Wer nicht schreibt, bleibt dumm - eBook-Ausgabe
Warum unsere Kinder ohne Handschrift das Denken verlernen
„Eine große Stärke des Buches liegt darin, dass wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema ebenso berücksichtigt werden wie Erfahrungen aus der Praxis, und zudem kommen auch die Betroffenen selbst zu Wort.“ - Das Archiv
Wer nicht schreibt, bleibt dumm — Inhalt
Die engagierte Lehrerin Maria-Anna Schulze Brüning beobachtet seit Jahren, wie sich die Handschrift ihrer Schüler rapide verschlechtert. Unsere Kinder sind jedoch keine Generation lernunwilliger Grobmotoriker, wie sie betont, sondern Opfer einer fehlgeleiteten Schulpolitik. Handschrift und Rechtschreibung werden in den Grundschulen vernachlässigt und dem Experimentieren preisgegeben. Lernfreude und vernetztes Denken bleiben dabei auf der Strecke, denn Krakelschriften werden für Kinder immer mehr zum Handicap. Gemeinsam mit dem Journalisten Stephan Clauss zeigt die erfahrene Pädagogin, wie ein kostbares Kulturgut aufs Spiel gesetzt wird und welche Konzepte Schülern wirklich helfen, um aus einer „Sauklaue“ eine Handschrift zu machen. Denn gut und lesbar zu schreiben ist auch im digitalen Zeitalter kein Luxus, sondern elementar für die Zukunft unserer Kinder.
Leseprobe zu „Wer nicht schreibt, bleibt dumm“
Seit vielen Jahren beobachten Lehrer an deutschen Schulen, wie die Handschriften der Schüler sich alarmierend verschlechtern. Sie sehen mit Sorge, dass immer mehr Kinder unleserlich, langsam oder nur mit großer Mühe schreiben können. Hinzu kommt bei immer mehr Schülern eine fehlende Rechtschreibkompetenz. Die Lehrer sehen, wie sehr diese Kinder gehandicapt sind, wenn sie schriftliche Aufgaben nicht bewältigen können, und wie ihre Motivation zu lernen abnimmt, sobald es ums Schreiben geht. Und sie sehen auch, welche negativen Folgen die fehlende [...]
Seit vielen Jahren beobachten Lehrer an deutschen Schulen, wie die Handschriften der Schüler sich alarmierend verschlechtern. Sie sehen mit Sorge, dass immer mehr Kinder unleserlich, langsam oder nur mit großer Mühe schreiben können. Hinzu kommt bei immer mehr Schülern eine fehlende Rechtschreibkompetenz. Die Lehrer sehen, wie sehr diese Kinder gehandicapt sind, wenn sie schriftliche Aufgaben nicht bewältigen können, und wie ihre Motivation zu lernen abnimmt, sobald es ums Schreiben geht. Und sie sehen auch, welche negativen Folgen die fehlende Schreibfertigkeit für den Schulerfolg haben kann. Das Rumoren in den Kollegien, insbesondere der weiterführenden Schulen, ist so groß, dass sich der Deutsche Lehrerverband 2014 genötigt sah, eine bundesweite Befragung in Auftrag zu geben, um das Ausmaß dieses Schriftdesasters sichtbar zu machen.
Als Lehrerin an einer Gesamtschule mache auch ich seit den Neunzigerjahren die Erfahrung, dass eine zunehmende Zahl von Kindern eine Handschrift hat, die nicht lesbar, sondern bestenfalls entzifferbar ist. Dabei erging es mir zunächst wie wohl fast allen anderen Unterrichtenden: Ich empfand die Krakelschriften als Zumutung und sah darin eine ärgerliche Nachlässigkeit und Flüchtigkeit desinteressierter Schüler. Erstaunlich für mich war dann aber, dass kleine Anregungen, wie man diesen oder jenen Buchstaben besser schreiben kann, von einigen Schülern dankbar angenommen wurden und sich ihr Schriftbild tatsächlich ein wenig verbesserte.
Eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Problem begann, als ich einem Fünftklässler, der nichts Entzifferbares zu Papier bringen konnte, im Kunstunterricht Schriftübungen vorlegte, die ich für ihn entworfen hatte. Die Reaktion war überraschend. Geradezu eifersüchtig reagierten andere Jungen: „Wieso darf der Niklas Schreiben üben und ich nicht?“ – „Schauen Sie, mein Heft!“ – „Schauen Sie, meine Schrift!“ – „Und ich?“ – „Und ich?“ Am Ende waren es sieben Jungen, die fast um die Wette das korrekte, leserliche und zügige Schreiben übten. Und das mit gutem Erfolg! Die Deutsch- und Klassenlehrerin beschrieb den Effekt des Schrifttrainings als Befreiungsschlag für ihre Jungen.
Ist dieser Begriff nicht übertrieben? Ist die Handschrift denn heute wirklich noch so wichtig? Brauchen wir überhaupt noch eine Handschrift? Im Alltag werden doch nur noch Einkaufszettel mit der Hand geschrieben, heißt es immer. Die Schule wird dabei aber ganz vergessen! Kinder lernen mit der Handschrift Lesen und Schreiben. Sie lernen mit der Handschrift, Wissenswertes festzuhalten und zu erinnern sowie eigene Gedanken zu strukturieren und zu formulieren. Kurz, die Handschrift ist ein zentrales Medium des Schriftspracherwerbs und des Lernens überhaupt. Kinder schreiben in der Schule 10 bis 13 Jahre lang jeden Tag, und sogar im Studium werden Klausuren noch handschriftlich verfasst. Auch wenn sich so mancher eine Komplettausstattung der Schulen mit Tablets oder Notebooks wünscht – derzeit ist jeder Schüler und jeder Student auf eine flüssige und lesbare Handschrift angewiesen. All die, die sie nicht erlernt haben, sind stets benachteiligt.
Die positive Resonanz der Schüler auf meine Schriftnachhilfe war für mich der Ansporn, mich systematischer mit dem Problem der unleserlichen Handschriften zu befassen. Sieben Schüler in einer Klasse, die nicht richtig schreiben können! Wie viele mochten es wohl im gesamten sechszügigen Jahrgang sein? Ein Schrifttest ergab, dass 30 Kinder, und zwar fast ausschließlich Jungen, betroffen waren. Eine ganze Schulklasse! Und dabei waren all diejenigen noch nicht einmal mitgezählt, die zwar leserlich, aber viel zu langsam schrieben. War das ein Problem meiner Schule? Auch Kollegen anderer Schulen hörte man immer wieder über die vielen unsäglichen Handschriften klagen. Fünf weitere Schulen stellten mir Schriftproben ihrer Schulklassen des 5. und 6. Jahrgangs zur Verfügung, und es ergab sich ein ähnliches Bild – nicht nur, was die Anzahl der unleserlichen Schriften betraf, auch die Qualität war ähnlich. Die zahlreichen Fehlformen oder Entgleisungen wiederholten sich in vielen Schriftproben. Es war dieser Déjà-vu-Effekt, der mich veranlasste, die Schriftproben immer wieder zu vergleichen und zu sortieren. Dabei erschlossen sich viele Details, die man einer Handschrift nicht auf den ersten Blick ansieht.
Wenn man davon ausgeht, dass es nicht unbedingt motorische Störungen sind, die ein Kind daran hindern, eine leserliche Handschrift zu erwerben, muss man fragen: Wie hat es schreiben gelernt? Eine Handschrift fällt ja nicht vom Himmel. Welches Fundament fehlt da, und was läuft falsch in diesen verunglückten Schriften? Die erschreckende Erkenntnis ist, dass viele der betroffenen Kinder die korrekte Schreibweise etlicher Buchstaben gar nicht kennen, sie nicht koordiniert schreiben können und Buchstabenverbindungen und Grundbewegungen des Schreibens nicht beherrschen. Besonders auffällig ist das Schriftbild der Kinder, die die Vereinfachte Ausgangsschrift gelernt haben. Die meisten Kinder hätten richtig schreiben lernen können, wenn sie von Anfang an richtig geschrieben und ausreichend Übungszeit bekommen hätten oder wenn die Tücken der Vereinfachten Ausgangsschrift ihnen nicht zum Verhängnis geworden wären. Diese Feststellung muss man allzu häufig machen. Es sind ungelernte Handschriften, in denen vieles falsch automatisiert ist.
Nun fragt man sich: Hat es in Deutschland denn nicht genug neue Methoden gegeben, das Lesen- und Schreiben-Lernen zu vereinfachen oder neu zu erfinden? Doch, die hat es gegeben! Geradezu revolutioniert hat man den Anfangsunterricht des Schrifterwerbs. Erprobung, wissenschaftliche Begleitung und seriöse Bewertung kann man jedoch mit der Lupe suchen. Die hat es zum Beispiel bei der Einführung der Vereinfachten Ausgangsschrift nicht gegeben, und die lässt auch jetzt bei der Einführung der neuen Grundschrift zu wünschen übrig. Eine Methode kann ungeprüft die nächste ersetzen.
Wenn es sich nicht verheimlichen lässt, dass es erhebliche Defizite gibt, so wie jetzt im Fall des Schriftdesasters, werden die Ursachen überall gesucht, nur nicht in didaktischen Fehlentscheidungen. Wie gerufen kommen deshalb in dieser Situation die neuen digitalen Medien – und zwar in einer durchaus fragwürdigen Doppelrolle: als angebliche Ursache des Problems und zugleich als dessen Lösung. Kinder können, so wird argumentiert, nicht mehr richtig schreiben, weil sie nur noch an das Tippen in die Tastaturen ihrer Smartphones und Tablets gewöhnt sind. Gleichzeitig wird die scheinheilige Frage gestellt, ob in einer Zeit, in der Kinder weitaus häufiger Handys als Papier in den Händen halten, eine Handschrift überhaupt noch notwendig sei. Die Computerindustrie ist seit Jahren schon fleißig dabei, diese Option zu stärken und Tablets in alle Schulklassen zu drücken und sie für unverzichtbar zu erklären.
Die Digitale Revolution, vergleichbar der Industriellen Revolution 200 Jahre zuvor, führt zu einer Umwälzung aller Lebensbereiche – und was liegt näher, als auch das von Software gecoachte Lernen am Bildschirm zum Nonplusultra zu erklären? Jeder, der mitten in diesem Hype daran erinnert, dass gerade Kinder auch noch etwas anderes brauchen als angeblich individuell optimierte Lernmaschinen, gerät ins Kreuzfeuer einer immer aggressiver werdenden Kritik. In diesem Buch soll nicht in Zweifel gezogen werden, dass digitale Medien in den Schulen ihren Platz haben, sondern es wird gefragt, wo die Möglichkeiten und Grenzen dieses Mediums sind, wenn es um das Lehren und Lernen geht.
Das Erlernen der Schriftsprache ist sozusagen ein Paradebeispiel für die Frage, welche realen sinnlichen Erfahrungen Kinder beim Lernen brauchen und welche digitalen Medien wann und warum sinnvoll sind. In diesem Punkt treffen sich die Perspektiven der beiden Autoren. Mein Co-Autor Stephan Clauss beleuchtet als Journalist Medien und Medienwandel in einem umfassenden Sinn – von den Anfängen der ersten Verständigung über Bild- und Schriftzeichen bis hin zur heutigen Allgegenwärtigkeit digitaler Medien. Das Kulturgut Handschrift ist da nur ein Aspekt, aber ein ganz entscheidender, der heute Eltern, Lehrer und Politiker gleichermaßen bewegt. Dieses Buch zeigt auf, wie gravierend die Schriftkatastrophe insbesondere für die Betroffenen ist, wie es zu ihr kommen konnte und wie Kinder wieder zu einer guten Handschrift finden. Denn auch im digitalen Zeitalter brauchen Kinder eine eigene Handschrift, sogar mehr denn je.
Neugier ist menschlich. Wir wollen es wissen, und das am liebsten sofort. Eine gute, hilfreiche Eigenschaft, die meistens (wenn auch nicht immer!) weiterhilft im Leben. So hatten schon unsere Vorfahren tagtäglich elementare Dinge zu klären, die keinen Aufschub duldeten: Wie schütze ich meine Leute vor Kälte, mit welcher Waffe kann ich Büffel jagen, wo gibt es Wasser? Ihr Wissensdurst war lebenswichtig, Nichtstun tödlich. Und sie teilten ihre Beobachtungen in unbekannten Sprachen, deren Laute längst verhallt sind.
Mit dem über lange Zeiträume erworbenen Praxiswissen als Jäger und Werkzeugmacher wuchs das Gehirn des Menschen – und seine Hände wurden immer geschickter. Auch die Augen sahen schärfer. Doch erst relativ spät erkannte die Spezies Homo sapiens ihre überlegene Intelligenz als Chance, die Welt zu erobern – aufrecht gehend und nur selten allein.
Es ist anzunehmen, dass die imitierende Gestik auch bei
der menschlichen Kommunikation den Anfang machte: Man lernte, einfache Handzeichen zu erfinden, die jeder in der Gruppe zu verstehen lernte. „So wie ein Schulanfänger anfänglich mit dem ganzen Körper schreibt und sich die Motorik erst allmählich auf Hand und Finger beschränkt, so kann man sich auch die Entwicklung der Gestik vorstellen“, schrieb der 2004 verstorbene deutsche Psychologe und Verhaltensforscher Friedhart Klix (Wehr/Weinmann (Hrsg): Die Hand – Werkzeug des Geistes, S. 236).
Dazu mögen dann erste Urlaute gekommen sein: leise Warnrufe bei Gefahr, aufmunternde Schreie beim Angriff, während der Jagd in der Gruppe. „Zur normierten Geste gesellte sich die normierte Lautbildung, zum benannten Zeigen das benannte Bild im Gedächtnis“, schrieb Klix.
Die sogenannte kognitive Revolution vor etwa 50 000 Jahren katapultiert den Menschen endgültig in die Geschichte. Und alles beschleunigt sich: Sprachen und Gesellschaften, Kult und Kunst entwickeln sich fortan in Schüben fast gleichzei-
tig in mehreren Gegenden der Erde. Die Jäger und Sammler sprechen erst mit Gesten und Grimassen, dann mit Worten, Bildern und Symbolen. Sie tauschen Botschaften und handeln mit Waren. Doch erst als die Stämme sesshaft werden, wird es auch Zeit, eine Schrift zu erfinden. Lange vor dem ersten Alphabet und den Irrfahrten des Odysseus jedoch erzählten schon die Höhlenmaler von ihrer Welt. Bei ihnen beginnt diese kurze Geschichte vom Schreiben und vom Lesen. Denn beides gehört untrennbar zusammen, wenn von lebendiger Kultur die Rede sein soll.
Ohne Robots Jagdinstinkt wäre die Höhle von Lascaux nie entdeckt worden. Der kleine Hund lief mit vier Jugendlichen durch einen Wald im grünen Südwesten Frankreichs. Bellte aufgeregt vor einem Loch, das ein umgestürzter Baum aufgerissen hatte. Die Jungen schauten in die Tiefe, warfen Steine hinab, lauschten lange. Es war ein Karsttrichter. Drei Tage später stiegen alle vier hinein und fanden sich nach wenigen Minuten in einer großen Felsenhalle wieder. Im flackernden Licht ihrer Fackel erblickten sie an den Wänden als Erste die Tierbilder: gewaltige Stiere mit langen Hörnern, auch galoppierende Wildpferde und Hirsche mit Geweihen wie Baumkronen.
Es war der 12. September 1940, mitten im Zweiten Weltkrieg. Frankreich war damals schon seit Monaten von Hitlers Truppen besetzt. Doch der Franzose Marcel Ravidat, damals 18 Jahre alt, und seine Kumpel Georges, Jacques und Simon – sie hatten einen Schatz entdeckt: die Höhle von Lascaux – beim Städtchen Montignac in der Dordogne, ist ein Meilenstein in der Geschichte der Menschheit.
Fast 20 000 Jahre hatten die Zeichnungen aus der Jungsteinzeit im kühlen Dunkel überdauert. Nach der Befreiung durch die Alliierten und dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Lascaux sehr schnell zur Sensation. Ab 1948 strömten Millionen Besucher in die arme Provinz, um die Stiere und Pferde im Original zu bestaunen, Wissenschaftler suchten die Bilder zu enträtseln, die diese „Sixtinische Kapelle der Steinzeit“ schmücken. Noch immer gibt es viele offene Fragen.
Als Pablo Picasso zum ersten Mal nach Lascaux kam und die Bilder der Höhlenkünstler erblickte, soll er ausgerufen haben: „Wir haben nichts dazugelernt!“ Das mag uns zwar ein wenig übertrieben erscheinen, doch das Jahrhundert-Genie war nicht der einzige Zeitgenosse, den der kraftvolle, dynamische Malstil der mysteriösen Steinzeitkünstler damals tief bewegt hat.
In der Höhle Pech Merle im Périgord hinterließen die Maler sogar die erste Hand-Schrift: Sie hielten eine Hand an die Wand, übersprühten sie mit Farbe, und das Negativ sah aus wie eine Signatur.
In vielen in der Jungsteinzeit bewohnten Höhlen in West- und Südeuropa wurde sogar kürzlich noch eine andere Art von Zeichen entdeckt – ausgerechnet von einer Forscherin, deren Großmutter im Zweiten Weltkrieg geholfen hatte, für den britischen Geheimdienst MI6 die Codes der deutschen Luftwaffe zu knacken – im berühmten „Enigma Project“ von Bletchley Park. Ihre Enkelin Genevieve von Petzinger, eine junge Archäologin aus Kanada, konnte jetzt durch intensive Feldstudien nachweisen, dass die Cro-Magnon-Menschen außer fantastischen Tier- und Menschenbildern noch weitere Spuren hinterließen: ein europaweit verbreitetes Proto-Alphabet mit 25 Symbolzeichen!
Damit scheint erstmalig belegt, dass die ersten Vorläufer der Schrift auch in Westeuropa zu finden sind, lange vor der Keilschrift der Sumerer und den ältesten Hieroglyphen Ägyptens. Die Bilder und Zeichen der Steinzeitmenschen waren indes nur eine erste Etappe auf dem langen Weg zur Schriftkultur.
Die Frage, die uns durch die Jahrhunderte führen soll, lautet: Wer schrieb was – für wen und wozu? Die dabei verwendeten Schreibgeräte und Materialien sind ebenso elementar. Denn ohne Stein und Meißel, Lehm und Stift, Papyrus und Rohrpinsel, Pergament, Papier und Federkiel hätte die Wissenschaft heute nicht mehr viel zu entziffern, was älter wäre als Gutenbergs Bibel. Wir werden auf unserer Zeitreise Lehrern und Schülern begegnen, Schreibmeistern und Mönchen, Kaisern und Gelehrten. Sie alle glaubten auf ihre Weise an die Macht des Wortes. Und nur mit Hilfe der Schriftzeichen und dank der Leistungen großer Archäologen im 19. und 20. Jahrhundert können wir ihre Botschaften lesen und einen Blick zurück in versunkene Welten werfen.
Kleine beschriftete Tonstatuetten aus dem 6. und 5. Jahrtausend vor Christus, gefunden im Donauraum und auf Kreta, gelten mittlerweile als älteste bekannte Zeugnisse einer wohl von weiblichen Göttern geprägten Gesellschaft, die Inschriften benutzte, um Objekte zu kennzeichnen, meist Figuren als Kultobjekte und Grabbeigaben. Der Mensch wusste, dass er sterben muss, doch wollte er gern an ein Leben im Jenseits glauben. Älteste Hüterin der Schriftzeichen war die Priesterkaste, die in vielen Kulturen eine machtvolle Position erreichte. Denn sie bestimmte die Regeln für die religiösen Riten und die soziale Organisation des Stammes; sie musste Ernten und Vorräte bewachen, Buch führen über die Jahreszeiten und den Lauf der Gestirne.
Die ersten Symbolzeichen waren angeblich göttlichen Ursprungs, auch die Hexagramme des chinesischen I-Ching (Buch der Wandlungen) wurden als heilige Signaturen verehrt, sie dienten nicht als Schrift für den Alltag. Totem und Tabu begrenzen das archaische Weltbild, rituelle Gebräuche festigen die Gemeinschaften und die Macht ihrer Anführer. Und natürlich wusste nur eine auserwählte Schar von Priestern und Zauberern die Zeichen zu deuten, das Orakel zu verstehen. Noch heute haben einige Ideogramme der Chinesen magische Bedeutung, beschwören Glück und Weisheit. Und noch immer müssen die Schüler dort mindestens 1000 Schriftzeichen lernen, nicht nur 26 Buchstaben wie ein junger Europäer.
Erst als die umherziehenden Völker anfingen, sesshaft zu werden, erschien es ihnen geboten, große Ereignisse wie Fluten, Hungersnöte, Kriege und Eroberungen für die Nachkommen festzuhalten. Die ersten nachgewiesenen Schriften tauchen in den Gegenden auf, in denen die ersten Siedlungen entstanden, vor etwa 5300 Jahren im Mittleren Osten.
Der Übergang zu Ackerbau, Viehzucht und sozialer Hierarchie gelang zuerst im fruchtbaren Schwemmland zwischen den großen Flüssen Euphrat und Tigris, im heutigen Irak.
300 Jahre später entstanden die ersten ägyptischen Hieroglyphen, die älteste indische Schrift datiert um 2500 vor Christus, es folgten die Kreter und Griechen um 1400 vor Christus, die Chinesen wohl etwa 200 Jahre später. Die ältesten Schriften Amerikas wurden in Mexiko ab 600 und bei der Maya-Kultur um 250 vor Christus entdeckt. Unabhängig voneinander entstanden also mehrere völlig unterschiedliche Schriftsysteme. In anderen Weltgegenden wie Afrika und Australien behauptete sich dagegen zum Teil bis ins 20. Jahrhundert die orale Erzählkultur, um wertvolles Wissen und soziale Traditionen an die nächste Generation weiterzugeben.
Ob die Zeichen nun in Knochen geritzt, auf Stein gemalt oder mit Stäbchen in feuchte Tontafeln oder Lehmfiguren gedrückt wurden: Schon auf seiner ersten primitiven Stufe offenbarte das Schreiben zwei seiner vielen praktischen Vorteile: Mit dieser Kulturtechnik konnte man Erfahrungen, Tatsachen und wichtige Botschaften fixieren, die sonst verloren wären. Und man konnte eine Mitteilung oder Anweisung über größere Distanzen schicken, zum Beispiel Listen über gehandelte Waren, über Herden und deren Eigentümer, später auch Marschbefehle, Reiseberichte oder medizinische Ratschläge. Daten über Einnahmen und Ausgaben ließen sich kaum mündlich konservieren.
Die großen Kulturvölker im Zweistromland Mesopotamien bauten die ersten Stadtstaaten auf, sie bändigten die Fluten mit Dämmen und Kanälen, bauten Straßen und Paläste. Das erforderte eine leistungsfähige Verwaltung und strenge Regeln für den Handel, der immer fernere Ziele ansteuerte. Also dominierte zunächst die wirtschaftliche und staatliche Funktion der Schrift. Nicht nur mussten amtliche Dokumente angefertigt und ausgeschmückt werden, auch Landbesitz, Bauvorhaben, Viehbestand und Steuerschulden wurden penibel aufgezeichnet.
Die Keilschrift – benannt nach ihren nagelförmigen Zeichen, die man mit angespitztem Schilfrohr in Lehmtäfelchen ritz-
te – wurde von der Zivilisation der Sumerer entwickelt; ihr Reich lag zwischen Bagdad und dem Persischen Golf. Erste erhaltene Inschriften waren Listen über landwirtschaftliche Produkte, eine Art Buchführung des Tempels. Andere Schrifttäfelchen notieren Zahlen über die Einwohnerschaft. Sogar das erste Formular erblickte das Licht der Welt, ein Lehmtäfelchen, nicht größer als eine Kreditkarte. Darin wurden Kerben und Zeichen geritzt.
Aus Vorbildern in der Natur (zum Beispiel Sonne = Kreis) entstanden die ersten Symbole. Das Abbild eines Ochsenkopfs stand für ein Stück Vieh. Aus der immer weiter abstrahierten Form dieses Piktogramms wurde nach und nach ein Zeichen, das nicht mehr an ein konkretes Objekt gebunden war, sondern allgemeinere Bedeutung erhielt. Figurative und abstrakte Motive wurden von den Sumerern gleichwertig benutzt. Mit der Zeit verminderten sie die Zeichen ihrer Keilschrift auf etwa 600. Auch dies muss man sich erst einmal merken können. Je weniger der präzise festgelegten Zeichen die Schrift insgesamt hatte, umso leichter lern- und lesbar war sie.
Die immer weiter verfeinerte Keilschrift verbreitet sich um 2500 vor Christus rasch unter den umliegenden Kulturvölkern. Denn sie war praktisch und brauchte weniger Platz. Tempo spielte beim Schreiben bereits eine wichtige Rolle.
Die Bedeutung der Schreiber in diesen frühen Hochkulturen kann gar nicht überschätzt werden. Ohne sie schien eine stabile Herrschaft nicht möglich – inklusive geregelter Steuereinnahmen und schmeichelnder Hofberichterstattung für den König. Die Kunst des Lesens und Schreibens blieb ein Privileg der Oberschicht. Und man hütete sich besser davor, sich als Träger von Staatsgeheimnissen zu erkennen zu geben. Denn der Schreiber hatte diskret zu bleiben. Das älteste bekannte Gesetzeswerk für eine ganze Gesellschaft stammt aus dem Babylon zu Zeiten des Königs Hammurapi aus dem 18. Jahrhundert vor Christus. Die ersten Schreiber waren also keine Dichter, sondern mächtige Beamte, die sogar eine beachtliche Schreib- und Regelwut an den Tag legten. Vielleicht wollten sie auch nur ihre Unersetzlichkeit beweisen.
Wie Alberto Manguel in seinem schönen Buch Eine Geschichte des Lesens zu Recht bemerkt, wurde mit dem Beruf des Schreibers gleichzeitig und notwendig der Leser erschaffen: „Als der erste Schreiber Zeichen in den Lehm ritzte, nahm er bereits die Kunst des Lesens vorweg, ohne die seine Mitteilung schlicht bedeutungslos geblieben wäre. Der Schreiber war ein Verfertiger von Botschaften, der Schöpfer von Zeichen, aber seine Zeichen erforderten einen Eingeweihten, der sie entziffern und der Botschaft Stimme verleihen konnte. Schreiben verlangte nach einem Leser“ (Manguel, S. 209). Daran hat sich bis heute nichts geändert. Und auch in Zukunft werden nur die Schriftkundigen lesen und deuten können, was von uns bleibt.
„Eine große Stärke des Buches liegt darin, dass wissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema ebenso berücksichtigt werden wie Erfahrungen aus der Praxis, und zudem kommen auch die Betroffenen selbst zu Wort.“
„(…) Eine lohnende Lektüre für Eltern, Lehrer und Bildungspolitiker.“
„Vor allem viel Übung und das rechtzeitige Korrigieren von Fehlern sei wichtig. Auch sollten die Kinder wieder mit Schreibschrift beginnen. Denn wer eine flüssige Handschrift erlernt habe, könne später auch problemlos in Druckbuchstaben schreiben, umgekehrt sei der Weg weit aufwendiger und schwieriger.“
„Das vorliegende Buch gehört in jede Schule und in die Hand jeder Lehrerin/jedes Lehrers, die sich in der Grundschule mit dem Schrifterwerb befassen und überlegen, wie dieser Schrifterwerb gestaltet sein soll. (...) Es ist auch geeignet für alle diejenigen, die den Schriftgebrauch nach der Grundschule fördern oder Hilfe zur Verbesserung schlechter Handschriften leisten wollen.“
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