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Welche Grenzen brauchen wir? Welche Grenzen brauchen wir? - eBook-Ausgabe

Gerald Knaus
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Zwischen Empathie und Angst – Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl

— Wie eine humane Migrations- und Asylpolitik gelingen kann
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Welche Grenzen brauchen wir? — Inhalt

Eine humane Migrations- und Asylpolitik ist möglich

Kein anderes Thema hat die europäische Politik in den letzten Jahren so beeinflusst wie die Debatte um Geflüchtete, Asyl und Migration. Dabei wird die Diskussion dominiert von Schlagworten, falschen Tatsachenbehauptungen und Scheinlösungen. 
Gerald Knaus erklärt in seinem Buch, worum es tatsächlich geht, und zeigt, dass humane Grenzen möglich sind. Der Migrationsexperte, dessen Analysen Regierungen in ganz Europa beeinflusst haben, erläutert, welche Grundsatzprobleme wir dafür lösen müssten und wie aus abstrakten Prinzipien mehrheitsfähige umsetzbare Politik werden kann. Er erklärt außerdem, warum das vielen Gesellschaften schwer fällt und selbst viele Bürger mit widersprüchlichen Emotionen ringen - hier Empathie, da Angst vor Kontrollverlust – und wie eine Politik, die Fakten und Emotionen ernst nimmt, möglich wird. 

  •  „Gerald Knaus hätte die Lösung.“ Der Tagesspiegel
  •  „Kann dieser Mann das EU-Türkei-Migrationsabkommen retten?“ Foreign Policy
€ 14,00 [D], € 14,40 [A]
Erschienen am 27.07.2023
368 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-32027-6
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€ 13,99 [D], € 13,99 [A]
Erschienen am 12.10.2020
336 Seiten
EAN 978-3-492-99400-2
Download Cover

Leseprobe zu „Welche Grenzen brauchen wir?“

Warum dieses Buch?

2019 kamen insgesamt etwa 100 000 Menschen irregulär über das Mittelmeer in die Europäische Union. Das sind im Durchschnitt 280 Menschen am Tag. Sind das zu viele? Werden es bald sehr viel mehr sein? Soll man sie stoppen, und welche Maßnahmen sind dabei erlaubt? Wer hat das Recht oder die Pflicht, dies zu entscheiden? Es sind diese Fragen, die in diesem Buch beantwortet werden sollen.

Die Zeit drängt, denn an den Außengrenzen Europas herrscht heute ein Ausnahmezustand. Es gibt Gesetze, die festlegen, was Grenzbeamte an Grenzen tun [...]

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Warum dieses Buch?

2019 kamen insgesamt etwa 100 000 Menschen irregulär über das Mittelmeer in die Europäische Union. Das sind im Durchschnitt 280 Menschen am Tag. Sind das zu viele? Werden es bald sehr viel mehr sein? Soll man sie stoppen, und welche Maßnahmen sind dabei erlaubt? Wer hat das Recht oder die Pflicht, dies zu entscheiden? Es sind diese Fragen, die in diesem Buch beantwortet werden sollen.

Die Zeit drängt, denn an den Außengrenzen Europas herrscht heute ein Ausnahmezustand. Es gibt Gesetze, die festlegen, was Grenzbeamte an Grenzen tun müssen und dürfen; es gibt Standards, die bestimmen, wie Asylsuchende untergebracht und behandelt werden müssen. Doch diese Gesetze und Standards werden täglich gebrochen. Selbst der Kern des internationalen Flüchtlingsschutzes wird regelmäßig verletzt: das Verbot, Menschen zurückzustoßen, die an Grenzen aufgegriffen werden. Es droht das Ende einer Ära, die vor 70 Jahren mit der Annahme der Europäischen Menschenrechtskonvention im Jahr 1950 und der Genfer Flüchtlingskonvention 1951 begann.

Die Grundlage der moralischen Neugründung Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg war die Ausrichtung staatlicher Politik an der Menschenwürde jedes Einzelnen. Sie findet sich in Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, wie auch in Artikel 1 der Charta der Grundrechte der EU: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ Dazu schrieb der deutsche Rechtsphilosoph Günter Dürig 1956 in einem einflussreichen Aufsatz: „Die Menschenwürde als solche ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“ Der Staat hat die Verpflichtung, die „Degradierung des Menschen zum Ding“, das «abgeschossen«, „ersetzt“, „ausgesetzt“ (vertrieben) werden kann, zu verhindern.

Doch welchen Wert hat dieser Grundsatz heute in den Gewässern zwischen Libyen und Italien, auf dem Balkan, in der Ägäis? Noch vor wenigen Jahren retteten Schiffe der Marine und Küstenwache von EU-Staaten Hunderttausende Menschen vor dem Ertrinken im zentralen Mittelmeer. Dann wurde die staatliche Seenotrettung fast gänzlich eingestellt und die private Seenotrettung behindert. Das Ergebnis ist dramatisch. Vor Malta treiben wieder Boote mit Migranten, die Hilferufe wie diesen aussenden: „Wir sind so müde, die Situation ist die Hölle. Das Boot hat viel Luft verloren, Wasser kommt rein. Wir sterben. Bitte rettet uns.“ Selbst solche Rufe werden tagelang ignoriert und so unzumutbare Risiken für Menschen in Seenot in Kauf genommen. Seit Jahren arbeitet die Europäische Union mit libyschen Institutionen zusammen, die Menschen in Lager des Bürgerkriegslands bringen, in denen sie misshandelt werden. Anfang März 2020 schossen griechische Beamte an der griechisch-türkischen Landgrenze auf Migranten, die den Grenzfluss zur Türkei Richtung Griechenland überqueren wollten. Heute finden sogenannte Push-Backs an vielen Landgrenzen in Europa regelmäßig statt. In Aufnahmelagern an Europas Grenzen, wie auf den griechischen Inseln in der Ägäis, tolerieren europäische Regierungen Zustände, die wir in den ärmsten Staaten der Welt für inakzeptabel halten würden.

Die Gesellschaft gewöhnt sich an den permanenten Gesetzesbruch, und auch die Nichtregierungsorganisationen wirken ratlos. Ihre Instrumente – die Öffentlichkeit durch das Schaffen von Aufmerksamkeit für menschliches Leid zu beschämen, internationale Gerichte einzuschalten – konnten den Trend in den letzten Jahren nicht stoppen. Politiker in der EU erklären offen, Grenzschutz ohne „hässliche Bilder“, ohne die Bereitschaft zur Abschreckung sei Träumerei.

Dieses Buch richtet sich an Leserinnen und Leser, die davon überzeugt sind, dass es möglich sein muss, an Europas Grenzen Kontrolle mit Respekt für Menschenwürde zu verbinden. Es ist für jene, die der Gedanke an fast 18 000 Männer, Frauen und Kinder, die in nur fünf Jahren im Mittelmeer ertrunken sind, und an Kinder, die im Winter in Zelten auf einer Insel in der Ägäis frieren, nicht loslässt. Es ist für Europäerinnen und Europäer, die sich ein Grenzregime wünschen, das Kontrolle mit Menschlichkeit verbindet und dabei den Kern der Genfer Flüchtlingskonvention verteidigt: das Gebot der Nichtzurückweisung von Schutzsuchenden. Und die gleichzeitig ernst nehmen, dass man in Demokratien Mehrheiten erringen und verteidigen sowie in der EU andere Staaten mit Argumenten überzeugen muss, um Politik gestalten zu können. Es ist für jene, die das Feilschen um die Verteilung kleiner Gruppen, die aus Seenot gerettet wurden, für unwürdig halten. Und die doch verstehen wollen, wie es dazu kam, dass noch nie zuvor so viele Menschen im Mittelmeer ertranken wie in jenem Jahr, in dem es so viele Seenotrettungen durch europäische Schiffe gab wie nie zuvor.

Es ist ein Buch für Leser und Leserinnen, die sich auf der Grundlage solider Fakten und Erfahrungen selbst eine Meinung darüber bilden wollen, welche Möglichkeiten wir haben. Und die sich auf die Suche nach Argumenten machen, um zunächst sich selbst und dann andere zu überzeugen.

Die meisten Menschen sind weder Monster noch Engel, weder empathielose Psychopathen noch Märtyrer. Sie sind empathisch, doch ihre Empathie ist nicht grenzenlos. Sie bevorzugen durchlässige Grenzen, solange sie sich sicher fühlen, und geschlossene Grenzen, sobald sie um sich oder ihre Lieben Angst haben. Sie sind durchaus bereit, Menschen in Not zu helfen, wollen dabei aber nicht die Kontrolle verlieren. Doch sie gewöhnen sich auch an Bilder des Leidens in der Ferne, an den Horror in Syrien, im Jemen, im Südsudan, wenn sie den Eindruck gewinnen, dass bestimmte Dinge nicht zu ändern sind.

Die meisten Menschen wollen Politiker, die versuchen, ihre Werte und Interessen zusammenzubringen, und eine Politik, die Empathie und Kontrolle verspricht. Und wenden sich von jenen ab, die ihnen schwach oder heuchlerisch vorkommen. Erscheinen Regierende rat- und planlos, schlägt die Stunde entschlossener Demagogen. Wer ihnen entgegentreten will, braucht mehr als gute Absichten und moralische Entrüstung. Die erfolgreichsten unter den Demagogen sind wie Judokas, die die ungestüme Energie ihrer Gegner von vornherein für ihren Gegenangriff einplanen. Sie beherrschen das Spiel mit Emotionen und entwickeln packende Geschichten, in denen es um Heerscharen von Einwanderern geht, um Eroberer und Invasionen, um Kontrollverlust und das Verschwinden unserer Welt. Und sie werden nicht müde, diese Geschichten immer wieder aufs Neue zu erzählen.

Beim Suchen nach Lösungen sind aber weder Angst noch Empathie gute Ratgeber. Für erfolgreiche Politik braucht es kritisches Denken, Fakten, Zahlen. Und eine klare Sprache, Konzepte und Begriffe, die uns helfen, Handlungsoptionen zu verstehen. Doch an diesen fehlt es heute. Immer wieder hören wir Behauptungen, die der Suche nach umsetzbaren Vorschlägen im Weg stehen, auch wenn sie zunächst plausibel klingen. Es sind unzutreffende Aussagen wie diese:

  • Migration ist wie Wasser in kommunizierenden Röhren: Irreguläre Migration lässt sich nicht stoppen, nur umleiten.
  • Die demografische Entwicklung Afrikas und die Effekte des Klimawandels erhöhen den Migrationsdruck: Dies führt zwangsläufig zu mehr irregulärer Migration aus Afrika nach Europa.
  • Wirtschaftliche Entwicklung führt zu mehr irregulärer Migration: Wenn Länder wohlhabender werden, können sich mehr Menschen Migration leisten.
  • Seenotretter verursachen einen Pull-Effekt: Um das Sterben im Mittelmeer zu beenden, muss man die Seenotretter abziehen.
  • Mehr Seenotretter bedeuten weniger Tote im Mittelmeer: Um zu verhindern, dass Tausende sterben, brauchen wir vor allem mehr Seenotretter vor Ort.
  • Um Migration zu bewältigen, muss Europa gemeinsam vorgehen: Nationale Alleingänge und kleine Koalitionen williger Mitgliedsstaaten schwächen die Europäische Union.
  • Das Dublin-System der Europäischen Union ist ungerecht: Es geht zulasten der Mittelmeerländer. Fair wäre es, eine gerechte Verteilung von Flüchtlingen auf die gesamte EU vorzunehmen.
  • Mehr Grenzschützer können Migration reduzieren: Um irreguläre Migration an den EU-Außengrenzen zurückzufahren, brauchen wir dringend einen Ausbau von Frontex (Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache).
  • Die deutsche Grenzöffnung war vermeidbar: Angela Merkel hätte die deutsche Grenze im September 2015 auch wieder schließen können, denn dafür gab es einsatzbereite Pläne.
  • Den Europäern fehlt es an Empathie: Europa schottet sich ab, und als Folge daraus werden die meisten Flüchtlinge von armen Ländern aufgenommen.

 

Ich möchte in diesem Buch jede dieser zehn Behauptungen infrage stellen und auch die Konzepte und Begriffe dahinter – Migrationsdruck, legale Wege, Externalisierung, Grenzöffnung, Pull-Effekt – prüfen. Je schneller wir in unserem Denken über Grenzen und Migration Metaphern aus der Hydraulik hinter uns lassen, desto rascher finden wir zu einer lösungsorientierten Debatte. Wir brauchen eine Migrationsdebatte, die genau hinsieht, was Menschen auf beiden Seiten von Grenzen wirklich bewegt. Wer macht sich wann und wo auf den Weg? Welche Gruppe wird in welcher Gesellschaft wie wahrgenommen? Welche Instrumente und Ressourcen gibt es, welche Institutionen und wie viele Beamte sind notwendig, um unsere gesetzlichen Selbstverpflichtungen, etwa das Versprechen auf faire Asylverfahren, auch zu erfüllen? Je eher wir genau hinsehen, desto schneller finden wir auch Wege, um die Situation der Bedürftigsten in der Welt – und dazu zählen Flüchtlinge, die Grenzen überschreiten müssen – zu verbessern. Denn das Leiden an Europas Grenzen ist real. Irrationale Ängste und schwammige Lösungsvorschläge verstellen den Blick auf menschliches Leid, das sich vermeiden ließe.

Das ehrgeizige Ziel muss auch darin bestehen, dafür eine Sprache zu finden, die allgemein verständlich ist. Dabei gilt es, anhand von konkreten Beispielen zu argumentieren und auf konkrete Erfahrungen zu verweisen, die uns helfen können, zu humanen Grenzen zu kommen. Denn, so erklärte der dichtende Politiker Johann Wolfgang von Goethe, der im 18. Jahrhundert zehn Jahre lang als eine Art Premierminister im Fürstentum Weimar regierte, es gebe in der Politik einen „ungeduldigen Verstand, der die Phänomene gern los sein möchte und an ihrer Stelle deswegen Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschreibt“. Doch „allgemeine Begriffe und großer Dünkel sind auf dem Wege, entsetzliches Unheil anzurichten“.

Flüchtlinge und irreguläre Migranten sind keine unwiderstehliche Macht, sondern schwach und verwundbar. Stehen sie einem entschlossenen Staat gegenüber, ist dieser Staat bereit dazu, Gewalt anzuwenden, dann gelingt es, fast jede Zahl von Migranten abzuwehren. So leben heute keine syrischen Flüchtlinge in Israel, obwohl Israel, wie die Türkei, Jordanien oder der Libanon, an Syrien grenzt. Auch der israelische Zaun, der zwei Millionen Menschen in Gaza einschließt, ist fast unüberwindbar, weil es dort einen Schießbefehl gibt. Die Türkei ließ für einige Jahre syrische Flüchtlinge in großer Zahl ins Land und beschloss im Sommer 2015 nach einem Terroranschlag, diesen Zuzug wieder zu stoppen und entlang der syrischen Grenze eine Mauer zu bauen; mit der Schutzbedürftigkeit von Syrern hatte das wenig zu tun, denn die bestand weiterhin.

Eine andere Versuchung besteht darin, das Migrationsgeschehen in der Welt vor allem durch Fluchtursachen zu erklären. Sich gegen Kriege, politische Verfolgung oder extreme Armut einzusetzen ist auch dann wichtig, wenn diese, wie in den allermeisten Fällen, nicht zu Flucht führen. Denn dass es zwingende Gründe gibt, ein Land zu verlassen, erklärt noch nicht, wie vielen Menschen es gelingt, Grenzen irregulär zu überschreiten. Dass eine australische Regierung zwischen 1975 und 1982 etwa 150 000 vietnamesische Flüchtlinge durch Umsiedlung im Land aufnahm, war eine politische Entscheidung; dass eine spätere australische Regierung 2001 angesichts von 12 000 Bootsflüchtlingen in drei Jahren zu drastischen Maßnahmen griff und diese Migration schnell auf null drückte, ebenfalls. Die tatsächlich stattfindende Migration nach Australien war das Ergebnis einer unterschiedlichen Wahrnehmung der Kommenden durch Eliten und Gesellschaft 1981 und 2001, nicht Folge der Zustände in Vietnam oder in Afghanistan. Dass 2016 fast 40 000 Nigerianer Italien erreichten und 2019 weniger als 500, hatte mit Fluchtursachen in ihrer nigerianischen Heimat wenig zu tun. Um diese Veränderung zu erklären, muss man sich mit italienischer Innenpolitik beschäftigen und nicht mit der Armut in Benin-Stadt.

Das Bild irregulärer Einwanderer als mächtiger Armee, die alle Grenzen überwindet, ist ein Mythos. Die Frage lautet vielmehr, ob Staaten bereit sind, Gewalt gegen unbewaffnete Menschen einzusetzen. So ist der wichtigste Verbündete schutzbedürftiger Menschen an Grenzen weder ihre Zahl noch ihre Entschlossenheit, nicht einmal ihre Verzweiflung und Schutzbedürftigkeit. Es ist das Gewissen und das Weltbild jener, die an Grenzen über Gewaltmittel verfügen. Und zu verschiedenen Zeiten haben auch Demokratien sehr unterschiedliche Antworten auf die Frage gegeben, welche Grenzen sie wollen, oft mit dramatischen Folgen für Geflüchtete.

 

Wir werden im Folgenden eine Reise um die Welt machen, von Kanada bis Australien, von Westafrika bis Südostasien, vom Alpenrhein zur Oder, über die Ukraine und die Türkei nach Libyen und Marokko. Wir werden viele Menschen kennenlernen, deren Geschichten uns daran erinnern, dass Grenzen Schicksale bestimmen. Und warum wir uns für menschliche Grenzen der Europäischen Union einsetzen sollten.

Erfolgreiche Politik muss allerdings immer auch Lösungen präsentieren, die Mehrheiten überzeugen. Nicht irgendwann, sondern jetzt; nicht irgendwo, sondern an allen Außengrenzen der EU, vom westlichen Mittelmeer bis zur Ägäis, vor Lampedusa wie in den Bergen des Balkans. In diesem Buch finden Sie Vorschläge für eine neue Generation von Abkommen mit nord- und westafrikanischen Ländern, von Marokko und Tunesien bis Gambia und Nigeria; für eine Koalition europäischer Staaten, damit es keinen einzigen Toten im Mittelmeer gibt; für eine Reorganisation der Seenotrettung; für eine neue Einigung mit der Türkei; für die intensive Kooperation europäischer Asylbehörden bei Pilotprojekten in Melilla, auf Malta, Lampedusa und Lesbos; für eine internationale Koalition zur Wiederbelebung von Resettlement, der Neuansiedlungen Schutzbedürftiger, und für einen neuen Fokus und eine andere Kommunikation des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR. Vorschläge, bei denen es darum geht, Bewegungsfreiheit und Sicherheit, Freiheit und Kontrolle zu verbinden. Und so zu verhindern, dass die Überzeugung von der Unantastbarkeit der Menschenwürde sowie das 70 Jahre alte Versprechen der Genfer Flüchtlingskonvention nicht vor unseren Augen im Mittelmeer versinken.

In der Politik muss man andere von Lösungen überzeugen, damit sich Dinge ändern. Der 1955 verstorbene amerikanische Autor Dale Carnegie schrieb in seinem bis heute verlegten Ratgeber Wie man Freunde gewinnt: „Haben Sie je darüber nachgedacht, dass es auf der ganzen Welt nur einen einzigen Weg gibt, einen Menschen dazu zu bringen, etwas Bestimmtes zu tun? Man muss erreichen, dass er es selbst tun will! Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.“ Und er ergänzte: „Natürlich können Sie jemandem den Revolver auf die Brust setzen und ihn zwingen, Ihnen seine Uhr zu geben … Aber diese unsanften Holzhammermethoden haben höchst unerfreuliche Rückwirkungen.“ Das gilt auch, wenn es um Migration geht. Im November 1784 schrieb Johann Wolfgang von Goethe über die Kunst des Führens: „Man muss Hindernisse wegnehmen, Begriffe aufklären, Beispiele geben, alle Teilhaber zu interessieren suchen. Das ist freilich beschwerlicher als befehlen, indessen die einzige Art, in einer … wichtigen Sache zum Zwecke zu gelangen und nicht verändern wollen, sondern verändern.“ Das ist auch das Ziel dieses Buches.

Gerald Knaus

Über Gerald Knaus

Biografie

Gerald Knaus ist Gründungsdirektor der Denkfabrik European Stability Initiative (ESI). Er ist ein international bekannter Experte und berät Regierungen und Institutionen in Europa bei den Themen Flucht, Migration und Menschenrechte. Er studierte Philosophie, Politik und Internationale Beziehungen in...

Interview mit Gerald Knaus

Was macht eine erfolgreiche Asyl- und Migrationspolitik aus?

Erfolgreiche Politik muss Lösungen präsentieren, die Mehrheiten überzeugen. Nicht irgendwann, sondern jetzt; nicht irgendwo, sondern an allen Außengrenzen der EU, vom westlichen Mittelmeer bis zur Ägäis, vor Lampedusa wie in den Bergen des Balkans. Es muss darum gehen, Bewegungsfreiheit und Sicherheit, Freiheit und Kontrolle zu verbinden.

Welche Herausforderungen sehen Sie in Europa aktuell?

Populistische Bewegungen in ganz Europa versuchen seit 2015 jede Wahl zu einem Plebiszit über Migration zu machen, zu einer Abstimmung über die Unfähigkeit europäischer Eliten, Masseneinwanderung und „Islamisierung“ zu stoppen. Ihr Ziel ist die grundlegende Veränderung der Europäischen Union. Mögliche Vertragsverletzungsverfahren, um etwa die Rechtsstaatlichkeit in Mitgliedsstaaten wie Polen oder Ungarn zu schützen, werden als Bevormundung zurückgewiesen. In der Flüchtlingspolitik soll sich die ganze EU an Ungarn orientieren. Die Ankündigung des ungarischen Premierministers Viktor Orban im September 2015, das „Zeitalter der universellen Menschenrechte“ sei nun zu Ende, soll sich auch in der Außenpolitik der Union niederschlagen. Dabei war die Grundlage der moralischen Neugründung Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg die Ausrichtung staatlicher Politik an der Würde jedes Einzelnen.

Doch selbst der Kern des internationalen Flüchtlingsschutzes wird regelmäßig verletzt: das Verbot, Menschen zurückzustoßen, die an Grenzen aufgegriffen werden. Es droht das Ende einer Ära, die vor 70 Jahren mit der Annahme der Europäischen Menschenrechtskonvention im Jahr 1950 und der Genfer Flüchtlingskonvention 1951 begann. Und wenn das oberste Gericht der EU feststellt, dass es in Polen eine venezolanische Justiz gibt, in der jeder Richter vom Justizminister eingeschüchtert werden kann, berührt das die Systemfrage. In der EU teilen Demokratien Souveränität auf der Grundlage gemeinsamer Grundwerte. Diese müssen wir auch verteidigen.

Über dieses Buch

„Dieses Buch richtet sich an Leserinnen und Leser, die davon überzeugt sind, dass es möglich sein muss, an Europas Grenzen Kontrolle mit Respekt für Menschenwürde zu verbinden. Es ist für jene, die der Gedanke an fast 18 000 Männer, Frauen und Kinder, die in nur fünf Jahren im Mittelmeer ertrunken sind, und an Kinder, die im Winter in Zelten auf einer Insel in der Ägäis frieren, nicht loslässt. Es ist für Europäerinnen und Europäer, die sich ein Grenzregime wünschen, das Kontrolle mit Menschlichkeit verbindet und dabei den Kern der Genfer Flüchtlingskonvention verteidigt: das Gebot der Nichtzurückweisung von Schutzsuchenden. Und die gleichzeitig ernst nehmen, dass man in Demokratien Mehrheiten erringen und verteidigen sowie in der EU andere Staaten mit Argumenten überzeugen muss, um Politik gestalten zu können.“ Gerald Knaus

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