Wahrheit oder Pflicht — Inhalt
Eine Geschichte von Gefälligkeit und Rebellion
Vom Großwerden und Großsein, vom Stolpern und Sichwundern und wie Freundschaften alles schöner machen.
Lena Kupke ist zunächst genau so, wie es dieser Name vermuten lässt – ein privilegiertes Mädchen, das zunächst die Erwartungen anderer erfüllt. Bis sie alles, also ihren Bachelor, hinschmeißt und das einzig Wahre macht: Sie schreibt sich die Hauptrolle in ihrer eigenen Telenovela. So sieht „Rebellion“ aus. Wie das alles mit Periodengeschichten auf der Stand-up-Comedy-Bühne enden konnte, weiß sie selbst nicht genau. Was Lena aber weiß, ist, dass Liebeskummer endlich ist, Beziehungsarbeit nervt und nichts wichtiger ist als die richtigen Freund*innen. Und genau dann, wenn eigentlich alles easy peasy lemon squeezy für Lena läuft, sagt ihre Frauenärztin: „Ihre Eier sind übrigens auch 35 Jahre alt, entscheiden Sie sich, sonst entscheidet die Natur für Sie.“
Lena Kupke beleuchtet nahbar und selbstironisch die Themen, mit denen die meisten Frauen früher oder später konfrontiert werden. Ihre Geschichte ist eine von Gefälligkeit, Rebellion, Unsicherheit, Liebe, Mut und dem Kampf, einen eigenen Lebensentwurf zu leben.
„Lena Kupke ist nicht nur eine der lustigsten Frauen Deutschlands, sie hat mich dank ihres wunderbaren Buches auch daran erinnert, dass Frausein wirklich nur etwas für Profis ist.
Ich wünschte, ich hätte es ab dem ersten verwirrenden Tag meiner Pubertät gehabt, dann wäre ich mir die nächsten 15 Jahre nicht permanent wie eine Vollidiotin vorgekommen.“
Anika Decker
„Lena Kupke kann tatsächlich schreiben, und das kann man von wenigen behaupten.“
Moritz Neumeier
Leseprobe zu „Wahrheit oder Pflicht“
Das erste Mal Blut in der Unterhose und was in der Pubertät sonst noch so passiert.
PS: Will Albrecht trotz fester Zahnspange mit mir gehen, und darf ich noch mit meinem Bruder Indiana Jones spielen?
„Achtung, fertig, los!“, brüllt unser Sportlehrer in seiner viel zu knappen Jogginghose und lässt die beiden Seiten der hölzernen Startklappe heftig aufeinanderschlagen. Wir rennen los und wirbeln dabei den roten Schotter auf. Meine Blase krampft. Schon vor dem Startschuss musste ich dringend pinkeln, und jetzt, nach den ersten fünf Metern, frage ich mich [...]
Das erste Mal Blut in der Unterhose und was in der Pubertät sonst noch so passiert.
PS: Will Albrecht trotz fester Zahnspange mit mir gehen, und darf ich noch mit meinem Bruder Indiana Jones spielen?
„Achtung, fertig, los!“, brüllt unser Sportlehrer in seiner viel zu knappen Jogginghose und lässt die beiden Seiten der hölzernen Startklappe heftig aufeinanderschlagen. Wir rennen los und wirbeln dabei den roten Schotter auf. Meine Blase krampft. Schon vor dem Startschuss musste ich dringend pinkeln, und jetzt, nach den ersten fünf Metern, frage ich mich verzweifelt, wie ich die ganze Runde um den Rotbachsee schaffen soll. Neben mir läuft Sanja aus der Oberstufe, ich sehe zu ihr rüber und sage: „Ich muss ganz dringend pinkeln.“ Vielleicht hat sie eine Idee, schließlich sind die aus der Oberstufe schon erwachsen. Sanja strahlt und ruft mir zu: „Das ist doch super, umso schneller bist du im Ziel!“ Haha, denke ich mir. Erstens ist das gar nicht lustig, Sanja, zweitens, wieso bist du überhaupt nicht außer Atem, und drittens fühle ich mich im Moment eher so, als würde meine Blase in dieser hautengen Sporthose gleich explodieren. Doch irgendwie halte ich dann doch durch. Schließlich will ich auch so cool und stark sein wie Sanja. Zum dritten Mal mache ich beim jährlichen Schullauf um den Rotbach in Hiesfeld mit. Ich bin dreizehn Jahre alt und renne von meiner Kindheit in meine Jugend – ohne es zu wissen.
Direkt nach dem Zieleinlauf schlage ich mich ins Gebüsch – oh, welche Erleichterung. Gerade als ich mir meine Unterhose wieder hochziehen möchte, um zu meinen Freundinnen zurückzugehen und über unseren peinlichen Sportlehrer Herrn Falke zu lästern und darüber, dass Julia sauer ist, weil Lisa mit Spikes gerannt ist und allein deswegen schon schneller war, sehe ich in meiner Unterhose einen roten Strich. Nach kurzer Irritation überfällt mich ein mulmig aufgeregtes Gefühl – das muss sie sein: die Periode.
Ach, du Scheiße! Die hat sich gar nicht angekündigt, sonst hätte ich mich doch vorbereitet und müsste jetzt nicht Gefahr laufen, mir vor der ganzen Klasse die Hose vollzubluten! Wie viel Blut kommt da denn jetzt? Wie viel Zeit bleibt mir, um mich zu „versorgen“? Noch vor zwei Minuten gab es all diese Fragen in meinem Leben nicht. Wenn das der Beginn des Frauseins ist, dann fühlt sich das jetzt schon sehr stressig an, finde ich. Und darauf habe ich wirklich gar keine Lust, mir reichen schon die Schule, die ich nicht mag, und die Krankengymnastik, zu der ich wegen meiner leichten Skoliose muss. Doch ein bisschen aufregend und cool ist es schon auch. All diese Gedanken schwirren mir im Kopf herum, während ich meine Unterhose und meine Sporthose wieder hochziehe. Ich eile zu meinen Freundinnen zurück und ziehe Inga zur Seite. „Inga, ich hab gerade meine Tage bekommen.“ – „Krass! Okay, du musst jetzt sofort zu Frau Herrmann ins Sekretariat, die hat Binden. Ich komm mit. Fällt den Lehrern eh nicht auf, wenn wir fehlen.“ Inga hat schon zweimal ihre Periode gehabt, sie ist also erfahren und genießt mein volles Vertrauen. Wir gehen los, während sich auf dem Schotterplatz vorm Rotbach die Neuigkeit wie ein Lauffeuer verbreitet. „Lena hat gerade ihre Tage bekommen, die blutet jetzt.“ Die Aufregung liegt in der Luft wie unangenehmer Nieselregen, der einem die Sicht nimmt.
Etwa fünfzehn Minuten später klopfe ich verlegen an Frau Herrmanns Tür, deren Namen ich erst seit ein paar Wochen kenne. Ihre Bekanntheit beruht nämlich allein auf der Tatsache, dass sie fast wöchentlich eines der Mädchen aus meiner Stufe mit einer Binde oder einem Tampon versorgt. Frau Herrmann ist sozusagen die Bindendealerin unserer Schule. Ein Monopol. Sie ist die alleinige Anführerin eines Minimatriarchats, gefangen in einem verstaubten toxischen Patriarchat. Die Übergabe der Ware geschieht schnell und emotionslos, Frau Herrmann stellt keine Fragen. Es dauert keine zehn Sekunden, und ich habe eine riesige Binde in der Hand. Ich hatte keine Ahnung, dass Frausein bedeutet, wieder Windeln tragen zu müssen. Aber wer bin ich, diese für mich neue Materie direkt zu hinterfragen? Schnell eile ich auf das Schulklo weiter, das in seiner Ästhetik und Sauberkeit genau das erfüllt, was man von diesem Ort erwarten würde. Die Toilettenbrille ist voller Urintropfen, in der Luft liegt der Duft eines Tigergeheges, und mit Glück hängen an der falsch aufgewickelten Klopapierrolle noch zwei Blätter, aber das ist dann auch wirklich Luxus. Die obligatorisch vollgekritzelte Kabinentür gibt Aufschluss über die großen Themen der Menschheit – Liebe, Stolz, Schmerz, Tragik, Wut, Hass und dass Jessi hier war: „Ich war hier. Jessi.“ Danke für die Info! Es ist immer gut zu wissen, mit wem du dir die Toilette teilst.
Mit einem Pampers-Po trete ich raus auf den Gang und kann das Ende des Schultags kaum erwarten. Als nach einer gefühlten Ewigkeit die Glocke läutet, setze ich mich mit meinem Bindenhintern auf mein Fahrrad und düse los. Von unserem Fahrradschuppen im Garten stürze ich zur Terrassentür hinein und erzähle meiner Mutter direkt die Neuigkeiten. Sie freut sich. Als ich ihr die gigantische Binde zeige, die ich von der Schulsekretärin bekommen habe, lacht sie: „So eine große brauchst du noch gar nicht. Du kannst auch direkt o. b.s nehmen, die sind viel angenehmer.“ O Mann, diese vielen neuen Informationen überfordern mich. Ich möchte auf jeden Fall erst mal bei Binden bleiben, da ich keinerlei Interesse daran habe, etwas in mich hineinzustecken. Die sind ja verrückt, die Erwachsenen! Das können die schön ohne mich machen. Trotzig gehe ich nach oben in mein Zimmer, während meine Mutter mir hinterherruft: „Wenn du magst, kannst du es Papa selbst erzählen, wenn er nach Hause kommt. Das fänd er sicher schön.“
Als mein Vater die Haustür aufschließt, hüpfe ich also die Treppe hinunter, lehne mich über das Geländer und platze direkt heraus: „Papa, ich habe jetzt meine Tage.“ Sichtlich irritiert und noch in voller Montur steht er im Hausflur und murmelt erst mal nur: „Schön, Leni.“ O. k., denke ich, das war ziemlich einfach, und noch während mein Vater seine Schuhe auszieht und seine Jacke aufhängt, hüpfe ich die Treppe wieder nach oben in mein Kinderzimmer. Oder ist es jetzt mein Jugendzimmer? Ach, das ist alles so verwirrend. Wegen ein bisschen Blut muss ich mich jetzt neu erfinden? Meine größte Sorge ist aber eine ganz andere: Ich habe Angst davor, dass ich jetzt immer wieder einfach so aus heiterem Himmel und ohne jede Vorwarnung meine Tage bekomme. Was, wenn ich mir in der Öffentlichkeit in die Hose blute? Das wäre so peinlich! Mir kommt es so vor, als würde ich auf einer tickenden Zeitbombe sitzen, deren Zündschnur jederzeit Feuer fangen kann. Wie soll ich denn immer und überall auf einen möglichen Blutstrom vorbereitet sein?
Jetzt verstehe ich, warum Lydia die Vordertasche ihres Eastpaks mit Binden vollstopft. Die ist perfekt ausgestattet! Damit ist sie nicht die Einzige in unserer Stufe. Tatsächlich scheint ein regelrechter Trend loszubrechen, wer wie viele Binden im Eastpak transportieren kann. Und am besten möglichst verschiedene. Also ragen aus den Rucksackvordertaschen meiner Mitschülerinnen blaue, grüne und schwarze Verpackungen hervor. Der obligatorische Bebe Perlglanz wird absichtlich im selben Fach verstaut, damit es einen guten Grund gibt, die Vordertasche möglichst oft und demonstrativ zu öffnen und den Blick auf die neu gewonnene Weiblichkeit zu lenken. Wie ein Pfau, der sein Federkleid auffächert, breiten meine Mitschülerinnen die Binden aus, um die Jungs mit der frisch erlangten Geschlechtsreife zu beeindrucken. Ich selbst bin von diesem Spiel zugleich fasziniert und überfordert. Welche Stärke brauche ich denn jetzt, wie lang muss die Binde sein, und wozu braucht die eigentlich „Flügel“? Welche Farbe ist die richtige für mich? Da meine Eltern Überfluss ablehnen, befürchte ich, dass es in meinem Eastpak ohnehin monochrom zugehen wird. Eins ist klar, ich werde auf keinen Fall selbst in den Drogeriemarkt gehen und mich durch die Binden-Regale wühlen. Das ist ja megapeinlich. Binden sind nämlich ausschließlich in den Vordertaschen unserer Rucksäcke cool, nirgends sonst. Zudem ist es in einer Kleinstadt unmöglich, anonym einzukaufen. Zum Glück übernimmt meine Mutter die Binden-Safari für mich und trifft dabei prompt auf Frau Kunze, die Mutter einer Mitschülerin. Zusammen begeben sich die seit Jahrzehnten blutenden Frauen für ihre Premierenperiodentöchter auf die Suche nach der aktuellen Bindenmode und entscheiden sich schließlich für die grüne Version.
Als ich die gesamte Packung – 32 Binden – in meinen Rucksack quetsche, schaut meine Mutter höchst irritiert, lässt mich dann jedoch kommentarlos allein, wofür ich sehr dankbar bin. Kurze Zeit später kommt sie zurück in mein Zimmer. Es scheint ihr sehr wichtig, mir zu vermitteln, dass ich mich nicht eingeschränkt fühlen muss, und so wiederholt sie eindringlich: „Du kannst immer noch auf Bäume klettern und spielen, auch wenn du deine Tage hast. Vielleicht probierst du doch mal o. b.s aus, die sind wirklich viel angenehmer, und du kannst dich viel freier bewegen als mit einer Binde.“
Es dauert zwei Zyklen, dann bin ich bereit dafür. Denn die ersten Gänge mit diesen quietschenden Lappen zwischen den Beinen verändern tatsächlich mein Selbstbild und – wie von meiner Mutter angekündigt – meine Bewegungsfreiheit, und das sehe ich gar nicht ein. Mein erster Versuch, einen Tampon zu benutzen, verläuft ungelenk. Ich kenne mich mit meinen inneren Wegen noch nicht gut aus und habe keine Ahnung, wie tief ich dieses kleine Wattewürstchen einführen soll. Nach kurzem, unbeholfenem Gestoße bin ich erfolgreich und verlasse das Bad. Doch schon nach den ersten Schritten beschleicht mich ein unangenehmes Gefühl: Irgendetwas scheint schiefgelaufen zu sein – es fühlt sich so an, als würde mir etwas zwischen den Beinen hängen. Hilfe suchend rufe ich nach meiner Mutter. „Mama, das fühlt sich ganz komisch an. Ploppt das da gleich wieder raus?“ Meine Mutter eilt herbei. „Ne, dann sitzt es nicht richtig. Das darfst du gar nicht spüren! Wahrscheinlich musst du es tiefer einführen.“ Noch tiefer? Ich bin entrüstet! Das ist doch ekelig, sich selbst einen Finger so tief reinzustecken. „Wie denn?“ Verzweifelt schaue ich meine Mutter an. Sie erkennt meine Hilflosigkeit und geht mit mir zusammen ins Badezimmer. „Am einfachsten ist es, wenn du dich hinhockst.“ Also hocken wir zu zweit im Badezimmer, während ich versuche, mir den Tampon tiefer reinzuschieben. In einer Phase, in der ich mich abzunabeln versuche, wirft uns diese Situation gefühlt ins Kleinkindalter zurück. „Es geht nicht weiter, ich komme da nicht um die Ecke. Wieso ist da überhaupt eine Kurve?“, frage ich. „Du verkrampfst! Du musst locker lassen. Huste mal, das hilft.“ Und tatsächlich: Drei Huster später sitzt das o. b. endlich so, dass ich es nicht mehr spüre, fest in den Tiefen meines Unterleibs. Ich bin stolz und fühle mich sehr geheimnisvoll. Schließlich weiß niemand, dass etwas in mir steckt, und gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass mir jeder meinen ersten Tampon ansehen kann. Gerade als ich meine ersten Schritte als o.-b.-Trägerin gehe, ruft meine Mutter mir hinterher, dass ich ab jetzt immer aufschreiben soll, wann und wie lange ich meine Periode habe. Ich stöhne: Noch mehr Hausaufgaben?! Ich mache schon die für die Schule nicht. Allmählich wird mir das Frausein tatsächlich lästig.
Mein kleiner Bruder scheint frei von Sorgen zu sein, er rennt weiterhin wild und frei als Indiana Jones durch den Garten. Mittlerweile hat er neben seinem Indi-Hut, den wir extra in einem schicken Hutladen gekauft haben, auch eine Indiana-Jones-Peitsche und läuft in unserem 145-Quadratmeter-Garten zu Höchstformen auf. „Lena, komm raus spielen“, ruft er mit Blick zu meinem Fenster. Dabei rollt er sich extra eindrucksvoll über den frisch gemähten Rasen, um mich zu animieren, mit ihm zu spielen, so wie wir es seit seiner Geburt getan haben. Aber irgendetwas hält mich zurück. Ich stehe am Fenster und möchte schreien: „Ja! Ich komme runter!“ Doch da ist eine neue Stimme in mir, die sagt: „Du kannst jetzt nicht mehr so Babyspiele spielen, du musst jetzt coole Sachen machen.“ Die Stimme ist so stark, dass ich auf sie höre, statt das zu tun, was ich eigentlich möchte. Von da an soll mir das noch sehr oft passieren. Ich bleibe also in meinem Zimmer, was genauso langweilig ist, wie es klingt, und überlege, was ich mit dieser neuen Identität anstellen könnte.
Den Mädchen in meiner Klasse scheint es ähnlich zu gehen, auch sie hängen etwas verloren zwischen Kindheit und Jugend. Wir sind auf der Suche nach einer neuen Identität und auf ganz pragmatischer Ebene auch auf der Suche nach neuen Freizeitaktivitäten. Schließlich ist allen klar, dass wir in den Pausen nicht länger Fangen spielen können, und der Bindenhype ist auch nicht wirklich zeitfüllend oder unterhaltend. Also starten wir sogenannte Freundebücher, in die wir jeden Tag schreiben. Wer wen mag und wer in wen verknallt ist. Ein einziges Ranking an Beliebtheit. Doch diese Bücher erfüllen mich nicht, denn sie können nicht ansatzweise das fantasievolle Spielen ersetzen. Außerdem habe ich immer Angst, was die anderen wohl über mich schreiben und denken. Ich fühle mich bewertet und beobachtet und werde unsicher. Zu Hause fange ich an zu singen – laut in meinem Zimmer –, da ich nur wenige CDs habe, ist meine Playlist sehr begrenzt. Hätte es schon YouTube gegeben, hätte ich wohl sämtliche Karaoke-Varianten durchgeklickt. So aber bin ich allein mit meinen drei CDs, einem CD-Player und mangelhaften Englischkenntnissen. Meinen Spaß trübt es trotzdem nicht. Lauthals singe ich: „Qui, Quy, Quo“, in der Überzeugung, dass das der richtige Text von What’s Up von 4 Non Blondes ist und meine Aussprache perfekt klingt. In dieser Illusion bewege ich mich als selbstbewusste und extrem coole Frontfrau entweder vor imaginärem Publikum oder drehe ein heißes Musikvideo, bis mein Bruder reinkommt und meine Selbstwahrnehmung einem harten Realitätscheck unterzieht. „Das klingt voll scheiße, Lena. Du denkst, du singst Englisch, aber du singst einfach nur ›Qui, Quy, Quo‹.“ Er hat eben von klein auf das bessere Melodie- und Sprachgefühl. Aus Rache werfe ich seinen Hut in die Ecke, schubse ihn aus meinem Zimmer und tue das Drastischste, was ich tun kann: Ich schließe ab. Für uns, die immer die besten Freunde waren und zusammen die fantasievollsten Spiele erfunden haben, ist diese abgeschlossene Tür gleichbedeutend mit einem eisernen Vorhang. Hinter der Tür suhle ich mich in dem frisch gesäten Zweifel über meine englische Aussprache. Schließlich habe ich die Lösung: Ich nehme mich mit dem Kassettenrekorder auf und gebe alles. Noch mal richtig in die Höhe und das letzte Wort schön laut aussingen. Freudig spule ich die Kassette zurück, um mir die Aufnahme anzuhören. Schon mit dem ersten Ton schwindet meine Begeisterung, und ich muss mir schmerzhaft und schamvoll eingestehen, dass meine „Gesangsperformance“ tatsächlich eher an eine logopädische Übung mit Fantasiesprache in völliger Rhythmuslosigkeit erinnert. Ich schäme mich – wie peinlich! Dabei spreche ich doch fließend Englisch und unterhalte mich regelmäßig mit meinen imaginären internationalen Freund*innen. Wenn ich allein zu Hause bin, halte ich vor dem Spiegel einen wahnsinnig witzigen und unterhaltsamen Vortrag über mein Leben. Und was soll ich sagen: Die Leute lieben mich. In diesen Momenten kann ich alles sein, was ich in der Schule nicht bin – frei, stark und sorglos.
Etwa zur gleichen Zeit fällt mir beim Umziehen für den Sportunterricht auf, dass immer mehr Mädchen nun einen BH tragen. Evje zum Beispiel trägt einen schwarzen, den ich sehr schön finde. Wie ein Lauffeuer verbreiten sich die neuen Stücke und lassen die treuen Baumwollunterhemden, die so viele Jahre lang unsere Nieren gewärmt haben, verschwinden. Bald tragen fast alle Mädchen in meiner Klasse BHs. Vor allem diejenigen, die noch gar keine Brüste haben. Ich kann gar nicht so recht einschätzen, wie weit ich da bin, bis ich mich an eine Szene mit meiner Oma erinnere. Bei unserem letzten Besuch in Köln hat sie mir ohne Vorwarnung über meinen linken Nippel gestreichelt und mit einem Lächeln gesagt: „Da wächst jetzt deine Brust.“ Die Freude in ihrer Stimme hat mir zwar signalisiert, dass es eine positive Entwicklung ist, trotzdem empfand ich es als übergriffig und habe mich geschämt. Als würde mein Körper nicht mehr allein mir gehören. Das geht mir nun immer öfter so. Ich fühle mich wie ein Beobachtungsobjekt, das in den Fängen von Orthopäd*innen, Zahnärzt*innen und meinem Umfeld ist. Wie ein Tier, das im Zoo betrachtet wird. Voll anstrengend. Ich will doch einfach nur meine Ruhe haben. Eines ist mir jedoch klar, seit ich Evjes sexy BH gesehen habe: Mein erster BH soll schwarz sein. Das ist cool! Und cool sein ist wichtig. Mir ist bereits klar, dass ich für Coolness arbeiten muss, da ich weder Künstlereltern habe noch einen ausgefallenen Namen oder eine spannende Lebensgeschichte. Ich bin einfach die Lena mit blonden Haaren und dem besten kleinen Bruder der Welt, die in Hiesfeld in Nordrhein-Westfalen wohnt und deren Eltern liebevolle Pragmatiker*innen sind. Das ist alles wundervoll, aber Punkrock sieht nun wirklich anders aus. Also setze ich auf einen schwarzen BH, der mich von all den braven Mädchen unterscheiden soll. Ich will mich abgrenzen, ich will raus aus der Enge und mich frei entfalten.
Zusammen mit meiner Mutter gehe ich also auf BH-Suche in einem großen Kaufhaus. Sie warnt mich vor: „Du musst dich nicht daran stören, dass die Verkäuferin dich gleich abmessen wird.“ Äh, was?! Noch bevor ich darüber nachdenken kann, was das zu bedeuten hat, stehen wir vor Roswitha, einer mittelalten Frau mit kesser, auberginenrot gefärbter Kurzhaarfrisur, und lassen uns „beraten“. Was letztlich bedeutet, dass sich Roswitha mit einem Maßband an meinen Brüsten zu schaffen macht und trocken feststellt, dass ich eine „70B“ bin. Ich fühle mich zwar schon wieder wie ein Objekt, aber kann noch darüber hinwegsehen. Roswi (wie ich sie in Gedanken nenne, um die Peinlichkeit zu überspielen) ist sehr gemütlich und bewegt sich fast provokant langsam durch die für sie viel zu schmalen Gänge, um uns verschiedene Modelle zu zeigen. Meine Mutter legt Wert auf Markennamen, und so nehme ich einen schwarzen Schiesser- und einen Triumph-BH mit in die Umkleide. Gerade probiere ich das erste Modell an, doch noch bevor ich die Verschlusshaken hinter meinem Rücken ineinanderfieseln kann, reißt Roswitha den Vorhang auf: Ich stehe halb nackt und für die gesamte Kaufhauskundschaft gut sichtbar da. In diesem Moment hat es sich für mich ausroswithert, und ich spüre, wie ich wütend werde. Das hat meine Mutter also gemeint, als sie mich gewarnt hat. Roswitha hält den BH für ungeeignet. „Ne, dat sitzt ja gar nich. Da hat die ja hier total viel Luft drinne“, erklärt sie meiner Mutter, während sie mit ihren kalten Wurstfingern an den Bügeln rumspielt. Mich ignoriert sie. Meine Mutter versucht, den Übergriff mit einem Lächeln aufzufangen. Ich ziehe den Vorhang zu und probiere entrüstet den nächsten BH an. Langsam beginne ich, das Frauwerden zu hassen. Erst muss ich mir hustend was in meine Scheide stecken, und dann begrapscht mich auch noch eine völlig fremde Frau. Doch ich bin brav und streife mir die BH-Träger über. Kurz überlege ich, ob ich den Vorhang der Umkleide einfach von innen festhalten soll, doch in diesem Moment reißt Roswitha ihn auch schon auf, und ich stehe erneut auf dem Präsentierteller. Roswitha zupft wieder an mir herum und nickt dabei. „Ja, dat ist besser, fühlen Se ma selber, da hat se Halt drinne.“ Okay, danke, denke ich und sehe meine Mutter an. „Ja, gut, Schatz, fühlst du dich wohl? Der sieht doch schön aus. Dann nehmen wir den mit?“ – „Ja“, lautet meine knappe Antwort. Endlich verlassen wir das Kaufhaus und Roswitha, im Gepäck haben wir meinen ersten BH. Und der ist schwarz, weil ich nämlich cool bin.
Unsere Klasse ist ein bunter Haufen explodierender Hormone, und die ersten Partys stehen an. Eines der wichtigsten Events ist Julias vierzehnter Geburtstag, den sie im Partykeller des Jugendzentrums feiert. Ich freue mich riesig, dass ich eingeladen bin, und bin aufgeregt. Leider gibt es bei Julia keinen Alkohol, was das Ganze leider verhältnismäßig verkrampft macht, und so stehen wir Mädchen verlegen in einer Ecke, während die Jungs schüchtern in der gegenüberliegenden sitzen. Die Bravo-Hits tönen aus den Boxen, doch niemand traut sich zu tanzen. Stattdessen werden flüchtige Blicke ausgetauscht. Die Spannung in diesem stickigen Kellerraum ist kaum zu ertragen – wer macht den ersten Schritt? Wegen der Zettelchen, die im Unterricht herumgereicht werden, wissen wir alle, dass Leonard in Inga verliebt ist, Inga aber noch Zeit braucht. Daher vermuten wir, dass zwischen den beiden heute nichts passieren wird. Noch habe ich keine Ahnung, dass Albrecht auf mich ein Auge geworfen hat. Er sieht genauso aus, wie man sich einen Albrecht vorstellt: ein käsiger, ängstlicher Junge aus reichem Hause. Albrecht hat die Uncoolness abonniert und verbringt jede Pause mit seinen zwei Außenseiterfreunden. Erstaunlicherweise gefällt mir das. Schließlich fühle ich mich auch nicht wirklich dazugehörig, obwohl ich von außen betrachtet gut integriert bin. Schon bei seinem Vornamen muss ich lachen, und das finde ich gut. Selbst, wenn Albrecht sich anstrengen würde, könnte er nicht cool sein, und daher ist seine Unbeholfenheit ziemlich authentisch. Das mag ich. Außerdem wirkt er wie aus einer anderen Zeit, nicht nur wegen seiner bedenklichen Klamottenauswahl, hinter der eindeutig seine Mutter steckt, eine wohlhabende Frau, die ihren Jungen am liebsten auf ein Privatinternat schicken würde, sondern auch aufgrund seiner Wortwahl. In einer Deutschstunde müssen wir einen Aufsatz über jemanden, den wir lieben, schreiben, und der arme Albrecht wird drangenommen. Er schreibt über seine Schwester, die – wie soll es anders sein – Adelheid heißt, und schon jetzt muss ich über diese Eltern in ihrer reichen Blase schmunzeln. Albrecht beschreibt das „wallende Haar“ seiner Schwester. Dieser antiquierte Ausdruck bringt die ganze Klasse zum Lachen. Mir tut das ein wenig leid, wenigstens traut er sich offen zu sagen, dass er seine Familie, seine Schwester liebt. Albrecht ist eben anders. Und anders finde ich im Gegensatz zu dem Rest der Klasse, die dem Mainstream hinterherjagt, gut. Albrechts Individualität und Authentizität sind mir lieber, auch wenn ich über alles, was Albrecht macht und sagt, unweigerlich lachen muss. Unabsichtlich komisch ist er. Daher finde ich es amüsant, als Luca mir auf Julias Party nun in der Rolle des Übermittlers verrät, dass Albrecht mit mir gehen möchte. Wow, die Lachnummer der Klasse hat mich ausgewählt, was mir irgendwie schmeichelt. Inga und ich besprechen kurz die neue Lage, und auch sie meint, ich solle „Ja“ sagen. Natürlich nicht auf direktem Wege, sondern sie würde das für mich machen. Logisch! Doch ich will ehrlich mit Albrecht sein – ich bekomme nächste Woche eine feste Zahnspange, und er sollte wissen, worauf er sich einlässt. Falls er also sein Angebot lieber zurückziehen möchte, verstehe ich das. Der Plan ist also, dass Inga mit der Frage, „Willst du auch noch mit Lena gehen, wenn sie nächste Woche eine feste Zahnspange bekommt?“, zu Albrecht und den Jungs rübergeht. Um sich Mut anzutrinken, nimmt sie einen extragroßen Schluck Cola aus dem Pappbecher. Ich warte gespannt und fühle mich tatsächlich sehr erwachsen und sortiert. Nach etwa dreißig Sekunden, die sich exakt wie dreißig Sekunden anfühlen, kommt Inga zurück. Während sie die zwei Schritte von der mysteriösen Jungs-Ecke in unsere Mädchen-Ecke zurücklegt, gelingt es mir nicht, ihre Mimik zu deuten, und ich werde nun doch ein wenig nervös. „Albrecht will trotzdem mit dir gehen, er sagt, es stört ihn nicht, wenn du eine feste Zahnspange hast“, sagt Inga cool. Wow, Albrecht ist wirklich ein Gentleman, denke ich. Jetzt habe ich einen Freund. Das ging ja schnell und einfach. Darauf erst mal einen Schluck Fanta.
Dann muss ich los, weil ich schon um 21 Uhr von meiner fürsorglichen Mutter abgeholt werde. Also verabschiede ich mich von meinen Freundinnen und winke Albrecht – meinem Freund – aus der Ferne kurz zu. Meine Mutter ist schon da und unterhält sich mit Leonards Mutter. Hoffentlich erzählt sie nichts Peinliches, was Leonard, dieser arrogante Idiot, dann morgen in der Schule weitertratscht. Meiner Mutter erzähle ich lieber nichts von meiner neuen Lebenssituation, schließlich bin ich jetzt erwachsen und vergeben. Es gäbe im Grunde ja auch noch gar nichts zu erzählen, und ich habe keine Lust auf nervige Fragen. Ich muss mich selbst erst mal daran gewöhnen, dass ich jetzt mit Albrecht gehe und dabei auch noch blute. Ist das alles aufregend und verwirrend!
Am nächsten Morgen werde ich in der Schule tatsächlich anders als sonst begrüßt. „Oh, Lena muss immer schon um 21 Uhr im Bett sein und schlafen. Wie ein Baby, haha“, schallt es mir entgegen. Schönen Dank, Mama. Ich bin sauer auf Leonard, dieser Arsch mit den hässlich gegelten Haaren! Wie gerne ich ihm jetzt seine schiefe Nasenwand gerade prügeln würde. Doch ich sage nichts, werde zu allem Überfluss noch rot und setze mich still an meinen Platz. Erst zu Hause fällt mir ein, dass Leonard doch auch schon um 21 Uhr abgeholt wurde. Verdammt! Ich muss endlich schlagfertig werden, beim nächsten Mal wird ihm seine gegelte Nick-Carter-Locke im Hals stecken bleiben.
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