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Warum Altgriechisch genial istWarum Altgriechisch genial ist

Warum Altgriechisch genial ist Warum Altgriechisch genial ist - eBook-Ausgabe

Andrea Marcolongo
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Eine Liebeserklärung an die Sprache, mit der alles begann

„(Andrea Marcolongos) Begeisterung für ausgestorbene Tempora wie den Aorist oder Modi wie Optativ und Eventualis, für Behauchungen und Akzente sowie für die beeindruckende Vielfalt an Partikeln, mit deren Hilfe so viele unterschiedliche Nuancen zum Ausdruck gebracht werden können, ist ansteckend.“ - Die ZEIT

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Warum Altgriechisch genial ist — Inhalt

Die Eleganz einer genialen Sprache

Altgriechisch ist ebenso außergewöhnlich wie erstaunlich und nicht die tote Sprache, für die wir sie halten. Dieses kluge und überraschende Buch über die Sprache der antiken Griechen ist kein Lehrbuch und keine Grammatik, sondern eine Liebeserklärung an die Fähigkeit des Altgriechischen, unsere Wahrnehmung zu verändern. Es ist eine Entdeckungsreise zu den faszinierenden Besonderheiten dieser Sprache, die das damalige Weltbild maßgeblich beeinflusst haben. So kannten die antiken Griechen zum Beispiel keinen Zeitdruck, da Wörter wie früh, spät, gestern oder morgen keine Rolle spielten.
Andrea Marcolongo bringt uns die Magie des Altgriechischen nahe und zeigt uns, was wir von den antiken Griechen lernen können, selbst wenn wir ihre Sprache nicht sprechen.

„Ein großartiges Buch auch für alle, die nie Altgriechisch gelernt haben.“ Elle

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 01.10.2019
Übersetzt von: Andreas Thomsen
272 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-24267-7
Download Cover
€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 01.03.2018
Übersetzt von: Andreas Thomsen
272 Seiten
EAN 978-3-492-99064-6
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Leseprobe zu „Warum Altgriechisch genial ist“

Einführung

Das Meer verbrennt die Masken,
Von salzenen Feuern entflammt.
Menschen voller Masken
L
odern am Strand.

Widerstehen wirst Du allein
Den Bränden des Karnevals.
Ohne Masken Du allein
Verbirgst die Kunst des Seins.

Giorgio Caproni, aus Cronistoria

»Um so merkwürdiger ist es dann, dass wir wünschen, Griechisch zu lernen, versuchen, Griechisch zu lernen, ewig uns hingezogen fühlen zum Griechischen und ewig uns irgendeine Vorstellung vom Sinn des Griechischen zurechtmachen, aus welch abstrusen Fetzen und Resten allerdings, von wie entfernter Ähnlichkeit mit [...]

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Einführung

Das Meer verbrennt die Masken,
Von salzenen Feuern entflammt.
Menschen voller Masken
L
odern am Strand.

Widerstehen wirst Du allein
Den Bränden des Karnevals.
Ohne Masken Du allein
Verbirgst die Kunst des Seins.

Giorgio Caproni, aus Cronistoria

„Um so merkwürdiger ist es dann, dass wir wünschen, Griechisch zu lernen, versuchen, Griechisch zu lernen, ewig uns hingezogen fühlen zum Griechischen und ewig uns irgendeine Vorstellung vom Sinn des Griechischen zurechtmachen, aus welch abstrusen Fetzen und Resten allerdings, von wie entfernter Ähnlichkeit mit dem wirklichen Sinn des Griechischen, wer vermag das zu sagen“, schreibt Virginia Woolf. [2] „Da wir in unserer Unwissenheit in jeder Klasse von Schuljungen auf der hintersten Bank säßen, da wir ja nicht wissen, wie die Worte klangen oder wo genau wir zu lachen hätten“. [3]

Auch ich bin merkwürdig – sehr merkwürdig.

Und ich bin ihr dankbar, meiner Merkwürdigkeit, denn sie hat mich dazu gebracht, dieses Buch zu schreiben, ohne dass es einen konkreten Anlass dafür gegeben hätte. Wie alle schönen Dinge des Lebens ist es einfach so passiert. Es ist ein Buch über das Altgriechische, um das ich mich stetig bemüht habe und von dem ich nun erzählen möchte.

Und zwar euch. Denn auch wenn ich noch immer eine Hinterbänklerin bin, weiß ich inzwischen immerhin, wo wir lachen müssen.

 

Tote Sprache und lebende Sprache.

Qual des Gymnasiums und Abenteuer des Odysseus.

Übersetzung oder Hieroglyphen.

Tragödie oder Komödie.

Verstehen oder Missverstehen.

Liebe oder Abneigung, vor allem.

Aufstand mithin.

Griechisch zu begreifen ist keine Frage der Begabung, sondern der Streitbarkeit – genauso wie das Leben.

 

Ich schrieb diese Zeilen, weil ich mich als junges Mädchen ins Altgriechische verliebt habe. Alles in allem ist es die längste Liebe meines Lebens.

Inzwischen bin ich eine erwachsene Frau und möchte versuchen, denjenigen etwas von dieser Liebe zu geben (oder zurückzugeben), die dem Altgriechischen gleichgültig gegenüberstehen. So gut wie allen also, die sich während ihrer Schulzeit damit abmühen mussten. Und ich möchte erreichen, dass sich diejenigen, die diese Sprache im Grunde gar nicht kennen, ebenfalls in sie verlieben.

Ja, in diesem Buch geht es in erster Linie um Liebe. Um die Liebe zu einer Sprache und zu jenen, die sie sprechen. Oder, da niemand mehr sie spricht, zu all jenen, die sie studieren – ganz egal, ob nun gezwungenermaßen oder weil sie schlicht von ihr fasziniert sind.

Ob ihr Altgriechisch könnt, ist dabei nicht von Bedeutung. Es wird nämlich weder Prüfungen noch Hausaufgaben geben – nur Überraschungen. Und zwar viele. Es ist auch nicht wichtig, ob ihr ein altsprachliches Gymnasium besucht habt. Wenn nicht, umso besser. Wenn es mir gelingt, euch mit meiner Fantasie durch das Labyrinth des Griechischen zu führen, werdet ihr die Welt und euer Leben am Ende dieses Weges auf eine neue Weise betrachten. Ganz unabhängig davon, welche Sprache ihr sprecht.

Wenn ihr doch eines besucht habt, dann noch besser. Wenn es mir nämlich gelingt, Fragen zu beantworten, die ihr euch niemals gestellt habt oder die immer unbeantwortet geblieben sind, dann werdet ihr am Ende der Lektüre vielleicht Teile von euch selbst wiedergefunden haben. Teile, die ihr in eurer Jugend beim Griechischlernen verloren habt, ohne jemals wirklich das Warum zu verstehen. Teile, die euch heute nützlich sein könnten. Sehr nützlich.

In beiden Fällen stellen diese Seiten sowohl für euch als auch für mich eine Möglichkeit dar, um in Altgriechisch denken zu spielen.

 

Jeder von euch musste sich im Laufe seines Lebens schon auf die eine oder andere Weise mit den alten Griechen und ihrer Sprache auseinandersetzen – sei es nun mit den Füßen unter der Schulbank, bei einer Tragödie oder Komödie im Theater oder auf den Korridoren der zahllosen archäologischen Museen. Und doch fühlt sich das Griechentum bei diesen Gelegenheiten in etwa so lebendig an wie eine Marmorstatue.

Alle – wirklich alle – wissen es. Es ist noch nicht einmal nötig, eigens darauf hinzuweisen. Man hat es in den letzten zweitausend Jahren so oft gehört, dass es mittlerweile jedem Europäer in Fleisch und Blut übergegangen ist: Alles Schöne und Unübertreffliche, das jemals auf der Welt gesagt oder getan worden ist, wurde zum ersten Mal von den alten Griechen getan oder gesagt. Und zwar auf Altgriechisch.

Die wenigsten kennen diese Sprache aus eigener Anschauung. Die meisten wissen darüber nur, dass es keinen einzigen alten Griechen mehr gibt, der noch Altgriechisch spräche. Sie haben lediglich „davon gehört“ – oder noch nicht einmal das. Sie nehmen es einfach als gegeben hin: Es ist eben so und fertig. Seit Jahrhunderten.

Unser kulturelles Erbe ist uns demnach von einem antiken Volk hinterlassen worden, das wir nicht wirklich kennen, und noch dazu in einer alten Sprache, die wir nicht verstehen.

Furchtbar.

Denn es ist schrecklich, etwas nicht zu verstehen. Vor allem, wenn einem gesagt wird, man müsse es dennoch lieben. Kein Wunder, dass man es zu hassen beginnt.

Zugleich lassen uns die Parthenonskulpturen oder das Theater von Syrakus mit Stolz auf die Griechen blicken, so, als wären es die Werke unserer Ahnen, unserer weit entfernten Urgroßväter. Es gefällt uns, sie uns auf irgendeiner sonnenbeschienenen Insel vorzustellen, wie sie gerade die Philosophie oder die Geschichtsschreibung erfinden. Oder wie sie in einem Theater sitzen, das sich in den Hang irgendeines Hügels schmiegt, um einer Tragödie oder Komödie zu lauschen. Oder wir sehen sie vor uns, wie sie bei Nacht den Sternenhimmel betrachten und dabei Wissenschaft und Astronomie entdecken.

In Wahrheit jedoch sind wir zutiefst verunsichert. Es ist so, als befragte man uns über eine Geschichte, die letztlich eben doch nicht die unsere ist, und wir haben das Gefühl, etwas Wichtiges über das antike Griechenland vergessen zu haben. Und dieses Etwas ist die altgriechische Sprache.

Das Griechische: „Dieser absurde, tragische Moment des Menschlichen“, um Nikos Dimou in all seinem Unglück zu zitieren.

Nicht nur, dass wir uns dem kulturellen Erbe des Altgriechischen (gewissermaßen) als Enterbte und Untaugliche nähern. Auch wenn wir versuchen, die Krümel aufzulesen, die uns das Griechentum als Mitgift überlassen hat, bleiben wir Opfer eines der rückständigsten und stumpfsinnigsten Schulsysteme der Welt (zumindest nach meinem, dem Empfinden einer Hinterbänklerin, die nach diesem Buch wohl endgültig als ausgestoßen und durchgefallen gelten wird).

So, wie das altsprachliche Gymnasium in Italien strukturiert ist, scheint es keinem anderen Zweck zu dienen, als die Griechen und das Altgriechische so unerreichbar wie nur möglich zu belassen – stumm und herrlich auf dem Olymp, von einer Ehrfurcht umhüllt, die sich nur allzu oft in göttliche Schrecken und ausgesprochen irdische Verzweiflung verwandelt.

Mit wenigen, dem Engagement einiger aufgeklärter Lehrer zu verdankenden, Ausnahmen sind die gebräuchlichen Lehrmethoden geradezu dafür prädestiniert, um bei denjenigen, die es wagen, sich der griechischen Sprache anzunähern, Hass anstelle von Liebe zu erzeugen. Die Folge davon ist die Verweigerung eines Erbes, das wir nicht mehr wollen, weil wir es nicht verstehen, das uns einschüchtert und vor dem wir fliehen, kaum dass wir es auch nur streifen. Die meisten verbrennen daher die Schiffe des Griechischen hinter sich, sobald sie von den schulischen Zwängen befreit sind.

Nicht wenige Leser dieses Buches werden in meinen Ängsten ihre eigenen wiedererkennen, ihre Anstrengungen, ihre Frustrationen und ihre Wut auf das Altgriechische. Und doch sind diese Seiten aus der tiefen Überzeugung entstanden, dass es keinen Sinn ergibt, sich etwas vorzumachen. Es ist schlicht unmöglich, etwas zu vergessen, womit man sich fünf Jahre oder länger im Schweiße seines Angesichts herumgeplagt hat.

Doch keine Sorge, dieses Buch ist keine altgriechische Grammatik. Und es hat auch keinen akademischen Anspruch (von dieser Sorte gibt es bereits viel zu viele).

Sicher, es hat den Anspruch, leidenschaftlich zu sein und sich mit der Materie auseinanderzusetzen. Es ist eine literarische Erzählung (wenn auch nicht im wörtlichen Sinne) – eine Erzählung über die Besonderheiten einer wundervollen eleganten Sprache.

 

Was auch immer man euch über das Altgriechische erzählt und vor allem nicht erzählt hat, es ist in erster Linie eine Sprache.

Jede Sprache dient dazu, mit ihren Worten eine Welt zu malen. Und diese Welt ist eure Welt. Nur dank der Sprache seid ihr dazu in der Lage, Ideen zu formulieren, Emotionen eine Stimme zu verleihen, mitzuteilen, wie es euch geht, Wünsche auszudrücken, ein Lied zu hören oder Gedichte zu schreiben.

Wir leben in einer Zeit, in der wir zwar ständig mit etwas, aber nur noch selten mit jemandem verbunden sind. Es ist eine Zeit, in der Worte außer Gebrauch geraten und durch Emojis oder andere Piktogramme ersetzt worden sind. Das Ergebnis ist eine immer schnelllebigere Welt mit einer virtuellen Realität, in der wir zeitversetzt von uns selbst existieren und einander – buchstäblich – nicht mehr verstehen.

Die Sprache – oder was davon bleibt – wird immer banaler. Wie viele von euch haben heute um der Liebe willen telefoniert? Ich meine, wirklich eine Nummer gewählt, um eine menschliche Stimme zu hören? Und wann habt ihr das letzte Mal einen Brief geschrieben, einen richtigen Brief, meine ich, mit einem Stift auf ein Blatt Papier, und habt an einem Briefumschlag oder einer Briefmarke geleckt?

Der Unterschied zwischen der Bedeutung eines Wortes und seiner Interpretation wird immer größer – ebenso wie der Raum für unausgesprochene Missverständnisse und das Bedauern darüber, wieder einmal nicht den richtigen Ausdruck gefunden zu haben. Wir verlieren Stück für Stück die Fähigkeit, eine Sprache zu sprechen – welche auch immer es sei –, und damit zugleich die Fähigkeit, einander zu verstehen und uns verständlich zu machen. Es gelingt uns immer weniger, komplexe Dinge mit einfachen, treffenden und ehrlichen Worten auszudrücken. Aber genau das ist die Stärke des Altgriechischen.

Es mag merkwürdig klingen – ich habe ja gleich zu Beginn zugegeben, merkwürdig zu sein –, aber die Lektüre dieses Buches könnte euch täglich von Nutzen sein. Und das nicht etwa bei einer unerledigten Hausaufgabe, denn dafür gibt es andere Lösungen.

Ja, genau dieses Altgriechisch. Wenn man sich ihm ohne Angst (und mit einer ordentlichen Portion Verrücktheit) nähert, lässt es sich ins Gesicht blicken. Mehr noch, es spricht zu euch, mit lauter und reiner Stimme. Es hilft euch dabei zu denken und somit, euch auszudrücken, sei es nun in Bezug auf einen Wunsch, die Liebe, die Einsamkeit oder die Zeit. Mit seiner Hilfe könnt ihr euch die Welt zurückholen und die Dinge endlich wieder auf eure eigene Weise sagen. Weil wir, um noch einmal Virginia Woolf zu zitieren, „zum Griechischen zurückkehren, wenn wir der Ungenauigkeit, des Durcheinanders und unserer Epoche überdrüssig sind“. [4]

 

Dieses Buch zu schreiben war eine außerordentliche Erfahrung für mich. Es war wie eine Wiederentdeckung jener griechischen Wörter, die vor gefühlt tausend Jahren auf eine Schultafel geschrieben wurden, nur um gleich nach dem Unterricht weggewischt und vergessen zu werden.

Am Anfang stand die Erinnerung an mich selbst, fast noch ein Kind und verängstigt von einem Alphabet, das nicht meines war, und am Ende meine heutige, so vollkommen andere Sicht auf die altgriechische Sprache und die menschliche Natur.

Ich habe Kartons wiedergefunden, die mehr als zehn Umzüge überstanden haben, und darin die Schulbücher einer Vierzehnjährigen, in denen neben den Deklinationen der Name meines Sitznachbarn geschrieben stand. Nicht zu vergessen die Handbücher meiner Universitätszeit, die mir von Leben zu Leben und von Stadt zu Stadt gefolgt sind – mehr als die Schlüssel aller Wohnungen, in denen ich jemals gelebt habe und aus denen ich wieder ausgezogen bin.

Vergeblich habe ich zu vergessen versucht, was mich mehr als ein Jahrzehnt quälte, bis ich erkannte, dass es genügte, meine Gedanken mit Menschen aus meinem Umfeld zu teilen. Wir hatten uns niemals davon erzählt, aber auch sie wollten vergessen, dieselben Dinge wie ich, und das oftmals, ohne sich darüber im Klaren zu sein.

Bis heute unterstütze ich Schüler altsprachlicher Gymnasien, um letztlich von ihnen zu lernen. Die Fragen, die sie an mich richten, sind dieselben, die ich stellte, als ich noch keine Ahnung vom Altgriechischen oder vom Leben hatte. Und ist eine Frage erst einmal heraus, dann ist die Neugier geweckt und lässt sich nicht mehr unterdrücken. Genauso ist es auch mir ergangen, obwohl es lange gedauert hat, die Antworten zu finden oder auch nur zu erahnen.

Ich habe viel gelacht mit meinen Freunden, die in den Fängen des Altgriechischen dieselben Missgeschicke durchlebt haben wie ich. Ich musste feststellen, dass wirklich jeder, der sich mit dieser Sprache befasst hat, unzählige peinliche Erinnerungen mit sich herumträgt. Und genau die sind es, über die wir lachen müssen.

Vor allem jedoch habe ich versucht, die Merkwürdigkeiten des Altgriechischen auch jenen nahezubringen, die es nicht gelernt haben. Es ist kaum zu glauben, aber sie haben mich tatsächlich verstanden. Wir haben einander verstanden. Und zwar gut. Viel besser als gedacht.

Ich, die ich so merkwürdig bin, habe dank des Aspekts der griechischen Sprache nicht nur gelernt, die Zeit auf andere Weise zu betrachten, sondern es auch auszudrücken.

Ich habe so viele Seufzer geseufzt, während ich Wünsche im Optativ formulierte. Und nun, da ich Bilanz ziehe und mich frage, welche davon ich realisieren will, bleiben gar nicht mehr so viele übrig.

Ich habe ich liebe dich im Dual gesagt, einer Zahl, die in der griechischen Sprache wir beide bedeutet – nur wir.

Ich habe die Grausamkeit des auferlegten Schweigens erkannt, aber auch, dass man bestimmte Musik nicht einfach nur hört, sondern betrachtet.

Ich habe sogar Frieden mit meinem Namen Andrea geschlossen, der im Italienischen eigentlich ein Männername ist – eine Sache, die ich längst verloren glaubte.

Dieses Buch zu schreiben hat die Merkwürdigkeit in meinem Geist paradoxerweise weniger merkwürdig gemacht. Mit anderen Worten: Dank des Altgriechischen – indem ich es verstehe oder zumindest intuitiv erfasse – ist es mir gelungen, so viel mehr zu sagen, sowohl mir selbst als auch den anderen.

Ich hoffe, dass es euch genauso ergeht, wenn ihr diese Seiten lest, und dass ihr schließlich lachen und das Altgriechische zumindest einmal im Leben genießen könnt.




Wann, jemals, niemals. Der Aspekt

Zeit Gegenwart und Zeit Vergangenheit
Sind vielleicht beide in Zeit Zukunft gegenwärtig
Und Zeit Zukunft enthalten in Vergangenheit
Wenn alle Zeit für immer gegenwärtig ist
Kann nichts die Zeit erlösen

(…)

Fußtritte klingen nach, hier im Gedächtnis
Hier diesen Weg entlang, den wir nie gingen
Zu dieser Tür, die uns verschlossen blieb
Die Tür zum Rosengarten.

Thomas S. Eliot, Burnt Norton, aus Vier Quartette

Die Zeit, unser Gefängnis: Vergangenheit Gegenwart Zukunft. Früh spät heute gestern morgen. Immer. Niemals.

Die Zeit oder der Zeitpunkt kümmerten die alten Griechen wenig. Sie drückten sich in einer Weise aus, welche die Wirkung der Handlungen auf die Sprechenden berücksichtigte. Sie waren frei und fragten stets nach dem Wie. Wir sind Gefangene und beschäftigen uns immer nur mit dem Wann.

Nicht das Zu-spät oder Zu-früh der Dinge, sondern wie sie geschehen interessierte sie. Nicht der Moment der Dinge, sondern ihre Entwicklung war ihnen wichtig – nicht das Tempus, sondern der Aspekt. Der Aspekt ist eine grammatische Kategorie der altgriechischen Sprache, die sich auf die Qualität einer Aktion bezieht, ohne sie in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft zu verorten. Wir hingegen ordnen alles, was geschieht, entlang einer exakten Zeitlinie an. Und jeder von uns hat seine eigene, ob sie nun gerade oder im Zickzack verläuft.

Die Fakten wurden konkret, in ihrer Entstehung gesehen. Das Tempus kam erst danach, zusammen mit anderen, linguistisch zweitrangigen grammatischen Kategorien. Falls es überhaupt kam, denn oftmals blieb der genaue Zeitpunkt des Geschehens ganz offen.

 

In Timaios 37 e – 38 c schreibt Platon über die Zeit, unter Verwendung aller Varianten des Aspekts der Verben γίγνομαι, „werden“, und εἰμί, „sein“:
--
Ἡμέρας γὰρ καὶ νύκτας καὶ μῆνας καὶ ἐνιαυτούς, οὐκ ὂντας [Präsens] πρὶν οὐρανὸν γενέσθαι [Aorist], τότε ἅμα ἐκείνῳ συνισταμένῳ τὴν γένεσιν αὐτῶν μηχανᾶται· ταῦτα δὲ πάντα μέρη χρόνου, καὶ τό τ᾿ ἦν [Imperfekt] τό τ᾿ ἔσται [Futur] χρόνου γεγονότα [Perfekt] εἴδη, ἃ δὴ φέροντες λανθάνομεν ἐπὶ τὴν ἀίδιον οὐσίαν οὐκ ὀρθῶς. λέγομεν γὰρ δὴ ὡς ἦν [Imperfekt] ἔστιν [Präsens] τε καὶ ἔσται [Futur], τῇ δὲ τὸ ἔστιν [Präsens] μόνον κατὰ τὸν ἀληθῆ λόγον προσήκει, τὸ δὲ ἦν [Imperfekt] τό τ᾿ ἔσται [Futur] περὶ τὴν ἐν χρόνῳ γένεσιν ἰοῦσαν πρέπει λέγεσθαι.

Da es nämlich, bevor der Himmel entstand, keine Tage und Nächte, keine Monate und Jahre gab, so ließ er damals, indem er jenen zusammenfügte, diese mit entstehen; diese aber sind insgesamt Teile der Zeit, und das War und Wirdsein sind gewordene Formen der Zeit, die wir, uns selbst unbewusst, unrichtig auf das unvergängliche Sein übertragen. Denn wir sagen doch: Es war, ist und wird sein; der richtigen Ausdrucksweise zufolge kommt aber jenem nur das Ist zu, das War und Wirdsein ziemt sich dagegen nur von dem in der Zeit fortschreitenden Werden zu sagen, sind es doch Bewegungen. 

Τό τε γεγονὸς [Perfekt] εἶναι γεγονὸς [Perfekt] καὶ τὸ γιγνόμενον [Präsens] εἶναι γιγνόμενον [Präsens], ἔτι τε τὸ γενησόμενον εἶναι [Futur] γενησόμενον [Futur] καὶ τὸ μὴ ὂν [Präsens] μὴ ὂν [Präsens] εἶναι [Präsens], ὧν οὐδὲν ἀκριβὲς λέγομεν.

Außerdem aber bedienen wir uns auch noch folgender Ausdrücke: Das Gewordene sei ein Gewordenes, das Werdende sei ein Werdendes, und das zu werden Bestimmte sei ein zu werden Bestimmtes sowie das Nichtseiende sei ein Nichtseiendes, aber keiner derselben ist vollkommen genau. [5]
--

Der Aspekt war eine Denkweise, die dazu diente, das Geschehen in der Welt und im Leben in Vollendetes und Unvollendetes zu unterteilen – perfecta oder infecta, um die lateinischen Begriffe zu verwenden. Oder auch in Anfang und Ende. Jede Sprache setzt eine bestimmte Sichtweise der Welt voraus. Wenn aber im Altgriechischen die Zeit zweitrangig ist, dann existieren im Grunde nur der Anfang und das Endeder Dinge. Aller Dinge.

Der Aspekt zeigte im Griechischen die Gesamtdauer zwischen Anfang und Ende an. Wie lange dauert ein Vorgang, und wie vollzieht er sich. Wie beginnt er, wie entwickelt er sich, und wie endet er. Was ist er geworden. Und vor allem war der Aspekt eine Möglichkeit, um auszudrücken, wie und was aus jedem Anfang und jedem Ende entsteht.


...

[2]  Virginia Woolf, Der gewöhnliche Leser, Übersetzung von Hannelore Fladen, Fischer 1997.
[3]  Ebd.
[4]  Ebd.
[5]  Platon, „Timaios“, in: Sämtliche Werke, Band 4, Übersetzung von Hieronymus Müller und Friedrich Schleiermacher, Rowohlt 1991.

Andrea Marcolongo

Über Andrea Marcolongo

Biografie

Andrea Marcolongo, geboren 1987, hat Alte Sprachen an der Universität Mailand studiert und bereits in zehn verschiedenen Städten gelebt, darunter Paris, Dakar, Sarajevo und Livorno. Sie hat unter anderem als Kommunikationsberaterin und Ghostwriterin für die italienische Regierung gearbeitet, bevor...

Pressestimmen
Die ZEIT

„(Andrea Marcolongos) Begeisterung für ausgestorbene Tempora wie den Aorist oder Modi wie Optativ und Eventualis, für Behauchungen und Akzente sowie für die beeindruckende Vielfalt an Partikeln, mit deren Hilfe so viele unterschiedliche Nuancen zum Ausdruck gebracht werden können, ist ansteckend.“

Anzeiger (A)

„Ein Buch, wie gemacht für den Müßiggang unter Zitronen- und Orangenhainen.“

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