Was bleibt, was wird – die Queen und ihr Erbe
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Was bleibt, was wird – die Queen und ihr Erbe — Inhalt
Elizabeth II. prägte unsere Zeit – was wird nun folgen?
Mit dem Tod der Queen geht eine Ära zu Ende – sie wurde weltweit zum Symbol für Pflichtbewusstsein und Stabilität. Was hinterlässt sie uns und ihrer zerstrittenen Familie? Und was bedeutet ihr Tod für die britische Monarchie? Und für uns?
Alexander von Schönburg, intimer Kenner der Familie Windsor, nimmt uns mit hinter die Palastmauern und zeigt die Queen und ihre Regentschaft in ganz neuem Licht. Er erläutert, was die Tugenden und Werte von Elizabeth II. uns auch heute noch lehren können – im Umgang mit Krisen, Traditionen oder Familienstreitigkeiten. Und zeigt, was ihren Nachfolger King Charles III. erwartet.
„Wenn es um Europas Adelshäuser geht, kann ihm keiner etwas vormachen.“ rbb online
Leseprobe zu „Was bleibt, was wird – die Queen und ihr Erbe“
So war die Queen wirklich
Als ich der Queen zum ersten Mal begegnete, war ich so aufgeregt, dass ein nervöses Huhn neben mir wie ein Zen-Meister gewirkt hätte. Sie gab ein Abendessen in Windsor Castle, bei dem ich neben ihr platziert wurde. Ich hatte bis dahin nur einmal zuvor in meinem Leben eine Mahlzeit neben einer Königin eingenommen, und das war nicht so gut gelaufen.
Damals saß Königin Sofía von Spanien neben mir, in Schloss Wolfsgarten bei Frankfurt, Gastgeber war der dort lebende Moritz von Hessen. Gerade erst war die Vorspeise serviert worden, [...]
So war die Queen wirklich
Als ich der Queen zum ersten Mal begegnete, war ich so aufgeregt, dass ein nervöses Huhn neben mir wie ein Zen-Meister gewirkt hätte. Sie gab ein Abendessen in Windsor Castle, bei dem ich neben ihr platziert wurde. Ich hatte bis dahin nur einmal zuvor in meinem Leben eine Mahlzeit neben einer Königin eingenommen, und das war nicht so gut gelaufen.
Damals saß Königin Sofía von Spanien neben mir, in Schloss Wolfsgarten bei Frankfurt, Gastgeber war der dort lebende Moritz von Hessen. Gerade erst war die Vorspeise serviert worden, eine Vichyssoise, da beging Sofía von Spanien den fatalen Fehler, mich zu fragen, was ich beruflich tue.
Die WTSB-Frage („Was tun Sie beruflich?“) ist bekanntlich an Spießigkeit nicht zu überbieten. Aber auch königliche Hoheiten sind gegen Spießertum nicht vollends immun, jedenfalls sah ich mich gezwungen, Königin Sofía zu offenbaren, dass ich Reporter einer Boulevardzeitung bin.
Ich arbeitete damals für die B. Z., Deutschlands traditionsreichstes Revolverblatt. Auch der große Billy Wilder hat einst für die B. Z. geschrieben, ebenso wie Wolfgang Rademann, dem die deutsche Hochkultur Werke wie „Traumschiff“ und „Schwarzwaldklinik“ verdankt, und, was weniger bekannt ist, auch Christian Kracht, immerhin einer der bedeutendsten Schriftsteller unserer Zeit. Aber all dies ins Felde zu führen, hätte in dem Moment wenig gebracht, weil Königin Sofía sicher noch nie die „Schwarzwaldklinik“ gesehen hat, daneben womöglich weder „Some Like It Hot“ noch „Faserland“ kennt, und auch deshalb, weil ihre gesamte Aura nach meiner Offenbarung derart schockgefroren wirkte, dass sich auf der vor ihr stehenden Vichyssoise eine leichte Eisschicht abzuzeichnen schien.
Hätte ich ihr gesagt, dass ich Waffenhändler bin oder mit kongolesischen Blutdiamanten handele, sie hätte konsterniert geblickt und dann seelenruhig die Tischkonversation fortgesetzt. Nachdem ich ihr aber verraten hatte, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene, fühlte sie sich außerstande, jene „petit conversation du table“ aufrechtzuerhalten (so nennt man in diesen Kreisen die Kunst des angenehm-oberflächlichen Tischgesprächs), bei der es jede allzu große Offenheit und jeden Anflug von Tiefschürfen zu meiden gilt. Stattdessen erklärte sie mir geradeheraus, dass ihr jegliches Verständnis dafür fehle, dass jemand mit meinem Familienhintergrund Journalist geworden sei, da dies so etwas wie Seitenwechsel und somit Verrat bedeute, und wandte sich den Rest des Mittagessens von mir ab.
Die Königin von England war da anders.
Als diese bei einem späteren Zusammentreffen – auf das allererste, von dem ich eingangs zu erzählen begann, werde ich gleich noch zurückkommen – erfuhr, dass ich als Angestellter in einem Zeitungsverlag versuche, meine Familie über Wasser zu halten, reagierte sie verständnisvoll. Ich glaube, dass die Queen sich bewusst war, dass ihr Status, ihr mit Prunk und Pomp gepampertes Dasein als Staatsoberhaupt, ein Anachronismus ist. Dass die Zeit der adeligen Vorrechte, der Schlösser und Kutschen, des Hofstaats und des Brimboriums eigentlich vorbei ist. Die Queen hat immer in Palästen gelebt, sie hat nie ihr Haupt gebettet, wo nicht ein Butler in Rufnähe war, aber ich bin sicher, dass sie ahnte, dass sie das letzte und somit untypische Exemplar einer verschwindenden Spezies war. Die Adeligen unserer Tage, das wusste sie genau, leben nicht in Palästen. Vielmehr sind sie Überbleibsel einer vergangenen Welt, die sich nur noch durch gewisse Rituale, Redeweisen und kulturelle Eigentümlichkeiten so etwas wie ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu bewahren versuchen, die mit mehrfach geflickten Schuhen durch die Welt gehen und auf jede Form des Bling-Bling verächtlich herabblicken. Die Queen wusste genau, dass für die allermeisten Angehörigen ihrer Schicht eine herausragende gesellschaftliche Stellung nur noch eine blasse Erinnerung ist, die keine materielle Grundlage mehr hat, und dass die Hauptleistung der meisten ihrer Artverwandten darin besteht, sich mit einer ihnen feindlich gesinnten Moderne zu arrangieren. Deshalb wurde mir als Angehörigem besagter Schicht, die man „verarmter Adel“ nennt, bei Besuchen auf Schloss Windsor spürbar Sympathie entgegengebracht. Außer von Prinz Andrew, der immer schon bewundernd auf die Jachten-und-Privatinsel-Klasse schielte, was ihm ja auch zum Verhängnis wurde. Für Leute wie mich, die in alten, mehrfach geflickten Smokings herumlaufen und nicht über Learjets verfügen, die er sich ausleihen kann, hat er nichts übrig. Die Queen hingegen entschied sich schon bei der Wahl ihres Gatten für den Typ Abenteurer ohne Kohle, sie hegte seit jeher, was man an ihren engsten Freundinnen ablesen kann, ein Misstrauen gegen wohlhabende Angehörige der Oberklasse und Neureiche und hatte eine Schwäche für Menschen mit Stammbaum, denen das Lametta verloren gegangen war; jedenfalls reagierte sie, als sie von meinem Beruf erfuhr, mit einem zärtlichen, mitfühlsamen „This must be rather difficult“.
Deswegen wird sie auch, sollte sie im Himmel von diesem Buch erfahren, sicher Verständnis haben, zumal ich jene Leser zu enttäuschen beabsichtige, die ein plumpes Ausschlachten privater Begegnungen oder ein indiskretes Wühlen in ihrer Intimsphäre erwarten.
Die Queen war der bekannteste Mensch der Welt. Und zugleich ein höchst privater. Man glaubt, alles über sie zu wissen. Und weiß doch gar nichts.
Verbreitet ist zum Beispiel das Bild eines konservativen, überaus beherrschten, ja steifen Menschen. Helen Mirren stellt sie in Stephen Frears Film „Die Queen“ so dar. Dieses Bild könnte kaum weiter entfernt von der Wahrheit sein. Sie hatte eine warme Seite, ich habe sie als überaupt nicht gefühlskalt erlebt. Die Hinsicht, in der sie wirklich dem Klischee entsprach, war ihre herrlich altmodische Aussprache. Wie noch wenige verbliebene Aristo-Dinosaurier sprach sie „girl“ wirklich „gärl“ aus und sagte „orf“ statt „of“. In politischen Dingen war sie überhaupt nicht konservativ, handelte – zum Entsetzen des Establishments – oftmals eher wie eine Revoluzzerin. Unter ihrer Regentschaft wurde die Thronregelung zugunsten von weiblichen Königskindern geändert, unter ihrer Ägide wurde das British Empire aufgelöst und der Commonwealth-Bund reformiert; sie war es, die misstrauisch beäugt von den Konservativen bereits in den 1950-er Jahren die Aussöhnung mit dem ehemaligen Kriegsgegner Deutschland forcierte und am Ende ihrer Regentschaft, zum Entsetzen des Establishments, in Irland einen Bußgang für die kolonialistischen Exzesse ihrer Vorfahren unternahm. Sie war es auch, die den Buckingham-Palast öffentlich zugänglich machte und das Königshaus zum Steuerzahlen zwang. Und die Premierminister, mit denen sie sich am besten verstand, waren Politiker der Arbeiterpartei und keine Torys. Im Vergleich zu ihrer reaktionären Mutter (die ich auch noch das Vergnügen und die Ehre hatte, kennenlernen zu dürfen) war sie geradezu ein Punk.
Zunächst aber endlich zu dem erwähnten allerersten Zusammentreffen: Der Anlass des Abendessens in Windsor Castle, bei dem ich zu meinem Schrecken neben der Queen platziert wurde, war ein Familienereignis, zu dem ich als Neuankömmling an der äußersten Peripherie der Königsfamilie eingeladen war. Da saß ich also neben ihr und litt Höllenqualen. Worüber redet man mit der Queen? Ein ganzes Abendessen lang? Über Pferde? Davon verstehe ich nicht genug. Übers Essen? Das wäre spießig. Über Politik? Sicher nicht. Die Nervensäge Tony Blair war damals Premierminister, es wäre falsch gewesen, sie dazu zu verleiten, schlecht über ihr eigenes Personal zu reden. Allzu Offensichtliches à la „Nett ham Sie’s hier“ wäre ebenso unpassend. Ich versuchte, cool und weltmännisch zu tun, und scheiterte kläglich. Zwar hatte ich mit den vor dem Dinner gereichten Dry Martinis probiert, mir Mut anzutrinken, aber es war hoffnungslos. Ich brachte kein Wort heraus. Unsicherheit vermittelt sich ja leider vor allem nonverbal. Man kann Nervosität förmlich mit Händen greifen. Sie strahlt aus. Sie hat fast etwas Toxisches. Wahrscheinlich hat das mit Quantenphysik zu tun. So wie Selbstsicherheit anziehend wirkt, so abstoßend ist Unsicherheit bei Menschen.
Außer bei der Queen. Sie war unempfänglich für diese Form von sozialer Aussätzigkeit. Sie kannte es nicht anders. Sie begegnete in ihrem Alltag – bis auf Prinz Philip, der Einzige weltweit, der sich das Recht herausnahm, sie herumzukommandieren und sogar anzuschnauzen – fast ausschließlich Menschen, die in ihrer Gegenwart nervös waren. Selbst mächtige Staatsmänner stotterten plötzlich, wenn sie vor ihr standen. Die Queen hatte sich die Fertigkeit angewöhnt, ihren jeweiligen Gegenübern die Verlegenheit zu nehmen.
Sie bemerkte meine missliche Situation und beschloss, mich aufzulockern. Dazu führte sie mir einen Trick vor. Sie öffnete eine kleine, silberne Keksdose. Das Geräusch genügte, und aus allen Ecken des Esszimmers wackelten ihre Lieblingsgeschöpfe heran – die legendären Corgis. Das Geräusch verhieß ihnen, dass die Königin ihnen gleich Leckerlis füttern würde. Dann schloss sie die Keksdose wieder. Auch dieses Geräusch kannten die Hunde und wackelten enttäuscht zurück in ihre Ecken. Das wiederholte die Königin mehrfach. Stets rafften sich die armen, kurzbeinigen Tiere auf, um dann jedes Mal aufs Neue enttäuscht abzudrehen. Das tat die Königin so oft, bis meine Nervosität einem Lachen gewichen war. Später gelang es mir dann auch, sie zum Lachen zu bringen. Wie, erzähle ich an anderer Stelle.
Eines muss ich klarstellen: Wenn ich schon so indiskret bin, im privaten Kontext erlebte Geschichten preiszugeben, was mir im weiteren Familienkreis nicht nur Applaus bescheren wird, möchte ich noch etwas eher Grundsätzliches ansprechen. Über die private Queen zu schreiben ist eines der letzten noch verbliebenen Tabus. Sie war mit Abstand die öffentlichste Person der Welt. Und doch war sie stets von einem undurchdringlichen Schleier des Geheimnisses umhüllt.
„Die ganze Institution der Monarchie“, heißt es bei Walter Bagehot, dem legendären englischen Verfassungstheoretiker, „basiert auf dem Mysterium.“[i] Wenn jeder in das Innerste des Häuptlingszelts blicken könnte, wäre das Mysterium dahin.
Soll ich an diesem Zauber rühren?
Ich werde es versuchen. Ich glaube nämlich, dass Bagehot nicht recht hat. Wenn es stimmt, dass man das Königtum – und hier im Speziellen Elizabeth II. – nicht näher untersuchen darf, weil es sonst entzaubert wird, ruht das auf der Prämisse, dass das Untersuchte sich sonst als Schwindel, als fauler Zauber herausstellen würde. Ich denke im Gegenteil, dass es wertvoll und gewinnbringend ist, die Monarchie und speziell Elizabeths Regentschaft und Persönlichkeit zu inspizieren. Sie kann uns viel lehren. Und das gilt nicht etwa für solche Leser, die ein Faible für Kronen und Zepter und Hermelin haben. Elizabeth II. war eine historische Figur von herausragender Bedeutung. Nach Ludwig XIV., der mehr als 72 Jahre den französischen Thron innehatte, hat niemand in der dokumentierten Geschichte der Menschheit länger regiert als sie. Sie hat nie eine Universität besucht, war aber die Vertraute und die Beraterin von 15 britischen Regierungschefs, sie war die Herrin über mehr als 1000 Angestellte und hatte nie formell jemandem, dem sie Rechenschaft schuldig war, ging aber noch im Alter von 96 Jahren gewissenhaft – mehr als 40 Stunden wöchentlich – ihrer Arbeit nach, nahm offizielle Termine wahr und las täglich die aus der Regierungszentrale in der Downing Street in einer roten Box übermittelten Staatspapiere. Noch am Tag vor ihrem Ableben bestand sie, obwohl sie sich überhaupt nicht wohlfühlte, darauf, an einer Zoom-Konferenz teilzunehmen, die in ihrem Terminkalender eingetragen war, und konnte nur nach dringlichem Rat ihres Leibarztes davon abgehalten werden. Einen Tag zuvor hatte sie den scheidenden Premierminister Boris Johnson zu einem fast einstündigen Gespräch gesehen und gleich anschließend die neue Premierministerin empfangen, um sie mit der Bildung einer neuen Regierung zu beauftragen.
Sogar leidenschaftliche Republikaner und eingefleischte Gegner der Royals werden einräumen müssen, dass die Queen eine Lücke hinterlässt. Das Ableben dieser großen Monarchin stellt eine Zeitenwende dar, deren volles Ausmaß wir womöglich erst mit einigem Abstand begreifen werden.
Königin Elizabeth II. steht für eine Epoche der Menschheitsgeschichte. Die Welt, wie wir sie seit der Thronbesteigung Elizabeths kannten, ist kaum noch wiederzuerkennen. Als sie gekrönt wurde, fuhren noch Dampflokomotiven, und der Liter Benzin kostete 56 Pfennig. Die Menschen sprachen vor dem Essen noch Tischgebete, es sprach noch niemand vom Klimawandel, und wenn jemand 1952 behauptet hätte, man könne sich sein Geschlecht selbst bestimmen, hätte er/sie/xyz dafür verständnisloses Kopfschütteln geerntet.
Mit dieser elisabethanischen Epoche, das lässt sich mit Sicherheit sagen, geht eine Welt zu Ende.
Bei dem erhabenen Schauspiel, das sich in London bei ihrem Begräbnis entfaltete – mehr als vier Milliarden Menschen weltweit verfolgten es live –, schwang etwas Endgültiges mit. An diesem Tag, das war mit Händen zu greifen, wurde mehr zu Grabe getragen als eine Person. In gewisser Weise wurde an diesem Tag das Ableben des gesamten 20. Jahrhunderts mitsamt seinen Gewissheiten betrauert. Es war spürbar, dass ein ganzer Kosmos von Werten und Idealen an sein natürliches Ende gekommen ist. Vorstellungen, die gestern noch bindend und allgemein verständlich waren, feierten ein letztes, großes Abschiedsfest. Die Ergriffenheit, die viele an diesem Tag spürten, hatte auch viel damit zu tun, dass zugleich das Neue, das nun kommen wird, noch unsichtbar und damit unheimlich ist. Das gab diesem Abschied in London etwas Beklemmendes.
Der Beginn der Regentschaft von Elizabeth II. fiel zwar in eine Zeit, die alles andere als sorglos war, auch Anfang der 1950er-Jahre war die Zukunft in vielerlei Hinsicht unsicher. Aber dennoch gab es wenigstens noch so etwas wie allgemein verbindliche Gewissheiten. Und es gab den Glauben daran, dass es einem morgen besser gehen würde.
Vielleicht ist das Stadium der Ahnungs- und Orientierungslosigkeit, in der wir uns als Gesellschaft derzeit kollektiv befinden, ein notwendiges Übel. Vielleicht gehört so etwas zu Epochen des Übergangs, und Desorientierung ist die Bedingung dafür, dass sich etwas völlig Neues formieren kann. René Guénon, der französische Intellektuelle, auf dessen Kritik an der westlichen Zivilisation wegen ihres Materialismus und ihres Mangels an spiritueller Orientierung sich Charles in seinem Buch „Harmony“ stützt, schrieb: „Der Übergang von einem Zyklus zum anderen kann nur in der Dunkelheit stattfinden.“
Die Königin ist tot!
Es lebe der König?
Der umgekehrte Ruf, wie er am 6. Februar 1952 erklang, nachdem Elizabeths Vater, König George VI., gestorben war, muss jedenfalls deutlich feierlicher geklungen haben.
Mit dem Ruf „Der König ist tot! Es lebe die Königin!“ schwang damals, so ist aus sämtlichen Berichten der Zeit herauszulesen, Aufbruchstimmung mit. Die damals 25 Jahre alte Elizabeth und der fesche blonde Marineoffizier an ihrer Seite verhießen Frische, Neuanfang, Glamour. Allein ihre Jugend diente als glaubwürdiges Versprechen dafür, dass der Staub, der sich seit Generationen zentimeterdick auf dem Königshof gesammelt hatte, nun endlich verschwinden würde. Die Times, traditionsgemäß eher zurückhaltend, überschüttete die neue Königin mit Vorschusslorbeeren und gebrauchte das Wort „Enthusiasmus“, dabei nahm sie in Kauf, dass das zu diesem Zeitpunkt – der Leichnam von Elizabeths Vater lag noch aufgebahrt, sie selbst war gerade auf dem Weg von Nairobi nach London – pietätlos wirken könnte.
Im Leitartikel des 8. Februar 1952 hieß es: „Bereits in diesen ersten Stunden ihrer Regentschaft kann sie nicht nur auf bedingungslosen Zuspruch zählen, sondern auf die enthusiastische Loyalität des gesamten Empire.“[ii]
„Die Wahrheit ist, dass George VI. kein besonders populärer Monarch war“, so der Historiker Ed Owens, Autor des Buches „The Family Firm – Monarchy, Mass Media and the British Public 1932 – 1952“. Nie war es George VI. gelungen, sich vom Schatten seines flamboyanten, aber – wenn auch nicht in der Aristokratie und dem Establishment, so doch in der Arbeiterschaft und dem einfachen Volk – beliebten Bruders Edward zu befreien, des 325-Tage-Königs, der 1936 zur Abdankung gezwungen worden war. „Die Menschen waren schockiert, als der Tod von George VI. verkündet wurde, zum Teil waren sie sogar traurig, aber vor allem war dies auch ein Moment des Aufbruchs“, so Owens, „in vielerlei Hinsicht war der verfrühte Tod des Königs eine große Chance für die Monarchie. Es brachte eine junge Frau auf den Thron, die dessen Popularität zu diesem Zeitpunkt bereits weit überragte.“[iii]
Ähnliches lässt sich über den Thronwechsel von Elizabeth auf Charles nicht behaupten: Von einem Geist der Zuversicht ist weder in England noch sonst wo in der westlichen Welt irgendetwas zu spüren. Unsere gesamte westliche Zivilisation ist von Selbstzweifeln gezeichnet, Charles selbst ist ein Grübler, und niemand wird ernsthaft behaupten, dass er in seinem fortgeschrittenen Alter und in der gegenwärtigen Lage für Neuanfang und Aufbruch steht.
Die Berichterstattung der Times ist ein guter Seismograf für die britischen Befindlichkeiten. Im Vorfeld seiner Krönung fehlte in fast keinem größeren Porträt des neuen Königs der Hinweis darauf, wie unvorteilhaft die Regentschaft seiner beiden Namensvorgänger verlaufen war: Die von Charles I. (1600 – 1649) endete mit dessen Enthauptung, und Charles II. (1630 – 1685) wurde aus dem Land gejagt. Und die Sonntagsausgabe der Zeitung, die den Thronwechsel 1952 noch fast schon unziemlich bejubelt hatte, beschäftigte sich beim gleichen Anlass 70 Jahre später ausführlich mit der Frage, ob es denkbar sei, als König bei Gericht vorgeladen zu werden. Es geht um die unschöne „Cash for Honours“-Affäre.[iv] Charles hatte als Prince of Wales dubiosen Geschäftsleuten zu hohen britischen Ordensauszeichnungen verholfen – gegen die Zahlung von Millionenspenden an ihm nahestehende Wohltätigkeitsorganisationen. Auf Korruption im Zusammenhang mit Ordensverleihungen stehen nach einem Gesetz aus dem Jahre 1925 bis zu zwei Jahre Haft. Aber kann der Crown Prosecution Service, wie die Staatsanwaltschaft in Großbritannien heißt, also die Krone, gegen die Krone ermitteln?
Die Queen war unangreifbar, unantastbar, Charles ist das nicht. Als die Queen auf den Thron kam, war das Mysterium Königshaus noch intakt. Man begegnete den Royals mit ehrfürchtiger Scheu. Heute wirken sie wie Darsteller einer riesigen, globalen Seifenoper, als Teil der Unterhaltungsindustrie. Die Angriffe seines Sohnes Harry, das weiß keiner besser als Charles, sind viel mehr als eine banale Fehde zwischen Brüdern. Der Konflikt ist eine gefährliche Herausforderung für eine Institution wie die Krone, deren Existenz eine Provokation für die Postmoderne ist. Letztlich ist das Königtum etwas Sakrales. Im Krönungsakt kommt das sehr deutlich zum Ausdruck. Die ersten Könige waren, wie man bei James Frazer nachlesen kann, Magier – sie verzauberten die Menschen. All das und all das, wofür es steht, ist in der Postmoderne anstößig. In Meghans Freundeskreis spricht man bereits offen vom „Endgame“, das auf Englands spätfeudale Gesellschaft nun zukomme. Und ich halte das für alles andere als übertrieben.
Die Geschichte der royalen Exilanten ist mehr als nur ein Drama um zwei verwöhnte Social Justice Warriors. Die Sache ist komplexer. Und es ist eine Geschichte, die viele kennen. Die Eltern versuchen, ihren Kindern Werte weiterzugeben, und die pfeifen drauf, finden alles, wofür die ältere Generation steht, verwerflich. Im Grunde ist der Konflikt der Windsors einer, der uns spätestens seit der Französischen Revolution als Gesellschaft ingesamt beschäftigt. Die Partei aus Charles, Camilla, William und Kate steht für die Aufrechterhaltung des Status quo, für die Verteidigung des kulturellen Erbes, der Institutionen und für ein Weltbild, wonach der Mensch in Pflichten hineingeboren wird und bei seiner Geburt nicht einfach bei null beginnt. Die Partei Harry und Meghan hingegen – und mit ihnen die nachwachsenden Generationen – will mit den Institutionen der Vergangenheit aufräumen und nimmt das Erbe als Ballast wahr, den der Mensch loswerden müsse, um frei zu werden. In ihren Augen braucht der Mensch keine Institutionen, an denen er sich orientieren kann, erst recht keine, die älter sind als er.
Wie tief Harrys Aversion gegen alles Überlieferte ist, erzählt er freimütig in seinen Memoiren. Er schildert, wie ihn ein Lehrer in Eton einmal wegen seiner Unwissenheit über die Geschichte seiner Vorfahren bloßstellen wollte: „Ich kann es nicht fassen, Wales“, sagte der wütende Lehrer. „Wir reden über deine Blutsverwandten – bedeutet dir das nichts?“ – „Weniger als nichts“, antwortete Harry und gab damit mehr preis, als ihm wahrscheinlich lieb war.
Die Generation Harry und Meghan steht für den Wunsch nach Tabula rasa, der nicht nur eine politische und soziale, sondern auch eine metaphysische Dimension hat, sie steht für die Abschaffung althergebrachter Ordnungen und lehnt die Prämisse ab, dass der Mensch ein Mängelwesen ist, das feste Strukturen, Tradition und Regeln braucht. Insbesondere Meghan steht für den Glauben daran, dass der Mensch sein Heil – ja das der ganzen Menschheit – aus eigener Kraft herbeiführen kann, wenn es ihm gelingt, die Fesseln der Tradition und der sozialen Grenzen zu sprengen.
So viel steht fest: Das, was mit der Queen zu Ende gegangen ist, wird sich von ihren Nachfolgern nicht ohne Weiteres fortsetzen lassen. „We’ll try to keep everything going“, sagte Charles beim ersten Treffen seiner Regentschaft mit der neuen, kurzzeitigen Regierungschefin. „Wir werden versuchen, den Laden am Laufen zu halten.“ Darin klingt die Hoffnungslosigkeit seiner Aufgabe an.
Sein Buch „Harmony“, in dem Charles seine Weltanschauung und sein Programm zur Schaffung einer besseren Welt präsentiert, beginnt mit den Worten: „Dies ist ein Aufruf zur Revolution.“ Er weiß also, dass wir in einer Epoche des Übergangs leben. In Zeiten revolutionärer Umwälzungen gilt der Satz des großen Aristokraten Giuseppe Tomasi di Lampedusa (1896 – 1957), der sagte: „Alles muss sich ändern, damit es bleiben kann, wie es ist.“
Alles? Der Fortgang von Königin Elizabeth II. ist jedenfalls Anlass auszusortieren. So einiges, für das die Queen stand, zerrinnt gerade. Die Queen war ein Monument für altmodische Tugenden wie Duldsamkeit, Demut, Hingabe, Loyalität, Selbstbeherrschung. Alles Dinge, mit denen sich die ihr nachfolgenden Generationen schwertun. In gewisser Weise war sie unsere letzte lebende Verbindung in das, was man „die alte Zeit“ nennen könnte.
Nicht alles, was die Queen uns in ihrem langen Leben vorexerzierte, ist heute noch zeitgemäß. Aber: Wenn wir alles über den Haufen werfen, wofür sie stand, wird unsere Gesellschaft zivilisatorisch verarmen. Heute verändern sich die Dinge in so rasanter Geschwindigkeit, dass viele die Orientierung verlieren, ja, man muss hoffen, dass es noch Dinge gibt, die Bestand haben. Doch welche Dinge sind das? Und was muss aussortiert werden? Von Gottfried Benn stammt der schöne Ausdruck: „Jeder sieht hier etwas enden. Keiner sieht, was hier beginnt.“
Es ist an der Zeit, Inventur zu machen.
[i] Walter Bagehot, „The English Constitution“, erstmals 1867 in Buchform erschienen. Zitat entstammt der Ausgabe der Reihe „Oxford World’s Classics“, Oxford University Press, 2009.
[ii] Zitiert in „It took hours for the news to reach them: ›You are now Queen‹, Philip told her“, The Sunday Times (London), 30. Januar 2022 (https://www.thetimes.co.uk/article/the-day-elizabeth-learnt-she-was-queen-70-years-on-0mt9n6vcw).
[iii] Ibid.
[iv] „Scotland Yard’s dilemma: do we question the King?“, The Sunday Times (London), 25. September 2022 (https://www.thetimes.co.uk/article/scotland-yards-dilemma-do-we-question-the-king-twbfvzxp7).
„Es gibt eine schier unüberschaubare Anzahl von Büchern. Man kann es sich aber auch leicht machen und Alexander von Schönburg lesen. Ein besseres, informativeres, prägnanteres und klügeres Buch zu dem Thema gibt es nicht. Außerdem ist es gut geschrieben.“
„Authentisch, aktuell und anregend.“
„Eine kritische Liebeserklärung an die Frau, deren Tod den ungeheuren Wertewandel manifestiert, den der Westen während ihrer Regentschaft durchlebt hat.“
„Sehr unterhaltsam gelingt ihm hier die Mixtur aus Gossip und Geschichtsstunde.“
„Aus dem Quell selbsterworbenen Insider- Wissens schöpfen zu können, ist zweifellos ein Plus des Buches, Indiskretionen inklusive.“
„Er gewährt uns augenzwinkernd einen intimen Blick hinter die Palastmauern.“
„Das Sachbuch regt auf unterhaltsame Weise dazu an, über den Wandel der Zeit vor der Kulisse der vor Jahrhunderten erbauten Paläste nachzudenken.“
„Er erzählt elegant, taktvoll, loyal, aber doch kritisch.“
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