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Wie die Wolken über dem MeerWie die Wolken über dem Meer

Wie die Wolken über dem Meer Wie die Wolken über dem Meer - eBook-Ausgabe

Michelle A. Pietsch
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Roman

— Ein romantischer New-Adult-Roman an der Nordsee auf Juist
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Wie die Wolken über dem Meer — Inhalt

Inselliebe mit Meerwehgarantie – ein berührender, hoffnungsvoller Roman für Leser:innen von Christin-Marie Below und Anne Barns

„So muss ein Sommer sein. Meeresrauschen im Hintergrund, die warme Abendsonne auf der Haut, ein leichter Wind, der den Salzgeruch der See herüberweht, entspannte Menschen, ein Konzert am Strand. Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus.“ 

Nach dem Tod ihrer Mutter flüchtet Josi sich zu ihrer Patentante auf die Nordseeinsel Juist. Weg von all den Erinnerungen, Abstand gewinnen und sich ganz auf sich konzentrieren – das ist ihr Plan. Aufgrund ihrer chronischen Knochenkrankheit muss sie ohnehin aufpassen, sich nicht zu übernehmen. Doch direkt am ersten Tag läuft sie in den jungen Lehrer Maxi hinein. Er ist fröhlich, liebevoll, hilfsbereit und scheint mühelos hinter die Mauer blicken zu können, die Josi um sich herum aufgebaut hat. Aber ist sie bereit, sich schon wieder Hals über Kopf ins Leben zu stürzen? 

€ 18,00 [D], € 18,50 [A]
Erschienen am 31.08.2023
352 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-50687-8
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€ 4,99 [D], € 4,99 [A]
Erschienen am 31.08.2023
352 Seiten
EAN 978-3-377-90021-0
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Leseprobe zu „Wie die Wolken über dem Meer“

Kapitel 1

Wind pfeift mir um die Ohren und peitscht mir die Haare ins Gesicht. Ich atme tief ein und kann das Salz in der Luft auf meiner Zunge schmecken. Obwohl wir Anfang Juli haben, und ich die letzten Nächte in meiner Dachgeschosswohnung in Köln vor Hitze beinahe zerflossen bin, ziehe ich hier oben an Deck meine Jeansjacke fester um mich. Im Norden ist es fast fünfzehn Grad kälter als in meiner Heimat. Den Temperaturunterschied habe ich schon beim Verlassen des ICEs am Bahnhof in Norddeich gemerkt, aber auf der Fähre ist er durch den Wind noch mal [...]

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Kapitel 1

Wind pfeift mir um die Ohren und peitscht mir die Haare ins Gesicht. Ich atme tief ein und kann das Salz in der Luft auf meiner Zunge schmecken. Obwohl wir Anfang Juli haben, und ich die letzten Nächte in meiner Dachgeschosswohnung in Köln vor Hitze beinahe zerflossen bin, ziehe ich hier oben an Deck meine Jeansjacke fester um mich. Im Norden ist es fast fünfzehn Grad kälter als in meiner Heimat. Den Temperaturunterschied habe ich schon beim Verlassen des ICEs am Bahnhof in Norddeich gemerkt, aber auf der Fähre ist er durch den Wind noch mal deutlicher zu spüren. Doch er macht mir nichts aus. Im Gegenteil. Das hier ist genau mein Wetter. Wenn das Thermometer sich bei zwanzig Grad einpendelt, bin ich in meinem Element.

Ich lasse meinen Blick über die graue Nordsee schweifen. Das Dröhnen des Schiffes, gepaart mit den Gesprächen der anderen Passagiere um mich herum, erfüllt die Luft. Meine Finger um den Rucksack geschlungen, der auf meinem Schoß liegt, setze ich mich gerade hin. Mein Rücken knackt bei dieser Bewegung einmal kurz. Sofort fühle ich mich besser.

Ich überkreuze meine Füße unter der Sitzbank und merke, wie mein Herzschlag sich allmählich beruhigt. Diesen Effekt hatte die Nordsee schon früher auf mich. Eine Möwe kreist über unseren Köpfen und hofft wahrscheinlich darauf, einem der Passagiere etwas zu essen abluchsen zu können. Ich beobachte, wie sie sich mit ausgebreiteten Flügeln vom Wind tragen lässt, den Blick auf die Fahrgäste gerichtet. Doch nach einigen Momenten macht sie mit einem lauten Schrei kehrt. Vermutlich fliegt sie zurück in Richtung Hafen. Meine Mundwinkel zucken. Dort hat sie bestimmt mehr Glück.

Ohne dass ich es bewusst steuere, schweifen meine Augen erneut zum Wasser. Es ist wie Magie, mein Blick wird automatisch immer wieder davon angezogen.

„Ist hier noch frei?“

Eine Frau mit rotbraunen, gelockten Haaren, die ich auf Anfang sechzig schätze, ist neben mir aufgetaucht und deutet auf die beiden Plätze auf der Sitzbank gegenüber. Einen Schritt hinter ihr steht ein älterer Herr mit zwei Rucksäcken in der Hand.

Ich lächle sie warmherzig an.

„Ja, die Plätze sind frei.“

Dankbar nickt sie mir zu und setzt sich, der Mann tut es ihr gleich. Während sie ihm die Rucksäcke abnimmt, lässt er seinen Blick in Richtung Nordsee gleiten. Sofort erscheint ein verträumter Ausdruck auf seinem Gesicht. Das Meer hat also nicht nur auf mich diese Wirkung.

„Möchten Sie auch einen Keks haben?“, wendet die Frau sich plötzlich an mich und hält mir eine Dose hin.

Perplex blinzele ich. „Oh, äh, danke. Aber ich habe im Zug schon etwas gegessen.“

Sie scheint mir meine Ablehnung nicht übel zu nehmen. Stattdessen holt sie sich selbst einen Keks heraus und verstaut die Dose in ihrem Rucksack. Anschließend lächelt sie mir mütterlich zu.

„Mein Mann und ich fahren jetzt schon zum siebzehnten Mal nach Juist. Nicht wahr, Norbert?“, erklärt sie und steckt sich das Gebäck in den Mund. Dieser brummt zustimmend, lässt sich aber ansonsten nicht beirren und stiert weiter auf das Meer.

Seine Frau nimmt seine Wortkargheit gelassen und klopft sich einen Krümel von ihrer Jacke, bevor sie sich wieder mir zuwendet.

„Die Insel ist so etwas wie unsere zweite Heimat geworden. Tut uns gut, mal rauszukommen. Und Sie? Machen Sie auch Urlaub auf Juist?“

Ich wiege den Kopf hin und her. „Sozusagen. Ich besuche meine Patentante. Sie betreibt eine Pension auf der Insel.“

Drei ganze Monate werde ich bei Biggi auf Juist verbringen. Ich beiße mir auf die Unterlippe. Wirklich realisiert habe ich das immer noch nicht. Eine so lange Auszeit habe ich mir bisher nie genommen, weder nach dem Abi, noch während des Studiums oder bisher im Job als Standesbeamtin. Dass meine Sabbatmonate so problemlos – und kurzfristig – möglich waren, wirkt auf mich immer noch ein wenig unwirklich. Aber diese Auszeit muss sein. Nach allem, was in den letzten Monaten passiert ist …

Mein Herz zieht sich zusammen, und meine Kehle wird enger. Ich schlucke die aufsteigenden Tränen hinunter und presse die Lippen aufeinander. Der Tod meiner Mutter ist jetzt beinahe zwei Monate her. Ich kann nicht jedes Mal losheulen, wenn ich an sie oder ihren Kampf gegen den Krebs denke.

„Ach, wie schön! Welche Pension ist es denn? Vielleicht kennen wir sie. Das wäre doch lustig, Norbert. Nicht wahr?“

Ich brauche einen Moment, um die vielen Bilder der letzten Monate vor meinem inneren Auge wegzuschieben und wieder im Hier und Jetzt zu landen. Dann hole ich tief Luft und fokussiere mich ganz auf mein Gegenüber.

„Sie heißt Pension Kleine Glücksmomente und liegt direkt im Hauptort, knapp zehn Gehminuten vom Hafen entfernt.“

„Natürlich, die kennen wir! Waren wir da nicht bei unserem vorletzten Aufenthalt, Norbert?“

„Letztes Jahr im Herbst“, erwidert ihr Mann, ohne seinen Blickkontakt zum Meer zu unterbrechen.

„Eine wirklich nette Pension. Wir wollten eigentlich wieder dorthin. Aber als wir gebucht haben, stand auf der Website, dass sie bis auf Weiteres wegen Reparaturen geschlossen hat. Wie schön, dass sie nun wieder öffnet. Da buchen wir doch direkt für das nächste Mal ein Zimmer.“

Ich horche auf. Von Reparaturarbeiten hat Biggi mir gar nichts erzählt. Oder habe ich das nicht mitbekommen, weil ich so sehr mit der Krankheit und dem Tod meiner Mutter beschäftigt gewesen war? Ich beiße mir auf die Zunge. Ich habe meine Patentante gar nicht mehr gefragt, was bei ihr gerade los ist. Wenn wir miteinander gesprochen haben, ging es immer nur darum, wie ich mich fühle, und wie ich mit allem zurechtkomme.

Ich straffe die Schultern. Das wird sich ändern. Sobald ich einen Fuß auf Juist gesetzt habe, werde ich wieder nach vorn schauen. Raus aus dem Tunnel, in dem ich die letzten Monate gesteckt habe. „Biggi wird sich mit Sicherheit freuen, Sie bald wieder als Gäste begrüßen zu dürfen“, nehme ich das Gespräch mit der Frau erneut auf. „Sie liebt ihre Pension über alles.“

„Biggi, stimmt, ich erinnere mich.“ Sie lächelt. „Ihren kölschen Dialekt fand ich sympathisch. Ich muss ja gestehen …“, sie beugt sie zu mir, die Stimme zu einem Flüstern gesenkt, „dass ich Kölsch sehr gern mag. Das gab es abends sogar aufs Zimmer, wenn man wollte. Verraten Sie es nur nicht meinem Mann. Alles, was kein Pils ist, ist für ihn kein Bier.“

Sie blinzelt verschwörerisch. Mein Blick huscht zu Norbert, der so tut, als würde er uns nicht hören. Aber ich kann genau sehen, wie seine Mundwinkel zucken.

„Keine Sorge, Ihr Geheimnis ist bei mir sicher“, flüstere ich zurück. Dabei macht sich ein Lächeln auf meinem Gesicht breit.

Wir plaudern noch eine Weile – wobei sich die Beteiligung des älteren Herrn weiterhin auf zustimmende Brummlaute und hin und wieder einem kurzen Satz beläuft – und ich spüre, wie der Ballast der letzten Wochen mit jeder Minute mehr von mir abfällt. Das Atmen fällt mir leichter, und in meinem Magen beginnt es zu kribbeln.

Als das charakteristische Horn bläst, das unsere Ankunft ankündigt und unsere Fähre kurz darauf im Hafen von Juist einläuft, fühle ich mich plötzlich wie ein Kind an Weihnachten. Wie von selbst heben sich meine Mundwinkel. Dieses Gefühl habe ich vermisst.

Um mich herum machen die anderen Passagiere sich zum Aufbruch bereit. Brotdosen werden eingepackt, kleine Kinder auf den Arm genommen, Taschen umgeschnallt. Trotzdem wirkt alles ruhig, niemand scheint Zeitdruck zu haben. Als wäre die Hektik auf dem Festland zurückgeblieben.

„Ich wünsche Ihnen alles Gute!“ Die Frau gegenüber schenkt mir ein warmes Lächeln. Auch Norbert nickt mir freundlich zu, ehe er seiner Frau die Rucksäcke abnimmt.

„Danke, Ihnen ebenfalls alles Gute.“

Ich sehe den beiden nach, dann trete ich kurz an die Reling, zücke mein Handy und knipse ein Bild vom Juister Seezeichen, das sich auf einer Plattform vor dem Hafen befindet.

Mit dem Hinweis Frisch angekommen! Melde mich, sobald ich mein Zimmer in Biggis Pension bezogen habe schicke ich es an meine beste Freundin Lina. Ihre Antwort folgt prompt: Viel Spaß und liebe Grüße an meine Lieblings-Exil-Kölnerin! Gleich darauf kommt ein Foto, auf dem die Dächer von Köln und ganz klein sogar der Dom zu sehen sind.

Bei dem vertrauten Anblick macht sich ein warmes Gefühl in meinem Bauch breit. Lina ist, genau wie ich, in Köln geboren und aufgewachsen. Seit dem Kindergarten sind wir beste Freundinnen.

Ich stecke mein Handy in die Tasche meiner Jeansjacke und mache mich auf den Weg nach unten. Die Schlange hat sich mittlerweile gelichtet, ein Großteil der Passagiere ist bereits von Deck gegangen.

Als ich wenig später den Hafenplatz betrete und meinen Koffer aus dem Gepäckwagen nehme, ist es, als wäre ich in einer anderen Welt. Kein Autolärm, keine Hochhäuser, keine eng bebauten Straßen. Juist ist – bis auf wenige Ausnahmen – autofrei. Stattdessen wird auf der Insel alles mit Kutschen vorgenommen. Von denen einige darauf warten, ihre Gäste ins Loog zu fahren – den Ortsteil von Juist, der ein paar Kilometer vom Hafen entfernt liegt. Ein Familienvater hebt seine kleine Tochter hoch, damit sie eins der Pferde streicheln kann. Am Deich spazieren einige Urlauber, Hunde tollen neben ihnen her. Die Sonne strahlt vom Himmel, zeitgleich weht mir ein leichter Wind um die Nase. Und schlagartig wird mir bewusst: Diese Insel ist für drei Monate mein Zuhause. Und ich kann mir in diesem Moment nichts Schöneres vorstellen.

„Josi!“

Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Leute schauen zu können. Da entdecke ich sie. Biggi steht am Rand des Platzes und winkt mir zu.

Es dauert gefühlt nur ein paar Wimpernschläge, da liegen wir uns in den Armen. Ich vergrabe mein Gesicht in ihren braunen Haaren, die ein ganzes Stück länger geworden sind, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Dafür duftet meine Patentante wie immer. Nach einem Parfüm, das mich ein wenig an Pfirsich erinnert, Nelken … und nach Geborgenheit.

Sofort werden meine Augen feucht. Die Erinnerungen an gemeinsame Filmabende mit ihr und meiner Mutter überrollen mich. Mindestens einmal die Woche haben wir drei uns in dem Wohnzimmer meines Elternhauses zusammen kitschige Komödien angeschaut, bevor Biggi für ihren großen Traum nach Juist gezogen ist. Auch Lina war oft bei unseren Frauenabenden dabei.

Biggi drückt mich noch enger an sich, und ich erlaube mir für diese paar Augenblicke, in die Erinnerungen einzutauchen. Die Unbeschwertheit zu fühlen, das Lachen meiner Mutter zu hören, das Popcorn zu schmecken, das in der Mikrowelle jedes Mal leicht angebrannt ist. Popcorn mit Schmackes hat sie es immer genannt.

Verlegen wische ich mir die Tränen aus dem Augenwinkel und löse mich von meiner Patentante. Auch Biggi wischt sich mit einer Hand über die Augen, ehe sie sich räuspert und mich mit einem Lächeln im Gesicht ansieht.

„Ich freue mich so, dass du da bist. Wir machen uns eine schöne Zeit, ja?“

Der warme Ton ihrer Stimme sorgt dafür, dass sich sofort ein Kloß in meinem Hals bildet. Tapfer schlucke ich daran vorbei.

„Danke, dass ich hier sein darf.“

„Ach, papperlapapp. Das ist doch selbstverständlich.“ Mit einer Handbewegung wischt Biggi meine Worte beiseite. „Sollen wir los? Deinen Trolley nehme ich gern.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, schnappt sie sich den Griff meines Rollkoffers und macht sich auf den Weg in Richtung Stadtkern. Meinen Protest, dass ich den Koffer selbst schieben kann und ihr keine Mühe bereiten will, ignoriert sie gekonnt. Also seufze ich nur kurz, schultere meinen Rucksack und folge ihr die Hafenstraße entlang. Vorbei am Kurplatz, auf dem Menschen jeglichen Alters in den blau-weißen Strandkörben sitzen und der Eisdiele, vor der sich eine Schlange gebildet hat.

„Seit ein paar Wochen ist auf Juist einiges los“, erklärt Biggi mir, während wir rechts in die Wilhelmstraße abbiegen. „Die Sommerferien in NRW haben gestartet, deshalb sind viele Familien auf der Insel.“

„Ich find’s toll!“

In dem Moment brausen zwei Kinder auf ihren Rädern an uns vorbei.

Biggi lacht. „Mal schauen, ob du das in ein paar Wochen immer noch sagst.“

Ich lasse meinen Blick über den Fahrradverleih und die Geschäfte schweifen, die wir passieren.

„Es hat sich kaum etwas verändert, seit ich das letzte Mal hier war.“ Ich überlege kurz – es ist tatsächlich schon wieder drei Jahre her, dass Biggi ihre Pension eröffnet hat.

Meine Patentante nickt. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Zeit hier stehenbleibt. Aber auf eine gute Art. Genau das liebe ich an dieser Insel.“

Obwohl ich erst vor wenigen Minuten angekommen bin, habe ich bereits eine Idee davon, was sie meint. Schon jetzt habe ich das Gefühl, als würden die Uhren hier anders ticken. Vielleicht liegt es an den entspannten Gesichtern der Menschen, die in aller Ruhe durch das Dorf schlendern. Oder dem Hufgeklapper, das auf den roten Pflastersteinen der Straße widerhallt, und das lauteste Geräusch ist, das man hier wahrnehmen kann. Oder dem sanften Windhauch, der diesen typischen Meeresgeruch mit sich trägt. Nach Salz und Algen.

„Da sind wir.“

Abrupt bleibe ich stehen. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich beinahe in Biggi hineingelaufen wäre. Wir sind vor ihrer Pension angekommen, die ganz in der Nähe des Janusparks liegt. Der Strand ist nur wenige Gehminuten entfernt. Ich kann hier sogar das Meeresrauschen wahrnehmen.

Meine Patentante und ich stehen vor einem dreistöckigen, rotgeklinkerten Haus mit grünen Fensterläden. Über der Tür hängt ein Schild mit der Aufschrift Pension Kleine Glücksmomente mit einem vierblättrigen Kleeblatt daneben, das in rot und weiß erstrahlt – den Farben von Köln.

Mit Schwung öffnet Biggi die Tür und bedeutet mir, einzutreten. „Herzlich willkommen!“

Ich setze einen Fuß über die Türschwelle und fühle mich direkt pudelwohl. Es ist wie ein Nachhausekommen, obwohl ich bisher erst ein einziges Mal hier war. Aber Biggis Handschrift, ihre Herzlichkeit und ihr unverwechselbarer Einrichtungsstil, sind in jeder Ecke erkennbar.

Direkt gegenüber dem Eingang befindet sich ein weiß glänzender Empfangstresen, der neben einem Deko-Anker und einer Grünpflanze jede Menge Flyer beherbergt.

Links von uns führt eine Holztreppe in die oberen Stockwerke, direkt daneben gibt es einen Fahrstuhl. Hinter der Rezeption ist eine Tür zu einem Flur, von dem Biggis Büro, eine Toilette und ein kleiner Aufenthaltsraum für die Angestellten abgeht, wie ich noch von meinem früheren Besuch weiß. Links davon, direkt am Treppenabsatz und dem Fahrstuhl vorbei, geht es in den hinteren Teil der Pension. Ich trete einen Schritt nach vorn auf den dunkelroten Teppich, der sich vor der Rezeption erstreckt. Er strahlt etwas ungeheuer Gemütliches aus, vor allem durch die goldfarbenen Stickereien, die dezent hervorblitzen.

Während ich meinen Rucksack abnehme, lasse ich meine Augen weiter durch den schönen Eingangsbereich schweifen. Seit der Eröffnung damals hat sich einiges getan, er ist noch mehr … Biggi geworden. Durch die Fenster fällt jede Menge Tageslicht, wodurch alles hell und freundlich wirkt. In der Luft liegt ein Hauch von – ich schnuppere – Orangenblüten? Kann das sein? Ich atme noch einmal tief ein. Dabei fällt mein Blick auf ein kleines Sofa, zwei Sessel und einen Couchtisch, die neben dem Eingang unter dem Fenster zum Verweilen einladen. Die Sitzgruppe ist in demselben Dunkelrotton gehalten wie der Teppich. Und direkt daneben steht ein Orangenbaum. Daher kommt der Duft also.

Ein Lächeln zupft an meinen Mundwinkeln. Eine exotische Zimmerpflanze in einer Pension mitten an der Nordsee. Das ist typisch Biggi.

Während ich weiter staunend um mich schaue, weil es überall etwas zu entdecken gibt – eine Dünenfotografie an der Wand neben dem Treppenaufgang, das Kölsche Grundgesetz als Postkarte am Schlüsselbrett hinter der Rezeption, holzgeschnitzte Dekofiguren von Seehunden in den Ecken –, tippt Biggi etwas in den PC.

„Ich habe dir ein Zimmer im ersten Stock fertiggemacht. Der Fahrstuhl ist im Moment leider defekt, aber im Erdgeschoss war nichts mehr frei. Ich hoffe, das ist okay?“

Ihr Blick huscht über den Rand ihrer Lesebrille hinweg zu mir, und sie zieht die Brauen kaum merklich zusammen. Etwas in mir verkrampft sich, doch ich zwinge mich, das Gefühl loszulassen.

„Natürlich ist es das, ich danke dir! Ich bin ja nicht aus Zucker.“

Mit meinem kleinen Scherz gelingt es mir nicht ganz, die Sorgenfalte auf ihrer Stirn zu vertreiben. Deshalb schlage ich einen ernsthafteren Ton an.

„Biggi, ich schaffe das. Die paar Treppen sind kein Problem. Versprochen.“

Sie betrachtet mich einen Moment, scheint abzuwägen, ob sie mir glauben soll. Dann nickt sie. Unwillkürlich atme ich auf. Dass meine Patentante mich wie ein rohes Ei behandelt, hätte mir gerade noch gefehlt. Immerhin geht es meinen Knochen in den letzten Jahren schon viel besser. Es gibt immer noch Tage, an denen ich morgens aufwache und mich fühle, als hätte mich ein Lkw überrollt und dabei mein Skelett einmal ordentlich durchgeschüttelt. Oder Nächte, in denen mich Muskelkrämpfe wachhalten und meine Knochen mir seltsam hohl und instabil vorkommen. Wo ich kaum Kraft habe, und jede Bewegung so viel Anstrengung kostet, dass ich die Zähne zusammenbeißen muss. Aber die Anzahl der Momente, in denen meine Knochen mir so arg zu schaffen machen, hat zum Glück deutlich abgenommen. Seit ich meinen Job im Standesamt angetreten habe, wenn ich es mir recht überlege. Ein Bürojob mit einem festen Tagesablauf, der mir Sicherheit bietet, beruhigt nicht nur meine Nerven, sondern scheint auch gut für meine Knochen zu sein.

Die sind nämlich nicht ganz so, wie sie sein sollen. Als Kind haben Ärzte bei mir eine seltene Krankheit festgestellt, einen Gendefekt, der Auswirkungen auf die Beschaffenheit meiner Knochen hat. Am meisten bemerke ich das beim Gehen, weil ich dadurch humpele. Aber ansonsten macht mir die Knochenkrankheit wenig aus. Ich kenne es nicht anders – und komme mittlerweile schon sechsundzwanzig Jahre damit zurecht. Mein ganzes Leben.

Meistens denke ich gar nicht darüber nach, dass etwas mit meinen Knochen nicht stimmt. Ich tue die Dinge, die ich kann und finde für alles andere Lösungen, mit denen ich mich wohlfühle.

Auch Biggis Sorgenfalte hat sich mittlerweile geglättet. Sie strahlt mich an.

„Okay, dann zeige ich dir dein Zuhause für die nächsten drei Monate. Bist du bereit?“

Sofort schultere ich meinen Rucksack. „Und ob!“


Kapitel 2

Ich verliebe mich auf den ersten Blick in das Zimmer, das Biggi für mich vorbereitet hat. Es handelt sich um ein wahres Schmuckstück und hat alles, was das Herz begehrt: ein King-Size-Bett mit einer beerenfarbenen Tagesdecke, einen zweitürigen Kleiderschrank aus weißem Birkenholz, eine Schreibtischecke, einen Flachbildschirm an der Wand. Neben dem Nachttisch führt eine Tür auf den Balkon hinaus. Eine zweite Tür versteckt ein winziges Bad.

Als ich von meinem kleinen Rundgang zurück ins eigentliche Zimmer trete, kann ich ein Stück Schokolade auf dem Kopfkissen entdecken.

„Biggi, du hast dich selbst übertroffen. Danke!“

Meine Patentante läuft rot an und senkt den Blick. „Ach was, das ist eins meiner kleinsten Zimmer. Ich hoffe, dass dir nicht die Decke auf den Kopf fällt.“

Statt einer Antwort überbrücke ich die wenigen Schritte, die uns trennen, und nehme sie in den Arm. Worte sind im Moment nicht genug, um zu zeigen, wie dankbar ich ihr bin.

Biggi räuspert sich, als wir uns wieder voneinander lösen. Noch immer sind ihre Wangen gerötet.

„Dann lasse ich dich mal in Ruhe ankommen. In einer halben Stunde erwarte ich neue Gäste. Melde dich, wenn du etwas brauchst.“

Mit einem warmen Lächeln durchquert sie den Raum und zieht die Tür hinter sich zu. Sofort schnappe ich mir meinen Koffer und packe ihn aus. Nachdem alle Klamotten im Schrank und mein Kulturbeutel im Bad verstaut ist, schiebe ich den Koffer unter das Bett. Danach ist das Gepäck aus meinem Rucksack an der Reihe. Im Anschluss knipse ich mit meinem Smartphone ein paar Fotos und schicke sie an Lina. Eine ganze Armada von Smileys mit Herzchenaugen erscheint auf meinem Display.

Warte gerade bei 35 Grad auf den Beginn eines Meetings und bin dezent neidisch!, schreibt sie. Wenn du mir jetzt noch ein Bild davon schickst, wie du entspannt am Strand liegst und dir die Nordseeluft um die Nase wehen lässt, muss ich die Eventplanung hier leider beenden und mich direkt auf den Weg zu dir machen. Besorg mir schon mal ein Fischbrötchen. Ich bringe Kölsch mit. Damit die Nordlichter lernen, wie ein Bier zu schmecken hat :)

Mit einem breiten Grinsen schüttele ich den Kopf. Genau dafür liebe ich Lina. Dass sie nie um einen flotten Spruch verlegen ist.

Wir haben lange überlegt, ob sie auch mitkommt. Aber in der Agentur, in der sie als Eventmanagerin arbeitet, stehen diesen Sommer mehrere große Veranstaltungen an. Außerdem möchte sie schon ganz bald mit ihrem Freund Tobias zusammenziehen. Wenn sie es schafft, danach für ein paar Tage freizukriegen, will sie auf jeden Fall nachkommen.

Während ich eine Antwort tippe, lasse ich mich auf die Matratze sinken. Oh. Sie ist sogar noch bequemer, als sie aussieht. Bisher habe ich noch nie in einem Boxspringbett geschlafen, aber mein Gefühl sagt mir, dass ich es lieben werde.

Lina und ich schreiben noch ein paar Minuten hin und her, doch dann wird im Meeting ihre volle Aufmerksamkeit verlangt. Ich lege mein Handy zur Seite und lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Bis auf das stetige Ticken meines Weckers und das Kinderlachen, das durch die offene Balkontür vom Januspark zu mir herübergetragen wird, ist nichts zu hören. Unruhig trommele ich mit meinen Fingern auf dem Oberschenkel.

Und jetzt?

Diese Ruhe. Dröhnend legt sie sich auf meine Ohren, mein Herz fängt an, unsanft gegen meine Rippen zu schlagen. Plötzlich werden die Gedanken in meinem Kopf viel zu laut. Mein Blick verschwimmt, meine Kehle wird eng.

Was ist denn jetzt auf einmal los?

Wie von der Tarantel gestochen springe ich auf. Stopp. Einatmen. Ausatmen.

Ich versuche, mich ganz auf das Heben und Senken meines Brustkorbs zu konzentrieren. Allmählich beruhigt sich mein Puls wieder und das unangenehme Druckgefühl wird weniger.

Stattdessen habe ich mehrere Fragezeichen in meinem Kopf. Was war das bitte?

Als ich mich einigermaßen in der Lage fühle, meine wackeligen Beine zu bewegen, gehe ich die paar Schritte hinüber ins Bad und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht.

Mein Spiegelbild starrt mir mit großen Augen entgegen. Aus meinem Zopf haben sich auf der Fähre ein paar der straßenköterblonden Strähnen gelöst und fallen mir in die Stirn. Die Sommersprossen auf meiner Nase sind durch die letzten sonnigen Tage in Köln deutlich zu sehen, ein Teil wird aber von dem dunklen Brillengestell verdeckt. Meine Pupillen sind geweitet und verschlucken beinahe die gesamte bernsteinfarbene Iris. Ich blinzele und versuche, noch weiter zur Ruhe zu kommen. Dabei ist mein Blick für eine Sekunde so unscharf, dass ich das Gefühl habe, nicht ich schaue mir aus dem Spiegel entgegen – sondern meine Mutter.

Sofort wird meine Kehle wieder enger, auch mein Puls schnellt erneut in die Höhe. Was zur Hölle? Hektisch blinzele ich, nur um dieses Mal – natürlich – in meine eigenen schreckgeweiteten Augen zu blicken.

Himmel. Ich muss hier raus. Sofort.

So schnell es meine wackeligen Beine zulassen, gehe ich zurück in mein Zimmer, schnappe mir mein Handy und die kleine Umhängetasche mit meinem Portemonnaie und dem Zimmerschlüssel und bin schon auf dem Weg nach unten. Als ich dort ankomme, habe ich keine Ahnung, was genau ich eigentlich vorhabe. Frische Luft schnappen und hoffen, dass mir ein Spaziergang hilft, keine Gespenster mehr zu sehen?

Biggi steht hinter der Rezeption und mustert mich mit einem überraschten Gesichtsausdruck. Kein Wunder: Im Spiegel habe ich eben wie ein verschrecktes Rehkitz gewirkt.

„Alles okay, Josi?“

Ich nicke knapp, darauf bedacht, ihr nicht in die Augen zu schauen. „Ja, alles gut. Ich wollte nur … ich wollte …“ Mein Blick fällt auf eine der Inselkarten, die in dem Flyerhalter auf der Theke stehen. Meine Hand greift danach, ohne dass ich es bewusst steuere. „Ich wollte mir ein wenig die Beine vertreten und an den Strand gehen. Bilder machen. Für Lina. Sie ist ganz traurig, dass sie nicht hier sein kann“, plappere ich drauf los.

Biggis Miene verändert sich. Ein erleichtertes Lächeln zeigt sich auf ihren Zügen.

„Das ist eine gute Idee. Den Strandaufgang kennst du noch von damals?“

In dem Moment ist Hufgetrappel vor der Pension zu hören. Wir schauen durch die großen Fenster am Eingang nach draußen. Zwei Damen, die ich etwa auf Ende fünfzig schätzen würde, steigen aus einer quietschgelben Kutsche aus.

Biggi kommt um die Rezeption herum und öffnet ihnen die Tür. Diese Gelegenheit nutze ich, um mich an ihr vorbei ins Freie zu schieben.

„Wir sehen uns später“, verabschiede ich mich mit einem schnellen Winken, während die Neuankömmlinge ihre Koffer von der Kutscherin entgegennehmen und freudestrahlend auf Biggi zugehen.

Nur wenig später biege ich am Lütje Teehuus, das sich in einem wunderschönen Insulanerhäuschen befindet, ab und nehme den Aufgang zum Strand. Es ist wärmer als bei meiner Ankunft, trotzdem bin ich froh, meine Jeansjacke dabeizuhaben.

Hier draußen fällt es mir deutlich leichter, zu atmen. Auch mein Herzschlag normalisiert sich wieder. Die Nordsee strahlt ihre ganz eigene Ruhe aus, kaum dass ich ihr näherkomme.

Auf meinem Weg begegnen mir einige Urlauber, hauptsächlich Familien mit Kindern und ältere Ehepaare. Ein pausbäckiger Junge, mit einem roten Hut auf dem Kopf und einer Schaufel in der Hand, brabbelt fröhlich „Moin Moin“ vor sich hin und gluckst dabei immer wieder. Seine Eltern schlendern Hand in Hand hinter ihrem Sohn her und grüßen mich freundlich, als ich ihnen Platz mache.

Dann bin ich am Strandzugang angekommen. Mein Herz macht einen Satz, und statt Beklemmung breitet sich Wärme in meinem Brustkorb aus. Meine Haut beginnt zu prickeln.

Da ist sie. Die raue, wunderschöne, grau-blaue Nordsee. Auf dem Wasser tanzen ein paar Schaumkronen, das Meeresrauschen übertönt jedes andere Geräusch. Wie in Trance gehe ich näher. Spüre den Sand unter meinen Schuhsohlen knirschen. Weiche im letzten Moment ein paar Kindern aus, die sich gegenseitig einen Ball zuwerfen. Schiebe mich vorbei an den Strandkörben, den Blick immerzu aufs Meer gerichtet. Und dann ist da nichts mehr zwischen uns.

Die Wellen kommen und gehen, hinterlassen Muscheln im Sand, umspülen die Knöchel der Urlauber, die barfuß durch den Schlick laufen.

Ich ziehe mein Zopfgummi mit beiden Händen enger, weil der Wind Strähne um Strähne daraus lösen will. Das Salz in der Luft legt sich auf meine Haut, und ich schließe einen Moment die Augen. Trotz der Windböen, die immer wieder aufkommen, strahlt die Sonne kraftvoll vom Himmel und wärmt mich durch und durch.

Es ist herrlich. Die Farben, die Sinneseindrücke, die Nordsee. Das Meer fühlt sich an wie etwas Vertrautes in der Fremde. Es wirkt unerschütterlich und energetisch, strahlt aber gleichzeitig eine Ruhe und raue Schönheit aus, die mir den Atem stocken lässt. Dieser Augenblick ist unglaublich friedvoll. Nicht wie die berühmte Ruhe vor dem Sturm, sondern nach dem Sturm. Als würden die Wolken sich nach und nach lichten, die meinen Himmel so lange bevölkert haben.

Es ist viel passiert, seit ich diese ostfriesische Insel das letzte Mal besucht habe. Ich habe mein duales Studium beendet und bin in die Berufswelt eingestiegen. Habe die ersten Paare getraut. Mich verliebt, mein Herz gebrochen bekommen, mich entliebt und mein Herz geheilt. Bin erwachsen geworden. Auch durch die Diagnose meiner Mutter, ihre Krankheit, den harten Kampf dagegen und das schmerzhafte Ende.

Meine Lungen werden zusammengepresst, mein Blick verschleiert sich. Nein. Ich zwinge mich, tief Luft zu holen und in den Bauch zu atmen. Der unverwechselbare Duft des Meeres strömt mir in die Nase. Das hilft. Der Druck auf meiner Brust löst sich.

Ich vergrabe meine Hände in den Taschen meiner Jeansjacke und schaue hinaus auf die See. Dabei konzentriere ich mich auf das Tosen der Brandung.

Was ist heute bloß mit mir los? So kenne ich mich gar nicht. So eine Situation, wie eben in Biggis Pension, hatte ich bisher noch nie. Dieses seltsame Druckgefühl, das Brüllen der Gedanken in meinem Kopf. Keine Ahnung, was das war. Ob es daran liegt, dass ich nicht mehr in meiner gewohnten Umgebung bin? Dass ich mir endlich ein paar Wochen freigenommen habe?

Ich schüttele den Kopf. Josephine Schwartz, reiß dich zusammen!, schelte ich mich innerlich. Schultern straffen und Kopf hoch. Du bist hier, um Abstand von allem zu gewinnen. Also leg los!

Loslegen. Okay. Ist nur die Frage … womit? Ich schaue nach links und rechts. Sehe den Leuten zu, die an der Wasserkante entlangschlendern. Hm … Einen Augenblick betrachte ich meine weißen Turnschuhe, dann nicke ich und öffne entschieden die Schnürsenkel. Schuhe aus, Socken aus, die Beine der Leggings hochgekrempelt, wate ich die letzten Meter bis zum Wasser – und schon grabe ich meine Zehen in den feuchten Sand. Ich trete einen Schritt nach rechts, noch einen und noch einen. Muscheln bohren sich in meine Sohlen, und ich steige über eine Alge, die darauf wartet, wieder vom Meer verschluckt zu werden. Mit einem Mal umspült der Ausläufer einer Welle meine Knöchel. Gänsehaut breitet sich von meinen Beinen über meinen gesamten Körper aus. Kaaaaalt! Unwillkürlich hüpfe ich zurück, gerate dabei ins Straucheln und kann mich gerade so fangen. Da rauscht auch schon die nächste Welle heran. Und plötzlich verziehen sich meine Lippen zu einem Lächeln.

Ich gehe los. Weiter über den nassen Sand ohne Ziel und ohne Zeitdruck. Dabei passiere ich Urlauber, die es sich auf Handtüchern oder in Strandkörben gemütlich gemacht haben, beobachte eine Gruppe von Teenagern, die sich im Meer tummelt und bibbernd, aber lachend wieder herauskommt. Auch jede Menge Hunde sind unterwegs. Ein brauner Labrador stürzt sich mit einem tiefen Bellen in die Fluten, angelt die Frisbeescheibe, die sein Herrchen geworfen hat, aus dem Wasser und rennt schwanzwedelnd mit seiner Beute zurück.

Kaum zu glauben, dass ich gestern um diese Uhrzeit noch in meinem Büro in der Kölner Innenstadt gehockt habe. Apropos Kölner Büro: Ich wollte doch Lina ein paar Bilder schicken.

Mit meiner freien Hand angele ich mein Handy aus der Umhängetasche und knipse wild drauf los.

Der Strandabschnitt ist wunderschön. Ob ich mich oben in die Dünen setzen soll, um eine Verschnaufpause einzulegen? Meine Beine fühlen sich schwer an. Ich bin es eindeutig nicht gewohnt, durch Sand zu laufen.

Also drehe ich dem Meer den Rücken zu und bahne mir einen Weg an den Strandkörben vorbei. Der leichte Aufstieg sorgt dafür, dass mir mein Puls in den Ohren dröhnt. Uff.

Als ich an der Stelle ankomme, die ich mir als meinen Erholungsplatz auserkoren habe, drehe ich mich wieder um. Und halte die Luft an. Der Anblick, der sich mir bietet, ist atemberaubend schön. Das grüne Dünengras, der weiße Sand, die bunten Streifen der Strandkörbe, das graue Meer, der blaue Himmel, Wolken wie gemalt – und das alles in warmes Sonnenlicht getaucht.

Automatisch hebe ich mein Handy und tippe auf die Kamera. Ob ich die schiere Weite, die hier vor mir liegt, überhaupt einfangen kann? Ich beuge mich zurück, habe aber immer noch nicht den perfekten Bildausschnitt. Den Blick auf mein Display gerichtet, mache ich einen Schritt nach hinten. Und noch einen. Schon besser. Nur noch ein Stückchen …

In dem Moment pralle ich gegen etwas Hartes, Warmes.

„Oh!“

Meine Beine knicken unter mir weg. Unwillkürlich drehe ich mich um, verliere bei der Aktion aber erst recht das Gleichgewicht. Aus einem Reflex heraus kneife ich die Augen zu. Bereite mich auf den unsanften Aufprall vor. Doch stattdessen lande ich … auf irgendetwas Weichem.

Merkwürdig. Meine Brust ist gegen etwas Warmes gepresst. Unter meinen Fingern ist kein Sand oder das scharfkantige Dünengras, sondern sie klammern sich um … Stoff?

Da regt sich etwas unter mir. Und lässt ein dumpfes Stöhnen hören.

Ich erstarre, kann mich nicht einen Millimeter bewegen. Erneut ächzt es unter mir. Und eine männliche Stimme sagt: „Autsch.“

Das sorgt dafür, dass mein Verstand wieder einsetzt. Meine Lider flattern auf – und ich blicke in ein Paar strahlend grüne Augen.

Nase an Nase liegen wir da. Mein Herz poltert in meiner Brust. Mein Gehirn weigert sich, die Situation hier vollständig zu erfassen. Zu begreifen, was gerade passiert.

Der Mann mit den grünen Augen und ich starren uns an. In meinem Inneren ist die Hölle los. Verwirrung schießt durch mich hindurch, gepaart mit Schock, Unglauben und einem seltsamen Flattern in meiner Magengrube, das ich nicht einordnen kann.

Dann räuspert er sich.

„Also normalerweise warte ich immer mindestens bis zum dritten Date, bis ich mich mit einer Frau in so einer Position wiederfinde. Aber du scheinst eher jemand von der stürmischen Sorte zu sein, oder?“

Seine Mundwinkel zucken. Das sorgt dafür, dass mein Blick automatisch auf seinen Lippen landet. Himmel. Mir wird warm.

Da sickert die Bedeutung seiner Worte in mein Bewusstsein, und ich nehme endlich wahr, was hier gerade vor sich geht.

Durch den Sturz habe ich ihn nicht nur mit mir zu Boden gerissen, sondern bin dabei auch noch auf seinem Schoß gelandet. Nein: Ich hocke regelrecht darauf. Mein Becken an seins gepresst, meine Hände in seinem Oberteil vergraben. Um den Sturz abzufangen, habe ich mich offenbar an ihm festgeklammert. Um Himmels willen, uns trennt gerade mal eine dünne Lage Stoff davon, ein Paradebeispiel für Erregung öffentlichen Ärgernisses zu sein.

Wie von der Tarantel gestochen, rappele ich mich auf und ignoriere den Schmerz, der bei der abrupten Bewegung durch meine Knochen schießt. Meine Wangen brennen vor Scham.

„Ich … äh … es tut mir … leid“, stottere ich atemlos. „Das war keine Absicht, ich habe dich nicht gesehen, und da bin ich … also … da ist das hier …“, mit meiner Hand wedele ich zwischen uns hin und her, „… einfach passiert.“

Der junge Mann, der etwa in meinem Alter sein muss, hat sich mittlerweile aufgesetzt und beobachtet mich amüsiert. Seine Augen funkeln, und seine Lippen sind immer noch zu diesem Lächeln verzogen, das seltsame Dinge mit meinem Magen anstellt. Ich beiße mir auf die Zunge. Shit.

Während ich versuche, mein wild pochendes Herz in den Griff zu bekommen, klopft er sich den Sand von seiner Kleidung und erhebt sich. Sofort gehe ich auf Abstand. Meine Beine fühlen sich wie Pudding an. Nicht, dass ich ein zweites Mal auf ihn drauffalle.

„Hast du dir“, ich räuspere mich, weil meine Stimme belegt klingt, „wehgetan oder so was?“

Oder so was? Was für eine selten dämliche Formulierung ist das denn bitte? Meine Eloquenz hat sich offensichtlich mit dem Rest meiner Würde verabschiedet.

Immer noch grinsend schüttelt mein Gegenüber seinen Kopf.

„Alles heil geblieben, nichts gebrochen und kein Kratzer. Ganz so stürmisch wie gedacht war unsere Begegnung also doch nicht.“ Mit einem Zwinkern beugt er sich zu mir. Prompt glüht mein Gesicht noch ein wenig mehr.

„Ich bin mir nur nicht sicher, ob das deinem Handy auch so geht.“ Er deutet mit einem Finger auf eine Stelle neben meinem Fuß. „Das ist dir bei unserem Kennenlernen heruntergefallen.“

Mein Blick landet auf meinem Smartphone, das mit dem Display nach unten im Sand liegt. Dieses Mal flattert mein Herz vor Panik. Bitte, bitte, lass es nicht kaputt sein! Ich bücke mich, um es aufzuheben und genauer in Augenschein zu nehmen. Vorsichtig wische ich die Sandkörner vom Display und warte mit angehaltenem Atem darauf, ob es angeht.

Tut es.

Erleichterung durchströmt mich, und ich lasse einen Schwall Luft entweichen. Es ist nicht mehr das neueste Modell und hat schon die eine oder andere Macke. Aber meine Mutter hat es mir zu meinem Studienabschluss geschenkt, weshalb besondere Erinnerungen daran hängen.

„Und, funktioniert es noch?“, erkundigt sich der junge Mann. Sofort steigt mir wieder Röte ins Gesicht.

„Ja, alles gut.“

„Das freut mich.“ Seine Stimme klingt warm und lässt einen wohligen Schauer über meine Arme rieseln. Ich halte inne, den Blick ungläubig auf die Gänsehaut gerichtet. Was zum …

„Du hast noch etwas verloren.“

„Hm?“

Ich schaue auf, verwirrt von der ganzen Situation.

Statt einer Antwort bückt er sich und hält mir kurz darauf etwas entgegen. „Deine Schuhe, Cinderella.“ In seinen Worten schwingt ein unverhohlenes Grinsen mit.

Noch nie in meinem Leben habe ich mir so sehr gewünscht, dass sich bitte der Boden auftun und mich verschlucken möge. Mein Kopf glüht.

Ich greife nach den Schuhen und trete hastig wieder einen Schritt von ihm weg.

„Danke. Aber ich … äh … muss dann auch los. Sorry noch mal.“

Ohne ihn erneut anzusehen, mache ich kehrt und sehe zu, dass ich wegkomme. Weit, weit weg von ihm und dieser unangenehmen Situation.

Michelle A. Pietsch

Über Michelle A. Pietsch

Biografie

Michelle Angelina Pietsch, geboren 1994, studierte Medienwissenschaften in Köln und Bonn. Nach ihrem Masterabschluss ist sie dem Rheinland treu geblieben und arbeitet seitdem für eine große deutsche Fernsehproduktionsfirma. Hier betreut sie als Teil der Personalabteilung die kreativen Köpfe. Sie...

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