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Was ist Liebe, Sokrates? Was ist Liebe, Sokrates? - eBook-Ausgabe

Nora Kreft
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Die großen Philosophen über das schönste aller Gefühle

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Was ist Liebe, Sokrates? — Inhalt

Nichts ist vernünftiger als die Liebe
Sie fasziniert uns, seit wir denken können. Doch was bedeutet Liebe aus philosophischer Perspektive? Diese Frage beantwortet Nora Kreft auf besondere Art und Weise: Sie lässt acht berühmte Denkerinnen und Denker auf einer fiktiven Dinnerparty über Liebe, Freundschaft und Begehren diskutieren. Hier treffen so unterschiedliche Charaktere wie Sokrates, Simone de Beauvoir, Sigmund Freud und Immanuel Kant aufeinander. Sie tauschen sich über Freundschaft und Lust aus, streiten über die Bedeutung von Dating-Apps und erörtern, ob Liebe persönliche Autonomie einschränkt. Ihre Dialoge sind so lehrreich und kurzweilig, dass sie einen hervorragenden Einblick in die klügsten Gedanken der Philosophie der Liebe geben und dabei köstlich unterhalten.

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 03.05.2021
224 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31775-7
Download Cover
€ 11,99 [D], € 11,99 [A]
Erschienen am 04.11.2019
224 Seiten
EAN 978-3-492-99499-6
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Leseprobe zu „Was ist Liebe, Sokrates?“

Vorwort

Die Liebe stellt regelmäßig unser Leben auf den Kopf. Man kann nicht nebenbei lieben und ansonsten weitermachen wie bisher: Liebe verändert uns von Grund auf, verwandelt Sehnsüchte und Wünsche, und auch unsere Wahrnehmung. Wir sehen und hören anders, wenn wir lieben, weil unsere Aufmerksamkeit einen neuen Fokus hat. Kein Wunder, dass gerade der Beginn der Liebe sehr verwirrend und anstrengend sein kann. Alle Gedanken kreisen auf einmal um den Liebsten oder die Liebste, und man hofft nichts sehnlicher, als dass man zurückgeliebt wird. Das macht [...]

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Vorwort

Die Liebe stellt regelmäßig unser Leben auf den Kopf. Man kann nicht nebenbei lieben und ansonsten weitermachen wie bisher: Liebe verändert uns von Grund auf, verwandelt Sehnsüchte und Wünsche, und auch unsere Wahrnehmung. Wir sehen und hören anders, wenn wir lieben, weil unsere Aufmerksamkeit einen neuen Fokus hat. Kein Wunder, dass gerade der Beginn der Liebe sehr verwirrend und anstrengend sein kann. Alle Gedanken kreisen auf einmal um den Liebsten oder die Liebste, und man hofft nichts sehnlicher, als dass man zurückgeliebt wird. Das macht ziemlich verletzlich, nicht nur anfangs, sondern überhaupt: Liebende gewöhnen sich nicht wirklich an die Liebe und werden mit der Zeit nicht weniger verletzlich. Wenn man zum Beispiel eine Person verliert, die man liebte, ist es nicht leicht, weiterhin jeden Tag aufzustehen und weiterzuleben. Es ist, als ob uns erst die Liebe erklärt, was Sterben eigentlich bedeutet und was Alleinsein ist.

Liebe überkommt uns manchmal plötzlich und manchmal bahnt sie sich langsam an, aber in jedem Fall entzieht sie sich unserer direkten Kontrolle. Sie mischt sich zwar in unsere Entscheidungen ein, zumindest in die wichtigen, aber zur Liebe selbst kann man sich nicht einfach entscheiden. Man kann sich zu ihr bekennen oder nicht, man kann versuchen, die Schar von Gefühlen und Wünschen zu ignorieren, die sie mit sich bringt, aber ob man überhaupt liebt, liegt nicht einfach in unserer Hand, und das gilt für romantische Liebe ebenso wie für Elternliebe, Geschwisterliebe, tiefe Freundschaft und so weiter.

Wenn sie uns so verändert und verletzlich macht und wir sie noch nicht einmal selbst in der Hand haben, warum sehnen wir uns trotzdem nach Liebe? Was ist das Besondere an ihr? Warum würden die meisten sogar lieber unglücklich als überhaupt nie lieben? Warum versuchen wir sie in unzähligen Liedern in Worte zu fassen? Warum ist es überhaupt so schwer, die richtigen Worte für Liebe zu finden? Warum vertun wir uns so oft dabei und setzen immer wieder an?

Weil Liebe so ein erstaunliches Phänomen ist und weil es sie schon seit Anfang der Menschheit zu geben scheint – auf jeden Fall seit Beginn der von Menschen dokumentierten Geschichte –, hat sich auch die Philosophie schon immer Gedanken über Liebe gemacht. Große Philosophen und Philosophinnen aus allen Jahrhunderten haben sich gefragt, was romantische Liebe, Elternliebe, Geschwisterliebe und tiefe Freundschaft gemeinsam haben, was sie eigentlich alle zu Liebe macht, und kluge Ideen zu Papier gebracht. Wäre es nicht ungemein spannend, wenn sie durch die Zeit reisen und unsere Fragen zur Liebe mit uns diskutieren könnten? Die grundlegenden Fragen, die sich allen Menschen schon immer gestellt haben, aber auch über die Themen, die uns im Augenblick ganz besonders angehen und die Ausdruck unserer Zeit und Kultur sind – Dating Apps, Liebe und künstliche Intelligenz, und so weiter?

 

In den folgenden zehn Kapiteln spinne ich dieses Gedankenspiel weiter. Acht Philosophinnen und Philosophen treffen aufeinander, und zwar in Immanuel Kants Haus in Königsberg, also im heutigen Kaliningrad. Es sind historische Figuren aus ganz verschiedenen Zeiten, die Wesentliches zur Philosophie der Liebe beigetragen haben: Sokrates aus der klassischen Antike, Augustinus aus deren Endphase und dem beginnenden Mittelalter, Immanuel Kant aus dem 18. und Søren Kierkegaard aus dem 19. Jahrhundert, Sigmund Freud und Max Scheler aus der ersten und Simone de Beauvoir und Iris Murdoch aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie kommen zusammen, weil Immanuel Kant eine mysteriöse Einladung verschickt hat. Früher lud er häufig zu sich ein, aber irgendwann wurde es still um ihn. Jetzt taucht er plötzlich aus der Versenkung auf und will über Liebe reden. Dem historischen Immanuel war die Liebe moralisch suspekt. Der Immanuel in diesem Buch will das Thema noch einmal aufrollen und seine sieben Gäste sollen ihn dabei unterstützen.

Dabei geraten sie natürlich in alle möglichen Diskussionen: Darüber, was Liebe eigentlich ist, ob Liebe Gründe hat, wie man erklären kann, dass Liebende ihre Geliebten für unersetzbar halten und nicht einfach gegen ähnliche oder irgendwie „bessere“ Kandidaten austauschen würden. Was Liebe mit Hormonen zu tun hat, ob man Roboter lieben kann, was Sex mit Robotern womöglich mit uns macht. Ob sich Liebe und Autonomie gegenseitig ausschließen oder gar beflügeln, warum Liebe glücklich (und manchmal auch schrecklich unglücklich) macht, ob es ein Recht auf Liebe gibt. Ob man Liebe üben kann, was es mit Liebespillen auf sich hat, wie Dating Apps zu beurteilen sind, und vieles mehr. Die Diskutanten bewegen sich also hin und her zwischen den zeitlosen Fragen und den akuten Themen von heute.

Nicht alles, was die acht Personen hier sagen, kann ihren historischen „Geschwistern“ zugeschrieben werden. Einfach weil diese Geschwister noch nicht wirklich über Sexroboter und Dating Apps nachgedacht haben. Aber auch weil die Personen im Buch manchmal ihre Meinung ändern, wie es in Diskussionen so üblich ist. Sie starten von den jeweiligen Positionen aus, die sie mitbringen, aber sie lassen sich auch von den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern beeinflussen, wenn diese überzeugende Gegenargumente haben. Und manchmal beschreiten sie ganz neue Pfade.

Ich hoffe, dass ihre Einfälle Lust aufs Mitdenken machen. Die heutige Philosophie der Liebe braucht nämlich dringend Mitdenkende. Einerseits weil sie noch relativ jung ist: Die Philosophie der Liebe ist erst kürzlich wieder verstärkt ins Blickfeld geraten und es gibt viel innovative neue Forschung – unsere acht Diskutanten werden davon einiges erörtern. Und andererseits weil Liebe in unseren politisch turbulenten Zeiten ein wichtiges Thema ist. Obwohl Liebe mit der ihr eigenen, intensiven Fixierung auf eine bestimmte Person beginnt, öffnet sie doch auch den Blick für die fundamentale Unersetzbarkeit aller Menschen und weckt einen Sinn für Gerechtigkeit. Außerdem setzt die Liebe alle möglichen Kräfte frei: Liebende sind erfinderisch, geben nicht schnell auf. Das müssen wir uns zunutze machen, um die großen Aufgaben unserer Zeit anzugehen.

Denken und Liebe werden einander manchmal entgegengesetzt. Die Liebe sei reines Gefühl und als solches weit von Nachdenken entfernt, heißt es. Aber Gefühle sind meines Erachtens selbst verdichtete Gedanken über die Welt. Und was noch wichtiger ist: Liebe inspiriert uns zum Denken. In Platons Dialog Phaidros erklärt Sokrates, dass eine andere Person zu lieben (unter anderem) bedeutet, mit ihr philosophieren zu wollen. Und dass die Philosophie dieses Motiv braucht, weil die Liebe zu einer anderen Person unsere Liebe zur Weisheit erst entfacht. Wenn er recht hat, ist Liebe nicht einfach ein wichtiges Thema der Philosophie neben anderen, sondern Liebe und Philosophie sind aufeinander angewiesen: Liebe drückt sich im Philosophieren aus, und das Philosophieren kann ohne Liebe gar nicht beginnen. Also ohne die Liebe zu einer anderen Person nicht.

Das sind natürlich starke Thesen und wir müssen sie näher untersuchen, bevor wir sie richtig verstehen können. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass sie etwas Wahres ausdrücken. Liebe ist zentral mit dem menschlichen Verlangen verknüpft, sich selbst und die Welt zu verstehen. Liebende wollen gemeinsam darüber nachdenken, wie sie leben wollen, und was sie glauben sollen und hoffen dürfen – auch wenn das nicht immer bewusst oder explizit geschieht. Möglicherweise ist das gemeinsame Philosophieren der acht Denkerinnen und Denker in diesem Buch also selbst ein Ausdruck von Freundschaft, ein Praktizieren der Liebe.

 

Nora Kreft im August 2019



Kapitel 9

Dating Apps – der Ausverkauf der Liebe?

Die Gäste diskutieren über Dating Apps und die Kapitalisierung von Liebe in unserer Zeit.

Immanuel schnellte in die Höhe: „Das darf nicht sein, Max. Ich beeile mich mit dem Kochen! Und bis ich fertig bin, trösten uns Oliven und Salzstangen über den größten Hunger hinweg.“

„Können wir dir behilflich sein?“, fragte Sigmund und obwohl Immanuel den Kopf schüttelte, klatschte Iris in die Hände und rief: „Ab in die Küche! Wir kommen alle mit.“ Die Gäste erhoben sich und angeführt von Iris zogen sie wie eine Karawane durchs Haus. Augustinus bildete das Schlusslicht und nahm sich Zeit mit den Treppenstufen: „Meine alten Knochen …“, grummelte er. Hilfe verbat er sich dieses Mal. In der Küche angekommen, führte ihn Immanuel zu einem Stuhl und bestimmte: „Du bist für die Unterhaltung zuständig, während wir schnibbeln. Was haltet ihr von Kartoffelauflauf?“

Bald schon herrschte ein reges Treiben, Schränke wurden geplündert, Schubladen nach Messern durchforstet, Sokrates konnte sogar eine Schürze auftreiben. Augustinus öffnete eine neue Weinflasche und die Köche nippten von Zeit und Zeit an ihren Gläsern und probierten Oliven, wenn sie eine Pause machten oder nicht wussten, welches Gemüse als Nächstes an der Reihe war. Søren vertiefte sich ins Salatwaschen, füllte seine Hände mit grünen Blättern und ließ das Wasser lange durch seine Finger rinnen.

„Sokrates, darf ich mir kurz dein Handy ausleihen?“, bat Augustinus.

„Du sollst uns unterhalten und nicht im Internet surfen!“, ermahnte ihn Simone.

„Nun, ich dachte, ich schaue mir mal diese Dating Apps an und erzähle euch was darüber“, erklärte er. „Hat das nicht auch Unterhaltungswert?“

„Ach herrje“, stöhnte Max. „Wie langweilig.“

„Du bist doch unter anderem Soziologe, Max, das müsste dich doch interessieren?!“ Augustinus hob erstaunt die Augenbrauen.

„Diese Apps sind meines Erachtens einfach eine Verirrung der heutigen Zeit. Wie ich eben schon gesagt habe: der stümperhafte Versuch, die Liebe mit den Mitteln der kapitalistischen Marktwirtschaft in den Griff zu kriegen.“

„Du bist immer so schnell in deinem Urteil, Max. Ist denn das Dating mithilfe solcher Apps so anders als das traditionelle Dating? Was ist das Problem? Und was ist daran besonders kapitalistisch?“ Simone schälte eine Kartoffel und pustete sich eine Haarlocke aus dem Gesicht.

„Gemach, gemach, lasst uns erst mal einen Blick darauf werfen“, beruhigte Augustinus. Sokrates reichte ihm sein Handy und Augustinus tippte unbeholfen „Dating Apps“ in die Suchmaschine. Zu zweit über den Bildschirm gebeugt, diskutierten sie eine Weile hin und her. Endlich ließ sich eine App öffnen. „Wir werden einen Account erstellen müssen“, erklärten sie unisono. „Und dafür brauchen wir ein Foto. Gibt es Freiwillige?“

Als sich niemand meldete, griff Sokrates kurzerhand nach seinem Handy und machte in Windeseile einen Schnappschuss von Søren mit der Salatschüssel. Der protestierte erschrocken, ließ fast die Schüssel fallen und bekam rote Flecken im Gesicht und Nacken. „Sorry, Søren, aber du bist einfach sehr fotogen“, entschuldigte sich Sokrates. „Gleich löschen wir das wieder!“

Søren rang nach Luft, aber Sokrates und Augustinus waren schon fertig: „Hier! Sieht doch toll aus! Und jetzt schreiben wir noch: ›Hallo, ich bin Søren und offen für alles. Ich wohne in Kopenhagen, kenne mich aber auch in Berlin gut aus …‹“ „Ah ja, das kommt immer gut!“, nickte Augustinus.

Sokrates schrieb weiter: „… und verweile zurzeit in Königsberg. Lese und schreibe gern … Noch irgendetwas?“

„Lese und schreibe gern?! Schnarch, sofort streichen!“, schrie Simone schrill.

„Vielleicht besser: Nachteule mit Tagträumen?“, grinste Iris.

„Absolut, das steht da jetzt. So, und jetzt swipen wir!“ Sokrates hüpfte aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Das erste Foto erschien und wurde in der ganzen Küche herumgereicht. „Links! Zack!“, „Nein, nach rechts wischen! Das ist doch ein sehr nettes Gesicht. Hat Ähnlichkeit mit Regine!“ „Ich tippe auf leicht hysterisch“, meinte Sigmund. In dem Stimmengewirr stiegen Søren Tränen in die Augen. Er drehte den anderen den Rücken zu und zerriss die großen Salatblätter.

Mit Regine Olsen war Søren Kierkegaard ein Jahr lang verlobt. Die beiden sollen ernsthaft verliebt gewesen sein, aber trotzdem löste Kierkegaard die Verlobung wieder auf – über die genauen Gründe wird weiterhin spekuliert. Regine war damals erst 16 und Kierkegaard 25 Jahre alt, und beide haben schrecklich gelitten. Als sich Regine später mit einem anderen Mann verlobte, reagierte Kierkegaard verletzt. Sie blieb wichtig für sein Denken und Schreiben. Er selbst hat sich nie wieder verlobt.

„It’s a match!“, rief Sokrates schließlich völlig aus dem Häuschen. „Und noch eins! Und – das gibts doch nicht! Du bist so beliebt, Søren!“

„Wollen wir ein bisschen chatten?“, schlug Sigmund vor. „Diese Person hier finde ich interessant, und sie scheint sich mit Philosophie auszukennen. Könnten wir doch eventuell zum Abendessen einladen?“

„Wartet mal, das sollte ja nur ein Experiment sein. Damit wir ein Gefühl für diese Apps kriegen“, mahnte Augustinus. „Also – erste Eindrücke, meine Damen und Herren?“

„Mir fällt auf, dass der ganze Prozess unheimlich schnell ist“, begann Iris, an den Kühlschrank gelehnt. Sigmund schnappte sich das Handy und wischte weiter. „Man urteilt innerhalb weniger Sekunden, ob man links oder rechts wischt, beginnt zu chatten, trifft sich oft noch am selben Tag oder wenigstens so bald wie möglich. Und es würde mich nicht wundern, wenn die meisten beim ersten Treffen in diesem Modus verbleiben: Sie entscheiden ziemlich zügig, ob der Andere den Erwartungen entspricht und wie hoch die Erfolgsaussichten sind, und lassen ihn daraufhin entweder sofort wieder fallen oder eben nicht. Wahrscheinlich ist ein Grund dafür, dass man eine riesige Auswahl an möglichen Kandidaten zur Verfügung hat. Das erzeugt den Eindruck, dass es irgendwo eine perfekte Option gibt, die man auch finden kann, wenn man die App nur ausgiebig genug benutzt – ein Match, bei dem alles stimmt. Warum sollte man sich da lange mit jemandem aufhalten, der nicht gleich perfekt wirkt und den kennenzulernen Arbeit bedeuten würde? Arbeit, die man sich mit besseren Kandidaten ersparen könnte. Na ja, was soll ich sagen. Dieser Siebenmeilenstiefelmodus ist der Versenkung natürlich diametral entgegengesetzt, von der ich eben gesprochen habe und die meines Erachtens wesentlich für die Liebe ist. Zwar ist es nicht unmöglich, dass sich der Zustand der Versenkung trotzdem einstellt, entweder wider alles Erwarten sofort oder eben nach und nach, je öfter man sich trifft. Aber meine Sorge ist, dass die App die Vertiefung in den Anderen allgemein erschwert: Denn wenn man schon einmal in diesem schnellen Modus ist, lässt er sich nicht so leicht abschütteln. Die Liebe folgt einer anderen Zeitrechnung.“

„Ich sage es ja: Es ist, als ob man sich in einem sehr großen Supermarkt befinden würde, in dem man zwischen Tausenden von Produkten das richtige aussuchen muss“, rief Max. Er wollte weiter ausholen, wurde aber von einem Niesanfall unterbrochen: Neben ihm hantierte Immanuel mit einer großen Pfeffermühle.

In ihrem Buch Warum Liebe endet beschreibt die Soziologin Eva Illouz die Begegnung auf Dating Apps als „Vorstellungsgespräch, das möglichst effizient ungeeignete Kandidaten aussortieren soll“. Dabei geht sie auf Studien ein, die Indizien dafür liefern, wie schnell insbesondere visuelle Bewertungen vonstattengehen.

Augustinus übernahm: „Iris, eben hast du uns ja auseinandergesetzt, dass man in dem Zustand der Versenkung objektiv sieht, weil die Schleier des Egos abfallen. Verstärkt die App denn das Wirken des Egos und wickelt die Schleier noch dichter um uns? Nur, weil du ja meinst, dass sie die Versenkung erschwert …“, erkundigte er sich.

„Hm, ich will nicht gleich den Stab über sie brechen“, antwortete sie. „Aber ja, ich denke, diese Gefahr besteht. Nicht nur wegen der Siebenmeilenstiefel. Sondern auch, weil uns die App zu einer gehörigen Portion Nabelschau verleitet. Wenn ihr mich fotografiert hättet, wäre ich nicht so bescheiden wie Søren und würde das Bild unbedingt sofort sehen wollen. Dann würde ich mir Gedanken darüber machen, ob es hübsch genug ist oder ob ich lieber etwas anderes anziehen, besser tiefgründig schauen oder eher sexy lächeln sollte. Dieses Bild soll ja der Lockvogel für andere App-Benutzer sein. Je öfter ich die App benutzen würde, desto öfter würde ich also über mich selbst und mein Image nachdenken. Ich würde versuchen, mich in die anderen Benutzer hineinzuversetzen, aber nicht um ihrer selbst willen, sondern um zu verstehen, wie sie mich sehen und was mich in ihren Augen attraktiv macht. Das ist natürlich exzellenter Stoff für mein Ego mit seinen Unsicherheiten und Ängsten. Wenn ich recht habe, dann gefährdet die App die Liebe eher, als ihr auf die Sprünge zu helfen.“

Augustinus stimmte ihr zu: „Ich fürchte, für mich wäre diese App reines Gift!“, gestand er. „Ich würde vermutlich gar nicht mehr groß an Liebe denken, sondern einen Sport daraus machen, andere zu verführen. Ich war als junger Mann ziemlich gut darin: Sex macht unter anderem deswegen süchtig, weil das anfängliche Werben mit so viel Spannung verbunden ist. Wenn sich der Andere hingibt, hat man gewonnen, fühlt man sich stark und attraktiv und lebendig. Und man bekommt einen kurzen Einblick in ihre oder seine Gefühlswelt, etwas, das einem sonst immer verschlossen bleibt. Eine kurze, unverbindliche Verbindung, wie zwei Sterne, die kurz aneinander vorbeirasen.“

„Warum nennst du das Gift? Hat es nicht auch etwas Gutes, dass die App völlig offenlässt, wie, wann und warum man sich trifft? Man kann die große Liebe suchen, aber man kann sich auch nur zum Sex treffen oder einfach gemeinsam ausgehen und einen Abend um die Häuser ziehen. Irgendwie hat das doch etwas Befreiendes. Es gibt keine oder nur wenig Regeln bei dieser Form von Dating und so lassen sich auch ungute soziale Konventionen aufweichen. Theoretisch könnte es zum Beispiel Frauen dabei helfen, sich aus ihrer sexuellen Unmündigkeit zu befreien …“, überlegte Simone.

Iris machte ein skeptisches Gesicht: „Das halte ich für unwahrscheinlich“, sagte sie und spuckte einen Olivenkern aus. „Frauen werden ja immer noch eher als Sexobjekte betrachtet und nicht als Sexsubjekte, und Mädchen nicht zu sexueller Mündigkeit erzogen. Das habe ich von dir gelernt, Simone, und daran hat sich in letzter Zeit leider gar nicht viel geändert. Und solange sowohl Männer als auch Frauen bewusst oder unbewusst dieses Bild im Kopf haben – die Idee, dass der Wert einer Frau vor allem an ihrer Attraktivität für Männer bemessen wird –, tippe ich darauf, dass die App nichts zur Befreiung von Frauen beitragen wird. Im Gegenteil: Sie wird dazu führen, dass sich insbesondere Frauen penible Sorgen um ihr Image machen und verunsichert sind, wenn sie abgewiesen werden. Und dass sich Männer weiterhin vor allem um das Äußere von Frauen scheren und wie Jäger möglichst viele von ihnen abschießen möchten.“ Ihre Stimme war zum Schluss immer lauter geworden und sie musste über sich selbst lachen: „Puh, was ist nur los mit mir?! Das muss der Wein sein. Ich bin ja eigentlich absolut für das Aufbrechen sozialer Konventionen in diesem Kontext. Für die freie Liebe. Ich glaube nur, dass die Befreiung nicht in diesen Apps liegt.“

Simone dachte nach: „Okay, du hast recht: Sozialer Wandel funktioniert anders. Wenn sich bestimmte Rollenbilder einmal in unseren Köpfen festgesetzt haben, dann wird man sie nicht allein dadurch los, dass man Gesetze und Regeln ändert und freier gestaltet. Das ist natürlich der erste Schritt, aber das Problem sind eben nicht nur die äußeren Zwänge. Die Gleichheit der Geschlechter vor dem Gesetz bedeutet ja auch noch nicht das Ende des Sexismus. Die inneren Vorurteile schüttelt man wahrscheinlich eher im Laufe von intensivem gesellschaftlichem Diskurs, von Aufklärung und Erziehung ab.“

„Eben“, meinte Iris. „In der Queer Community ist die App also möglicherweise weniger problematisch, weil es da sowieso schon andere Vorstellungen von Geschlechterrollen und Sexualität gibt.“ Simone nickte und begab sich wieder an ihre Kartoffeln.

Da schniefte Søren: „Die App ist furchtbar!“ Er rieb sich die Augen. „Seht ihr denn nicht, dass sie das Selbstverhältnis ganz gehörig verzerrt? Man betrachtet nicht nur den eigenen Körper, sondern auch die inneren Einstellungen – die Überzeugungen, Vorlieben, Sehnsüchte – ständig von außerhalb seiner selbst. Die gehören ja zum Image dazu und sollten für andere Benutzer erkenntlich und ebenfalls attraktiv sein. Also schreibt man sich selbst die Einstellungen zu, die man für allgemein ansprechend und modisch hält, und verbirgt und verleugnet, was sich einem eigentlich als wahr darstellt. Denn das deckt sich ja nicht in jedem Fall. Und darüber verliert man nach und nach das Gefühl für die eigenen Einstellungen und die Orientierung an der Wahrheit. Das ist hochgefährlich!“

„Deinem Verführer hätte die App jedenfalls gefallen, Søren“, bemerkte Sigmund, während er allerlei Gebäck für den Nachtisch auf einem großen Teller verteilte. „Aber eigentlich habe ich das Gefühl, dass ihr das Ganze zu ernst nehmt. Dating ist nun mal riskant, ob mit oder ohne App. Das Spiel der Verführung ist verführerisch, natürlich, und das sollte allen klar sein: Sowohl dass man selbst Spaß an der Verführung gewinnen als auch dass man verführt werden könnte. Also ernsthafte Emotionen für jemanden entwickelt oder sich öffnet, wenn der- oder diejenige ihre Emotionen nur vorspielt, um eine Eroberung zu machen.“

„Ach, wir sollten gar nicht so viel Angst davor haben, verführt zu werden.“ Sokrates drehte Runden um den Küchentisch. „Es kann einem ja eigentlich gar nichts Besseres passieren, als dass man sich verliebt, denn auf diese Weise erinnert man sich an die ewigen Ideen in der eigenen Seele. Wenn der Verführer nichts empfindet, ist eigentlich er der Verlierer. Aber wie ich heute Morgen schon erklärt habe, wird er ja beim Anblick seines Opfers selbst in die Knie gezwungen. Denn die Liebe in den Augen des Verführten wird auch bei ihm die Erinnerung wachrufen. Erinnert ihr euch? So gewinnen also letztlich beide. Meine Sorge mit der App ist eher, dass sie kein besonders gutes Mittel für Verführung ist. Man verführt andere nicht mit Fotos, egal wie gut getroffen sie sind. Jedenfalls verführt man sie so nicht zur Liebe. Das kann erst im Gespräch geschehen, und auch nicht in jedem x-beliebigen, sondern in einem philosophischen Gespräch, in dem es um die wichtigsten aller Fragen geht – nur da zeigt sich die Schönheit der Anderen. Wir sind eben Geistwesen und springen daher letztlich nur auf geistige Herausforderungen an, und auf Gesten und Bewegungen, die Ausdruck geistiger Regungen sind. Der Körper ist letztlich nur als Ausdrucksform von Geist interessant für uns. Die reine Hülse wird schnell fad.“

„Die App lässt Gespräche aber doch durchaus zu, ja, lädt geradezu ein dazu?“, erwiderte Sigmund. „Und außerdem springt man oft schon deswegen auf ein Foto an, weil man in dem Gesichtsausdruck der abgebildeten Person eine geistige Regung entdeckt, die einen interessiert oder die einen an irgendetwas erinnert. So, dass man sich ihr verwandt fühlt. Das läuft meist unbewusst ab. Wir sind uns oft nicht sicher, warum wir ein Bild besonders anziehend finden. Bei anderen Begegnungen ist es übrigens ebenso: Auch bei Barbekanntschaften ist uns oft nicht klar, warum wir manche attraktiv finden und andere nicht. Hat natürlich viel mit unseren Müttern und Vätern zu tun …“

„Aber eine Bar ist kein Supermarkt!“ Max haute entschieden auf eine dicke Zwiebel.

„Na ja, im Vergleich zu der App ist eine Bar vielleicht eher wie ein kleiner Laden an der Ecke. Aber auch das ist ein Geschäftsmodell. Soll heißen, auch da geht es beim Dating darum, sich in ein möglichst gutes Licht zu setzen und die anderen Anwesenden einem Check zu unterziehen: Hat die Potenzial oder lohnt sich das nicht? und so weiter. Warum ist die App so grundlegend anders?“ Sigmund blieb trocken.

„Ja, und eigentlich ist die App noch ein bisschen sicherer als eine Bar, weil man überhaupt nur dann kommuniziert, wenn es ein Match gibt und beide Interesse bekundet haben“, pflichtete ihm Simone bei.

„Die Größe macht wohl einen Unterschied“, insistierte Max und putzte sich die Nase. Die Zwiebel hatte es in sich. „Die schier unendliche Auswahl im Supermarkt lässt die einzelnen Produkte unwesentlich erscheinen, einfach ersetzbar und für schnellen Konsum gedacht. Das mag in Ordnung sein, wenn es um Müsli und Shampoo geht. Aber nicht bei Menschen. Die Liebe geht ja mit der Anerkennung der Unersetzbarkeit des Geliebten einher, darüber haben wir schon ausführlich gesprochen. Und das gilt natürlich auch noch, wenn man sich mithilfe der App trifft und verliebt. Aber die App erschwert den Prozess trotzdem: Weil sie den Anderen zunächst einmal als leicht ersetzbar darstellt, könnte es eine Weile dauern, bis man ihn dann endlich als unersetzbar erkennt. Bis dahin hat man das nagende Gefühl, man könnte etwas verpassen – eine noch bessere Option ein paar Swipes weiter. Ich sehe es also wie Iris: Die App behindert den Prozess des Verliebens eher, als ihn zu beflügeln.“

„Vielleicht geht es vielen App-Benutzern gar nicht unbedingt um Liebe.“ Immanuel öffnete den Ofen und platzierte die Auflaufschale auf dem mittleren Blech. „Das würde erklären, warum sie ein Medium wählen, das in vielen Punkten nicht zu Liebe passt. Selbst wenn es ihnen um mehr als nur um Sex geht, dann eher um eine funktionierende Beziehung. Liebe kann Teil einer solchen Beziehung sein, muss aber nicht unbedingt. So eine Beziehung soll vor allem Spaß machen und zu der jeweiligen Peer Group passen, in der man sich bewegt. Vielleicht auch eine Basis für eine bürgerliche Existenz bilden. Und auch von Einsamkeit ablenken. Mit anderen Worten: Diese Art von Beziehung ist wie eine liberale Form der arrangierten Heirat. Hier treffen nicht die Familien die Entscheidung, sondern die Beteiligten selbst, aber sie treffen sie nach ähnlichen Kriterien und Liebe spielt nicht immer eine entscheidende Rolle. Für Romantiker ist das nichts …“, lächelte er.

„Wo sind eigentlich die Romantiker? Hast du sie nicht eingeladen, Immanuel?“, fragte Max.

„Doch, das habe ich! Die Schlegels, Rahel, Bettina, Karoline … Ich weiß auch nicht, wo sie bleiben. Aber sie verspäten sich ja immer ein bisschen.“ Er zuckte ratlos mit den Schultern. Und fügte dann hinzu: „Meine Sorge mit der Dating App ist eigentlich eine ganz andere. Manchen von euch gefällt ihre Regellosigkeit, oder ihr habt wenigstens kein Problem damit. Mir macht sie eher Angst. Der Umstand, dass man die App zu allen möglichen Zwecken benutzen kann, führt bei den Beteiligten zu Unsicherheit: Was genau will die Andere von mir? Will sie nur Sex, oder will sie eine Beziehung, oder ist sie auf der Suche nach Liebe? Und was will ich eigentlich? Solange man das nicht jeweils ganz offen bespricht und entsprechende Vereinbarungen trifft, kann das schnell zu Missbrauch führen. Ich denke gar nicht unbedingt an absichtliche Verführung. Beim Mittagessen habe ich ja schon erwähnt, dass Sex meines Erachtens immer eines ganz bestimmten Vertrags bedarf, um moralisch zulässig zu sein. In dem Vertrag müssen die Partner ihre Absichten offenlegen und beide gleichermaßen als Sexobjekt und Sexsubjekt auftreten. In einer ungeregelten Situation, in der man die Absicht der jeweils anderen nicht kennt, kann man dagegen leicht zum alleinigen Sexobjekt degradiert werden – ein reines Mittel zum Zweck der Befriedigung. Das widerspricht aber unserer Würde als Menschen, wir dürfen einander nie nur als Mittel benutzen!“

2018 wurde in Schweden ein Gesetz verabschiedet, demzufolge alle Beteiligten explizit mit Worten oder Gesten ihre Zustimmung geben müssen, bevor sie legitim Sex haben. Das ist noch nicht ganz deckungsgleich mit Immanuels Vertragsentwurf, geht aber schon in eine ähnliche Richtung.

„Puh, wenn man immer erst einen Vertrag aufsetzen müsste, bevor man ins Bett geht, würde man ja die ganze Spannung killen! Das wäre erst recht unromantisch“, machte sich Sigmund Luft.

„Die Würde des Anderen ist wichtiger als Spannung. Und außerdem ist einander als Mittel zu benutzen auch nicht gerade romantisch“, erwiderte Immanuel erstaunlich hitzig und es wurde kurz still.

„Zeit für ein Zwischenfazit“, meldete sich Augustinus, um das Schweigen zu brechen. „Die App … Meine Güte, wenn ich darüber nachdenke, haben wir fast nur Negatives zu verzeichnen. Der schnelle Modus ist problematisch, die Oberflächlichkeit der Kriterien, dass die anderen Benutzer wie ersetzbare Produkte in einem Supermarkt erscheinen, dass es keine Regeln gibt, die Missbrauch ausschließen, dass sie nicht zu sozialem Wandel beiträgt. War das alles? Habe ich etwas vergessen?“

„Ihr pessimistischen Kritikaster“, beschwerte sich Simone. „Ihr mögt ja in vielem recht haben, aber überlegt doch mal, was für ein Segen so eine App für Einsame ist, die sonst keine Möglichkeit haben, jemanden zu treffen. Zum Beispiel weil sie in ihrem Dorf keine Seelenverwandten finden oder weil sie immer bis spät nachts arbeiten müssen, wenn andere in Bars verkehren, oder weil sie krank und ans Bett gefesselt sind. Oder, oder.“

„Einsamkeit …“, Augustinus schloss die Augen, „… macht rastlos. Friede mit euch.“

Simone öffnete den Ofen und rief: „Fertig? Abendessen?“

Da klingelte es an der Tür.

Nora Kreft

Über Nora Kreft

Biografie

Nora Kreft ist Philosophin und forscht zu den Themenbereichen Liebe und Autonomie. Sie promovierte in Erfurt und Graz und ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Philosophische Anthropologie der Humboldt-Universität in Berlin tätig. Zum Thema „Philosophie der Liebe“ trat sie in den...

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