high on your own supply – Nimm nie selbst die Drogen, die du verkaufst
Auf einem Apple-Event im Januar 2010 stellte Steve Jobs der gespannten Öffentlichkeit das iPad vor:
Was dieses Gerät kann, ist wirklich einzigartig … Besser kann man im Netz nicht surfen; besser noch als mit einem Laptop und viel besser als auf einem Smartphone … ein unglaubliches Erlebnis … Es eignet sich hervorragend für E-Mails; darauf zu tippen ist ein Traum.
Neunzig Minuten lang erklärte Jobs, warum es nichts Besseres als das iPad gebe, um Fotos anzusehen, Musik zu hören, Universitätskurse auf iTunes U zu belegen, auf Facebook zu gehen, Spiele zu spielen und Tausende von Apps anzusteuern. Er glaubte, jeder solle ein iPad besitzen.
Seinen Kindern aber verweigerte er hartnäckig die Benutzung des Geräts.
Ende 2010 erzählte Jobs dem New York Times-Journalisten Nick Bilton, dass seine Kinder das iPad noch nie benutzt hätten. „Zuhause beschränken wir den Technikkonsum unserer Kinder auf ein Minimum.“ Bilton fand heraus, dass auch andere Helden der Hightech-Branche ihre Kinder vor den eigenen Erfindungen schützten. Chris Anderson, vormals Herausgeber des Technologie-Magazins Wired, führte für alle technischen Geräte im Haushalt strenge Restriktionen ein, „schließlich haben wir mit eigenen Augen gesehen, welche Gefahr von den neuen Technologien ausgeht“. Seine fünf Kinder durften in ihren Zimmern keine Geräte mit Bildschirm benutzen. Evan Williams, einer der Gründer von Blogger, Twitter sowie der Online-Publishing-Plattform Medium, kaufte seinen beiden Söhnen Hunderte von Büchern, er weigerte sich jedoch, ihnen ein iPad zu schenken. Und Lesley Gold, Gründerin einer Web-Controlling-Firma, führte für ihre Kinder ein strenges Bildschirmverbot an Werktagen ein. Erst als die Kinder in der Schule Computer brauchten, lockerte sie die Regel. Walter Isaacson, der während der Recherchen zu seiner Steve-Jobs-Biografie oft mit Jobs’ Familie zu Abend aß, verriet Bilton: „Ich habe die Kinder nie mit einem iPad oder einem Computer gesehen. Sie wirkten von technischen Geräten jeder Art ganz und gar unbeeindruckt.“ Es schien so, als würden die Menschen, die Hightech-Produkte herstellen, die Grundregel aller Drogendealer beherzigen: Never get high on your own supply (so Michelle Pfeiffer in Scarface – Nimm nie selbst die Drogen, die du verkaufst).
Das ist beunruhigend. Warum verhalten sich ausgerechnet die bekanntesten Persönlichkeiten der digitalen Führungsriegen in ihrem Privatleben derart technikfeindlich? Man stelle sich nur den Aufschrei vor, wenn religiöse Führer ihren Kindern die Ausübung der eigenen Religion versagten. Viele Experten, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Hightech-Welt, haben ähnliche Entscheidungen getroffen. Mehrere Spieledesigner erzählten mir, sie würden das extrem schnell süchtig machende Online-Spiel World of Warcraft tunlichst meiden. Eine Psychologin mit Spezialisierung auf Fitnesssucht erklärte Fitnessuhren für gefährlich – „die dümmsten Dinger der Welt“ – und schwor, sich niemals eine zu kaufen; und die Gründerin einer Klinik für Internetsucht sagte mir, sie vermeide alle Gadgets, die nicht mindestens drei Jahre auf dem Buckel hätten. Ihr Mobiltelefon hat sie stumm gestellt, sie „verlegt“ es sogar absichtlich, um nicht ständig ihre E-Mails abrufen zu müssen. (Ich habe zwei Monate versucht, sie über E-Mail zu erreichen, doch erst über ihr Festnetztelefon kam der Kontakt zustande.) Ihr Lieblingscomputerspiel ist Myst. Es stammt aus dem Jahr 1993, einer Zeit, da Computer noch zu schwerfällig waren, um mit Videografiken zurechtzukommen. Auf Myst, so erzählte sie mir, habe sie sich nur eingelassen, weil ihr Computer dabei jede halbe Stunde einfriere und es ewig dauere, bis sie ihn neu starten könne.
Greg Hochmuth, einer der Instagram-Gründer, begriff schnell, dass er eine Suchtmaschine baute. „Immer findet man einen weiteren Hashtag, auf den man klicken könnte“, sagte Hochmuth. „Und dann entwickelt sich wie bei einem Organismus ein hashtaggetriebenes Eigenleben, das Menschen obsessiv macht.“ Instagram ist, wie so viele Social-Media-Plattformen, bodenlos. Die Timeline von Facebook ist endlos; Netflix startet die nächste Folge einer Serie automatisch; Tinder ermutigt seine Nutzer, auf der Suche nach immer besseren Partner-Optionen weiterzuklicken. Nutzer profitieren zwar von diesen Apps und Websites, tun sich aber sehr schwer damit, sie nur in Maßen zu benutzen. Der „Design-Ethiker“ Tristan Harris glaubt, dies liege nicht an mangelnder Willenskraft, doch kämpfe man gegen „ein ganzes Heer auf der anderen Seite des Bildschirms, dessen Job einzig darin besteht, jegliche Selbstdisziplin zu unterminieren“.
Diese Technikexperten haben gute Gründe, besorgt zu sein. Denn bei ihrer Arbeit am äußersten Rand des Möglichen entdeckten sie zwei Dinge. Erstens, dass unsere Vorstellungen von Sucht zu beschränkt sind. Wir neigen dazu, Sucht bestimmten Menschen mit bestimmten Anlagen zuzuschreiben – jenen, die wir als Süchtige abstempeln. Heroinsüchtige in leerstehenden Häusern. Ketterauchende Nikotinsüchtige. Pillenschmeißende Rezeptsüchtige. Die Bezeichnung „Süchtiger“ unterstellt, dass Betroffene anders seien als der Rest der Menschheit. Es mag sein, dass sie sich eines Tages über ihre Sucht erheben, doch bis dahin gehören sie einer besonderen Kategorie an. Doch in Wahrheit entsteht Sucht vor allem aus einer Mischung aus Umwelteinflüssen und Umständen. Steve Jobs wusste das. Er hielt das iPad von seinen Kindern fern, weil er wusste, dass sie trotz aller gesellschaftlichen Privilegien, die eine Sucht wenig wahrscheinlich erscheinen ließen, für die Reize des iPads anfällig waren. Diese Unternehmer erkennen, dass die auf Unwiderstehlichkeit hin konstruierten Tools, für die sie werben, Nutzer aller Couleur verführen können. Es gibt keine klare Linie zwischen Süchtigen und uns anderen, weil wir alle nur eine App, ein Produkt oder eine Erfahrung von unserer eigenen Sucht entfernt sind.
Zweitens entdeckten Biltons Technologie-Experten, dass die Lebensumstände des digitalen Zeitalters viel direkter in die Sucht führen als alles, was wir aus der Geschichte kennen. Noch in den 1960er Jahren bewegten sich Menschen in einer Welt, in der nur wenige Köder ausgelegt waren: Nikotin in Zigaretten, Alkohol und Drogen, die aber teuer und im Allgemeinen unzugänglich waren. In den 2010er Jahren ist dieselbe Welt von Ködern verseucht. Es gibt den Facebook-Köder. Den Instagram-Köder. Den Porno-Köder. Den E-Mail-Köder. Den Online-Shopping-Köder. Und so weiter. Die Liste ist lang – viel länger als sie in der Geschichte der Menschheit je war. Und wir fangen gerade erst an, die Macht dieser Köder zu verstehen.
Biltons Experten waren so vorsichtig, weil sie wussten, dass sie unwiderstehliche Technologien entwickelten. Verglichen mit der klobigen Technik der 1990er und 2000er Jahre sind moderne Geräte effizient und machen süchtig. Hunderte Millionen von Menschen teilen ihr Leben in Echtzeit über Instagram-Posts, und genauso schnell werden diese Leben in Form von Kommentaren und „Gefällt mir“-Angaben bewertet. Songs, für deren Download man einst eine Stunde benötigte, stehen heute innerhalb von Sekunden zur Verfügung; die Zeitverzögerung, die viele Leute erst gar nicht auf die Idee kommen ließ, Musik herunterzuladen, gibt es nicht mehr. Neue Technologien versprechen Bequemlichkeit, Geschwindigkeit und Automatisierung, doch der Preis, den wir dafür zahlen, ist hoch. Menschliches Verhalten wird zum Teil von einer Abfolge reflexiver Kosten-Nutzen-Rechnungen gesteuert, die festlegen, ob eine Handlung einmal, zweimal, Hunderte Male oder überhaupt nicht ausgeführt wird. Wenn der Nutzen die Kosten aber weit übersteigt, wird es schwer, eine Handlung nicht ständig zu wiederholen, vor allem, wenn der richtige Nerv getroffen wird.
Ein „Gefällt mir“ auf Facebook und Instagram trifft diesen Nerv genauso wie die Belohnung für eine erfolgreich beendete Mission in World of Warcraft oder ein hundertfach geteilter Tweet. Die Leute, die Hightech-Geräte, Computerspiele und interaktive Erlebnisse entwickeln und verfeinern, sind sehr gut in dem, was sie tun. Sie führen Tausende Tests mit Millionen von Nutzern durch, nur um herauszufinden, welche Feinjustierungen gut funktionieren und welche nicht – welche Hintergrundfarben, Schrifttypen und Töne maximale Hingabe bei minimaler Frustration versprechen. Wird eine solche Erfahrung immer weiterentwickelt, entsteht schließlich eine unwiderstehliche, hochexplosive Version jener Erfahrung, die sie einst war. 2004 war Facebook Spaß, 2016 ist das Netzwerk eine Droge.
Suchtverhalten gibt es seit langem, doch in den letzten Jahrzehnten hat es sich extrem verbreitet, es wird immer schwieriger zu widerstehen und es gehört immer mehr zum Mainstream. Die neuen Süchte kommen ohne die Einnahme von Substanzen aus. Sie führen dem Organsystem keine Chemikalien zu, produzieren aber dieselben Wirkungen, indem sie die Nutzer fesseln, weil sie so gut gemacht sind. Einige, wie Glücksspiel und Sport, gib es schon lange; andere, wie Bing Watching (der exzessive Konsum von Filmen und vor allem Serien) und übertriebener Smartphone-Gebrauch, sind relativ neu. Doch allen ist gemein, dass man ihnen immer schwerer widerstehen kann.
Zudem haben wir das Problem selbst verschärft, weil wir starr auf das Versprechen blicken, gesetzte Ziele zu erreichen, ohne die Nachteile zu sehen. Zielsetzung war in der Vergangenheit ein nützliches Motivationswerkzeug, weil der Mensch meist so wenig Zeit und Energie wie möglich aufwenden will. Wir sind nicht von Natur aus fleißig, rechtschaffen und gesund. Doch das Blatt hat sich gewendet. Wir sind heute so darauf fixiert, mehr in weniger Zeit zu schaffen, dass wir komplett vergessen haben, eine Notbremse einzubauen.
Ich habe mit mehreren klinischen Psychologen gesprochen, die das Ausmaß des Problems erkannt und beschrieben haben. „Jede einzelne Person, die zu mir kommt, hat mindestens eine Verhaltenssucht“, sagte mir eine Psychologin. „Ich habe Patienten, die aber auch nichts auslassen: Glücksspiel, Shopping, soziale Netzwerke, E-Mail und so weiter.“ Sie beschrieb mehrere Patienten, die alle hochangesehene Berufe mit sechsstelligen Jahreseinkommen hätten, aber von ihren Süchten geplagt werden. „Eine der Frauen ist sehr schön, klug und erfolgreich. Sie hat zwei Studienabschlüsse und arbeitet als Lehrerin. Aber sie ist süchtig nach Online-Shopping und hat es geschafft, 80 000 Dollar Schulden anzuhäufen. Ihre Sucht verbirgt sie erfolgreich vor fast allen Menschen, die sie kennt.“ Diese Art des Doppellebens ist typisch. „Es ist sehr einfach, Verhaltenssüchte zu verbergen – viel einfacher als Drogenmissbrauch. Doch gerade das macht sie so gefährlich, denn so bleiben sie über Jahre unbemerkt.“ Eine weitere Patientin, auch sie beruflich sehr erfolgreich, verheimlichte vor ihren Freunden ihre Facebook-Sucht. „Sie hatte eine schreckliche Trennung hinter sich und verfolgte ihren Exfreund jahrelang im Netz. Facebook macht es viel schwieriger, sich am Ende einer Beziehung sauber voneinander zu trennen.“ Einer ihrer Patienten checkte seine E-Mails Hunderte Mal am Tag. „Er kann sich selbst im Urlaub nicht entspannen und das Leben genießen. Doch würde man das nie von ihm denken. Er ist zutiefst besorgt, und dennoch macht er auf die Welt einen absolut gesunden Eindruck; er hat eine beeindruckende Karriere im Gesundheitswesen gemacht, und man sollte es nicht für möglich halten, wie sehr er leidet.“
„Die Wirkung sozialer Netzwerke ist gewaltig“, erzählte mir ein anderer Psychologe. „Soziale Netzwerke haben die Gehirne meiner jüngeren Patienten komplett umgeformt. Deshalb achte ich während einer Therapiesitzung immer öfter darauf, folgenden Sachverhalt zu klären: Nachdem ich fünf bis zehn Minuten mit einer jungen Person über ihren Streit mit ihrem Freund oder ihrer Freundin gesprochen habe, frage ich sie, ob das Streitgespräch über SMS, Telefon, soziale Netzwerke oder von Angesicht zu Angesicht stattgefunden habe. Und immer öfter lautet die Antwort ›SMS‹ oder ›soziale Netzwerke‹. Doch am Anfang, wenn sie mir die Geschichte erzählen, ist das für mich alles andere als klar. Für mich hört es sich an, als sprächen sie von einer ›echten‹ Unterhaltung von Angesicht zu Angesicht. Ich halte daraufhin kurz inne und denke nach. Die Person unterscheidet nicht auf dieselbe Weise wie ich zwischen verschiedenen Kommunikationsformen … und das Ergebnis ist eine Landschaft voller Unverbundenheit und Sucht.“
Dieses Buch spürt dem Aufstieg der Verhaltenssüchte nach, es untersucht, wo ihr Ursprung liegt, wer sie herstellt, welche psychologischen Tricks sie so fesselnd machen, wie man gefährliche Verhaltenssüchte möglichst klein halten kann und das Wissen über sie für positive Ziele nutzbar machen kann. Wenn App-Designer Menschen dazu bringen können, mehr Zeit und Geld für Smartphone-Spiele aufzuwenden, lassen sich auf ähnliche Weise Menschen vielleicht auch dazu bewegen, mehr Geld für ihre Rente zurückzulegen oder mehr Geld für wohltätige Zwecke zu spenden.
Technologie an sich ist nicht böse. Als mein Bruder und ich 1988 mit unseren Eltern nach Australien zogen, blieben unsere Großeltern in Südafrika zurück. Wir sprachen mit ihnen vielleicht einmal die Woche über teure Festnetzanrufe und schickten Briefe, die eine Woche später ankamen. Als ich 2004 in die Vereinigten Staaten zog, schrieb ich meinen Eltern und meinem Bruder fast täglich E-Mails. Wir sprachen oft am Telefon und winkten uns über Webcams, sooft wir konnten, zu. Technologie verkleinerte die Entfernung zwischen uns. Im Nachrichtenmagazin Time schrieb John Patrick Pullen 2016, wie ein emotionaler Faustschlag aus der virtuellen Welt ihn zu Tränen rührte:
Meine Mitspielerin Erin schoss mit einer Schrumpfstrahlenpistole auf mich. Plötzlich waren alle Spielsachen riesig, und Erins Avatar thronte wie ein gewaltiger Riese über mir. Sogar ihre Stimme hatte sich verändert, als sie durch die Kopfhörer strömend mit einem tiefen Ton meinen Kopf flutete. Für einen Augenblick war ich wieder Kind, und diese riesige Person spielte zärtlich mit mir. Ich gewann einen so überwältigenden Einblick davon, wie es sich anfühlen musste, mein eigner Sohn zu sein, dass ich anfing, in das Headset zu schluchzen. Es war ein unschuldiges und wunderschönes Erlebnis, das meine Beziehung zu ihm völlig neu formte. Ich war meiner riesigen Spielkameradin schutzlos ausgeliefert und fühlte mich dennoch völlig sicher.
Technologie ist weder moralisch gut noch böse, solange sie nicht von Unternehmen vereinnahmt wird, die sie für den Massenkonsum umformen. Apps und Internetplattformen können so gestaltet werden, dass sie reichhaltige soziale Verbindungen fördern; oder sie können, wie Zigaretten, so gestaltet werden, dass sie süchtig machen. Leider fördern heutzutage viele technische Entwicklungen Sucht. Sogar Pullen sagte, als er sein Erlebnis in der virtuellen Welt besang, er habe „angebissen“. Immersive Technologien wie virtuelle Realitäten, die das völlige Eintauchen in eine andere Welt begünstigen, wecken derart tiefe Gefühle, dass Missbrauch kaum zu vermeiden ist. Sie stecken allerdings noch in den Kinderschuhen, und es lässt sich noch nicht vorhersagen, ob sie verantwortlich genutzt werden.
Substanz- und Verhaltenssüchte ähneln sich in vielerlei Hinsicht. Sie aktivieren dieselben Gehirnregionen und werden von einigen derselben menschlichen Grundbedürfnisse befeuert: soziales Engagement und gegenseitige Unterstützung, geistige Anregung und das Gefühl von Effizienz. Bleiben diese Bedürfnisse im Alltag unerfüllt, dann entstehen sowohl Süchte nach Substanzen als auch nach Erlebnissen umso schneller.
Verhaltenssüchte haben in den folgenden sechs Zutaten ihren Anfang: erstrebenswerte Ziele, die nur knapp verfehlt werden; ein unwiderstehliches und zugleich unvorhersehbares positives Feedback; das Gefühl schrittweiser Fortentwicklung und Verbesserung; Aufgaben, die mit der Zeit langsam schwieriger werden; ungeklärte Spannungen, die nach einer Lösung verlangen; und starke soziale Bindungen. Trotz ihrer Verschiedenheit enthalten alle heutigen Verhaltenssüchte wenigstens eine der sechs Zutaten. Instagram etwa macht süchtig, weil einige Fotos sehr viele „Gefällt mir“-Angaben generieren, während andere nahezu unbeachtet untergehen. Nutzer jagen dem nächsten großen „Gefällt mir“-Hit hinterher, sie posten ein Foto nach dem anderen und kehren immer wieder auf die Website zurück, um ihre Freunde bei deren Jagd zu unterstützen. Video-Gamer spielen bestimmte Spiele tagelang ohne Unterbrechung, weil sie davon besessen sind, eine Mission zu erfüllen, und weil sie starke soziale Verpflichtungen eingegangen sind, die sie an andere Spieler binden.
Was wäre also die Lösung? Wie können wir mit süchtig machenden Erlebnissen leben, die eine zentrale Rolle in unserem Leben spielen? Millionen von ehemaligen Alkoholikern schaffen es, Bars ganz zu meiden, doch trockene Internetsüchtige müssen nun mal von Zeit zu Zeit eine E-Mail verschicken. Ohne E-Mail-Adresse kann man sich weder um einen Job noch ein Reisevisum bewerben. Immer weniger Jobs sind ohne Computer und Smartphones zu erledigen. Suchtgefährdende Technologien sind schon heute so sehr in der Mitte unserer Gesellschaft verankert, wie es süchtig machende Substanzen nie sein werden. Abstinenz ist keine Lösung, doch es gibt andere Auswege. Man kann suchtgefährdende Erlebnisse auf einen streng abgegrenzten Bereich des Alltags beschränken und stattdessen positive Gewohnheiten pflegen, die gesundes Verhalten fördern. Sobald man verstanden hat, wie Verhaltenssüchte wirken, kann man ihren Schaden lindern oder sie sogar zum Guten wenden. Dieselben Prinzipien, die Kinder zu Computerspielen animieren, könnten sie auch dazu verleiten, für die Schule zu lernen, und die Ziele, die Menschen dazu bewegen, exzessiv Sport zu betreiben, könnten sie auch dazu bringen, Geld für die Rente zu sparen.
Das Zeitalter der Verhaltenssüchte ist noch jung. Doch Anzeichen, dass es sich hier um ein gesellschaftlich relevantes Problem handeln könnte, mehren sich. Süchte schaden deshalb so sehr, weil sie andere wichtige Betätigungsfelder in den Hintergrund schieben, von Arbeit und Spiel bis hin zu grundlegender Hygiene und zwischenmenschlichem Austausch. Die gute Nachricht lautet, dass wir Verhaltenssüchten nicht unumstößlich ausgeliefert sind. Es gibt vieles, das wir tun können, um das Gleichgewicht wiederherzustellen, in dem wir vor dem Zeitalter von Smartphones, E-Mails, tragbarer Technologien, sozialer Netzwerke und Cloud-TV lebten. Das Wichtigste ist, zu verstehen, warum sich Verhaltenssüchte so wild wuchernd ausbreiten, wie sie aus der menschlichen Psyche Kapital schlagen und wie wir die Abhängigkeiten bekämpfen, die uns schaden, während wir diejenigen, die uns weiterhelfen, gewinnbringend einsetzen.
Was ist Verhaltenssucht und woher kommt sie?
Der Aufstieg der Verhaltenssucht
Vor ein paar Jahren empfand der App-Entwickler Kevin Holesh, dass er viel zu wenig Zeit mit seiner Familie verbrachte. Schuld war die Technologie, und sein Smartphone war der größte Missetäter. Holesh wollte daraufhin wissen, wie viel Zeit er täglich mit seinem Smartphone beschäftigt war, und entwickelte die App Moment. Moment zeichnete Holeshs tägliche Zeit am Smartphone auf und addierte die Minuten, die er wirklich täglich auf sein Display starrte. Es kostete mich Monate, bis ich Holesh erreichen konnte, er meinte es mit seiner Smartphone-Diät wirklich ernst. Auf der Moment-Website schreibt er, dass es eine Weile dauern könne, bis er E-Mails beantworte, da er versuche, möglichst wenig Zeit online zu verbringen. Auf meinen dritten Versuch hin entschuldigte sich Holesh höflich und stimmte einem Treffen zu. „Die App schaltet ab, wenn man etwa nur Musik hört oder telefoniert“, sagte mir Holesh. „Sie zeichnet aber weiter auf, sobald man auf das Display schaut – etwa um E-Mails zu verschicken oder im Internet zu surfen.“ Holesh hing täglich eine Stunde und 15 Minuten an seinem Smartphone, was viel zu sein schien. Einigen seiner Freunde ging es ähnlich, sie hatten aber keine genaue Vorstellung, wie viel Zeit sie wirklich mit ihren Telefonen verbrachten. Deshalb begann Holesh, seine App zu teilen. „Ich bat Leute, ihre tägliche Zeit am Smartphone zu schätzen, und sie lagen fast immer 50 Prozent zu niedrig.“
Auch ich habe mir Moment vor einigen Monaten heruntergeladen. Davor ging ich davon aus, dass ich mein Smartphone höchstens eine Stunde am Tag benutzen und es vielleicht zehnmal in die Hand nehmen würde. Ich bildete mir auf diese Zahlen nichts ein, aber ich dachte, sie wären einigermaßen korrekt. Doch nach einem Monat meldete Moment, dass ich mein Telefon drei Stunden pro Tag nutzen und es im Schnitt 40 Mal in die Hand nehmen würde. Ich war fassungslos. Ich habe keine Spiele gespielt und auch nicht stundenlang im Internet gesurft, doch irgendwie schaffte ich es, jede Woche 20 Stunden auf mein Telefon zu starren.
„Ein packendes und unterhaltsames Buch.“
„Ein lesenswertes Stück Zeitkritik.“
„Es ist uneingeschränkt jedem zu empfehlen, der sich ausführlicher mit den Gefahren der digitalen Technologien und dem Wesen der Verhaltenssucht auseinandersetzen möchte.“
„Ein ungeheuer wichtiges Buch!“
„Adam Alters Buch entpuppt sich als unwiderstehliche Lektüre.“
„Es gehört zu Adam Alters Verdienst, dass er mit zahlreichen Beispielen auf solch stoffungebundene, süchtig-machende Verhaltensweise aufmerksam macht, an die wir gemeinhin nicht denken, wenn wir von Sucht sprechen.“
„Nutzern der modernen Kommunikationstechnologien und Eltern wird das Buch nachdrücklich empfohlen.“
„Mit ›Unwiderstehlich‹ legt der Sozialpsychologe Adam Alter, der an der New York University Marketing lehrt, den notwendigen Hintergrund zu dieser wichtigen Debatte.“
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