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Weihnachten in der Villa am Elbstrand (Elbstrand-Saga 4) Weihnachten in der Villa am Elbstrand (Elbstrand-Saga 4) - eBook-Ausgabe

Charlotte Jacobi
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Roman

— Die große Familiensaga aus Hamburg
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Weihnachten in der Villa am Elbstrand (Elbstrand-Saga 4) — Inhalt

Ein Jahrhundertwinter sorgt für Trubel

Hamburg, Dezember 1978: Eigentlich träumen die Matriarchinnen Anna und Sofie davon, die gesamte Großfamilie zu Weihnachten in der Villa am Elbstrand zu versammeln. Doch Sofies Enkelin, Journalistin Isabel, hängt hochschwanger in Argentinien fest. Unterdessen bereitet Annas Enkelin Stella das Firmenjubiläum der nach wie vor familiengeführten Reederei Nieland vor. Dabei stößt sie im Archiv auf ein Geheimnis, das viele Jahre in die Vergangenheit zurückreicht. Und plötzlich befindet sich die Familie in der größten Schneekatastrophe des Jahrhunderts, die alle Pläne durcheinanderwirbelt …

Die Fortsetzung der erfolgreichen Familiensaga „Die Villa am Elbstrand“ von SPIEGEL-Bestsellerautorin Charlotte Jacobi mit einem winterlichen Wiedersehen. 

Folgende Bände der Reihe sind bereits bei Piper erschienen:

  • Band 1: Die Villa am Elbstrand
  • Band 2: Sehnsucht nach der Villa am Elbstrand
  • Band 3: Sturm über der Villa am Elbstrand
€ 13,00 [D], € 13,40 [A]
Erschienen am 12.09.2024
336 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-32001-6
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 12.09.2024
336 Seiten
EAN 978-3-492-60884-8
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Leseprobe zu „Weihnachten in der Villa am Elbstrand (Elbstrand-Saga 4)“

Kapitel 1

„Jo, du kriggst en Franzbröök, aver nu mööt wi eerst noch op uns Gepäck töven.“

Stella Schwarz musste schmunzeln, als die Mutter auf dem Nebensitz das Kind an ihrer Seite mit diesem Satz beruhigte. Plattdeutsch hatte sie lange nicht gehört. Und bei dem Gedanken an ein Franzbrötchen, das bekannte Hamburger Feingebäck, lief auf ihrem Weg durch das Ankunftsterminal auch Stella das Wasser im Mund zusammen. Der Hamburger Flughafen war kleiner und weniger hektisch als der in London Heathrow. Die Architektur wirkte moderner, mit klaren Linien und [...]

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Kapitel 1

„Jo, du kriggst en Franzbröök, aver nu mööt wi eerst noch op uns Gepäck töven.“

Stella Schwarz musste schmunzeln, als die Mutter auf dem Nebensitz das Kind an ihrer Seite mit diesem Satz beruhigte. Plattdeutsch hatte sie lange nicht gehört. Und bei dem Gedanken an ein Franzbrötchen, das bekannte Hamburger Feingebäck, lief auf ihrem Weg durch das Ankunftsterminal auch Stella das Wasser im Mund zusammen. Der Hamburger Flughafen war kleiner und weniger hektisch als der in London Heathrow. Die Architektur wirkte moderner, mit klaren Linien und großen Fenstern, die viel natürliches Licht hereinließen. Stella konnte das geschäftige Treiben auf dem Rollfeld beobachten, während sie durch das Gebäude zum Gepäckband ging. Der Flug hierher war noch vom Schmerz über den Abschied von ihrer Londoner Au-pair-Familie geprägt gewesen, bei der sie für fast anderthalb Jahre ein zweites Zuhause gefunden hatte. Wie sehr sie die beiden Kinder lieb gewonnen hatte! Doch jetzt kribbelte ihr Bauch vor Aufregung, weil sie in wenigen Minuten ihre eigene Familie wiedersehen würde, ihren fünfjährigen Neffen Stuart – und ihren geliebten Hund Petzi. Stella fragte sich, ob in der Villa am Elbstrand noch alles beim Alten war. Wenn etwas Schlimmes geschehen wäre, hätte sie dies gewiss erfahren. Sie war etwas nervös, da im März der Mann ihrer Großmutter stark alkoholisiert in die Alster gefallen und ertrunken war. Da er sich ein anonymes Begräbnis gewünscht hatte, war Stella damals nicht nach Hamburg gereist. Ihr war jedoch klar geworden, dass jederzeit etwas Schlimmes passieren konnte. Laut dem letzten Brief ihrer Mutter Leni waren aber alle wohlauf, und dies war besonders erfreulich, da die Familien- und Firmenoberhäupter Oma Anna, Willy Heger und Patentante Sofie inzwischen alle jenseits der achtzig waren.

Sie selbst, dachte Stella, hatte sich vielleicht am meisten verändert. Als sie im Februar 1977, kurz nach dem ABBA-Konzert im Hamburger Congress Centrum und dem sechzigsten Geburtstag ihrer Mutter, nach London geflogen war, hatte sie sich noch sehr unsicher und bisweilen verängstigt gefühlt.

Am heutigen Dienstag, dem 30. Mai 1978, kehrte sie als „auslandserprobte“ Zweiundzwanzigjährige zurück, das hieß: Sie sprach fließend Englisch, war selbstbewusster und wesentlich modeorientierter gekleidet als vor ihrer Abreise. Oma Anna, die eine Boutique in der Hamburger Innenstadt besaß, würde sich gewiss darüber freuen.

Stella wartete am Laufband, bis ihr roter Lederkoffer zu sehen war, schnappte ihn sich, zeigte am Ausgang ihren Pass vor und trat hinaus in den Ankunftsbereich. Zu ihrer Freude wartete dort nicht nur ihre Mutter Leni, sondern auch die vierunddreißigjährige Isabel Jensen, Tante Sofies Enkeltochter, die mit ihrer braunen Lockenmähne ein wenig an die ABBA-Sängerin Anni-Frid Lyngstad erinnerte.

Während der herzlichen Umarmungen flüsterte Stellas Mutter Leni ihr ins Ohr: „Gut, dass du zurück bist, Kleines.“ Es klang seltsam ernst. Wie müde ihre Augen aussahen …

Und wieso war Isabel während der Woche in Hamburg? Sie lebte doch inzwischen mit ihrem Mann Alexander an der Ostseeküste, wo beide beim Flensburger Tageblatt arbeiteten.

„Hast du in der Redaktion freibekommen und besuchst uns Hamburger?“, fragte Stella etwas beunruhigt.

Zu ihrer Erleichterung erklärte die Journalistin: „Nein, ich fliege heute über London nach Argentinien, mein Gepäck hab ich schon aufgegeben. Ich darf vor Ort von der Fußball- WM berichten, mein Alex ist ganz schön neidisch. Ich bin eben zweisprachig aufgewachsen, und mein Spanisch hilft mir da drüben bestimmt sehr.“

„Oh, das wird sicher aufregend“, meinte Stella.

„Na, schauen wir mal, wie sich unsere deutschen Jungs auf dem Spielfeld machen“, schränkte Isabel schmunzelnd ein. „Mit Udo Jürgens und viel Studiotechnik einen Schlager singen ist nicht schwer, gegen die besten Fußballer der Welt zu gewinnen schon eher.“

Stella wusste, dass Isabel auf das Lied Buenos dias, Argentina anspielte, welches der Schlagersänger Udo Jürgens anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft im Auftrag des DFB mit Spielern der deutschen Nationalmannschaft eingesungen und als Single veröffentlicht hatte. Sie hatte es öfter gehört, wenn sie aus Heimweh in London deutsche Radiosender eingeschaltet hatte. Sie fand den Ohrwurm kitschig, sein Text enthielt nur belanglose Klischees über Argentinien, das „schöne Land“. In Wirklichkeit herrschte dort allerdings eine mörderische Diktatur, und deren Image wurde durch das Sportereignis schon genug aufpoliert. Mit einem Putsch hatte das argentinische Militär am 24. März 1976 die Macht an sich gerissen und unter General Jorge Rafael Videla ein widerwärtiges Regime errichtet: Tausende Menschen waren spurlos verschwunden. Vor gut einem Jahr war eine deutsche Studentin als angebliche Terroristin gefoltert und ermordet worden.

„Hast du Angst wegen der politischen Situation da drüben?“, fragte Stella.

Isabels verzögerte Antwort ließ erahnen, dass diese in der Tat beunruhigt war. Doch sie versuchte, zuversichtlich zu wirken, und sagte: „Ich denke, während der WM werden die uns Journalisten in Ruhe lassen.“

„Wie bei Hitlers Olympiade damals“, entgegnete Leni abfällig. „Und nach der Veranstaltung wird bestimmt alles noch schlimmer für die Bevölkerung.“

Stella wusste, dass ihre Mutter allen Grund zur Bitterkeit hatte. Sie war vor vierzig Jahren gezwungen gewesen, mit ihrem Vater Gideon auf einem Schiff um die halbe Welt vor den Nazis zu fliehen. Während Leni schließlich mit ihrem Mann Moshe nach London entkommen war, hatten die Deutschen in Belgien ihren Vater erschossen – zusammen mit der jüdischen Lehrerin Stella Heymann und deren Familie. Nach jener Stella hatte Leni ihre Tochter benannt.

„Ich freue mich, dass ich meine Großmutter Edith treffen kann“, erklärte Isabel. „Sie und Ramiro leben ja wieder in seinem Geburtsort in Chile. Ab dem zweiten WM-Match spielt die deutsche Mannschaft im argentinischen Córdoba. Edith und ich haben ausgemacht, dass wir uns dort treffen, weil es genau in der Mitte des Kontinents liegt.“

Stella mochte Isabels Großmutter Edith. Die alte Dame und deren Mann hatten von 1964 bis 1969 im Nachbarhaus der Elbstrandvilla gelebt. „Grüß sie schön von mir.“

„Das mache ich gern, jetzt muss ich aber zum Abfluggate“, sagte Isabel mit Blick auf ihre Armbanduhr. „Schön, dass ich dich noch getroffen habe! Wir sehen uns dann Ende Juni.“ Sie drückte Stella erneut an sich.

„Ich freu mich schon. Pass auf dich auf!“, erwiderte sie und sah der eleganten Frau kurz nach. Dann wandte sie sich an Leni. „Du wirkst so ernst, Mutti. Machst du dir Sorgen um Isabel?“

Leni schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Lass uns im Auto sprechen.“

 

„Dein Vater und ich werden uns scheiden lassen.“

Der Satz hallte im Kopf der schockierten Stella wider, nachdem ihre Mutter Leni ihn auf der Autofahrt vom Flughafen in Fuhlsbüttel zur Elbstrandvilla in Othmarschen ausgesprochen hatte.

„Was?“, brachte Stella mit belegter Stimme hervor. „Warum das denn?“

„Er hat sich in jemand anders verliebt.“

„Wer … in wen denn?“

„Eine seiner Klientinnen, er hat sie bei ihrer Scheidung vertreten. Karin Larsen, die Tochter der Apothekerin von Finkenwerder.“

Stella konnte es nicht fassen. Bei ihrem Besuch an Weihnachten hatte alles noch harmonisch gewirkt. „Aber Vati hat doch erst neulich gesagt, ihr habt in vierzig Jahren so viel zusammen durchgestanden, dass man das nicht so einfach wegwirft.“

Leni seufzte. „Dein Vater hat Angst, plötzlich über sechzig zu sein. Und Karin ist zwanzig Jahre jünger, vielleicht fühlt es sich für ihn an, als könnte er so das Rad der Zeit zurückdrehen.“

„Aber was tut er dir damit an?“, empörte sich Stella. „Du hast immer wieder deine Karriere zurückgestellt, damit du Timon und mich großziehen konntest. Und jetzt hättet ihr endlich Zeit füreinander – da lässt er dich sitzen?“

„Ich kann es nicht ändern“, meinte Leni resigniert. „Ich habe schon länger gespürt, dass er möglichst wenig zu Hause ist und Ausreden sucht, damit er nichts mit mir unternehmen muss. Und natürlich bin ich dann irgendwann auch wütend und unausstehlich geworden.“

„An Weihnachten hat es gar nicht so gewirkt“, sprach Stella ihre Gedanken aus.

„Wir haben uns zusammengerissen, damit du dir keine Sorgen machst, wenn du zurück in England bist“, gab ihre Mutter zu. „Aber am 1. März ist Moshe dann zu seiner Karin gezogen. Es lief wohl schon länger, ein Jahr oder so. Sie haben versucht, es zu beenden, es dann jedoch nicht lange ohne einander ausgehalten.“

„Wo wohnt sie?“

„Über ihrer Tierarztpraxis in Finkenwerder. Sie lebt da mit ihrem neunzehnjährigen Sohn aus erster Ehe.“

Dass auch aufseiten der Geliebten ein Sohn betroffen war, ließ Stella ein wenig Mitleid für diesen empfinden. Anderseits machte es sie eifersüchtig, dass ihr Vater mit der neuen Partnerin gleich auch eine neue Familie bekommen hatte.

Schließlich lenkte Leni ihren himmelblauen VW Käfer durch das Tor an der Elbchaussee über den blumengesäumten Kiesweg auf die Nordseite der Villa Nieland. Diese war von Gründerzeit- und Jugendstilelementen geprägt. Vor dem Gebäude plätscherte der Brunnen mit dem Steinmodell des ersten Segelschiffs der Reederei Nieland: die Ohle Deern. Fünfundsiebzig Jahre war deren Stapellauf nächstes Jahr her, dann würde die Firma ihr Jubiläum feiern. Stella dachte daran, dass der Familienwohnsitz auf der Südseite zur Elbe hin ganz anders aussah. Die dortigen neoklassizistischen weißen Säulen in Kombination mit dem Türmchen auf dem roten Dach sorgten dafür, dass die Villa im Volksmund „Elbschlösschen“ genannt wurde. Zu Hause, dachte Stella.

Als Leni und ihre Tochter mit deren Koffern die zweistöckige Empfangshalle betraten, kamen ihnen freudig Stellas immer noch modische einundachtzigjährige Oma Anna und deren ein Jahr ältere beste Freundin, die graublonde, pensionierte Zahnärztin Sofie, entgegen. Anna war es irgendwann müde gewesen, ihr mittlerweile weißes Haar zu färben, daher trug sie recht voluminöse braune Perücken. Ihre individuelle und außergewöhnliche Kleidung sowie die auffälligen Accessoires machten sie zu einer Stilikone. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters – wo Anna Nieland entlangstolzierte, wurde die Welt zum Laufsteg!

Die beiden alten Damen umarmten Stella herzlich. „Du musst uns nachher beim Abendessen alles über London erzählen“, meinte Anna voller Vorfreude.

„Das mache ich gern“, versprach Stella lächelnd. So sehr sie sich freute, ihre Großmutter und Patentante Sofie wiederzusehen, am meisten hatte sie ihren älteren Bruder vermisst, der seit zehn Jahren der Geschäftsführer der Reederei Nieland war. „Ist Timon da?“

„Er ist mit Beryl und dem kleinen Stu bei eurer Strandhütte unten“, erklärte Sofie.

Nun freute Stella sich noch mehr auf ihren Bruder und dessen Frau. Deren süßen fünfjährigen Sohn vergötterte sie nämlich. Sie ließ ihr Gepäck vorerst in der Halle stehen, öffnete eine der hohen Terrassentüren im Salon und machte sich auf den Weg zu den Treppen zum Elbufer hinunter.

In der Strandhütte hatte Stella in ihrer Kindheit häufig gespielt, die Innenwände waren immer noch mit inzwischen vergilbten Comicstrips aus dem Hamburger Abendblatt vollgehängt. Sie handelten vom Seefahrer-Bärchen Petzi, nach dem Stellas Mischlingshund benannt war. Mittlerweile gab es in dem Häuschen Strom, eine Toilette und einen kleinen Kohleofen.

Vor der Hütte erblickte Stella in einem Liegestuhl ihren sechsunddreißigjährigen Bruder Timon, der die früher kurzen braunen Haare inzwischen so wellig trug wie der US-Schauspieler John Travolta. Er hatte ein Feierabendbier in der Hand. Neben ihm saß seine zwei Jahre jüngere Frau, die talentierte Buchillustratorin Beryl, einen Skizzenblock auf dem Schoß. Sie hatte sich in dem Holzhäuschen ein kleines Atelier eingerichtet. Ihre stark gekrausten, nach allen Seiten abstehenden Locken glänzten in der Sonne. Stella wusste, dass diese Frisur ihre Ursprünge unter anderem in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung hatte. Dunkelhäutige Menschen wollten ihr Haupthaar nicht länger dem Geschmack der weißen Mehrheitsbevölkerung anpassen müssen. Früher hatten sie eher versucht, ihr Haar zu glätten. Doch seit Ende der Sechzigerjahre hatte sich dies durch das offensive und stolze Zur-Schau-Tragen der natürlichen Haarpracht geändert.

Prominente wie die Bürgerrechtlerin Angela Davis und die Sängerin Diana Ross trugen den sogenannten Afrolook mit Stolz und setzten ein Zeichen für die Schönheit der natürlichen Haare. In den Londoner Straßen hatte Stella auch Männer mit dieser Frisur gesehen.

Und in Deutschland trugen beispielsweise Bobby Farrell, der Tänzer der erfolgreichen Discogruppe Boney M., und der Fußballspieler Paul Breitner ihre Haare im Afrostil.

Als Timon und Beryl Stella bemerkten, sprangen sie begeistert von ihren Liegestühlen auf, um sie in die Arme zu schließen. Auch ihr Mischlingshund Petzi hatte sie bemerkt und hüpfte winselnd an ihr hoch.

Zu ihrer großen Freude wurde sie auch von ihrem Neffen Stu erkannt, einem süßen Wirbelwind mit strubbeligen Haaren. „Hallo, Tante Stella.“

„Moin, Stu, du erinnerst dich ja noch an mich, wie schön.“

Der Kleine nickte eifrig. „Du bist an Weihnachten aus London gekommen, das weiß ich noch. Und ich hab ein schönes Geschenk gekriegt von dir.“

„Nächstes Weihnachten bin ich auch da, dann bekommst du wieder was.“

„Super“, fand Stu und fügte mit einem frechen Grinsen hinzu: „Vielleicht krieg ich ja schon früher eins. Im Oktober hab ich nämlich Geburtstag, da werde ich sechs.“

Stella erwiderte sein Lächeln. „Ich denke, das lässt sich arrangieren.“

Der Junge warf einen Ball für Petzi, der am Strand entlangtollte und fröhlich bellte.

Stella setzte sich neben Timon und Beryl in den Sand.

„Wie war London?“, erkundigte sich ihre Schwägerin und einstige Babysitterin.

„Sehr schön. Oma Anna will, dass ich nachher beim Abendessen euch allen ganz genau Bericht erstatte“, erzählte Stella. „Weniger schön war es, hier gleich nach der Ankunft zu erfahren, dass unser Vater seine Ehe zerstört hat – wegen einer anderen Frau.“

Timon zog die Augenbrauen hoch. „Das ist jetzt schon ein wenig verkürzt zusammengefasst, oder?“

„Mir tut Mama so leid“, betonte Stella. „Wehe, wenn ich Papa zwischen die Finger kriege!“

Beryl legte ihre Hand auf den Arm ihrer Schwägerin. „Gefühle kann man nicht erzwingen oder verhindern. Und immerhin war er am Ende ehrlich zu Leni. Viele Männer betrügen ihre Frauen ja jahrelang.“

Timon gab einen zustimmenden Laut von sich. „Moshe ist nicht perfekt, aber er ist immer noch unser Vater.“

Stella starrte auf die Elbe hinaus. Die beiden mochten ja recht haben, doch zumindest im Augenblick war ihr dieser Standpunkt zu erwachsen. Sie wollte sich ganz kindisch über ihren untreuen Vater empören. Und es gab einen Menschen, mit dem sie genau darüber ein Gespräch führen konnte: ihre beste Freundin Bine.

***

Anna Nieland saß mit ihrer alten Freundin Sofie auf der Terrasse der Villa, die einen schönen Ausblick auf die malerische Elbe bot. Die sanften Wellen des Flusses und das satte Grün der Bäume bildeten eine idyllische Kulisse, die Abendsonne warf ein warmes Licht auf die verwitterten Holzdielen, während die Blätter der alten Bäume im Wind raschelten. Anna faltete ihre Hände im Schoß und atmete tief durch.

„Sofie“, begann sie leise, „ich muss dir etwas gestehen.“ Ihre Augen suchten die ihrer alten Freundin, die sie seit über fünfundsechzig Jahren kannte. „Es geht um Franz.“

Annas zweiter Ehemann, Franz Thomsen, war ein Jugendfreund Sofies gewesen. Er hatte einst in ihrem Heimatort, Glücksburg an der Ostsee, im dortigen Strandhotel als Page gearbeitet. Wegen seines guten Aussehens war er sehr beliebt bei den Mädchen gewesen. Im Zweiten Weltkrieg hatte Anna ihn dann ebenfalls kennengelernt. Damals hatten beide ihren Ehepartner verloren und ein erfolgreiches Modegeschäft geführt – zunächst waren sie also Konkurrenten gewesen, hatten sich dann aber ineinander verliebt. Von Anna war ihre Tochter Leni in die Ehe mitgebracht worden, von Franz sein Sohn Kasimir. Dreißig glückliche Ehejahre waren den beiden beschieden gewesen. Dann hatte Franz sich aber immer mehr verändert. Er blieb häufiger über Nacht weg, räumte mehrfach ohne Rücksprache Annas Konten, versetzte ihren Schmuck. Zu Hause in der Villa hatte er öfter betrunken herumproletet. Kurz vor Weihnachten war seine Leiche in der Elbe gefunden worden, der Obduktion zufolge musste er stark alkoholisiert in den Fluss gefallen sein.

„Er hat mir einen unglaublichen Schuldenberg hinterlassen.“

Sofie zog die Augenbrauen hoch. „Seine Spielsucht?“

Anna nickte seufzend. „Er hat es geschafft, seine Schulden so zu verstricken, dass sie erst Stück für Stück ans Tageslicht gekommen sind. Und jetzt ist es zu spät für mich, das Erbe abzulehnen. Ich muss für all diese Unsummen geradestehen.“

Bestürzt nahm Sofie die Hand ihrer alten Freundin.

„Die Villa, sie ist unser Zuhause, aber die laufenden Kosten für den Erhalt sind enorm“, fuhr Anna fort. „Und die anstehenden Sanierungen – ich weiß nicht, wie ich das alles stemmen soll. Ich werde mein Modegeschäft verkaufen müssen. Eigentlich wollte ich es ja deiner Hilde vermachen, aber es ist die einzige Möglichkeit, die Villa zu retten.“

„Sie wird es verstehen. Die beiden können gut von Josés Professorenpension leben“, sagte Sofie. Sie versuchte, zuversichtlich zu klingen, sah aber beklommen auf die Elbe hinab. Was, wenn das Geld trotzdem nicht reichen würde?

Die Villa am Elbstrand zu verlieren, würde die Familien Nieland und Timmlein wohl völlig auseinanderreißen.



Kapitel 2

Stellas beste Freundin Bine lebte in Finkenwerder auf der anderen Seite der Elbe über einem Autohaus, das inzwischen ihrem Stiefvater Sharif Dabbagh gehörte. Auf dem Hof der angeschlossenen Werkstatt traf sie auf den sechzehnjährigen Vince, der hier seine Lehre zum Automechaniker absolvierte. Als er sie erkannte, war ihm seine Freude über ihren Anblick deutlich anzumerken.

„Hey, Stella, du bist wieder da“, stellte er mit einem etwas verlegenen Grinsen fest. „London war bestimmt cool, oder?“

„Das war es“, stimmte sie zu. „Aber es ist auch schön, wieder zu Hause am Elbstrand zu sein. Wie geht es dir denn so?“

Vincent Hinnerk Lüttgens, ein Enkel Sofie Timmleins, war von dessen Mutter Elfie nach Anna Nielands im Zweiten Weltkrieg verstorbenem Bruder Hinnerk benannt worden – und nach dem Sturm Vincinette, der Hamburg vor sechzehn Jahren die schlimme Flut gebracht hatte, während der er geboren wurde.

„Es gibt ganz schön viel zu tun“, beantwortete er Stellas Frage. „Albin ist mit seinem Willy den Sommer über in Norwegen, Sharif leitet das Autohaus allein, und ich kümmere mich um die Werkstatt.“

„Na, da muss der Albin ja echt viel Vertrauen in dich haben“, sagte Stella, und sie merkte, mit wie viel Stolz Vince dieses Lob erfüllte. Er war von Kindesbeinen an begeistert von Albin Wessels gewesen, dem Partner seines Großonkels Willy. Von ihm hatte er alles über Automobile gelernt. Inzwischen kannte er sich besser aus als Albin selbst. Stella war nicht verborgen geblieben, dass Vince ein wenig für sie schwärmte. Doch obwohl er mittlerweile ein durchaus hübscher junger Mann geworden war, so war er doch über drei Jahre jünger als sie, und sie sah in ihm weiterhin den pickligen Jungen im Stimmbruch, der er kurz vor ihrer Abreise nach London noch gewesen war.

„Und was hast du heute noch vor?“, fragte sie.

„Ich geh ins Kino“, antwortete er.

„Was gibt es denn?“

„Krieg der Sterne.“

„Hast du den nicht schon gesehen?“, wunderte sie sich.

Aus einem Brief von ihrer Freundin Bine wusste sie, dass Vince den Weltraumpiloten Han Solo verehrte und ein Poster von ihm in der Werkstatt aufgehängt hatte.

„Doch, klar, aber ich finde, bei dem Film gibt es immer wieder was Neues zu entdecken“, meinte er. „Möchtest du vielleicht mitkommen?“

Stella schüttelte den Kopf. „Nein danke, ich habe ihn in London auf Englisch gesehen, das reicht mir. Außerdem wollte ich nach der langen Pause endlich mal wieder mit Bine quatschen. Weißt du, ob sie zu Hause ist?“

Er nickte. „Sie hat sich vorhin mit einem Buch in den Garten verzogen.“

„Danke, viel Spaß im Kino, Vince“, verabschiedete sich Stella und ging zwischen Werkstatt und Autohaus zu dem dahinter befindlichen Gärtchen.

Dort saß ihre sechzehnjährige Freundin Bine in einem Liegestuhl in der Abendsonne und blätterte in einem Buch über Seeverkehrswirtschaft. Ihr kastanienbraunes Haar schimmerte leicht rötlich in der Abendsonne.

Als sie Stella erblickte, stieß sie einen begeisterten Kiekser aus, sprang auf, rannte auf sie zu und fiel ihr um den Hals.

„Endlich, endlich“, sagte sie mit feuchten Augen. „Es tut mir so leid, die Sache mit deinen Eltern“, kam die beste Freundin instinktiv auf das zu sprechen, was Stella am meisten umtrieb.

„Du weißt es schon?“, wunderte die sich.

„Na, dein Bruder ist doch mein Chef in der Reederei. Er hat es mir erzählt“, erklärte Bine, die bei Nieland Shipping eine Ausbildung zum Reedereikaufmann absolvierte. Dann fügte sie mitleidsvoll hinzu: „Es tut bestimmt weh, dass deine Eltern nicht mehr zusammen sind.“

Genau das hatte Stella hören wollen. Obwohl Bine im Juli erst siebzehn werden würde, fand sie die Freundin klüger und einfühlsamer als die meisten Erwachsenen. „Ja, natürlich kann man Liebe nicht erzwingen, aber mir tut Mama so leid.“

„Zum Glück ist es erst jetzt passiert“, meinte Bine und klappte einen zweiten Liegestuhl für die Freundin auf. „Für Kinder ist es wirklich blöd, wenn sie nichts über ihren leiblichen Vater wissen.“

Stella war klar, dass ihre Freundin auf sich selbst anspielte. Deren leiblicher Vater Gunnar Wahn hatte ihre Mutter, die heutige Zahnärztin Marlies, kurz vor ihrer Geburt sitzen lassen und war wieder zur See gefahren. Mit Marlies’ heutigem Ehemann Sharif Dabbagh, der sie und Säugling Bine während der großen Sturmflut gerettet hatte, war laut Bines Aussage zwar „der beste Stiefvater der Welt“ in ihr Leben getreten. Das Gefühl der Ablehnung durch ihren Erzeuger schien dennoch an ihr zu nagen.

„Ja, du hast natürlich recht“, räumte Stella ein. „Eine Mutter mit Kind sitzen zu lassen, ist wirklich noch gemeiner.“

„Ich wollte ihn ja immer fragen, warum er das getan hat“, verriet Bine. „Und jetzt habe ich plötzlich eine Spur von ihm.“

„Was?“, staunte Stella. „Davon hast du ja noch gar nichts geschrieben.“

„Es kam auch erst vor zwei Wochen raus“, berichtete ihre Freundin. „Einer in meiner Klasse in der Berufsschule macht seine Ausbildung bei Hapag-Lloyd. Er hat erzählt, dass er dort mit einem Matrosen namens Gunnar Wahn zu tun hat.“

Stella runzelte die Stirn. „Das ist ja wirklich ein seltener Name. Du denkst also, es könnte dein Vater sein?“

Bine nickte. „Ja. Er ist zurzeit mit einem Containerschiff unterwegs. Im September kommt er wohl zurück nach Hamburg. Und dann will ich ihn treffen. Er soll mir endlich ins Gesicht sagen, warum er keinerlei Interesse an mir hatte.“

Stella spürte die Verletzung ihrer Freundin. „Bine, sei vorsichtig! Nicht, dass er dir noch mal wehtut.“

Bine lächelte ein wenig verlegen. „Deshalb möchte ich, dass du dabei bist. Zur Sicherheit. Du kennst mich am besten.“

***

Die junge Mutter in der Sitzreihe vor ihr hielt ihr zufrieden glucksendes Baby empor, und Isabel wurde ein wenig wehmütig. Seit der Hochzeit mit ihrem Alex vor vierzehn Jahren hatte sie selbst vergeblich versucht, schwanger zu werden. Unzählige medizinische Untersuchungen hatte sie über sich ergehen lassen, um mögliche Fruchtbarkeitsprobleme zu identifizieren, ihren Menstruationszyklus überwacht, um den optimalen Zeitpunkt für den Geschlechtsverkehr zu bestimmen. Sogar assistierte Reproduktionstechniken hatten Alex und sie in ihrer Verzweiflung in Betracht gezogen. Gemeinsam hatten sie auf ihre Ernährung geachtet, Bewegung und die allgemeine Gesundheit, auf Rauchen und Alkohol und Stress verzichtet – vergeblich.

Der Humorist Loriot hatte in einem neuen Fernsehsketch betont, dass der Mensch das einzige Lebewesen sei, das, in zehntausend Metern Höhe dahinrasend, einen Lunch zu sich nehmen könne. Eigentlich sollte man auf Flügen Sardinenbüchsen servieren, dachte Isabel. Das wäre schön symbolisch für die Situation der eingepferchten Fluggäste. Sie sah, wie sich der freundlich lächelnde, bärtige Mittfünfziger neben ihr beim Essen abmühte, nicht zu sehr in ihren Raum einzudringen.

„Nehmen Sie auf mich keine Rücksicht!“, bot sie an. „Es ist doch sowieso zu eng, und Sie sind ja größer als ich.“

„Sehr freundlich“, sagte er. „Ich fühle mich wie in diesem Loriot-Sketch.“

„Ach, den haben Sie auch gesehen?“, staunte Isabel. „Der kam mir auch grad in den Sinn.“

„Ich muss die Nase meiner Ollen an jeder Grenze neu verzollen“, zitierte der Sitznachbar, und sie konnte nicht anders als aufzulachen.

Er reichte ihr über das Essen hinweg die Rechte. „Ich darf mich vorstellen? Zalman Shogol, Journalist aus Tel Aviv. Meine Freunde nennen mich Zali.“

„Ach, so ein Zufall.“ Sie ergriff kurz die Hand. „Isabel Jensen. Ich bin für das Flensburger Tageblatt auf dem Weg zur WM.“

„Dann haben wir das gleiche Ziel“, stellte Zali fest. „Ich steige auch in London um. Ich hoffe, ich komme einigermaßen durch in Argentinien, mein Spanisch ist miserabel.“

„Ich bin zweisprachig aufgewachsen. Mein Vater stammt aus Chile“, erklärte Isabel. „Vielleicht kann ich Sie ein bisschen unterstützen.“

„Das wäre ganz zauberhaft von Ihnen, liebe Isabel“, meinte Zali.

„Ich glaube ja, dass ich bloß wegen der Sprache hindarf“, meinte sie. „Normalerweise macht beim Tageblatt jemand anders den Sport.“

„Ich war früher beim Feuilleton“, erzählte der Israeli. „Ausgerechnet bei der Olympiade in München hab ich vor sechs Jahren beim Sport Ressort angefangen.“

„Oh, das war bestimmt schlimm“, sagte Isabel zögerlich.

Zali nickte. „Ich bin am 5. September zum Frühstück gekommen und habe mich gewundert, warum die Stimmung unter den Pressekollegen so komisch war. Kaum einer hat geredet.“

Isabel hatte es damals fassungslos direkt aus dem Fernschreiber erfahren: An jenem Morgen hatte ein Anschlag der palästinensischen Terrororganisation „Schwarzer September“ auf die israelische Mannschaft stattgefunden. Am frühen Morgen war deren Wohnquartier im olympischen Dorf überfallen worden; die Verbrecher hatten zwei Sportler ermordet und neun weitere als Geiseln genommen.

„Dann habe ich natürlich erfahren, was meinen Landsleuten passiert ist“, sagte Zali leise.

„Die deutschen Behörden waren so schlecht vorbereitet“, wusste Isabel aus ihrer Recherche.

Nach ergebnislosen Verhandlungen mit den Terroristen waren in der Nacht zum 6. September bei einem misslungenen Befreiungsversuch auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruck zwar fünf der acht Geiselnehmer getötet worden, aber auch alle neun israelischen Geiseln sowie ein Polizist.

„Letztlich kann man auf Terror immer nur bedingt vorbereitet sein“, meinte Zali. „Das hat man ja letztes Jahr bemerkt, als die RAF in Ihrem Land gewütet hat.“

„Ja, das stimmt wohl“, räumte Isabel ein. „Wieso sprechen Sie eigentlich so perfekt Deutsch?“

„Ich bin in Bremen geboren und aufgewachsen. 1939, als ich sechzehn war, bin ich mit meiner Mutter nach Brighton in England geflohen. Nach Tel Aviv sind wir erst zehn Jahre später gezogen. Und das Land, in das wir jetzt fliegen, hat nach dem Krieg einige Nazis aufgenommen.“

Isabel stimmte zu. „Wie bei Hitler seinerzeit geht heute in Argentinien der Terror gegen die Bevölkerung vom Staat aus.“

„Es ist schon befremdlich, dass die FIFA so auf Kuschelkurs mit dem Diktator gegangen ist“, meinte Zali. „Die haben sogar ihre Sympathie für Diktator Videla und sein Regime bekundet. Für die WM sei es doch sicherer, wenn Ordnung und Ruhe herrschten im Land.“

„Von einem Weltfußballverband hätte ich mehr Fingerspitzengefühl erwartet“, erboste sich Isabel. „Ich wollte die Zeit in Argentinien auch nutzen, um nebenbei vielleicht einen kritischen Artikel über das Regime zu schreiben“, vertraute sie ihm an.

„Das ist nicht ungefährlich. Dann werde ich gut auf Sie aufpassen“, kündigte Zali an. „Sie haben ja von Elisabeth Käsemann gehört?“

„Natürlich. Ich hab mich letztes Jahr sehr genau mit dem Fall beschäftigt.“

Die deutsche Studentin Elisabeth Käsemann hatte sich aktiv für eine soziale Revolution in Argentinien eingesetzt und war im März vorigen Jahres verhaftet und schließlich ermordet worden.

„Deshalb werde ich selbstverständlich vorsichtig sein“, versuchte Isabel, ihren Kollegen zu beruhigen.

***

Stella hatte trotz ihrer geänderten familiären Situation wunderbar in ihrem alten Jugendzimmer geschlafen. Der Sommerwind bauschte die mit Blumenmustern verzierten Vorhänge auf. Die Sonne schien auf die Poster, die eine Momentaufnahme ihres Geschmacks zu Beginn des vorigen Jahres darstellte: ABBA, die Bay City Rollers und ein Palmenstrand im Sonnenlicht. Sie drehte ihr Kofferradio auf, und Lost in France von Bonnie Tyler erklang.

Sie wollte Bine heute in der Mittagspause in der Reederei besuchen und ihr Pfannkuchen vorbeibringen. Dafür würde sie Köchin Frau Seehase bitten, sie in deren „Reich“ selbst zubereiten zu dürfen.

Als sie frisch geduscht und geföhnt die Treppe zur großen Halle herunterkam, wäre sie fast in ihren Vater gerannt. Da stand er vor ihr – Manfred Schwarz, genannt Moshe. Er hatte mehr Lachfalten bekommen, aber das machte ihn umso interessanter, er war weiterhin ihr beeindruckender, sportlich wirkender Vater. Er sah wesentlich jünger aus als einundsechzig und hatte es nicht im Geringsten nötig, sich eine neue Frau zu nehmen, um sich jugendlicher zu fühlen. Er wirkte ein wenig peinlich berührt, nahm sie jedoch wie gewohnt in den Arm. Stella selbst blieb jedoch steif. Dabei roch er noch immer nach seinem vertrautem Rasierwasser – das in der weißen Flasche mit dem Segelschiff darauf. Der Duft hatte ihr stets Geborgenheit und Sicherheit suggeriert – früher!

„Stella, wie schön“, sagte er etwas hilflos, als er sie aus seiner linkischen Umarmung entlassen hatte. „Wie geht es dir?“

Diese Frage ließ den angestauten Ärger hervorbrechen.

„Ich bin noch ein bisschen schockiert“, knurrte sie.

„Das tut mir leid, Kleines, aber ich wollte deine Mutter nicht anlügen“, rechtfertigte er sich.

„Stattdessen habt ihr mir an Weihnachten ein bisschen was vorgespielt“, konnte sie nicht umhin, ihn zu erinnern.

„Nein, es ging uns nicht darum, dir eine Wahrheit zu verschweigen. Wir wussten damals bloß selbst noch nicht, was unsere Wahrheit sein wird, wie alles weitergeht. Mit der Unsicherheit wollten wir dich nicht zurück nach London fliegen lassen.“

„Und was führt dich heute hierher?“, stieß sie mit belegter Stimme hervor. „Hast du Mama die Scheidungspapiere zum Unterschreiben vorbeigebracht?“

Er schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, Anna Nieland braucht mich. Sie muss einige Verkäufe tätigen, und als ihr Anwalt kümmere ich mich um das Vertragliche. Außerdem wollte ich dich wiedersehen. Ich bin doch auch nach der Trennung von Leni noch dein Vater, Schatz. Und das wird sich auch nie ändern, das verspreche ich.“

Er sah sie fast verzweifelt an, und sie wusste, wie gemein es war, dass ihr jetzt der zynische Satz entfuhr: „Bis dass der Tod uns scheidet sozusagen? Bei dir ja eher ein Versprechen mit geringer Halbwertszeit.“

Er überging die Spitze und versuchte, konstruktiv zu bleiben: „Vielleicht hast du ja mal Lust, mich in Finkenwerder drüben zu besuchen. Karin würde sich sehr freuen, dich kennenzulernen.“

„Warum? Damit ich auch merke, dass sie besser ist als Mama?“, erwiderte Stella verbittert.

„Darum geht es doch gar nicht. Nur, damit dir klar wird, dass sie kein Ungeheuer ist“, stellte Moshe richtig.

„Vielleicht irgendwann“, presste Stella mit versagender Stimme hervor. Wie schön wäre es, wenn alles wieder normal wäre und sie ihrem Vater ihre Londoner Erlebnisse erzählen könnte, statt ihn mit all dem Ungesagten zwischen ihnen stehen zu lassen. Aber sie wollte nicht vor ihm in Tränen ausbrechen. „Ich muss in die Küche. Ich möchte Bine etwas zu Essen vorbeibringen.“

„Dann grüß sie von mir“, sagte Moshe mit ungewohnt dünner Stimme. „Bis bald, Schatz.“

„Tschüss, Papa“, murmelte Stella und ging mit gesenktem Blick in Richtung der Küche. Vor deren Tür traf sie auf ihre Mutter Leni. Die hatte das Gespräch mit Moshe offenbar mitbekommen, denn sie sagte: „Guten Morgen, Schatz. Ich wollte nur klarstellen, dass ich mich von dir nicht verraten fühle, wenn du Papa besuchst. Wir sollten erwachsen mit der neuen Situation umgehen, vor allem du willst ihn ja sicher nicht ganz verlieren. Er ist ja wirklich weiterhin dein Vater.“

Wie tapfer und fürsorglich ihre liebe Mutter war, dachte Stella. Und vielleicht hatte sie ja recht.

Tief in ihrem Inneren war sie nämlich auch neugierig, was das für eine Frau war, die das Herz ihres Vaters erobert hatte. Sie beschloss, die Einladung bei Gelegenheit anzunehmen, allerdings darauf zu bestehen, ihre beste Freundin Bine mitbringen zu dürfen. Dann würde sie sich der für sie neuen Situation nicht so ausgeliefert fühlen.

Charlotte Jacobi

Über Charlotte Jacobi

Biografie

Charlotte Jacobi ist das Spiegel-Bestseller-Pseudonym der Autoren Eva-Maria Bast und Jørn Precht. Eva-Maria Bast ist Journalistin, Leiterin der Bast Medien GmbH und Autorin zahlreicher Sachbücher, Krimis und zeitgeschichtlicher Romane. Sie erhielt diverse Auszeichnungen, darunter den Deutschen...

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