Wenn Rache nicht genügt (Alexander-Gerlach-Reihe 16) - eBook-Ausgabe
Ein Fall für Alexander Gerlach
Wenn Rache nicht genügt (Alexander-Gerlach-Reihe 16) — Inhalt
„Wolfgang Burger schreibt spannende Psychoklassiker, randvoll von subtiler Ironie“ Der Kurier
Viele Jahre ist es her, dass Gustaf, der jüngste Sohn der wohlhabenden Heidelberger Familie Cordes, wegen Mordes verurteilt wurde. Das Opfer: sein eigener Halbbruder. Gustaf beteuert seine Unschuld auch noch nach seiner Entlassung aus der Haft, und bittet Alexander Gerlach, den Fall neu aufzurollen.
Der Kripochef ist skeptisch, doch bei der Befragung der Familienmitglieder stößt er auf ein Netz aus Lügen und Intrigen. Was geschah wirklich in der Nacht, in der Oliver Cordes erschlagen wurde? Warum ist dessen Schwester seither spurlos verschwunden? Und wieso ist Gustafs Mutter von der Schuld ihres Sohnes überzeugt? Gerlach wird klar: In dieser Familie hatte jedes Mitglied Grund, Oliver den Tod zu wünschen …
Preisgekrönte Spannung in Krimiserie!
Mit „Heidelberger Requiem“ legte Wolfgang Burger 2005 ein fulminantes Krimi-Debüt vor, das sich aus dem Stand zur neuen Obsession der Fans des Ermittlerkrimis mauserte. Seine Bücher waren bereits mehrfach für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert und stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.
Leseprobe zu „Wenn Rache nicht genügt (Alexander-Gerlach-Reihe 16)“
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Für die meisten von uns ist die Familie ein Ruhepunkt, die Wärme spendende Sonne, um die unser Leben kreist. Für andere ist sie der Vorhof zur Hölle. Gustaf Cordes zählte zur zweiten Gruppe.
Seinen Namen hörte ich zum ersten Mal, als ich an einem feuchten Samstagnachmittag Anfang Juli durch die Heidelberger Altstadt streifte, um mir zwei oder drei Hemden der Preisklasse zu kaufen, die ich für den Berufsalltag bevorzugte. Nicht so teuer, dass ich mich ständig über das ausgegebene Geld ärgern musste, das sich im Alltagsstress zügig in Luft auflöste. Nicht [...]
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Für die meisten von uns ist die Familie ein Ruhepunkt, die Wärme spendende Sonne, um die unser Leben kreist. Für andere ist sie der Vorhof zur Hölle. Gustaf Cordes zählte zur zweiten Gruppe.
Seinen Namen hörte ich zum ersten Mal, als ich an einem feuchten Samstagnachmittag Anfang Juli durch die Heidelberger Altstadt streifte, um mir zwei oder drei Hemden der Preisklasse zu kaufen, die ich für den Berufsalltag bevorzugte. Nicht so teuer, dass ich mich ständig über das ausgegebene Geld ärgern musste, das sich im Alltagsstress zügig in Luft auflöste. Nicht so billig, dass ich mir von Sönnchen, meiner aufmerksamen Sekretärin, jeden Morgen ein Stirnrunzeln gefallen lassen musste. Es war ein grauer, windstiller Tag, der Sommerschlussverkauf bereits in vollem Gang.
„Herr Gerlach!“, brüllte eine Männerstimme in meinem Rücken, als ich eines der preiswerteren Bekleidungsgeschäfte an der westlichen Hauptstraße betrat, dessen Schaufenster von oben bis unten mit alarmroten „SALE!“-Plakaten zugekleistert waren. „Das ist ja ein Ding, dass Sie mir hier einfach so über den Weg laufen!“
Ich unterdrückte einen Seufzer und wandte mich um. Im ersten Moment glaubte ich unter Halluzinationen zu leiden, denn hinter mir stand niemand. Erst als ich den Blick weiter nach unten wandern ließ, entdeckte ich den Mann, dessen Körpergröße nicht zum durchdringenden Organ passte. Ich schätzte den Kerl, der mich von unten herauf tatendurstig anstrahlte, auf knapp einen Meter siebzig und maximal fünfzig Kilo. Und ich war mir sicher, ihm schon einmal begegnet zu sein. Und zwar in Ausübung meines Berufs. Ich wusste nur nicht, wo und wann und in welchem Zusammenhang.
„Ach, guten Tag“, sagte ich. „Sie …?“
„Strohschneider“, grölte der Fremde mit dem kräftigen Organ begeistert und streckte mir mit einer sportlichen Bewegung seine knochige Rechte hin. „Jetzt wissen Sie nicht, wo Sie mich komischen Vogel hinstecken sollen, gell?“
Natürlich! Der Mann, der gerade meine Hand quetschte, war Bewährungshelfer und in seinem Job außerordentlich erfolgreich. Obwohl er auf den ersten Blick nicht so wirkte, als könnte er seinen Klienten, meist harte Jungs und Wiederholungstäter, Respekt einflößen. Als ich im vergangenen Jahr bei ihm war, hatte er einen mehrfach verurteilten Hundertfünfzig-Kilo-Riesen und Gewohnheitsschläger herumkommandiert wie einen verschüchterten Erstklässler.
„Hätten Sie ein paar Sekündchen für mich?“, fragte Strohschneider, immer noch so freudig erregt, als hätte er endlich die Frau seiner Träume angesprochen und sich keinen Korb eingefangen. „Dann brauch ich Sie nicht anrufen. Das hatt ich nämlich eigentlich vor, Sie am Montag anrufen.“
Eine ausgeblichene, mehr graue als schwarze Jeans schlabberte um seine Hüften. Das blassgelbe T-Shirt mit der Aufschrift I’m not old but vintage war ihm zwei Nummern zu groß. An den Füßen trug er Sportschuhe, die schon bessere Tage gesehen hatten. Im schmalen, nachlässig rasierten Gesicht hing ein wenig schief eine kleine Nickelbrille mit dicken, runden Gläsern.
„Also, eigentlich …“, erwiderte ich zögernd.
Hatte er bei unserem letzten Treffen nicht geschielt? Oder war er am Ende doch nicht der, für den ich ihn hielt?
„Weiß schon, es ist Samstag, und am Samstag haben Sie meistens frei. Aber jetzt geben Sie sich halt mal einen kleinen Ruck, Herr Gerlach“, forderte er grinsend. „Tun Sie auch mal was für die Resozialisierung. Sie können nicht immer bloß Leute in den Knast bringen und mich dann später die Drecksarbeit machen lassen.“
Als ich immer noch nicht in Begeisterung ausbrach, erlosch sein Grinsen. „Ich spendier Ihnen sogar einen Kaffee. Auf meine Kosten. So was wie Spesen gibt’s in meinem traurigen Geschäft ja nicht.“
Bald darauf standen wir an einem Stehtisch vor einem Backshop unweit der traditionsreichen Buchhandlung mit der dunkelgrünen Fassade. Vor mir dampfte ein doppelter Espresso, der Bewährungshelfer hatte sich von seinem schmalen Gehalt einen Latte macchiato geleistet.
„Es geht um Gustaf Cordes.“
„Nie gehört.“
Mit theatralischer Geste langte er sich an den Kopf. „Logisch. Den hat ja noch Ihr Vorgänger eingelocht, der Seifried.“
Bei der Nennung des Namens klangen wenig Sympathie und eine Menge Vorbehalte mit. Offenbar waren die beiden Männer seinerzeit nicht die allerbesten Freunde gewesen.
Gustaf Cordes hatte vor fast sechs Jahren seinen Bruder erschlagen und war später wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Haftstrafe von fünf Jahren verurteilt worden.
„Und seit vierzehn Tagen ist er jetzt wieder raus.“
„Wo ist das Problem?“
„Das Problem?“ Strohschneider nippte an seinem hohen Glas, sah einer bis zu uns hin duftenden Rothaarigen nach, die ihn um mindestens einen Kopf überragte und in ultrakurzem Röckchen und auf rekordverdächtig hohen Absätzen in Richtung Innenstadt schnürte. Dann wandte er sich wieder mir zu. „Das Problem ist“, sagte er in einem Ton, als würde er mir ein Staatsgeheimnis anvertrauen, „er behauptet, er war’s gar nicht.“
Ich konnte mir ein Lachen nicht ganz verkneifen. „Unsere Gefängnisse sind überfüllt mit angeblich Unschuldigen.“
Gleichmütig rührte er mit einem langen Löffel in seinem Glas, wodurch der Latte macchiato sich zügig in einen Café au Lait verwandelte. Aus dem Inneren des Backshops wehte der Duft von frischen Brötchen heran.
„Weiß ich, Herr Gerlach, weiß ich doch auch. Aber in diesem Fall – ich bin normalerweise auch ziemlich dickfellig in so Sachen …“
„Sie glauben ihm?“
Er hörte auf zu rühren und sah mir wieder ins Gesicht. „Sagen wir, ich hab so ein Gefühl. Ja, lachen Sie ruhig. Tät ich an Ihrer Stelle wahrscheinlich auch. Aber trotzdem …“
Cordes hatte seine Tat im Drogen- und Alkoholrausch und weitgehender geistiger Umnachtung begangen, erfuhr ich in den folgenden Minuten, weshalb er nicht wegen Mordes verurteilt worden war. Eine Menge Indizien hatten gegen ihn gesprochen, und nach anfänglichem Leugnen hatte er die Tat bald zugegeben. Dieses frühe Geständnis war einer der Gründe dafür gewesen, dass der Richter eher am unteren Ende des möglichen Strafmaßes von drei bis acht Jahren geblieben war. Während der Haft hatte der junge Mann einen Drogenentzug begonnen und auch durchgehalten und sich im Großen und Ganzen ordentlich aufgeführt, sodass er eigentlich lange vor der Zeit hätte auf Bewährung entlassen werden können. Da er jedoch schon wenige Monate nach der Verurteilung begonnen hatte, seine Unschuld zu beteuern und Protestbriefe und Eingaben an alle Welt zu schreiben, hatte er seine Strafe wegen mangelnder Schuldeinsicht bis zum bitteren Ende absitzen müssen.
„So weit verstanden.“ Ich leerte mein Tässchen, stellte es mit demonstrativer Endgültigkeit auf den Teller zurück. „Nicht verstanden habe ich, was mich das alles angehen soll.“
Strohschneiders Interesse galt vorübergehend einer kleinen Blonden, die eine frappierende Ähnlichkeit mit Marilyn Monroe hatte. „Dass Sie mal mit dem Gusti reden“, sagte er, als auch diese Ablenkung außer Sicht war. „Dass Sie sich eine Viertelstunde Zeit nehmen und seine Geschichte anhören. Das ist alles, worum ich Sie bitte.“
„Und was sollte dabei herauskommen?“
Marilyn kam schon wieder zurück, stöckelte mit hüpfenden Löckchen und ohne nach rechts oder links zu sehen in Richtung Bismarckplatz.
„Sie wissen so gut wie ich …“, setzte ich an.
Der Bewährungshelfer seufzte so tief, als hätte er genau diesen Ausgang des Gesprächs vorhergesehen, und leerte sein Glas. „Klar weiß ich. Ich kenn auch die Gesetze. Aber irgendwie …“ Er zuckte die schmalen Achseln. „Herrgott, ich will mir halt später nicht vorwerfen müssen, irgendwas versäumt zu haben.“
„Fürchten Sie, er könnte sich was antun?“
Er stierte in sein leeres, mit bräunlichem Milchschaum verschmiertes Glas. In der Ferne verklang das Tackern von Marilyns Absätzen. „Ich komm einfach nicht mehr an den Knaben ran. Hab ihn während der Haftzeit betreut, und eigentlich haben wir immer ein prima Verhältnis gehabt. Aber seit er raus ist … Vielleicht wirft er wieder irgendwas ein, was weiß ich, und eigentlich würd’s mich ja auch gar nichts angehen, schließlich ist er nicht auf Bewährung.“
Um der Sache ein Ende zu machen, versprach ich, mir die Angelegenheit durch den Kopf gehen zu lassen und Strohschneider im Lauf der kommenden Woche anzurufen.
Meinen Espresso bezahlte ich vorsichtshalber selbst.
2
Am Montag wurde es später Nachmittag, bis ich Gelegenheit fand, einen Blick in die vier prallen Ordner zu werfen, die Sönnchen, meine Stütze in allen Lebenslagen, kluge Ratgeberin und nebenbei auch noch Sekretärin, ohne zu meutern aus dem Archiv geholt und auf meinen Schreibtisch gewuchtet hatte. Das Wochenende war gemütlich verregnet gewesen, sodass ich mich gut erholt hatte. Hemden hatte ich am Samstag dann doch keine gekauft, weil mir nach dem Gespräch mit Strohschneider nichts mehr gefallen wollte.
Das Allermeiste von dem, was ich flüchtig durchblätterte, interessierte mich nicht. Als Polizist interessierte ich mich für Fakten, weshalb ich erst zu lesen begann, als die Berichte kamen, die die Kollegen vom Dezernat für Kriminaltechnik vor fast sechs Jahren angefertigt hatten. Die Tat war am späten Abend des 15. September geschehen, einem Samstag. Nicht einmal die ungefähre Tatzeit hatte sich später noch feststellen lassen. Ohne Angabe von Gründen hatte jemand als Todeszeitpunkt „zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens“ notiert.
Fotos waren beigefügt, wie damals noch üblich, säuberlich auf dünne Pappe geklebt. Der Tatort hatte ausgesehen, dass selbst ich als völlig Unbeteiligter schlucken musste. Eine blutige Schweinerei, wie man sie auch als Kriminalist glücklicherweise nicht oft zu sehen bekommt. Das Gemetzel hatte jedoch nicht der Täter angerichtet, sondern die zwei großen Hunde der Familie. Das Verbrechen hatte sich im geräumigen und hell eingerichteten Wohnraum eines Einfamilienhauses in Wiesloch ereignet, einem Städtchen etwa fünfzehn Kilometer südlich von Heidelberg. Nachdem der Täter die eiserne und scharfkantige Statue, die ihm als Waffe gedient hatte, wieder ordentlich an ihren Platz gestellt und sich schlafen gelegt hatte, waren irgendwann die Hunde über den Toten hergefallen. Gustaf Cordes hatte nach seiner Tat so tief geschlafen, dass er erst am Nachmittag des Folgetages wieder zu sich kam, als der Rest der Familie von was auch immer zurückkehrte und die grauenvolle Bescherung entdeckte. In der Akte fand ich mehrere vom Erkennungsdienst angefertigte Porträtfotos des geständigen Täters. Gustaf Cordes hatte ein längliches, etwas eingefallenes Gesicht. Unter den tief liegenden Augen hingen dunkle Ringe. Der Blick war leer und verriet nichts darüber, was in dem jungen Mann vor sich ging. Er erweckte den Eindruck, als hätte er zum Zeitpunkt der Aufnahme noch nicht verstanden, wie ihm geschah.
Die Statue war aus einem nicht genauer bezeichneten Metall gefertigt, gut dreißig Zentimeter hoch, stellte einen länglichen Frauenkopf mit Kussmund und geschlossenen Augen dar und besaß einen wuchtigen, kantigen Sockel. Das untere Ende war der Teil gewesen, der den Kopf des Opfers traf.
Das Blut des Toten hatte auch am nächsten Nachmittag noch an Gustafs Händen geklebt, seine Fingerabdrücke fanden sich auf der Tatwaffe, und sogar an seinen dicken Wollsocken hatten unsere Techniker Spuren von Blut gefunden. Um die Sache komplett zu machen, hatte er – offenbar in völliger Verblödung – auch noch einige Geldscheine und eine Kreditkarte aus der Geldbörse seines Bruders entwendet. Es war bekannt gewesen, dass die beiden sich hassten. Erst wenige Stunden vor dem tödlichen Zusammentreffen hatte es wieder einmal Streit und Geschrei gegeben. Alle, wirklich alle Indizien sprachen gegen Gustaf Cordes. Nach einigem Hin und Her hatte er gestanden. Das unterschriebene Geständnis war auf den 18. September datiert, also drei Tage nach der Tat.
Ich klappte den Ordner wieder zu, legte ihn auf den Stapel zurück und rief Strohschneider an.
„Vergessen Sie es“, sagte ich. „Solange er nicht irgendwas Belastbares beibringt, irgendwelche neuen Aspekte, die damals nicht bekannt waren oder von mir aus im Hauptverfahren nicht ausreichend gewürdigt wurden, wird kein Staatsanwalt der Welt die Akte noch mal anfassen.“
Der Bewährungshelfer wirkte nicht überrascht. „Trotzdem danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben.“
„Dann schicke ich den Krempel jetzt wieder ins Archiv zurück.“
„Versteh ich. Ich versteh Sie vollkommen.“
„Aber es passt Ihnen trotzdem nicht.“
Zögern. Unbehagliches Schnaufen. Dann: „Logisch nicht. Nein.“
„Herr Strohschneider …“
„Herrgott, ich versteh nicht, wieso mir die blöde Geschichte nicht aus dem Kopf geht.“
„Da werde ich Ihnen vermutlich nicht helfen können.“
„Doch. Können Sie.“
„Und zwar wie?“
„Indem Sie halt mal mit dem Gustaf reden. Indem Sie sich selber ein Bild machen von ihm und seiner Story.“
Ich nahm die Brille ab und massierte meine müden Augen. „Haben Sie WhatsApp auf Ihrem Handy?“
„Klar. Wieso?“
„Darf ich Ihnen mal ein Foto von meinem Schreibtisch schicken?“
Strohschneider lachte. „In meinem Büro sieht’s auch aus wie in einem Hühnerstall, in dem die Füchse Party gemacht haben. Wir sind einfach zu wenige. Der Staat gibt zu wenig Geld für die Resozialisierung aus und zu viel für die Knäste. Und dann wundert man sich, wenn die Knackis ein paar Wochen nach ihrer Haftentlassung schon wieder einsitzen. Aktuell hab ich knapp hundert Kunden auf meinem Zettel. Und es werden ständig mehr. Wir kämpfen mit Kinderschäufelchen gegen einen Dammbruch, Sie so gut wie ich, Herr Gerlach. Und trotzdem, in unseren Jobs geht’s doch um Menschen und nicht bloß um Fakten und Beweise. Hinter jedem einzelnen Namen auf meiner Liste steht ein Mensch mit seinem Schicksal …“
„Vielleicht sollten Sie sich mal ein paar Wochen Urlaub gönnen?“, schlug ich vor.
Sein Lachen klang dieses Mal nicht lustig.
„Selbstverständlich wirst du feiern!“, verkündete Theresa beim Abendessen ungehalten und legte das Messer neben den Teller. „Es ist dein Fünfzigster, das wäre ja noch schöner.“
„Es ist mein Geburtstag“, erwiderte ich trotzig. „Und deshalb habe ich wohl auch ein Wörtchen mitzureden.“
„Ebendeshalb. Man wird nur einmal im Leben fünfzig.“
„Eigentlich habe ich noch nie Geburtstag gefeiert, so mit Gästen und allem.“
„Dann ist es höchste Zeit, das zu ändern.“
Ich beschmierte eine Scheibe Roggenvollkornbrot dick mit fetter Leberwurst und biss mit Genuss hinein. Seit einigen Monaten aß und schlief ich abwechselnd bei meinen Töchtern und bei Theresa. Heute war ein Theresa-Abend.
„Ich sehe nicht ein, was es da zu feiern geben soll“, sagte ich, als ich den Happen heruntergeschluckt hatte. „Geburtstag heißt doch, der Tod ist wieder ein Jahr näher gerückt. Fünfzig heißt, die Hälfte des Lebens ist vorbei. Wo, bitte schön, siehst du da einen Grund, sich zu freuen?“
Darauf wusste zu meiner Überraschung selbst Theresa keine Antwort.
„Na ja“, sagte sie nach längerem Nachdenken, während sie Radieschen in dünne Scheiben schnitt und mit grobem Meersalz bestreute. „Man feiert, dass man es so weit geschafft hat, ohne von einem Bus überfahren worden oder an Krebs gestorben zu sein. Das Leben ist ja nicht ganz ungefährlich.“
Schließlich ließ sie die Angelegenheit auf sich beruhen und wechselte das Thema. Vor drei Wochen hatte sie endlich ihr drittes Manuskript an den Kölner Verlag geschickt, der auch ihre ersten beiden Bücher herausgebracht hatte. Den Arbeitstitel „Die lange Geschichte des ältesten Gewerbes der Welt“ hatte die Lektorin bereits abgeschmettert. Vom Text dagegen war sie sehr angetan.
„Sie hat kaum etwas zu bemäkeln gefunden, sagt sie. Ende der Woche kriege ich es schon wieder zurück. Als Erscheinungstermin peilen sie den November an. November ist gut fürs Weihnachtsgeschäft. Demnächst soll auch der Vertrag kommen.“
Ich nippte am Rotwein, den ich mir inzwischen eingeschenkt hatte, und überlegte, ob ich mir noch eine zweite Scheibe vom frischen Brot mit dieser unglaublich leckeren geräucherten Leberwurst erlauben durfte. „Gibt es schon andere Titelvorschläge?“
„Esther meint, so was wie Sex for sale oder Money for Love wäre gut. Aber mir klingt das zu reißerisch.“
„Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse kriegen Gold und Silber“, fiel mir spontan ein.
Theresa lachte. „Erinnert an ein Buch, das sich nur wegen seines Titels irre gut verkauft hat. Aber es macht neugierig, keine Frage. Ich kann es ja mal vorschlagen.“
„Wie laufen eigentlich deine anderen Bücher?“
Vor wenigen Tagen erst war die Abrechnung für das vergangene Jahr gekommen. Theresa hatte sie in meinem Beisein geöffnet, mir jedoch nicht gezeigt und anschließend längere Zeit schlechte Laune gehabt.
„Vom Ersten haben sie im vergangenen Jahr dreihundertsomething verkauft. Vom Zweiten nicht mal hundert.“
„Wird wohl noch ein paar Tage dauern, bis du davon leben kannst.“
Schnaubend griff sie sich in die honigblonde Lockenpracht. „Dazu müsste ich bei einem der großen Verlage sein. Diese Winzverlage werden vom Buchhandel einfach nicht ernst genommen.“
Ich entschied mich gegen Brot und Leberwurst, nahm mir stattdessen ebenfalls eine Handvoll Radieschen und schenkte mir Wein nach.
„Vertrag kommt demnächst – das heißt, du hast noch nichts unterschrieben?“
Theresa schüttelte den Kopf.
„Was hindert dich dann daran, das Manuskript anderen Verlagen anzubieten? Größeren Verlagen?“
Über diesen Punkt musste sie ein Weilchen nachdenken. „Nichts eigentlich“, sagte sie schließlich. „Außer dass ich ein schlechtes Gewissen hätte. Sie haben meine ersten beiden Bücher herausgegeben und sind bereit, auch das neue zu machen, obwohl sie damit bestimmt auch keinen Bestseller landen.“
„Du könntest es doch einfach mal versuchen. Kopier das Ding ein paarmal, schick es an ein paar große Verlage, das kostet nicht die Welt …“
„Die Verlage nehmen Manuskripte heute nur noch elektronisch an. Spart das Porto für die Rücksendung der Papierberge.“
„Umso besser. Schreib eine originelle und witzige Mail dazu. Was hast du schon zu verlieren?“
„Den Glauben an mich. Ich käme mir schäbig vor.“
„Eines habe ich gelernt im ersten halben Jahrhundert meines Lebens …“ Ich seufzte. „Die Leute, die das große Geld machen, haben alle einen Gendefekt, der verhindert, dass sie sich jemals wegen irgendwas schäbig fühlen.“
Theresa grinste und nahm nun ebenfalls einen kräftigen Schluck vom Primitivo, den sie heute auf den Tisch gestellt hatte. „Zimperlichkeit ist nicht hilfreich im Geschäftsleben, das ist mir auch schon aufgefallen.“
„Und was machst du jetzt?“
„Jetzt räume ich den Tisch ab. Und dann machen wir es uns im Wintergarten gemütlich.“
Auf den Wintergarten freute ich mich. Man hatte nach zwei Seiten freien Blick in Theresas Garten, der aber über die Jahre so zugewuchert war, dass keiner der Nachbarn uns sehen konnte.
Theresa war eine attraktive, selbstbewusste Frau mit den richtigen Rundungen an den passenden Stellen und Zärtlichkeiten selten abgeneigt. Draußen ging ein friedlicher Sommerdauerregen nieder. Es versprach ein unterhaltsamer Abend zu werden.
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