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Wie ein fernes Lied

Wie ein fernes Lied - eBook-Ausgabe

Micaela Jary
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Roman

„Micaela Jary verwebt ihre Lieblingsthemen Musik und Zeitgeschichte auf beste Pageturner-Weise.“ - Berliner Zeitung am Sonntag

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Wie ein fernes Lied — Inhalt

Hamburg,1939: Verzweifelt sieht Marga dem Zug hinterher, mit dem ihr Jugendfreund Michael in die Ferne reist. Seit sie denken kann, ist sie in den jüdischen Klarinettisten verliebt, zahllose Stunden verbrachte sie mit ihm in den Tanzlokalen der Hamburger Swingjugend. Obwohl seine Herkunft ihn zur Emigration nach Paris zwingt, ist Marga fest entschlossen, ihn wiederzusehen. Denn ihre Liebe ist wie ein Lied, das niemals verklingt. Doch in dessen süße Melodie mischen sich schon bald die kalten Klänge des Krieges ...

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 10.08.2015
560 Seiten
EAN 978-3-492-96965-9
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Leseprobe zu „Wie ein fernes Lied“

Hamburg Juni 1939

1

Die Menschen starrten sie an, als wäre sie nicht ganz bei Trost. Doch Marga tat nichts Unrechtes. Sie liebte nur den Jazz. Musik, die in die Beine ging und den Kopf zudröhnte, bis jeder Gedanke erfüllt war von den Tönen, und den Alltag ausschloss wie hinter einer schalldichten Tür.

Eine Konsequenz daraus war, dass sie sich bei besonderen Gelegenheiten wie Eleanor Powell in den Broadway-Melodie-Filmen kleidete. In dem für sie umgearbeiteten Frack ihres Vaters wirkte Margas schlanke Statur schmaler, fast jungenhaft. Das Schwarz des Anzugs [...]

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Hamburg Juni 1939

1

Die Menschen starrten sie an, als wäre sie nicht ganz bei Trost. Doch Marga tat nichts Unrechtes. Sie liebte nur den Jazz. Musik, die in die Beine ging und den Kopf zudröhnte, bis jeder Gedanke erfüllt war von den Tönen, und den Alltag ausschloss wie hinter einer schalldichten Tür.

Eine Konsequenz daraus war, dass sie sich bei besonderen Gelegenheiten wie Eleanor Powell in den Broadway-Melodie-Filmen kleidete. In dem für sie umgearbeiteten Frack ihres Vaters wirkte Margas schlanke Statur schmaler, fast jungenhaft. Das Schwarz des Anzugs bildete jedoch einen mondänen Kontrast zu dem blonden Haar, das ihr in weichen Wellen auf die Schultern fiel und wiederum ihre Weiblichkeit unterstrich. Darin unterschied sie sich von dem brünetten Hollywoodstar. Mit dem Stepptanz klappte es leider auch noch nicht so gut, dafür machte Marga großartige Fortschritte im Gesangsunterricht. Eines Tages, das hatte sich die fast Achtzehnjährige fest vorgenommen, würde sie auf einer Bühne stehen und zu den Schlagern ihres Idols swingen. Vielleicht sogar mit gefärbten Haaren.

An diesem Abend tanzte sie nicht auf einer Party oder in einem der einschlägigen Lokale. Zwischen den vielen Menschen am Hauptbahnhof kam sie sich vor wie ein Pfau. Dabei war sie nicht einmal allein in ihrer ausgefallenen Garderobe. Ringsum scharten sich Fans von Bobby Schwan und den Original Bobbys.

Die Swingheinis hatten sich dem Anlass entsprechend ebenfalls in Schale geworfen: weite Hosen mit Bügelfalte, lange, dandyhafte Jacketts, gelbe Krawatten, mit dem sogenannten kleinen Schellackknoten gebunden, dazu weiße Schals, auf dem Kopf einen Scötch und – obligatorisch bei jedem Wetter – einen Regenschirm über dem Arm. Die anderen Girls trugen weit schwingende Tanzkleider oder Hosen und waren stark geschminkt. Alle pilgerten zum Gleis des Nachtzugs nach Basel, um das berühmte Orchester auf dem Weg zu einem neuen Engagement zu geleiten.

Bobby Schwan und die Original Bobbys waren jedoch nicht Margas einziges Ziel. Sie marschierte mit weit ausholenden Schritten an der Spitze der etwa zwei Dutzend Jugendlichen und suchte nach einem ganz bestimmten, unendlich wichtigen jungen Mann. Am Nachmittag hatten sie sich bereits verabschiedet, aber Marga wollte ihm unbedingt noch einmal Adieu sagen, ihn noch einmal sehen. Das letzte Mal – vielleicht für immer. Obwohl er nur von einem Gastspiel in der Schweiz gesprochen hatte, ahnte sie, er würde die Gelegenheit nutzen und nicht ins Deutsche Reich zurückkehren.

Es war nicht so einfach, die Übersicht auf dem Bahnsteig zu behalten, denn trotz der Abendstunde herrschte ziemlich viel Betrieb. Zahllose Reisende drängten zu den Waggons, dazwischen hielten Leute den Strom auf, die sich zum Abschied umarmten. Schaffner kontrollierten seelenruhig Fahrkarten, als gäbe es kein Gedränge, Polizisten behielten all jene Fahrgäste im Auge, die mit kleinem Gepäck und auffällig bescheiden einzusteigen versuchten. Neben einem Wagen der zweiten Klasse stand eine Sackkarre im Weg, ein Dienstmann hob Taschen und Koffer von dort nach oben zum Abteilfenster, wo Hände sie ergriffen und hineinzogen.

Am Fuß eines Treppenaufgangs lungerten ein paar uniformierte Hitlerjungen, die sich den Anschein gaben, nicht grenzenlos neugierig zu sein.

Als die Swingfans betont lässig an den Gleichaltrigen vorbeischlenderten, skandierten die strammen HJler: „Wahnsinn in Noten, Tanz der Idioten!“ Der Reim endete in albernem Gelächter.

Marga stockte der Atem.

Nicht auszudenken, wenn sich die anderen provozieren ließen und es mitten auf dem Bahnsteig zu einem Gerangel oder gar einer Prügelei kam. Natürlich lauerten die Knaben in den khakifarbenen Blousons, mit ihren schwarzen Halstüchern und den Kniebundhosen den Boys gelegentlich auf. Im Schatten von Hauseingängen, Kanalbrücken oder Parkanlagen bezog mal die eine, mal die andere Gruppe Dresche. Aber an einem Ort wie diesem, umgeben von unbeteiligten Frauen und Männern, womöglich vielen Ausländern, deren Gesinnung sich auf den ersten Blick nicht feststellen ließ – hier war eine schlagkräftige Auseinandersetzung unwahrscheinlich. Dennoch fürchtete Marga sich für einen Moment. Wie leicht könnten während eines Tumults die Musiker abreisen, bevor sie Michael gefunden hatte.

Sie entdeckte ihn und die anderen Original Bobbys an einer Waggontür. Die Musiker gruppierten sich mit ihrem Orchesterleiter zu einem Abschiedsfoto, einige schon im Zug, manche auf den Trittstufen oder noch auf dem Bahnsteig. Blitzlichtapparate wurden über Kopf gehalten, zischten und flammten kurz auf. Ein Reporter gestikulierte wild, woraufhin die Mitglieder des Tanzorchesters ihre Positionen oder Haltung etwas änderten. Dann grinsten alle synchron in die Kameras. Abschiedsfreude für die Nachtausgabe oder die Morgenzeitungen.

Michael Friedländer stand ganz links, jünger als seine Gefährten, mittelgroß, ein wenig schmächtig wirkend in dem für ihn viel zu weiten hellen Sommeranzug. Jeder der Original Bobbys trug diese Art Garderobe, als stünden sie bereits auf der Bühne. Marga wusste um das kurzfristige Engagement und dass in der Eile keine passende Kleidung für Michael herangeschafft werden konnte, er musste sich mit eigentlich ausrangiertem Ersatz begnügen. Dennoch fand sie ihn attraktiv wie nie. Seine braunen Locken fielen auf den Hemdkragen, den weißen Panamahut hatte er verwegen in den Nacken geschoben.

Aber vor allem war es seine Ausstrahlung. Er wirkte unendlich zufrieden, ein Lächeln auf den weichen, für einen Mann überraschend vollen Lippen. Wann hatte sie ihn jemals so glücklich gesehen? Unwillkürlich verlangsamte sie den Schritt, um jedes Detail seines Anblicks in sich aufzusaugen wie eine Biene den Nektar.

„Was für ein Wirbel um diese Ausländer“, schimpfte jemand irgendwo in der Menge.

„Spielen Neger- und Judenmusik und werden behandelt wie Hans Albers oder Johannes Heesters“, pöbelte eine andere Stimme.

Marga würdigte diese Leute keines Blickes. Langsam drängte sie sich vorwärts.

Mit den Reisenden, Pressevertretern und Bahnangestellten hatten sich inzwischen auch die Swingheinis und ihre Girls um Bobby Schwan und die Original Bobbys versammelt. Es schien, als bildeten die Fans einen Ring um die Bandmitglieder. Ein Durchkommen war fast unmöglich. Hände wurden ausgestreckt, letzte Autogrammwünsche hastig hervorgestoßen.

Marga fühlte sich wie eingekesselt. Sie benutzte ihre Ellenbogen, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte hochzuspringen, um über die Köpfe ihrer Freunde zu spähen. Sie rief nach Michael, doch bei dem herrschenden Geräuschpegel hörte er sie offenbar nicht. Ratlos und verzweifelt ließ sie schließlich die Schultern hängen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Sie war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie im ersten Moment nicht wahrnahm, wie die Menge in Bewegung geriet. Unvermittelt stand Michael vor ihr und sie versuchte erst gar nicht herauszufinden, wie er sich zu ihr durchgekämpft hatte. Alles einerlei.

„Was machst du hier?“, fragte er. Seine Stimme klang weniger erfreut, als sie erhofft hatte.

„Ich wollte … ähmmm … ich wollte sehen, wie du abreist.“ Sie schluckte, weil sie spürte, wie sich eine Träne aus ihren Augen stahl.

Marga wollte sich abwenden, da wischte Michaels Daumenballen bereits zärtlich über ihre Wange.

„Nicht weinen. Bitte nicht weinen. Du solltest dich mit mir freuen. Ein Engagement wie mit den Bobbys werde ich so schnell nicht wieder bekommen.“

„Ich weiß.“ Sie nestelte an dem schmalen Revers ihrer taillenkurzen Jacke. Dann verschränkte sie die Hände hinter dem Rücken und zerrte an den Schwalbenschwänzen. Der Wunsch, sich Michael an den Hals zu werfen, wurde fast übermächtig. „Ich weiß“, wiederholte sie. „Das weiß ich ja alles, aber … aber …“ Die Worte blieben in dem Kloß in ihrer Kehle stecken.

Sie konnte sich ein Leben ohne Michael Friedländer nicht vorstellen. Er war der Begleiter ihrer Kindertage, ihr Beschützer. Sie himmelte den drei Jahre älteren Sohn ihrer Nachbarn an, seit sie denken konnte. Mit seiner besonnenen Art hatte er sie erobert, als sie noch ein ganz kleines Mädchen war. Er ersetzte ihren älteren Bruder, der an Kinderlähmung gestorben war und an den sie sich kaum erinnerte. Michael stützte sie beim Eislaufen, gab ihr Tennisunterricht, half ihr geduldig bei den Mathematikhausaufgaben, hörte ihren ersten Versuchen am Klavier zu, tanzte mit ihr auf dem Abschlussball der Tanzstunde. Es gab ziemlich wenig, das er ihr nicht beigebracht hatte. Sie waren wie eine Einheit. Und dabei spielte es keine Rolle, dass sein Vater ein Kaufmann jüdischer Herkunft war.

Nachdem Michael beschlossen hatte, seine musikalische Begabung zu nutzen und Klarinettist zu werden, nahm sie Gesangs- und Tanzunterricht. Eines Tages, so hoffte Marga, würden sie und Michael gemeinsam auftreten. Und was bei dieser Gelegenheit noch mit ihnen geschehen könnte, wagte sie nur in stillen Nächten zu planen und bei Licht nicht einmal zu denken. Nicht nur, weil sie noch so jung war, sondern auch, weil sie nicht die geringste Ahnung von seinen Gefühlen besaß. Sie waren Nachbarn, Freunde, verbunden in der Begeisterung für den Jazz, über so Persönliches wie Liebe hatten sie nie gesprochen. Und wahrscheinlich würden sie dies auch nie mehr tun. Denn nun ging Michael fort. Aus der Traum.

„Außerdem ist es ein großes Glück, dass man mir einen Pass und das Visum für die Schweiz gegeben hat“, hörte sie ihn vernünftig argumentieren.

Auf dem Weg zum Bahnhof hatte sich Marga eine Rede ausgedacht. Sie wollte sich verführerisch geben wie eine Filmdiva und gleichzeitig zurückhaltend sein. Doch nichts von dem fiel ihr in diesem Moment mehr ein.

„Ich wünschte, du könntest mich mitnehmen“, platzte sie heraus. Dabei sah sie ihn mit dem flehenden Blick eines kleinen Hundes an, der um die Aufmerksamkeit seines Herrchens bettelte.

„Mach mir den Abschied doch bitte nicht so schwer!“ Er nahm den Hut ab, starrte mit gequälter Miene auf seine Hände, in denen er die Kopfbedeckung nervös drehte. „Ich vermisse dich ja jetzt schon.“

„Du wirst mich vergessen. Wenn du erst mit den Bobbys in den großen Tanzpalästen spielst, denkst du bestimmt nicht mehr an mich. Dann lernst du andere Mädchen kennen und …“

Weiter kam sie nicht, denn die Stimme des Schaffners dröhnte aus einem Megafon: „Alles einsteigen! Der Zug fährt in wenigen Minuten ab.“

Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie sich die Gepäckwagen in plötzlich überraschender Eile leerten und das Gedränge abebbte. Die ersten Zugtüren wurden geschlossen. Marga hörte die dumpfen Geräusche, als wären es Geschosse, die ihre Seele trafen. Die Zeit lief ihr davon.

„Michael, wenn du noch mit uns reisen willst, musst du dich beeilen, oder!“, rief eine Männerstimme mit einem deutlichen deutschschweizerischen Akzent aus einem nahen Abteilfenster. „Sag dem Meitli Adieu und chum.“

Sie sah Michael in die Augen, hielt seinen Blick fest. „Versprichst du mir, dass wir uns wiedersehen?“

Michael zögerte.

Warum sagte er nichts?

Einen oder zwei Atemzüge lang fürchtete Marga, er werde sich umdrehen und weglaufen. Vielleicht war sie zu weit gegangen, hatte die Grenze ihrer Kameradschaft überschritten. Womöglich hatte sie ihn falsch verstanden. Es konnte ja sein, dass er froh war, endlich nur noch für seine Musik leben zu können und nicht mehr das Mädchen am Halse zu haben, das sich als Klette entpuppte. Er hatte ihr schließlich niemals Hoffnungen gemacht. Sie war jung und dumm und ohne Erfahrung, da kam ein Irrtum vor.

Michael nahm ihr Gesicht in seine Hände, den Hut noch zwischen den Fingern.

„Wir werden uns wiedersehen“, murmelte er leise, sodass sie Mühe hatte, ihn zu verstehen. „Das verspreche ich dir.“

Dann fügte er in einem Ton hinzu, als sei er selbst erstaunt über die Worte, die ihm offenbar überraschend leicht über die Lippen flossen: „Marga, ich liebe dich.“

Glückseligkeit ergriff sie. Staunen wechselte sich mit Wonne ab. Marga meinte, ein überströmender Brunnen aus Gefühlen zu sein.

Sie spürte mehr, als dass sie sah, wie sich sein Gesicht zu ihr senkte und sein Mund zart den ihren berührte. Ihr Körper drängte sich wie selbstverständlich an ihn. Sie verlangte nach mehr, wünschte, er möge sie verschlingen. Für einen kurzen Moment vergaß sie, wo sie sich befanden. Sie schwamm auf einer Woge der Leidenschaft, die Wellen der Erfüllung schwappten über ihr zusammen.

„Michael! Chum!“

Abrupt löste er sich von ihr, trat einen Schritt zurück, setzte den Hut auf.

„Ich habe dich schon so lange lieb, das wird sich nie ändern, meine Marga“, rief er ihr atemlos zu, während er sich rückwärts in Bewegung setzte.

Zuerst schien es Marga, als verhülle dichter Nebel ihre Sicht. Doch dann klarte sich die Szene auf. Michael rannte jetzt zu der einzigen noch offenen Zugtür, die ein anderer Musiker für ihn aufhielt. Aus dem Abteilfenster daneben steckten die Bobbys ihre Köpfe heraus, winkten und warfen neugierige Blicke zu dem Mädchen, das ihr neues Bandmitglied zurückließ.

Die Swingheinis hatten eine Gruppe vor dem Waggon gebildet, von den Hitlerjungen aus einiger Entfernung argwöhnisch beobachtet. Ein paar Fremde standen verstreut auf dem Bahnsteig, hoben ihr Taschentuch zum Abschiednehmen, manche den Arm zum Hitlergruß. Die Schutzmänner fahndeten offenbar anderswo nach Reisenden ohne gültige Papiere oder mit unerlaubtem Gepäck, ein Kofferträger lehnte an seiner Sackkarre und zündete sich eine Feierabendzigarette an, die Reporter waren in ihre Redaktionen geeilt.

Der Schaffner hielt die Kelle hoch. Kurz darauf schrillte ein Pfiff. Langsam zog die Lokomotive an.

„Swing heil!“, riefen die Fans von Bobby Schwan und den Original Bobbys im Chor.

Ohne darüber nachzudenken, lief Marga neben dem Zug her. Eingehüllt in eine Wolke aus Dampf und das Wummern der Maschinen, versuchte sie, mit der Eisenbahn Schritt zu halten. Der Fahrtwind fuhr in ihre Haare und schlug die Frackschöße hoch.

Michael verharrte auf der Trittstufe in der offenen Zugtür.

„Ich werde auf dich warten!“, rief sie ihm zu.

Die Bahn nahm Fahrt auf.

Seine Stimme wehte verzerrt zu ihr her: „Ich schreibe dir.“ Dann trat er zurück auf die Plattform, die Tür wurde von innen zugezogen.

Keuchend blieb sie stehen, beugte sich vor, um ihre Atmung zu beruhigen.

Es war nicht allein der Spurt. Die Aufregung tat ein Übriges. Die anfängliche Unsicherheit, der erste Kuss, das Wissen um seine Liebe. Marga hatte das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Gleichzeitig fühlte sie sich verloren wie nie zuvor.

Marga konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.

Ich werde es schaffen!, dachte sie trotzig. Ich werde einen Weg finden, ihn wiederzusehen. Irgendwann sind wir wieder zusammen – und dann sind wir ein richtiges Liebespaar!

Als sie langsam an den Hitlerjungen vorbei zum Treppenaufgang trottete, feixten die Gleichaltrigen in ihren Uniformen: „Man möchte weinen, sie liebt nur einen mit Gummibeinen.“

Marga schenkte ihnen keine Beachtung.


Paris Frühling 1999

2

Die Musik plätscherte dahin wie ein unscheinbar im Schatten von Bäumen gelegener Bach. Seicht, leise, unaufdringlich. Easy Listening. Hintergrundmusik, wie sie in Supermärkten vom Band lief. Meistens nahmen die Kunden nur eine Geräuschkulisse wahr, mehr nicht. Im Hotel Concorde La Fayette war dies nicht anders. Die Gäste schwirrten durch das Foyer, ohne auf die gefälligen Melodien zu achten. Im Unterschied zu den Casino- oder Franprix-Läden wurde hier jedoch live gespielt. Andrea Cramer saß am Flügel in der Lobby und fand ihre von der Hoteldirektion gewünschte Darbietung selbst dermaßen langweilig, dass sie nur mühsam ein Gähnen unterdrückte.

Dennoch ärgerte es die junge Pianistin, wie sie hier praktisch nicht einmal zur Dekoration diente. Meist wurde Zierrat wenigstens flüchtig beachtet. Sie schien jedoch unsichtbar zu sein. Die Leute, die an ihr vorbeiströmten, warfen ihr kaum einen Blick zu. In einem der Konferenzräume des Hotels fand ein internationaler Kongress statt und die Teilnehmer interessierten sich offensichtlich keine Spur für wohlklingende Schlager und deren Interpretin.

Nur ein einziger Gast hob sich deutlich ab. Der alte Herr hatte es sich in einem der modernen neonfarbenen Sessel nahe ihrem Instrument bequem gemacht. Bereits gestern war er hier gewesen. Aufrecht sitzend, die Hände auf dem Knauf des Spazierstocks zwischen seinen Knien gefaltet, hatte er eine Weile zugehört, bevor er sich erhob und seines Wegs ging. Heute war er zur selben Zeit gekommen, saß genauso da und lauschte ihrem Klavierspiel mit einer Hingabe, die Andrea gänzlich unangemessen und verwirrend fand.

Das Concorde La Fayette war ein vierunddreißig Stockwerke hoher moderner Hotelkomplex an der Porte Maillot. Französischen Charme suchte man hier vergebens. Ebenso Gemütlichkeit. Dafür gab es viel Funktionalität, erstklassige Drinks und einen atemberaubenden Panoramablick über Paris für die Besucher der Bar. Bei Geschäftsreisenden ein beliebtes Ziel, Touristen im Seniorenalter fanden sich hier jedoch eher selten ein. Allein deshalb fiel Andreas einsamer Zuhörer auf. Ansonsten wirkte er mit seinem dunklen Anzug und ebensolchen Mantel sowie dem weißen Schal um den Hals durchaus wie ein Vertreter der üblichen Businessklientel, wäre er nicht jenseits der achtzig.

Während sie einen amerikanischen Evergreen spielte, überlegte sie, ob sie den alten Herrn ansprechen sollte. Vielleicht hatte er ja einen bestimmten Musikwunsch, den sie ihm gern erfüllen wollte. Eine Erinnerung an seine Jugend, womöglich an eine bestimmte Frau, eine unerfüllte Liebe. Er strahlte Würde aus, sogar eine unbezähmbare Energie. Diese wurde nicht einmal von der Zartheit überdeckt, die Menschen seines Alters häufig innewohnte. Sicher war er ein interessanter Mann, der viel zu erzählen hatte, wenn man ihn ließ. War er der Ödnis eines Seniorenheims in das Vier-Sterne-Hotel entflohen? Langweilige Musik gegen einen trostlosen Alltag und beides verbunden mit endlosem Schweigen?

Obwohl selbst erst siebenundzwanzig Jahre alt, kannte sich Andrea mit den Neigungen alter Leute aus. Sie war bei ihren Großeltern in Baden-Baden aufgewachsen, einer Stadt mit einem höheren Altersdurchschnitt als anderswo. Ihre unstete, flatterhafte Mutter hatte sich frühzeitig aus dem Staub gemacht, zu Barbara hatte sie auch als Erwachsene nur ein loses Verhältnis; von ihrem Vater wusste Andrea nicht einmal den Namen.

Im Grunde wollte sie auch nichts über ihren Erzeuger erfahren, da die Wahrheit möglicherweise die Illusion zerstörte, die sie sich um seine Person aufgebaut hatte. Andrea ging davon aus, dass er einer jener Rockmusiker war, denen Barbara einst als Groupie nachreiste, um der Enge ihres Elternhauses zu entkommen. Von ihrem Vater hatte Andrea das musikalische Talent geerbt. Davon war sie überzeugt. Ihre bürgerlichen Großeltern kamen dafür nicht infrage, und die künstlerische Begabung ihrer Mutter beschränkte sich auf Ölbilder und Töpferwaren von zweifelhafter Qualität.

Es wäre ernüchternd, wenn Andrea herausfinden müsste, dass diese Version ihrer Geschichte nicht der Wahrheit entsprach und die damalige Affäre ihrer Mutter ein harmloser Durchschnittstyp war. Ein berühmter Rockstar, ständig abwesend, weil er sich auf Welttournee befand, das hatte schon in der Schule funktioniert, wenn ihre Klassenkameraden nach Andreas Vater fragten – und es ergab für sie nach wie vor Sinn. Es erklärte ihre ungewöhnliche Musikalität, ihren Berufswunsch Pianistin, der ein Herzensanliegen und nicht mehr und nicht weniger als ein Lebensziel war.

Letztlich erklärte sich daraus auch ihr Musikstudium zunächst in Frankfurt am Main und nun in Paris. Die Idee, Carlos Santana oder ein Mitglied seiner großartigen Band könnte ihr Erzeuger sein, gefiel ihr am besten. Die Musikrichtung stimmte in etwa, auch wenn Andrea nicht Gitarre spielte. Sie wollte ihren Weg nicht im Bereich der Klassik machen, sondern als Jazzpianistin, am liebsten mit einem präparierten Klavier gemeinsam mit Perkussionskünstlern. Doch damit erreichte sie weder ein großes Publikum noch die Zustimmung ihrer Professoren, solange sie nicht mindestens zum Jazz Festival nach Montreux eingeladen wurde, wovon leider noch keine Rede sein konnte. Da die eigene steile Karriere also noch auf sich warten ließ, musste sie sich ihren Lebensunterhalt auch in der Lobby des Hotels Concorde La Fayette erspielen – vor einem alten Mann als einzigem Zuhörer.

Sie nahm sich vor, nach dem nächsten Lied eine kurze Pause einzulegen und den Herrn anzusprechen.

Doch während sie etwas mehr Enthusiasmus in die letzten Takte legte, erhob er sich. Er stützte sich mit der einen Hand auf seinen Stock, die andere zog den Schal fest. Nach einem langen Innehalten wandte er sich um.

Er verschwand aus ihrem Blickfeld, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnte. Ihr Spiel abzubrechen und ihm nachzulaufen war unmöglich. Wie sollte sie sich erklären? Dem alten Mann gegenüber und – viel schlimmer – dem Chefportier, der von der Rezeption aus ständig ein wachsames Auge auf sie hatte.

Ein Hauch von Enttäuschung legte sich über Andrea.

Morgen, dachte sie. Wenn er morgen wieder hier ist, rede ich mit ihm.

Dann fiel ihr ein, dass morgen Sonntag war und sie nicht in diesem Hotel, sondern zum Brunch im Le Fumoir spielte, einem Lokal im 1. Arrondissement. Seit Wochen freute sie sich auf dieses Engagement, weil sie dort mit ein paar Kommilitoninnen ein jazziges Repertoire bringen durfte.

Andrea fühlte ein gewisses Bedauern beim Gedanken daran, dass der alte Mann vielleicht morgen vergeblich hier auf sie wartete. Danach würde er sicher nicht mehr auftauchen. Die Vorstellung, ihn nicht wiederzusehen und nichts über ihn zu erfahren, hinterließ eine eigentümliche Leere.

Micaela Jary

Über Micaela Jary

Biografie

Micaela Jary wurde als Tochter des Filmkomponisten Michael Jary in Hamburg geboren. Sie wuchs in der Welt des Kinos und der Musik auf und arbeitete als Zeitungsredakteurin, ehe sie sich ganz der Schriftstellerei widmete. Seit vielen Jahren schreibt sie nun erfolgreich Bücher. Sie lebte lange in...

Medien zu „Wie ein fernes Lied“
Pressestimmen
Berliner Zeitung am Sonntag

„Micaela Jary verwebt ihre Lieblingsthemen Musik und Zeitgeschichte auf beste Pageturner-Weise.“

Hörzu

„Geschickt konstruierter, emotionaler Roman rund um die Entwicklung der Swingmusik.“

Hamburger Wirtschaft

„Man spürt wie intensiv Jary sich mit der NS-Zeit auseinandergesetzt hat.“

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