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Vom Glück, mit dem Wind zu leben Vom Glück, mit dem Wind zu leben - eBook-Ausgabe

Renske Jonkman
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— Kraftvoll-poetisches Nature Writing über die inspirierenden und heilenden Kräfte der Natur
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Vom Glück, mit dem Wind zu leben — Inhalt

Im Einklang mit dem Wind

Renske Jonkman lebt hinterm Deich, auf dem flachen Land, wo der Wind freies Spiel hat. Mitreißend schreibt sie über ihre Verbundenheit mit dem aufbrausenden Element. Über ihre Kindheit in den westfriesischen Poldern, die heranrollenden Wolken beim Surfen mit ihrem Bruder und die Freude ihrer Kinder beim Fahrradfahren im Gegenwind.

Denn für die Niederländer gibt es nichts Erfrischenderes als uitwaaien: vorgebeugt gegen den Sturm anzulaufen und sich den Kopf freipusten zu lassen – um Kraft und Inspiration zu finden oder auch den Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen zu überwinden.

„Vergesst ›Hygge‹, es ist Zeit für ›Uitwaaien‹!“ Washington Post

Poetisch und inspirierend zeigt uns dieses sehr persönliche Buch auf, wie beruhigend und heilend die Natur sein kann. Ein Plädoyer fürs Draußensein und Durchatmen. 

€ 18,00 [D], € 18,50 [A]
Erschienen am 29.08.2024
Übersetzt von: Barbara Heller
208 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-89029-581-7
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€ 17,99 [D], € 17,99 [A]
Erschienen am 29.08.2024
Übersetzt von: Barbara Heller
208 Seiten
EAN 978-3-492-60716-2
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Leseprobe zu „Vom Glück, mit dem Wind zu leben“

Vorwort
Ich hatte vergessen, wie heftig der Wind hier weht.
Im Winter 2015 luden wir unseren Hausrat in den Viehtransporter meiner Schwiegereltern, verließen Amsterdam und zogen mit der Familie aufs flache Land Nordhollands, in einen alten Bauernhof, mit einem Zwischenmietvertrag über ein Jahr. Acht Jahre später wohnen wir immer noch hier.
Das ländliche Holland und insbesondere das zwischen Nordsee und Ijsselmeer gelegene Westfriesland, wo ich aufgewachsen und wohin ich nach zehn Jahren wieder zurückgekehrt bin, liegt mehrere Meter unter dem Meeresspiegel [...]

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Vorwort
Ich hatte vergessen, wie heftig der Wind hier weht.
Im Winter 2015 luden wir unseren Hausrat in den Viehtransporter meiner Schwiegereltern, verließen Amsterdam und zogen mit der Familie aufs flache Land Nordhollands, in einen alten Bauernhof, mit einem Zwischenmietvertrag über ein Jahr. Acht Jahre später wohnen wir immer noch hier.
Das ländliche Holland und insbesondere das zwischen Nordsee und Ijsselmeer gelegene Westfriesland, wo ich aufgewachsen und wohin ich nach zehn Jahren wieder zurückgekehrt bin, liegt mehrere Meter unter dem Meeresspiegel und ist so flach, dass der Wind hier freies Spiel hat. Flach ist es deshalb, weil das Gebiet einst der Boden eines Binnenmeers war. Bei Springflut drang das Wasser bis weit auf die Halbinsel vor und überschwemmte die sumpfigen Felder. Der Polder, in dem ich wohne, entstand vor vierhundert Jahren, als die Seen und Binnenmeere trockengelegt wurden. Wer sich in einem Polder aufhält, muss sich vorstellen, dass er eigentlich mit den Füßen auf dem Meeresgrund steht. Der Blick reicht kilometerweit, und allenthalben sieht man Wolken, Deiche und Wassergräben. Das kahle Land wurde zu einem großen Teil von den Bewohnern selbst geschaffen: Die Felder sind geometrisch angelegt, unsere Vorfahren haben mit der Schaufel die Gräben ausgehoben und die Deiche erhöht, und so ist überall in der Landschaft die Hand des Menschen sichtbar.
Das Licht hier ist golden, so golden, wie ich es nirgendwo sonst gesehen habe. Es ist das holländische Licht. Es ist weich und diffus, und an herbstlichen Tagen nimmt es die Farbe des Schilfs an, das die Gräben säumt. Das Wasser der Nordsee und des Ijsselmeers, der Gräben und des Ringdeichs wirkt wie ein reflektierender Spiegel und verleiht der Luft ihr besonderes Leuchten. An grauen Tagen kann plötzlich ein gleißender Sonnenstrahl durch die Wolken brechen, sodass sich Licht und Luft immer wieder ein klein wenig verändern. Feuchter Nebel über den Wiesen lässt alles in weicheren Farben erscheinen – die Kühe, die Häuser, die Bäume. Die französischen Brüder Goncourt, die im 19. Jahrhundert ihr gemeinsames literarisches Werk veröffentlichten, beschrieben Holland als „ein aus dem Wasser hervorgegangenes Land, (…) eine Heimat vor Anker, ein wässriger Himmel, Sonnenstrahlen, die aussehen, als schienen sie durch eine Karaffe mit Brackwasser“.
In dieser Landschaft mit ihren kühlen Sommern und milden Wintern, in der es fast immer windet und regnet, wuchs ich auf. Geboren bin ich in Heerhugowaard – dem einstigen Binnenmeer De Waerdt –, in einer von grünen Wiesen und Weiden umgebenen Wohnsiedlung. Ich war das jüngste von drei Kindern einer Lehrerfamilie – zwei Mädchen und ein Junge – und hielt mich nach der Schule am liebsten auf den wenige Kilometer entfernten Bauernhöfen auf, wo ich bei allen möglichen Arbeiten half, die Pferde versorgte oder mich einfach in den Ställen herumtrieb. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich mich wieder bei starkem Gegenwind über den Deich dorthin radeln, um mich herum viel Raum, die Wege lang und gerade, die Kopfweiden in Reih und Glied. Viel Himmel. Graue Kumuluswolken über den weiten Feldern. Und auch später, als Jugendliche, die ihren Weg noch suchte, fuhr ich, als mein Bruder krank wurde und die Spannung in unserem Haus zunahm, am liebsten ins flache Land hinaus. Dort konnte ich frei atmen.

Kein Wunder also, dass die Rückkehr in meine Heimat dem simplen Wunsch entsprang, wieder bis zum Horizont schauen zu können. In den zehn Jahren, die ich in Amsterdam wohnte und in denen ich meine ersten Romane schrieb, verbrachte ich mehr Zeit drinnen als draußen. Mein Blick reichte nicht weiter als bis zum Wohnblock gegenüber, begrenzt von Straßen zwischen hohen Mauern und der Ringautobahn mit dem endlosen Strom der Fahrzeuge. Ich achtete weder auf die goldene Stunde vor Sonnenaufgang noch auf die blaue Stunde vor Sonnenuntergang, weder auf die Abenddämmerung noch auf den Mond, der manchmal schon nachmittags am Himmel steht. Richtige Stürme gab es selten, und wenn der Wind wehte, konnte ich nicht erkennen, woher er kam.
In der Stadt kommt der Frühling immer plötzlich und unangekündigt: keine rammelnden Hasen, keine Igel, die sich vorsichtig aus ihrem Laubversteck hervorwagen. An manchen Tagen kam ich kaum einmal eine halbe Stunde aus dem Haus, und dann auch nur, um von A nach B zu radeln oder einen kurzen Spaziergang durch den Park zu machen. Ich musste keine Tiere füttern, ich musste mich nicht um Haus und Hof kümmern, und die Elemente – die Luft, das Licht, die Wolkenbrüche – bewegten sich an mir vorbei und um mich herum.
Es gibt Studien, wonach der Durchschnittsamerikaner etwa dreiundneunzig Prozent seiner Zeit in geschlossenen Räumen verbringt. Schwedische Wissenschaftler fanden heraus, dass sich unser Herzschlag verlangsamt, wenn wir durch eine Virtual-Reality-Brille Bäume betrachten – sogar der Duft des Waldes wird künstlich erzeugt. Dasselbe geschieht, wenn wir dem Gesang der Vögel lauschen. Erlebt der domestizierte Mensch der Zukunft die Natur lieber in der Sicherheit seiner vier Wände? Wie ein Tier im Käfig?

In Holland ist es Tradition, sich am zweiten Weihnachtsfeiertag kräftig durchpusten zu lassen; alle setzen sich am Ende der Feiertage mit größter Selbstverständlichkeit dem Wind aus. Menschen in Festkleidern unter dicken Mänteln bevölkern dann die Strände, aber auch die Wälder, und vertrauen sich den Wolken, dem endlosen Horizont an. Selbst schlechtes Wetter und Windstärke fünf halten die Holländer nicht davon ab. Wir lehnen uns in den Wind, der Regen strömt uns übers Gesicht, und hinterher wärmen wir uns bei heißer Schokolade auf. Es ist ein nationales Massenphänomen, geboren aus einem gemeinsamen Bedürfnis. Der Mensch ist ein durch vielerlei kulturelle Regeln domestiziertes Wesen, das sich danach sehnt, auszubrechen, der Enge des häuslichen Lebens, dem endlosen Sitzen zwischen vier Wänden, dem Einhalten fester Traditionen einmal zu entfliehen. Warm eingepackt, in freier, sturmgepeitschter Luft, findet er etwas von seiner ursprünglichen Wildheit wieder.

Auch ich brauchte Licht.

Von diesem ersten Winter nach meinem Umzug aufs Land habe ich noch ein bestimmtes Bild vor Augen: windbewegte Pappeln. Es war Februar, der Wind fegte gleichbleibend heftig über Wiesen und Weiden, und wenn ich gefragt wurde, wie es für mich sei, wieder hier zu leben, antwortete ich jedes Mal: „Ich hatte ganz vergessen, wie es hier stürmen kann.“
Der Wind war ein rastloser, ungebärdiger Kindheitsfreund, zu dem ich nun zurückgekehrt war, aber ich fühlte mich nicht mehr wohl mit ihm. Sobald ich die Haustür aufmachte, blies er mich fast um. Im Gemüsegarten knickte er Maiskolben und Artischocken ab und zerschlug sie auf der Erde. Ich fuhr auf meinem klapprigen Stadtfahrrad gekrümmt über die Polderstraßen, kam aber kaum vorwärts. Schnell lernte ich, dass ich den Wind nicht verfluchen durfte, sondern mich mit ihm bewegen musste. Ich musste wieder lernen, mit ihm zu leben, wie ich es aus meiner Kindheit kannte. Musste mich ihm anpassen. Ich zwang mich hinauszugehen, wenn er ums Haus pfiff. Unterwegs zu sein inmitten der unbeherrschbaren Elemente, mich in der Kunst zu üben, Kräften standzuhalten, die stärker sind als ich. Und immer öfter kam ich erfrischt und mit leerem Geist von meinen Gängen zurück. Als hätte die stürmische Natur mir Ruhe beschert.

Um den Wind kennenzulernen, muss man wissen, woher er kommt, wie er an Stärke zunimmt und wann er wieder abflaut. Im Polder aufgewachsen, ist mir das Beobachten dieses Elements zur zweiten Natur geworden, und auch mein Buch folgt seinem Rhythmus: dem Aufkommen, Anschwellen und Wiederabflauen. Ich möchte einen Einblick geben in das Leben mit dem Wind und zeigen, wie sehr er Teil des flachen Polderlandes und seiner Menschen ist, wie er uns mitunter auf die Probe stellt und uns geformt hat. Und so ist dieses Buch ein Loblied auf das flache Land Hollands, eine Erkundung der Natur und zugleich ein Leitfaden für Stadtbewohner, die für eine Weile wieder in die freie Luft hinauswollen.


Erster Teil: Wenn der Wind aufkommt


Flachländerbeine
Als ich das letzte Mal in den Bergen war – im Hohen Atlas in Marokko –, wurde ich höhenkrank. Mit einem Taxi fuhr ich durch Schlaglöcher und Haarnadelkurven in einer halben Stunde zweitausend Meter nach unten, und als ich aus dem Auto stieg und wieder den Boden unter meinen Füßen spürte, begann sich mein Kopf zu drehen, und ich bekam hohes Fieber. In der Nacht träumte ich von dem flachen Land, aus dem ich komme. Wie flach es ist, kann sich kaum jemand vorstellen – an trockenen Sommertagen erinnert es noch am ehesten an eine öde Wüstenlandschaft, in der man das Dunkel der Nacht über dem endlosen Horizont heranziehen sieht.
Ich habe Flachländerbeine, und meine Augen sind von Natur aus in die Ferne gerichtet. Am wohlsten fühle ich mich auf ebenem Boden, in waagerechtem Gelände, auf einer Fläche, die eine gewisse Weite bietet. Ich hatte mir bis dahin nie klargemacht, dass ich physiologisch für die Landschaft gebaut bin, aus der ich stamme, dass ich große Höhen und dünne Luft nicht gewöhnt bin. Dass starke Höhenunterschiede mich offensichtlich krank machen können. „Wetter und Landschaften beeinflussen die Menschen mehr, als ihnen eigentlich bewusst ist“, schrieb Joan Didion einmal in The Paris Review.
Anders als in den unwandelbaren, in Stein gehauenen Bergen bleibt in dem Delta, in dem ich aufgewachsen bin, nichts für immer gleich. Es ist ein Land, das von Menschenhand geschaffen, am Reißbrett geplant wurde. Kaum eine andere Landschaft, die ich kenne, ist so vergänglich: Was heute ein Acker ist, kann sich das Meer in fünfzig Jahren zurückgeholt haben. Nichts ist von Dauer. Nichts ist endgültig.
Das Sumpfdelta musste von den Menschen dem Meer abgerungen werden.
Die Gefahr kam damals von allen Seiten: von der Zuiderzee, der Nordsee, vom weit ins Land hineinreichenden Ij, und aus Angst vor dem Untergang hat man diesen westfriesischen Polder entwässert und trockengelegt. Deichbauer, Mühlenbauer und Landvermesser waren die Ersten, die auf dem noch morastigen, bis zum fernen Horizont reichenden Grund des einstigen Binnenmeers standen. Es muss eine kahle, unwirtliche Fläche gewesen sein, als sich diese Pioniere zu Beginn des 17. Jahrhunderts daranmachten, den Kleiboden in fruchtbares Land zu verwandeln.
Der Polder wurde vollständig von Menschen konzipiert, und als ein einziges Konzept muss man ihn auch sehen: rechteckige Felder, Entwässerungsgräben, die im rechten Winkel zueinander verlaufen, wie mit dem Lineal gezogene Straßen. Das Ganze hat etwas von einem abstrakten Mondrian-Gemälde. Das Land ist grün und sehr fruchtbar, und da der Polder an drei Seiten vom Meer umgeben ist, kann der Wind ungehindert darüber hinwegfegen. Berge und Wälder gibt es hier nicht, man sieht den Himmel, wohin man auch schaut: tief hängende graue Wolken, weiße Kumuluswolken, dunkle Gewitterwolken oder weites, gleichmäßiges Blau. Oft ziehen den ganzen Tag Wolken über den Himmel, und dann treibt der Wind große Schattengebilde über Wiesen und Weiden. Bricht für einen Moment die Sonne durch, färbt sich das Gras leuchtend grün, um sich gleich darauf wieder zu verdunkeln, sodass es fast schwarz wirkt. Man braucht nur den Wolkenschatten zu folgen, um zu wissen, woher der Wind weht.
Das Wasser ist überall, folgt aber stets dem Lauf, den die Menschen ihm zugewiesen haben. Kein mäandernder Bach weit und breit. Kein Wasserfall, kein schäumender Fluss. Eine feine Schicht Entengrütze liegt auf dem metertiefen dunklen Wasser; dass es überhaupt fließt, ist mit bloßem Auge nicht zu erkennen. Nur nach starken Regenfällen strudelt es bis an die Grabenkanten hoch, und dann wird alles Überschüssige mit den Schöpfwerken in die höher gelegenen Ringkanäle gepumpt und gelangt schließlich über weitere Kanäle und Flüsse in die Nordsee und das Ijsselmeer. Aus der Vogelperspektive würde man sehen, dass jeder trockengelegte Polder Westfrieslands von einem schimmernden Ring aus Wasser umgeben ist wie die Sonne von einem Halo. An den Ufern der Ringkanäle wächst hohes Schilf, in dem im Winter, wenn die Sonne tief steht, der Raureif glitzert. All die Gräben, Kanäle und Pumpwerke leiten das Wasser durch das Land: reguliert und überwacht. „Wohin man auch blickt, überall stößt das Auge auf Menschliches – eine widerwärtige Allgegenwart, die den Betrachter verstört und empört und in einen wütenden Stupor stürzt“, schrieb der rumänisch-französische Philosoph Emil Cioran.
Das sei nicht wirklich Natur, könnte ein Hochgebirgsbewohner sagen, weil eben nicht der Schöpfer das Land geschaffen habe, sondern der Mensch.
Und doch: Wer an einem Sommertag auf einem holländischen Deich steht und tief unten das Land sieht – die weite Fläche mit ihren fruchtbaren grünen Feldern, mit Gräben, Kanälen und den Basiliken der jahrhundertealten Windmühlen in der Ferne –, der kann nur Ehrfurcht empfinden angesichts dieser innigen Verflechtung von Mensch und Natur.


Kumuluswolken
Unser Haus liegt am Fuß eines Deichs, drei Meter unter dem Meeresspiegel. Die Gegend ist so flach, dass Bäume, Sträucher und Schilf sich im kalten Hauch von der Nordsee her unablässig bewegen.
Ich stehe gebückt zwischen den Gemüsebeeten und entferne die abgeknickten Maisstängel. Von hier schweift der Blick frei über die ausgedehnten Äcker. Zuckerrüben wachsen dort, in Reih und Glied, Hunderte Meter nichts als Zuckerrüben, flankiert von Kürbis- und Weißkohlfeldern. Im Westen begrenzt der alte Windschutzstreifen aus Buchen, Eschen und Eichen unser Grundstück. Sie sind wie eine Hecke ineinandergewachsen und sollen das Haus und die Ställe gegen den ewigen Südweststurm abschirmen, der jedoch durch sie hindurchbläst wie durch eine schlecht gefütterte, an den Nähten verschlissene Jacke. Auch das Wohnhaus schaut mit der Rückseite nach Südwesten.
Das Gelände ringsum wurde erst vor Kurzem neu angelegt. Alles ist noch jung und kahl, vier durch Weißdornhecken getrennte Areale, von den Ponys abgegrast, die sich den ganzen Sommer über hier getummelt haben. Der Obstgarten ist so neu, dass die Apfel- und Birnbäume noch keine Früchte getragen haben.
Der lange, meterhohe Ringdeich bildet den Rand der Badewanne, in der wir leben. Er umschließt den alten Polder und wirft jedes Geräusch zurück. An den seltenen windstillen Tagen kann ich sogar einzelne Schafe husten hören, und wenn unser Nachbar auf Knien blaue und gelbe Krokusse pflanzt, dringt auch das Bellen seines Border Collies zu uns herüber. Ab und zu gehen Schulkinder vorbei, paarweise oder in Vierergrüppchen, und dann steigen ihre Stimmen im Norden auf. Sonntags ertönt manchmal vom Deich her das rhythmische Hufgetrappel eines vor den Wagen gespannten Friesenpferdes – ein Geräusch aus längst vergangenen Tagen. Je nachdem, wie der Wind steht.
Auf dem flachen Land sieht man die dunklen Wolken von sehr weit heranziehen: die mächtigen Mammatus- oder Kumuluswolken über dem Deich, die im Lauf des Tages immer wieder zwischen Hellgrau und Dunkelgrau wechseln. Schlagregen, Regenbögen, Graupelschauer – alles zeigt sich schon Kilometer entfernt am Horizont. Haben wir deshalb unseren Sinn fürs Praktische, weil wir schon von Weitem sehen, was auf uns zukommt, sodass kein „verdammtes Pech“ uns überraschen kann?

Wenn ich als Kind gefragt wurde, was ich später einmal werden wolle, antwortete ich: „Egal was, Hauptsache, ich kann draußen sein.“ Schließlich wurde ich Schriftstellerin, und nun sitze ich den halben Tag im Haus und stelle mir ein Leben außer Haus vor. Nachmittags verschwinde ich dann aber meist ins Freie, um irgendetwas zu pflanzen oder die Tiere zu versorgen. Drinnen halte ich es einfach nicht so lange aus, jedenfalls nicht den ganzen Tag. Schon als Kind habe ich in der Schule am liebsten aus dem Fenster geschaut, ständig abgelenkt von wandernden Wolken oder einem weißen Federchen, das zwischen den Zweigen eines Baumes aufwärts wehte. Und dabei schmiedete ich Fluchtpläne. Mit elf, zwölf ging ich jeden Nachmittag nach der Schule reiten. Ich galoppierte an der Straße entlang, quer durch die weiten westfriesischen Polder, durch Wind und Wetter – rückblickend natürlich die ultimative Flucht vor den schulischen Pflichten, den dumpfen Klassenzimmern.
Nur des Schreibens wegen sperre ich mich mehr oder weniger freiwillig ein; nun ja, zumindest verschafft es mir die Illusion geistiger Freiheit, eine Möglichkeit, in unterschiedliche Landschaften einzutauchen, ein Parallelleben zu führen, meine Abenteuerlust zu stillen. Ein einziges Leben reicht mir einfach nicht, ich scheine mehrere zu brauchen.
Am frühen Nachmittag, nach all den Stunden des Stillsitzens, steige ich in meine Gummistiefel und flüchte nach draußen. Ich schaue kurz in den Gemüsegarten, sammle die abgeknickten Artischocken auf und binde die stehen gebliebenen an den dünnen Bambusstäben fest. Die Kapuzinerkresse, die mit ihren orangefarbenen Trompetenblüten schräg über den Weg gekrochen ist, pflücke ich ab, Blumen- und Rosenkohl kontrolliere ich auf Raupen.
Dann verlasse ich eilig das Grundstück und laufe los.
Ich folge der Böschung des Deichs nordwärts. Da ich den schmalen, ausgetretenen Pfad fast täglich gehe, kenne ich ihn mittlerweile so gut, dass ich mich manchmal frage, ob nicht meine eigenen Füße das Gras hier haben verschwinden lassen. Außer den gefleckten Schafen und einem weißen Reiher, der mit mächtigen Flügelschlägen auffliegt, begegnet mir kein Lebewesen. Der Pfad führt am Ringkanal entlang, dessen Wasser in der Herbstsonne glitzert, vorbei an hellem Schilf, das sich ab und an im Wind wiegt, als würde es von einer unsichtbaren Hand berührt.
Ich wandere den ganzen Deich ab.
Schreiben ohne Laufen ist praktisch unmöglich. Nach einem Vormittag in freiwilliger Klausur ist mein Kopf genauso verspannt wie Hals und Schultern. Dagegen hilft nur ein gleichmäßiger Gehrhythmus, der das Blut wieder zum Fließen bringt, eine Schrittfrequenz, bei der ich nach und nach in eine Art Ruhezustand verfalle, den Default-Modus des Gehirns, sodass all die Gedanken und Bilder, mit denen ich am Schreibtisch kämpfe, in den Hintergrund rücken. Schlechte Ideen werden aus dem Weg geräumt, und mit ein wenig Glück sprudelt dann die Inspiration. Eine Garantie gibt es allerdings nicht.
Zu einem solchen Gang sollte man übrigens nicht zu spät am Tag aufbrechen. Nicht umsonst schrieb Henry David Thoreau in seinem Essay Vom Wandern: „Bleibe ich nur einen ganzen Tag in meinem Zimmer, setze ich Rost an; und wenn ich manchmal meinen Spaziergang verstohlen erst um die elfte Stunde beginne, d. h. also um vier Uhr nachmittags – zu spät, denn dann kann ich die Helligkeit kaum noch nutzen, weil sich bereits die Schatten der Nacht mit den Lichtern des Tages vermischen –, fühle ich mich, als hätte ich mir eine Sünde zuschulden kommen lassen, für die ich noch büßen werde.“
Am besten sind diese Gänge, wenn es kräftig windet. Uitwaaien nennen wir Holländer das, und es bedeutet so etwas wie „mit dem Wind laufen“. Nach einem Vormittag am Schreibtisch gibt es nichts Erfrischenderes, als vorgebeugt gegen den Sturm anzumarschieren. Der kalte Regen peitscht mir ins Gesicht, der Wind presst sich mit Wucht an mich, und es besteht die köstliche Gefahr, umgepustet zu werden. Es ist, als wäre dann mehr Sauerstoff in der Luft. Jeder Mensch trägt die Sehnsucht in sich, Naturkräfte zu spüren, die stärker sind als er, und sei es nur, um sich zu vergewissern, dass er es schafft, auf den Füßen zu bleiben.
Von der Höhe des Deichs blicke ich auf das tief gelegene Polderland hinab. Kaum vorstellbar, dass hier einmal ein Binnenmeer war, in dem Fische schwammen. Westfriesland mit seinen akkurat gepflügten Feldern und den schnurgeraden Straßen bestand vor ein paar Hundert Jahren größtenteils aus Seen und Binnenmeeren. Auf der alten Landkarte meines Großvaters, die in unserer Küche hängt, stehen ihre Namen: Witsmeer, De Beemster, De Purmer, De Schermer, De Waerdt. Es war ein einziges Sumpfgebiet, Mensch und Vieh mussten immer wieder flüchten, wenn das Wasser ihr Land überflutete. Die Familien übersiedelten notgedrungen auf Warften und beschlossen Anfang des 17. Jahrhunderts, das Land dem Wasser zu entreißen. Sie bauten Mühlen und machten sich mit viel Geschick die Kraft des Windes zunutze. Sie erhöhten die Deiche und pumpten das Wasser ab, über Wochen, so lange, bis auf dem trockengelegten Meeresboden die Fische nach Luft schnappten. Überall war das Klappern der Windmühlenflügel zu hören. In manchen Poldern drehten sich Hunderte von ihnen gleichzeitig.
Das neu gewonnene Land wurde in rechteckige Flächen aufgeteilt und verkauft, Dörfer wurden gegründet, man baute Kirchen und Häuser und legte Straßen an. Die Bauern bestellten ihre Felder, und noch vor dem Winter brachten sie die erste Weizenernte ein.
Für diese ersten Polderbewohner muss es sich angefühlt haben, als eroberten sie Neuland: eine kahle Brache, unwirtlich und rau.
Heute wie damals ist der Polder offenes Gelände, auf dem der Wind freies Spiel hat. Ich habe mich an ihn gewöhnt: an sein Brausen, sein leises Singen, stetig wie weißes Rauschen. Bei Nacht schlafe ich besser, wenn ich ihn höre, bei Tag kann ich klarer denken, wenn ich ihn spüre.


Gleichgewicht
Eines Morgens radle ich mit meinen drei Töchtern zur Schule. Die Zweijährige, meine Jüngste, im Kindersitz vor mir schaut unverwandt geradeaus und hält sich mit beiden Händchen am Lenker fest. Die Mittlere – braune Augen, ebenso haselnussbraunes Haar, die Wangen hochrot vor Anstrengung – fährt neben mir, tapfer, unverdrossen, den Blick auf die Straße gerichtet. Mit ihren kurzen Beinen tritt sie so kräftig in die Pedale, als sei ihr eine unsichtbare Macht auf den Fersen. Sie ist die Stillste von den dreien und sagt auch jetzt nur das Nötigste.
Wir haben Gegenwind. Es ist ein rauer, unberechenbarer Wind, der manchmal von allen Seiten zu kommen scheint, um gleich darauf wieder ganz abzuflauen.
Meine älteste Tochter, die Achtjährige, radelt ein Stück voraus; sie darf das Tempo bestimmen. Wie jeden Tag nehmen wir die schmale Polderstraße durch die Felder. Auf dem Grünland jenseits des Grabens schlafen Schwäne, eine Gruppe von acht Tieren, die Schnäbel unter die weißen Flügel geschoben. Nur einer ist wach und behält alles im Auge; ruhig watschelt er hin und her und reckt von Zeit zu Zeit den Schnabel hoch. Weiter vorn ist das Land umgepflügt, die schwarze Kleierde nach oben gewendet.
Ein plötzlicher Windstoß bringt meine mittlere Tochter auf ihrem weißen Rad ins Wanken. Sie kommt von der Straße ab und holpert durch Pfützen und Schotter über den matschigen Randstreifen. Einen Moment lang, ein paar Sekunden vielleicht, halte ich sie an der Schulter fest, bis sie sich wieder fängt. Stumm und stoisch, als sei nichts gewesen, setzt sie ihren Weg fort.
Die Älteste schaut über die Schulter zurück und will wissen, woher der Wind kommt. Ihr blonder Pferdeschwanz flattert über ihren Rücken.
„Vom Meer“, antworte ich.
„Wo ist das Meer?“
Ich zeige in die Ferne, vorbei am Hof des Jägers, wo der gelbe Senf kniehoch steht, vorbei an den Gewächshäusern der Liliengärtnerei. „Im Westen“, sage ich.
„Kommt er immer vom Meer?“
Ich nicke. Soll ich ihr etwas von der Bewegung der Luftteilchen erzählen? Vom Äquator, über dem die Sonne den ganzen Tag senkrecht steht? Davon, dass sich die Energie, die dort frei wird, nach Norden bewegt, wo die Sonne weit weniger häufig scheint? Dass die Erde stets den Ausgleich sucht, ein Gleichgewicht der Energie, und die warme Luft deshalb vom Süden in den kalten Norden fließt? Dass die Winde auf der Nordhalbkugel durch die Erdrotation abgelenkt werden?
„Das hat etwas mit der Sonne zu tun“, sage ich.
Sie scheint mit der Antwort zufrieden und fährt wieder voraus, kämpft geduckt gegen den Sturm an. Das ist sie gewöhnt; kaum jemals beklagt sie sich darüber. Sie ist so schmal wie ihre Schwestern, zierlich und empfindsam, weißblondes Haar, blasses Gesicht, aber man darf ihre Zartheit nicht mit fehlender Energie verwechseln. Sie hat kräftige Beine. Radlerbeine. Mit knapp vier Jahren ist sie zum ersten Mal auf dem eigenen Rad zur Schule gefahren, ist über die Polderstraße geschlingert, anfangs noch unsicher, aber schon bald voller Selbstvertrauen, stolz darauf, was sie schon alles konnte.
Ich habe meinen Kindern von klein auf beigebracht, sich bei Gegenwind auszubalancieren: den Lenker gerade zu halten, die Füße fest auf den Pedalen. Unbeirrt weiterzufahren, immer mit Böen zu rechnen, die sie ohne Weiteres umpusten können. Ich glaube, das Radfahren in der windigen Polderlandschaft lehrt die drei, wie sie im Leben stehen müssen: beharrlich, in der Balance, immer auf Unerwartetes gefasst. Und so haben sie, wenn sie frisch und gut durchlüftet in der Schule ankommen, schon ihre erste Lebenslektion gelernt.

Renske  Jonkman

Über Renske Jonkman

Biografie

Renske Jonkman ist preisgekrönte Autorin und Journalistin, ihre Texte werden unter anderem in National Geographic und der Zeitung De Volkskrant veröffentlicht. In den letzten Jahren schrieb sie eine monatliche Kolumne in der niederländischen Zeitung Trouw über das Leben von Landwirten und...

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