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Weit über der smaragdgrünen See Weit über der smaragdgrünen See - eBook-Ausgabe

Brandon Sanderson
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Roman

— Das erste von vier Secret Projects von Bestsellerautor Brandon Sanderson | Feelgood-Fantasy

„Nach einigen überaus erfolgreichen Fantasy-Reihen hat Brandon Sanderson nun ein modernes Märchen verfasst, welches mit wunderschöner Sprache und einer liebenswerten Hauptfigur begeistert.“ - Nordwest-Zeitung

Alle Pressestimmen (13)

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Weit über der smaragdgrünen See — Inhalt

Schon immer lebt Tress auf ihrer kargen Insel mitten in der smaragdgrünen See. Ein Ort, an dem die aufregendsten Dinge die Tassen sind, die Tress sammelt, und die ihr Seeleute aus fernen Ländern mitbringen. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist es, den Geschichten ihres Freundes Charlie zu lauschen, der langsam mehr als ein Freund für sie wird. Als Charlie während einer gefährlichen Reise verschwindet, beschließt Tress, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen und zieht aus, ihren Liebsten zu retten. Zahlreiche Gefahren warten auf sie –  darunter Piraten, fremde, tödliche Meere und eine böse Hexe. Wird Tress über sich hinauswachsen und ihre große Liebe retten können?

Mit dem Crowdfunding für seine „Secret Projects“ erreichte Brandon Sanderson Anfang 2022 180.000 Leser:innen weltweit und nahm eine Rekordsumme von über 40 Mio. US-Dollar ein. „Weit über der smaragdgrünen See“ ist das erste dieser besonderen Bücher, das nun in deutscher Übersetzung erscheint.  

€ 25,00 [D], € 25,70 [A]
Erschienen am 02.11.2023
Übersetzt von: Simon Weinert
544 Seiten, Hardcover
EAN 978-3-492-70668-1
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€ 21,99 [D], € 21,99 [A]
Erschienen am 02.11.2023
Übersetzt von: Simon Weinert
544 Seiten
EAN 978-3-492-60498-7
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Leseprobe zu „Weit über der smaragdgrünen See“

1

Das Mädchen


Auf einem Felsen mitten im Ozean lebte ein Mädchen.

Der Ozean war nicht so, wie ihr euch das vorstellt.

Und auch der Felsen war nicht so, wie ihr ihn euch vorstellt.

Das Mädchen jedoch könnte durchaus so sein, wie ihr es euch vorstellt – falls ihr es euch nachdenklich, mit leiser Stimme und einer übergroßen Freude am Sammeln von Tassen vorgestellt habt.

Wenn Männer das Mädchen beschrieben, sagten sie häufig, seine Haare hätten die Farbe von Weizen. Andere meinten, sie hätten eher die Farbe von Karamell oder manchmal auch die Farbe von Honig. Das [...]

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1

Das Mädchen


Auf einem Felsen mitten im Ozean lebte ein Mädchen.

Der Ozean war nicht so, wie ihr euch das vorstellt.

Und auch der Felsen war nicht so, wie ihr ihn euch vorstellt.

Das Mädchen jedoch könnte durchaus so sein, wie ihr es euch vorstellt – falls ihr es euch nachdenklich, mit leiser Stimme und einer übergroßen Freude am Sammeln von Tassen vorgestellt habt.

Wenn Männer das Mädchen beschrieben, sagten sie häufig, seine Haare hätten die Farbe von Weizen. Andere meinten, sie hätten eher die Farbe von Karamell oder manchmal auch die Farbe von Honig. Das Mädchen fragte sich, weshalb Männer Frauen so oft mit Essbarem beschrieben. In diesen Männern steckte ein Hunger, dem es lieber aus dem Weg ging.

Der Ansicht des Mädchens nach reichte „hellbraun“ als Beschreibung völlig aus – allerdings war der Farbton nicht das Interessanteste an diesen Haaren. Sondern vielmehr deren Eigenwilligkeit. Allmorgendlich zähmte das Mädchen sie unter heroischen Anstrengungen mit Bürste und Kamm, legte ihnen ein Haarband als Maulkorb an und verschnürte sie zu einem straffen Zopf. Doch stets entkamen ein paar Strähnen und wehten frei im Wind, um allen Vorbeigehenden eifrig zuzuwinken.

Bei seiner Geburt hatte das Mädchen den unvorteilhaften Namen Glorf bekommen (keine Vorwürfe, bitte; es war ein Familienname), doch den Namen, mit dem es jedermann rief, hatte es seinen widerspenstigen Haaren zu verdanken: Tress. Dieser Spitzname – Locke – bezeichnete nach Tress’ eigener Einschätzung das Interessanteste an ihrer Person.

Man hatte Tress einen gewissen unbeirrbaren Pragmatismus anerzogen. Das ist ein verbreiteter Makel unter jenen, die auf kargen, leblosen Inseln leben, die sie nie verlassen können. Wenn man jeden Tag von schwarzem Stein begrüßt wird, färbt das durchaus auf die Lebenseinstellung ab.

Die Insel hatte ungefähr die Form eines krummen Greisenfingers, der aus dem Ozean ragte und zum Horizont zeigte. Sie bestand ganz aus unwirtlichem schwarzem Salzstein und war groß genug, um einem größeren Städtchen und der Villa eines Herzogs Platz zu bieten. Die Einheimischen nannten die Insel zwar Felsen, aber auf den Karten hieß sie Diggenspitze. Niemand wusste mehr, wer Diggen war, doch anscheinend war er ein kluger Kerl gewesen, denn er hatte den Felsen rasch wieder verlassen, nachdem er ihn getauft hatte, und war nie wieder zurückgekommen.

Abends saß Tress oft auf der Veranda des elterlichen Hauses, schlürfte salzigen Tee aus einer ihrer Lieblingstassen und blickte aufs grüne Meer hinaus. Genau, ihr habt richtig gehört, das Meer war grün. Und überdies war es nicht nass. Darauf kommen wir noch zurück.

Während des Sonnenuntergangs grübelte Tress über die Leute nach, die in ihren Schiffen den Felsen aufsuchten. Niemand, der noch ganz richtig im Kopf war, hätte im Felsen eine touristische Attraktion gesehen. Der schwarze Salzstein war bröckelig und drang überall ein. Außerdem machte er so gut wie jede Landwirtschaft unmöglich und verseuchte irgendwann auch die Erde, die man von woanders heranschleppte. Das einzig Essbare, was auf der Insel wuchs, stammte aus Kompostbehältern.

Auf dem Felsen befanden sich zwar Brunnen, die Wasser aus tiefen Grundwasservorkommen pumpten – das wiederum die hier anlandenden Schiffe benötigten –, doch die Maschinen für die Salzminen würgten einen anhaltenden Strom schwarzen Rauchs in die Luft.

Insgesamt war die Atmosphäre getrübt, der Boden armselig und die Aussicht deprimierend. Oh, und habe ich schon die tödlichen Sporen erwähnt?

Diggenspitze lag in der Nähe des Grünen Mondpreises. Ihr müsst wissen, dass der Ausdruck „Mondpreis“ diejenigen Orte bezeichnet, wo die zwölf Monde von Tress’ Planet in ihren erdrückend tiefen stationären Umlaufbahnen am Himmel hingen. Ein jeder der zwölf Monde ist so groß, dass er zu jeder Zeit ein Drittel des Himmels ausfüllt, egal wohin man auch reist. Er beherrscht das Sichtfeld wie eine Warze am Augapfel.

Die Einheimischen verehrten diese zwölf Monde als Götter, und ich stimme euch gerne zu, dass das lächerlicher ist als alles, was ihr so verehrt. Man erkennt jedoch leicht, woher dieser Aberglaube kam, wenn man die Sporen bedenkt, die – wie bunter Sand – von den Monden herunterrieselten.

Sie regneten von den Monden herab, und der Grüne Mondpreis war noch aus fünfzig oder sechzig Meilen Entfernung sichtbar. Näher wollte man einem Mondpreis auch nicht kommen – jener großen, schimmernden Fontäne bunter Stäubchen, die pulsierten und überaus gefährlich waren. Die Sporen füllten die Ozeane der Welt aus, schufen riesige Meere nicht aus Wasser, sondern aus außerirdischem Staub. Schiffe fuhren auf diesem Staub, wie sie hier auf Wasser fahren, und das sollte euch nicht allzu ungewöhnlich vorkommen. Denn schließlich: Wie viele andere Planeten habt ihr schon bereist? Vielleicht segelt man auf ihnen allen über Pollenmeere, und eure Heimat ist in Wahrheit der Sonderling.

Die Sporen waren nur dann gefährlich, wenn sie nass wurden. Was ein ziemliches Problem darstellte, wenn man die Nässe bedenkt, die selbst aus einem kerngesunden menschlichen Körper allenthalben austritt. Die geringste Wassermenge ließ die Sporen explosionsartig keimen, und das Ergebnis reichte von unangenehm bis tödlich. Atmete man zum Beispiel grüne Sporen ein, so bewirkte der eigene Speichel, dass einem Ranken aus dem Mund wuchsen – oder in interessanteren Fällen wuchsen sie in die Nebenhöhlen und um die Augen nach draußen.

Die Sporen ließen sich durch zwei Dinge inaktiv machen: Salz und Silber. Deshalb störten sich die Bewohner von Diggenspitze nicht so sehr am salzigen Geschmack des Wassers und der Speisen. Sie lehrten ihre Kinder den unvergleichlich wichtigen Merksatz: Silber und Salz gebieten dem Mörder Einhalt. Ein akzeptables kleines Gedicht, wenn man ein Barbar ist, den unreine Reime oder auch solche, die sich gar nicht reimen, erfreuen.

Wie dem auch sei, angesichts der Sporen, des Rauchs und des Salzes versteht man vielleicht, warum der König, dem der Herzog diente, ein Gesetz brauchte, das der Bevölkerung verbot, vom Felsen wegzuziehen. Oh, er nannte Gründe, die mit bedeutungsschweren militärischen Phrasen wie „unverzichtbare Arbeitskräfte“, „strategische Versorgungslage“ und „sicherer Ankerplatz“ daherkamen, aber alle kannten die Wahrheit. Der Ort war so unwirtlich, dass ihn sogar der Rauch deprimierend fand. Regelmäßig legten Schiffe für Instandsetzungsarbeiten an, um Abfälle für die Kompostbehälter abzuladen und frisches Wasser an Bord zu nehmen. Doch alle hielten sich strikt an das Gesetz des Königs, wonach keine Einwohner von Diggenspitze von der Insel weggebracht werden durften. Niemals.

Und so saß Tress abends auf den Stufen der Veranda und blickte den davonsegelnden Schiffen nach, während Sporensäulen vom Mondpreis herabrieselten und die Sonne hinter dem Mond hervorkroch und sich auf den Horizont zuschob. Tress schlürfte salzigen Tee aus einer mit Pferden bemalten Tasse und dachte: Eigentlich ist das ganz schön. Mir gefällt es hier. Und ich glaube, es ist in Ordnung für mich, mein ganzes Leben hierzubleiben.



2

Der Gärtner


Womöglich hat es euch überrascht, diese letzten Sätze zu lesen. Tress wollte auf dem Felsen bleiben? Es gefiel ihr dort?

Wo blieb ihre Abenteuerlust? Ihre Sehnsucht nach fremden Ländern? Ihr Fernweh?

Nun, wir sind in der Geschichte noch nicht so weit, dass ihr Fragen stellen dürftet. Also behaltet sie bitte freundlicherweise für euch. Nichtsdestotrotz müsst ihr verstehen, dass dies eine Geschichte über Leute ist, die sowohl das sind, was sie zu sein scheinen, als auch das, was sie nicht zu sein scheinen. Gleichzeitig. Eine Geschichte der Widersprüche. Oder in anderen Worten: Es ist eine Geschichte über Menschen.

Was Tress angeht, so war sie keine gewöhnliche Heldin – weil sie nämlich außerordentlich gewöhnlich war. Tress hielt sich für durch und durch langweilig. Sie mochte ihren Tee lauwarm. Sie ging immer pünktlich ins Bett. Sie liebte ihre Eltern, stritt sich gelegentlich mit ihrem kleinen Bruder und warf ihren Abfall nicht auf die Straße. Sie konnte ganz gut sticken und hatte ein Händchen fürs Backen, besaß aber ansonsten keine bemerkenswerten Fertigkeiten.

Sie lernte nicht heimlich fechten. Sie konnte nicht mit Tieren sprechen. Sie stammte nicht insgeheim von einem Königsgeschlecht oder von Göttern ab, auch wenn ihre Urgroßmutter Glorf angeblich einmal dem König zugewunken hatte. Sie hatte auf dem Felsen gestanden, und er war in etlichen Meilen Entfernung vorbeigesegelt, weshalb Tress das nicht gelten ließ.

Kurz gesagt: Tress war eine normale Jugendliche. Das erkannte sie daran, dass die anderen Mädchen oft von sich behaupteten, dass sie nicht wie „alle anderen“ seien, und nach einiger Zeit schlussfolgerte Tress, dass die Gruppe „aller anderen“ einzig aus ihr bestehen musste. Die anderen Mädchen hatten ganz offensichtlich recht, denn sie wussten sich einzigartig zu machen – sie waren so gut darin, dass sie es gemeinsam taten.

Im Allgemeinen war Tress rücksichtsvoller als die meisten Leute, und sie mochte niemandem Umstände machen, indem sie um etwas bat, was sie wollte. Sie sagte nichts, wenn die anderen Mädchen über sie lachten oder sich Witze über sie erzählten. Schließlich hatten sie dabei so viel Spaß. Es wäre unhöflich gewesen, ihnen diesen zu verderben, und anmaßend, wenn sie von ihnen verlangt hätte, damit aufzuhören.

Manchmal sprachen die ungestümeren Jugendlichen über Abenteuer auf fremden Ozeanen. Diese Vorstellung fand Tress beängstigend. Wie hätte sie ihre Eltern und ihren Bruder verlassen können? Außerdem hatte sie ihre Tassensammlung.

Tress hielt ihre Tassen in Ehren. Sie besaß edle Porzellantassen mit Lasurmalereien, Tontassen, die sich rau anfühlten, und Holztassen, die grob und abgenutzt waren.

Ein paar Seeleute, die Diggenspitze häufiger anfuhren, wussten um ihre Leidenschaft, und manchmal brachten sie ihr Tassen aus allen zwölf Ozeanen mit, aus fernen Ländern, in denen die Sporen Berichten zufolge purpurfarben, himmelblau oder sogar golden waren. Den Matrosen gab sie im Tausch für ihre Mitbringsel Pasteten, deren Zutaten sie sich mit dem Hungerlohn kaufte, den sie beim Fensterputzen verdiente.

Die Tassen, die die Seeleute ihr mitbrachten, waren oft abgenutzt und leicht beschädigt, doch das störte Tress nicht. Eine Tasse mit einer Macke oder einer Delle hatte eine Geschichte. Tress liebte sie alle, denn die Tassen brachten die Welt zu ihr. Wann immer sie aus einer ihrer Tassen trank, stellte sie sich vor, sie könnte Speisen und Getränke ferner Länder schmecken und die Menschen, die sie gemacht hatten, vielleicht ein wenig verstehen.

Jedes Mal, wenn Tress eine neue Tasse erwarb, ging sie mit ihr zu Charlie, um sie ihm zu zeigen.

Charlie behauptete, der Gärtner der Herzogsvilla an der Spitze des Felsens zu sein, doch Tress wusste, dass er in Wahrheit der Sohn des Herzogs war. Charlies Hände waren weich wie die eines Kindes und gar nicht schwielig, und er war besser genährt als alle anderen im Ort. Seine Haare waren stets sauber frisiert, und obwohl er seinen Siegelring abnahm, wenn sie sich begegneten, blieb an der Stelle ein etwas hellerer Hautstreifen zurück, der verriet, dass er ihn sonst trug – und zwar an dem Finger, an dem Mitglieder der Königsfamilie ihn trugen.

Außerdem wusste Tress nicht, welchen „Garten“ Charlie hätte pflegen sollen. Schließlich befand sich die Villa auf dem Felsen. Früher einmal hatte ein Baum auf dem Gelände gestanden, aber der war vernünftigerweise vor ein paar Jahren eingegangen. Immerhin standen ein paar Topfpflanzen herum, sodass Charlie so tun konnte als ob.

Zu ihren Füßen wirbelte grauer Staub im Wind, als sie den Pfad zum Palast hinaufschritt. Graue Sporen waren tot – die Luft rings um den Felsen war so salzig, dass die Sporen eingingen –, aber Tress hielt trotzdem den Atem an, wenn sie durch die Staubwolken eilte. An der Gabelung lief sie nach links – der Pfad rechts ging zu den Minen – und folgte den Serpentinen, die zum Überhang hinaufführten.

Hier kauerte die Villa wie ein korpulenter Frosch auf seiner Wasserlilie. Tress wusste nicht genau, weshalb der Herzog hier oben residierte. Er war dem Industriedunst an dieser Stelle noch näher, aber damit einher gingen weniger Besucher, und das gefiel ihm womöglich. Der Aufstieg war anstrengend – da die Mitglieder der herzoglichen Familie ihre Kleider jedoch so gut ausfüllten, fanden sie vielleicht, dass ihnen die sportliche Betätigung guttat.

Fünf Soldaten bewachten das Grundstück – auch wenn momentan nur Snagu und Blei Dienst hatten – und erfüllten ihre Pflicht aufs Beste. Schließlich war es schrecklich lange her, dass ein Mitglied der herzoglichen Familie Opfer einer der unzähligen Todesgefahren geworden war, denen man sich auf dem Felsen ausgesetzt sah. (Diese Gefahren beinhalteten Langeweile, gequetschte Zehen und Sich-an-Obstauflauf-Verschlucken.)

Den Soldaten hatte Tress natürlich Pasteten mitgebracht. Während diese aßen, überlegte sie, ob sie den beiden ihre neue Tasse zeigen sollte. Sie war ganz aus Blech und hatte eingravierte Buchstaben, die nicht von links nach rechts liefen, sondern von oben nach unten. Aber nein, sie wollte die beiden nicht damit belästigen.

Die Wachen ließen sie durch, obwohl heute nicht der Tag war, an dem sie die Fenster der Villa putzte. Sie fand Charlie hinter dem Haus, wo er mit dem Schwert Fechten übte. Kaum hatte er sie bemerkt, legte er die Waffe weg und nahm hastig seinen Siegelring ab.

„Tress!“, sagte er. „Ich dachte, heute wäre nicht dein Tag!“

Charlie war eben siebzehn geworden und damit zwei Monate älter als sie. Er verfügte über verschwenderisch viele Lächeln, und Tress kannte ihre sämtlichen Bedeutungen. Das breite mit den vielen Zähnen, das er ihr nun präsentierte, bedeutete zum Beispiel, dass er wirklich glücklich war, einen Vorwand zu haben, mit den Fechtübungen aufzuhören. Er mochte das Fechten nicht so sehr, wie sein Vater glaubte.

„Schwertfechten, Charlie?“, fragte Tress. „Gehört das denn zu den Aufgaben eines Gärtners?“

Er hob das schmale Schwert auf. „Das? Ach, das ist ein Gartenwerkzeug.“ Er hieb damit auf eine der Topfpflanzen auf der Terrasse ein. Die Pflanze war zwar noch nicht eingegangen, aber der Umstand, dass Charlie ihr ein Blatt entzweihieb, würde ihre Chancen, sich noch einmal zu erholen, bestimmt nicht verbessern.

„Gartenarbeit“, sagte Tress. „Mit einem Schwert.“

„So arbeitet man auf der Königsinsel“, erklärte Charlie. Er schlug noch einmal zu. „Dort herrscht immer Krieg, weißt du. Wenn du mal genauer überlegst, ist es ganz natürlich, dass die Gärtner lernen, die Pflanzen mit Schwertern zu stutzen. Man will ja nicht unbewaffnet überrumpelt werden.“

Er war kein guter Lügner, doch das war einer der Gründe, weshalb Tress ihn mochte. Charlie war authentisch. Er log sogar auf authentische Art. Und weil er so ein schlechter Lügner war, konnte man ihm seine Lügen auch nicht übel nehmen. Sie waren so offensichtlich, dass sie besser waren als die Wahrheit anderer Leute.

Er ließ sein Schwert noch einmal grob in Richtung der Topfpflanze herabsausen, sah Tress an und zog eine Augenbraue hoch. Sie schüttelte den Kopf. Er bedachte sie mit einem Grinsen der Marke „Du hast mich zwar erwischt, aber ich kann’s nicht zugeben“ und rammte das Schwert in die Blumenerde im Topf. Dann ließ er sich auf das niedrige Gartenmäuerchen fallen.

Eigentlich sollten sich Herzogssöhne nicht fallen lassen. Deswegen konnte man Charlie durchaus als einen jungen Mann von außergewöhnlichen Gaben bezeichnen.

Tress setzte sich neben ihn und stellte sich ihren Korb auf den Schoß.

„Was hast du mir mitgebracht?“, fragte er.

Sie holte eine kleine Fleischpastete heraus. „Taube“, sagte sie. „Mit Möhren. Und Thymian in der Soße.“

„Eine edle Kombination“, erwiderte er.

„Ich glaube, dass der Sohn des Herzogs widersprechen würde, wenn er hier wäre.“

„Der Sohn des Herzogs darf nur Speisen zu sich nehmen, die Namen mit schrägen ausländischen Akzenten über den Buchstaben haben“, sagte Charlie. „Und es ist ihm nicht gestattet, seine Schwertübungen zu unterbrechen, um etwas zu essen. Was für ein Glück für mich, dass ich nicht er bin.“

Charlie biss einmal ab. Sie hielt nach seinem Lächeln Ausschau. Und da war es, das Lächeln der Freude. Sie hatte einen ganzen Tag lang gegrübelt, was sie aus den Zutaten, die auf dem Hafenmarkt im Sonderangebot gewesen waren, backen könnte, um dieses besondere Lächeln zu ernten.

„Was hast du sonst noch mitgebracht?“, fragte er.

„Gärtner Charlie“, sagte sie, „du hast eben eine kostenlose Pastete bekommen, und jetzt maßt du dir an, noch mehr zu wollen?“

„Anmaßen?“, sagte er mit vollem Mund. Er stieß mit der freien Hand gegen ihren Korb. „Ich weiß, dass da noch mehr drin ist. Heraus damit.“

Sie grinste. Den meisten anderen Leuten würde sie damit keine Umstände machen wollen, aber Charlie war anders. Sie zeigte ihm die Blechtasse.

„Aaah“, sagte Charlie, legte die Pastete zur Seite und nahm die Tasse ehrfürchtig in die Hände. „Die ist ja mal etwas Besonderes.“

„Weißt du etwas über diese Schrift?“, fragte sie begeistert.

„Das ist Altirialisch“, sagte er. „Die Irialis sind verschwunden. Das ganze Volk: Puff! Von einem Tag auf den anderen war ihre Insel ausgestorben. Das war vor dreihundert Jahren oder so, es hat sie also niemand gesehen, der heute noch am Leben wäre, aber angeblich hatten sie goldene Haare. So wie deine, von der Farbe des Sonnenlichts.“

„Meine Haare haben nicht die Farbe von Sonnenlicht, Charlie.“

„Deine Haare hätten die Farbe des Sonnenlichts, wenn Sonnenlicht hellbraun wäre“, sagte Charlie. Man hätte behaupten können, dass er wortgewaltig war. Insofern als die Worte oft gewaltig mit ihm durchgingen.

„Ich wette, dass diese Tasse eine interessante Geschichte hat“, sagte er. „Geschmiedet für einen adligen Iriali am Tag, bevor er – und sein Volk – von den Göttern dahingerafft wurde. Die Tasse blieb auf dem Tisch zurück, und die erste arme Fischerin, die danach auf die Insel kam und das entsetzliche Verschwinden eines ganzen Volkes entdeckte, hat sie mitgenommen. Sie hat die Tasse ihrem Enkel vererbt, der ein Pirat wurde. Der hat seine erbeuteten Schätze tief unter den Sporen vergraben. Und dann, nach Äonen in der Finsternis, wurde sie nun wieder entdeckt, um in deine Hände zu gelangen.“ Er hielt die Tasse hoch, damit sich das Sonnenlicht in ihr spiegelte.

Tress lächelte, während er sprach. Manchmal, wenn sie die Fenster der Villa putzte, hörte sie Charlies Eltern, wie sie mit ihm schimpften, weil er so viel redete. Sie meinten, dass es albern und nicht standesgemäß sei. Sie ließen ihn nur selten ausreden. Tress fand das jammerschade. Denn gewiss, er geriet manchmal ins Reden, aber sie hatte irgendwann begriffen, dass er Geschichten auf eine Weise liebte, wie sie Tassen liebte.

„Danke, Charlie“, flüsterte sie.

„Wofür?“

„Dafür, dass du mir gibst, was ich will.“

Er wusste, dass sie weder Tassen noch Geschichten meinte.

„Immer“, erwiderte er und legte seine Hand auf ihre. „Immer was du willst, Tress. Und du kannst mir immer sagen, was es ist. Ich weiß, dass du das bei anderen Leuten normalerweise nicht tust.“

„Was willst du denn, Charlie?“, fragte sie.

„Ich weiß es nicht“, gab er zu. „Bis auf eine Sache. Eine Sache, die ich nicht wollen sollte, die ich aber will. Stattdessen sollte ich Abenteuer wollen. Wie in den Geschichten. Kennst du diese Geschichten?“

„Diejenigen mit den holden Maiden?“, fragte Tress. „Die immer entführt werden und nicht viel zu tun bekommen, außer herumzusitzen? Vielleicht hier und da mal um Hilfe schreien?“

„Ich denke, dass das wohl durchaus passiert“, sagte er.

„Warum sind es immer holde Maiden?“, fragte sie. „Gibt es unholde Maiden? Oder soll das ›holt‹ heißen wie in ›Holt-das-Essen-Maiden‹? So eine Maid könnte ich sein. Ich kann gut Essen machen.“ Sie verzog das Gesicht. „Ich bin froh, dass ich nicht in einer Geschichte bin, Charlie. Ich würde ganz sicher als Entführte enden.“

„Und ich würde wahrscheinlich ruckzuck sterben“, sagte er. „Ich bin ein Feigling, Tress. Das ist die Wahrheit.“

„Unsinn. Du bist einfach nur ganz normal.“

„Hast du … gesehen, wie ich mich in Gegenwart des Herzogs benehme?“

Sie verstummte. Denn sie hatte es gesehen.

„Wenn ich kein Feigling wäre“, fuhr er fort, „könnte ich dir Sachen sagen, die ich dir so nicht sagen kann. Aber Tress, wenn du entführt werden solltest, dann würde ich dir trotzdem helfen. Ich würde mir eine Rüstung anziehen, Tress. Eine glänzende Rüstung. Oder vielleicht auch eine matte Rüstung. Ich glaube, wenn jemand entführt werden würde, den ich kenne, würde ich mich nicht damit aufhalten, die Rüstung zu polieren. Glaubst du, dass die Helden sich damit aufhalten, ihre Rüstungen zu polieren, solange Leute in Gefahr schweben? Das klingt für mich nicht sehr hilfreich.“

„Charlie“, sagte Tress, „hast du denn überhaupt eine Rüstung?“

„Ich würde schon eine finden“, versprach er ihr. „Ich würde mir etwas einfallen lassen, bestimmt. In der richtigen Rüstung wäre selbst ein Feigling mutig, oder? In diesen Geschichten kommen eine Menge Toter vor. Bestimmt könnte ich mir von einem von denen …“

Aus der Villa ertönte ein Schrei, der ihr Gespräch unterbrach. Es war Charlies meckernder Vater. Soweit Tress es beurteilen konnte, bestand die Aufgabe des Herzogs auf der Insel einzig darin, Leute anzuschreien, und diese Aufgabe nahm er sehr ernst.

Charlie sah in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Er wirkte jetzt angespannt, und sein Lächeln verblasste. Doch nachdem sich das Geschrei nicht genähert hatte, richtete er den Blick wieder auf die Tasse. Der besondere Augenblick war dahin, aber ein anderer trat an seine Stelle, wie Augenblicke es meist zu tun pflegen. Nicht ganz so vertraulich, aber immer noch wertvoll, weil es Zeit war, die sie mit ihm verbrachte.

„Tut mir leid“, sagte er leise, „dass ich mit so dummen Sachen wie von Toten geklauten Rüstungen angefangen habe. Aber ich mag, dass du mir trotzdem zuhörst. Danke, Tress.“

„Ich mag deine Geschichten“, erklärte sie, nahm die Tasse und drehte sie um. „Glaubst du, dass etwas von dem, was du über die Tasse gesagt hast, wahr ist?“

„Es könnte wahr sein“, antwortete Charlie. „Das ist das Tolle an Geschichten. Aber schau dir diese Schrift an – da steht, dass sie einst einem König gehört hat. Sein Name steht gleich da.“

„Und du hast diese Sprache gelernt …“

„… auf der Gärtnerschule“, sagte er. „Für den Fall, dass wir Warnhinweise auf den Packungen bestimmter gefährlicher Pflanzen entziffern müssen.“

„So wie du auch gelernt hast, das Wams und die Hose eines Adligen zu tragen …“

„… weil ich dadurch zu einem ausgezeichneten Köder werde, sollten Meuchelmörder auftauchen und den Sohn des Herzogs umbringen wollen.“

„Na gut. Aber warum nimmst du dann den Ring ab?“

„Äh …“ Er blickte erst auf seine Hand, dann in ihre Augen. „Tja, ich will wohl nicht, dass du mich mit jemand anderem verwechselst. Mit jemandem, der ich nicht sein will.“

Dann lächelte er sein schüchternes Lächeln. Sein Lächeln der Marke „Bitte spiel mit, Tress“. Denn der Sohn des Herzogs konnte sich nicht öffentlich mit dem Fensterputzmädchen einlassen. Ein Adliger jedoch, der sich als Gemeiner ausgab? Der niedere Geburt vortäuschte, um die Untertanen seines Reichs kennenzulernen? Nun, das erwartete man geradezu. Es passierte in so vielen Geschichten, dass es praktisch eine feste Einrichtung war.

„Das“, sagte sie, „klingt vollkommen logisch.“

„Nun denn“, sagte er und griff wieder zur Pastete. „Erzähl mir, was du heute so getrieben hast. Ich muss es wissen.“

„Ich habe auf dem Markt nach Zutaten gestöbert“, berichtete sie und steckte sich eine entfleuchte Locke hinters Ohr. „Ich habe ein Pfund Fisch gekauft – Lachs von der Eriksinsel, wo es viele Seen gibt. Poloni hat ihn runtergesetzt, weil er meinte, er würde bald schlecht werden, aber das war eigentlich der Fisch im Fass daneben. Deshalb habe ich ein richtiges Schnäppchen gemacht.“

„Faszinierend“, sagte er. „Niemand bekommt einen Anfall, wenn du auftauchst? Die rufen nicht ihre Kinder dazu und zwingen dich, ihnen die Hände zu schütteln? Erzähl mir mehr. Bitte, ich will wissen, wie du gemerkt hast, dass der Fisch nicht schlecht war.“

Da er weiterbohrte, berichtete sie ihm von den banalen Einzelheiten ihres Lebens. Jedes Mal, wenn sie ihn besuchte, zwang er sie dazu. Im Gegenzug hörte er ihr zu. Das war der Beweis, dass seine Freude am Reden kein Makel war. Denn er war genauso gut im Zuhören. Zumindest bei ihr. Charlie fand ihr Leben aus unerfindlichen Gründen sogar interessant.

Beim Erzählen war Tress warm. Das war oft so, wenn sie ihn besuchte – wegen des Aufstiegs und der Höhe, in der sie der Sonne näher war; deshalb war es hier oben wärmer. Ganz klar.

Allerdings war gerade Mondschatten, und die Sonne versteckte sich hinterm Mond, sodass es ein paar Grad kälter war. Und heute hatte sie gewisse Lügen satt, die sie sich selbst erzählte. Vielleicht gab es noch einen anderen Grund, weshalb ihr warm war. Und der lag in Charlies jetzigem Lächeln, und ihr war klar, dass es auch an ihrem eigenen lag.

Er hörte ihr nicht nur zu, weil ihn das Leben der Bauern faszinierte.

Sie besuchte ihn nicht nur, weil sie seine Geschichten hören wollte.

Vielmehr ging es im tiefsten Grunde gar nicht um Tassen und Geschichten. Sondern um Handschuhe.

Brandon Sanderson

Über Brandon Sanderson

Biografie

Brandon Sanderson, geboren 1975 in Nebraska, ist internationaler Bestsellerautor und lebt in Utah. Nach seinem Debütroman „Elantris“ widmete er sich ab 2007 der Vollendung von Robert Jordans epischer Fantasyreihe „Das Rad der Zeit“. Zudem begeistert er mit seiner Saga um „Die Nebelgeborenen“...

Pressestimmen
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„Brandon Sanderson [gelingt] das Kunststück, einen perfekten Standalone- und Einstiegs-Roman vorzulegen, den jeder lesen kann und alle genießen können.“

Nordwest-Zeitung

„Nach einigen überaus erfolgreichen Fantasy-Reihen hat Brandon Sanderson nun ein modernes Märchen verfasst, welches mit wunderschöner Sprache und einer liebenswerten Hauptfigur begeistert.“

buecherbriefe.de

„Der Roman [begeistert] mit skurrilen und liebenswerten Figuren, wichtigen Botschaften, kreativen Einfällen und einer spannenden und innovativen Welt.“

leser-welt.de

„Egal ob ihr bereits Brandon Sanderson Fans seid oder nur nach einem guten Fantasy-Roman voll wendungsreicher, teilweise verrückter Einfälle sucht, ›Weit über der smaragdgrünen See‹ kann ich euch auf jeden Fall ans Herz legen.“

idowa.de

„Der Roman ist ein sehr gemütliches Buch, das man perfekt bei einer Tasse Tee lesen kann.“

monstersandcritics.de

„Im Grunde eine Art modernes Märchen, gespickt mit allerlei Weisheit und Philosophie.“

Ludwigsburger Kreiszeitung

„Ein fantasievoller Fantasy- Roman, der in neue Welten trägt.“

phantastiknews.de

„Sanderson hat ein durchaus modernes Märchen vorgelegt, das viele Themen streift, das sich abseits ausgetretener Pfade bewegt.“

fantasyblogger.com

„Eine schöne Geschichte mit einer überraschenden Heldin.“

phantastik-couch.de

„Wer vom Mainstream genug hat und eine ganz hinreißende, eigenwillige, humorige Geschichte lesen möchte, ist hier goldrichtig.“

Niederbayern TV „Bücherecke“

„Eine total schöne Geschichte.“

rezensöhnchen.de

„Brandon Sanderson ist es gelungen, kreativ fesselndes Worldbuilding [...] mit nahbaren und erfrischend inklusiven Charakteren zu vermischen.“

WordWorld

„Ein völlig skurriles, dabei aber herrlich unterhaltsames, einfallsreiches und charmantes Piratenabenteuer in einer Science-Fiction-Welt mit Fantasy-Elementen wie Seemonstern, gefährlichen Sporen-Ozeanen, Geheimexperimenten, einem Drachen und einer bösen Zauberin. "Weit über der smaragdgrünen See" überzeugt mit liebenswerten Figuren, einer ungewöhnlichen Erzählperspektive, einem originellen Worldbuilding und einer fesselnden Handlung! “

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