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Wie man seine Tochter liebt Wie man seine Tochter liebt - eBook-Ausgabe

Hila Blum
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Roman

— Ausgezeichnet mit dem israelischen Sapir-Buchpreis 2021

„Mit ›Wie man seine Tochter liebt‹ hat die israelische Schriftstellerin Hila Blum ein schmerzhaft schönes und grausam ehrliches Buch über das Problem der (elterlichen) Liebe geschrieben.“ - Kleine Zeitung (A)

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Wie man seine Tochter liebt — Inhalt

Nach „Der Besuch“ der neue Roman einer der besten Autorinnen Israels

Fehler, im Namen der Liebe begangen
In Holland, 5000 Kilometer von ihrer Heimat Israel entfernt, steht eine Frau allein auf einer dunklen Straße und sieht durch die erleuchteten Fenster ins Innere eines Hauses. Die beiden Mädchen, die sie dort beim Spielen beobachtet, sind die Kinder ihrer einzigen Tochter, ihre Enkel, denen sie noch nie begegnet ist ...

Hila Blum zeigt uns mit Empathie und chirurgischer Präzision eine Frau, die eigentlich einsehen sollte, dass man das Schicksal seiner Kinder nicht lenken kann – wie sehr man sie auch liebt.

„Als ich dieses Buch las, spürte ich, dass sich in der israelischen Literatur etwas Neues, Wunderbares ereignet hat.“ Neri Livne, Haaretz

€ 24,00 [D], € 24,70 [A]
Erschienen am 27.01.2022
Übersetzt von: Ruth Achlama
320 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-8270-1457-3
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 27.01.2022
Übersetzt von: Ruth Achlama
320 Seiten
EAN 978-3-8270-8047-9
Download Cover
„Mit ›Wie man seine Tochter liebt‹ hat die israelische Schriftstellerin Hila Blum ein schmerzhaft schönes und grausam ehrliches Buch über das Problem der (elterlichen) Liebe geschrieben.“
Kleine Zeitung (A)
„Dieser Roman ist großartig. Ja, ich hab’s geliebt ihn zu lesen.“
Radio Bremen „Cosmo“
„Eine mit viel Feingefühl erzählte Familiengeschichte“
Frau im Leben
„Hila Blum flicht Zitate von großen Autorinnen ein, unter anderen von Atwood, Munro und Strout. Blums lakonischer Erzählstil erinnert an deren großartige Chroniken des alltäglichen Familiendramas.“
P.S. Zeitung
„Eine spannende und raffiniert erzählte Geschichte“
Schweizer Radio und Fernsehen (SRF)
„Wirklich kühn baut Hila Blum mit dem ersten Satz eine unglaubliche Spannung auf.“
NDR "Kultur"

Leseprobe zu „Wie man seine Tochter liebt“

1

Als ich meine Enkelinnen zum ersten Mal sah, stand ich jenseits der Straße, traute mich nicht näher heran. In den Vororten von Groningen sind die Fenster groß und tief, ich schämte mich der Leichtigkeit, mit der ich ans Ziel gekommen war, erschrak, wie mühelos die Mädchen meinen Blicken zum Opfer fielen, war aber auch selbst ungeschützt. Hätten sie sich nur etwas umgedreht, hätten sie mich gesehen.

Die Mädchen kümmerten sich nicht darum, was draußen geschah. Sie waren mit sich, ihren kleinen Sorgen beschäftigt. Mädchen mit hellem, dünnem Haar, das einem [...]

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1

Als ich meine Enkelinnen zum ersten Mal sah, stand ich jenseits der Straße, traute mich nicht näher heran. In den Vororten von Groningen sind die Fenster groß und tief, ich schämte mich der Leichtigkeit, mit der ich ans Ziel gekommen war, erschrak, wie mühelos die Mädchen meinen Blicken zum Opfer fielen, war aber auch selbst ungeschützt. Hätten sie sich nur etwas umgedreht, hätten sie mich gesehen.

Die Mädchen kümmerten sich nicht darum, was draußen geschah. Sie waren mit sich, ihren kleinen Sorgen beschäftigt. Mädchen mit hellem, dünnem Haar, das einem wie Mehl durch die Finger rieselt. Sie waren allein im Wohnzimmer, zu greifbar für mich. Auf Anfrage hätte ich mein Hiersein nicht erklären können. Ich machte mich davon.

Ich wartete, bis es draußen dunkel wurde und drinnen in den Räumen das Licht anging. Nun trat ich wieder heran, zögerte noch kurz und überquerte schließlich die Straße. Beinah hätte ich ans Fenster geklopft. Ich staunte, wie unbefangen die Familienmitglieder dort agierten. So hatte ich meine Tochter nicht in Erinnerung, ihre starke Präsenz verblüffte mich. Ich flüsterte ihren Namen, nur um zu begreifen: „Lea, Lea.“ Ich stand nicht lange dort, ein paar Minuten. Leas Töchter, Lotte und Sane, saßen am Esstisch, rangelten dabei jedoch pausenlos, verschoben das gelbe Licht aus dem Haus mal hierhin, mal dorthin. Leas Mann Johann stand mit dem Rücken zu mir in der Küche, machte das Abendessen. Lea ging von Raum zu Raum, wurde vom Fensterkreuz zerteilt, verschwand und tauchte in einem anderen Zimmer wieder auf, entschlüpfte der Realität, als ginge sie tatsächlich durch Wände. Der Kamin im Wohnzimmer brannte nicht, strahlte aber trotzdem Wärme aus, verbreitete Heimeligkeit, das traf es wohl. Und überall waren Bücher, sogar in der Küche. Es sah nach einer friedlichen Wohnung aus, alles darin sollte an die Wärme der Rohstoffe erinnern, an das Hölzerne der Bäume im Wald, das Wattige der Wolken am Himmel. Da ich meine Tochter und ihre Familie jedoch ohne ihr Wissen beobachtete, drohte mir Gefahr, ihr nacktes Leben traf meine Augen mit gefährlicher Strahlung.


Eine Frau, über die ich Jahre zuvor in einem Buch gelesen hatte, eine Frau aus Dublin, hatte elf Geschwister, und als sie heranwuchs und heiratete, bekam sie zwei Mädchen. Ihre Kinder sind noch nie allein auf die Straße hinuntergegangen. Sie haben sich noch nie ein Bett geteilt. Die Frau erzählte sonst nicht viel über ihre Töchter, und ich begriff, sie wollte sagen, dass sie die beiden liebte, aber auch, dass sie nicht recht wusste, wie. Und dass es darum ging, um das Problem der Liebe. Dass sie sich bemüht hatte.

Sie fuhren in die Ferien, die Frau und ihr Mann und die Töchter, eine Familienreise im Auto, ein dummer Streit brach aus, und die Frau blickte in den Beifahrerspiegel und sah ihre ältere Tochter hinten geradeaus starren. Ihr Mund war zusammengekniffen, und in einer schrecklichen Vorahnung sah die Mutter, was an ihrem Gesicht sich falsch entwickeln würde, sei es schnell oder langsam, etwas, das ihr den Liebreiz rauben würde, noch ehe sie erwachsen wäre. Und die Frau sagte sich im Stillen: Ich muss dafür sorgen, dass sie glücklich ist.[i]

Als ich das las, hatte ich selbst schon eine kleine Tochter. Lea. Anderthalb Jahre alt, ein quicklebendiges, lautes Plappermäulchen. Vor ihren Babyohren, aber auch vor den Ohren ihres Vaters nannte ich sie Nebelhorn. Meir und ich staunten über unser Nebelhorn. Ich gab ihr noch zig andere Namen. Sehnte mich all die Stunden bei der Arbeit nach ihr und schloss sie nach Feierabend, wenn wir uns wiedersahen, fest in die Arme. Meine Babytochter liebte ich mit Leichtigkeit. Auch ihr Vater war verliebt in sie, und jeden Abend, wenn sie schlief, redeten wir über sie, dankten einander für das Kind. Ich gab ihr alles, was mir gefehlt hatte, und noch viel mehr, und das Mädchen liebte mich auch.

Alles an der Kleinen – der Speichel, den sie auf Kinn und Hals und in den Hemdkragen sabberte, die schweren, nassen Windeln, der Eiter ihrer Augenentzündungen und der gesamte Inhalt ihrer Nase –, alles an Lea fand ich gut. Wenn ich sie anschaute oder beschnupperte, lief mir zuweilen das Wasser im Mund zusammen. Sie war zum Anbeißen. Ich fresse dich, sagte ich dann, ich verschlinge dich einfach. Und Lea lachte. Ich kitzelte sie, um noch mehr von ihrem lauten Lachen zu hören, und wenn andere uns anstarrten, schämte ich mich kein bisschen, im Gegenteil.

Als sie vier Jahre alt war, wünschte ich mir noch ein Töchterchen. Sagte zu Meir, stell dir mal vor, zwei Leas. Mit ebendiesen Worten sagte ich ihm wohl: Sag nicht Ja. Und er sagte nicht Ja. Ich war ihm deshalb monatelang böse, doch schließlich wuchs Gras über die Sache. Meir überschritt die fünfzig, wir zogen in eine große Wohnung, waren beruflich erfolgreich, schliefen nachts gut, wir hatten Lea mit vier, fünf, sechs Jahren, uns fehlte nichts, und Lea wuchs heran.


Meirs jüngerer Bruder, Jochai, der wie Meir spät Vater geworden war, erzählt mir von seiner Tochter. Als sie sieben war, ließ er sich von ihrer Mutter scheiden, und jetzt ist das Mädchen acht, und während er sie noch ins Bett bringt und auf die Stirn küsst und die Bettdecke um sie feststopft, spürt er schon ihr Fehlen. In jedem Augenblick ist sie noch da und schon wieder weg, und er selbst ist verloren zwischen dem, was war, und dem, was kommt, und ewig in Sorge. Wir unterhalten uns in einem kleinen Café in der Innenstadt – bis zu Meirs Tod hatten wir nie richtig geredet, in seiner Anwesenheit war Jochai immer zurückhaltend –, und als ich abends heimkehre, bin ich unruhig. Ich lese in einem Buch über eine Frau, nicht über die, die in Irland wohnt und deren Töchter noch nicht allein auf der Straße waren, sondern eine andere, eine Französin, deren Tochter in ihrer Jugend zwei Jahre in Haft verbrachte. In der Geschichte der Tochter, die sie aus dem Gefängnis berichtet, erklärt sie, ihre Eltern hätten sie geliebt. Zu sehr vielleicht. Und die Zweifel ranken sich offenbar um die Frage der Zuneigung. Ich lasse das Buch minutenlang ruhen, umgekehrt neben mir liegen und erwäge, es nicht weiterzulesen. Und je älter ich wurde, erzählt die Tochter über die Beziehung zu ihrer Mutter, desto höher wuchs die Mauer zwischen uns.[ii]

Ich denke an Lea mit vierzehn, fünfzehn Jahren, im gefährlichen Alter. Hundert-, nein tausendmal sah ich sie an und dachte, du verschlägst mir den Atem. Manchmal sagte ich ihr, du bist zum Verrücktwerden schön, und Lea rollte die Augen und machte ein ernstes Gesicht, und ich wusste, dass ich sie mit meinem liebenden Blick, der blind für ihre Mängel war, enttäuschte. Und doch machte ich damit weiter. Ließ es nicht sein. Akzeptierte keine Mauer zwischen uns.

Ich möchte in einem Schwung von Lea schreiben, alles. Aber da ist das Nadelöhr der Sprache.

Ich würde gern ohne Worte über Lea schreiben, und das ist unmöglich.


In Filmen sieht man es häufig. Eine Familie sitzt im Auto, der Vater am Steuer, die Frau auf charmant nachlässige Weise schön, zwei aufgeweckte Kinder im Fond, und alle plaudern. Das ist das Leben vorher, doch etwas Schlimmes wird passieren. Straßenräuber. Ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit. Der zusammengekniffene Mund deiner Tochter.

Einmal sah ich allerdings einen skandinavischen Film, der sich mit der Tragik von Feinheiten begnügte. Dreimal habe ich ihn mir angeschaut, um wirklich alles mitzukriegen. Die Familie war in einem Skiort – Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Alle vier waren schön, aber nicht zu schön, auf glaubhafte Weise, und es war klar, dass ihr physisches Leben nicht völlig sorglos verlief. Und was dieser Familie dann passierte, das Ereignis, das die Fassade ihres Lebens angriff und mit einem Netz aus Rissen und Brüchen überzog, war eine Schneelawine. Es dauerte nur ein paar Sekunden. Die Familie saß in einem Restaurant am Hang, und die Lawine raste auf sie zu, kam jedoch in einiger Entfernung von ihnen zum Halten, und alle, die von ihren Stühlen aufgesprungen waren, um Deckung zu suchen, setzten sich wieder hin und aßen weiter. Aber der Schlag war vernichtend, der Schaden angerichtet, denn angesichts der heranrollenden Lawine hatte der Vater versucht, sich zu retten, während die Mutter aufgesprungen war, um die Kinder zu schützen, sie umarmt und beschirmt hatte. Und darüber, über das Wissen, dass ihr Mann sich abgesetzt und sie drei im Stich gelassen hatte, kam die junge Frau nicht hinweg. Fortan zeigte sich, im Verlauf des ganzen Films, in skandinavischer Bedächtigkeit, die Tiefe der Kluft.

Ich würde ab und zu gern weitere Filme über Lebensläufe sehen, die sich so, fast von selbst, verkrümmen, und nicht über lärmende Schicksalsschläge. Ich würde gern über Familien wie uns hören, über Meir und Lea und mich, über Fehler, die leicht zu begehen und doch unverzeihlich sind, die normalen Unfälle, meine ich, unwillkürliche Verbrechen.

2

In Leas erstem Lebensjahr kam meine Mutter uns häufig besuchen, niemals mit leeren Händen, immer mit Plastikdosen voll Essen, das sie für uns gekocht, oder mit Geschenken, die sie überteuert für uns gekauft hatte (sie entfernte die Preisschilder nicht). Sie setzte sich mit Lea aufs Sofa und schnalzte ihr zu, wiegte sie oder setzte sich zu ihr auf den Teppich und wedelte ihr mit den Händen vor den Augen herum, und wenn sie genug gespielt hatten, fütterte sie sie, führte ihr den Teelöffel zum Mund und wischte ihr gleich danach das Kinn ab, ein Löffelchen, ein Wisch und so weiter. Ich lauerte auf den Moment, in dem meine Mutter aus sich herauskommen, ihr das Herz übergehen würde. Wie konnte man Lea widerstehen? Sie würde ihre Oma zum Schmelzen bringen.

Meine Mutter half mir in allem mit dem Kleinkind, und Meir desgleichen. Jeden Morgen zog er Lea an, fuhr sie manchmal sogar noch zur Tagesmutter, und jeden Mittag holte ich sie dort ab. Bis er von der Universität heimkehrte, machten wir es uns gemütlich, nur wir zwei oder mit meiner Mutter. Und dann kam Meir nach Hause und stürzte sich auf die Kleine. Bombardierte sie mit Umarmungen und Küssen, mit Gejubel und Fragen, mit Betteln um ein Küsschen und noch ein Küsschen und mit Fußstampfen, wenn er leer ausging, und die so geherzte Lea lachte und lachte. Doch kaum war er da, höchstens ein oder zwei Minuten später, machte meine Mutter sich auf den Weg, die Tür fiel hinter ihr ins Schloss, und nur ich war noch da, um ihnen zuzusehen, Vater und Tochter, die auf der Polstergarnitur johlten. Meine Mutter mochte das nicht mit ansehen, konnte dem nichts abgewinnen. Ich wusste nicht so mit Lea zu jubeln, ihr ins Mäulchen zu brummen und zu brüllen, solche Laute zu machen, war aber fasziniert. Bisweilen übertrieb Meir es jedoch, und Leas fröhliches Kreischen drohte in einen Tränenausbruch umzuschlagen.


Ich fotografierte Lea immerzu. Die Entdeckung Amerikas, die Landung auf dem Mond, unsere erstgeborenen Sprösslinge. Klar hält die Welt den Atem an. Aber es braucht Jahre, bis wir beim Anschauen dieser Babyalben erkennen können, wie die Liebe zu unseren Kindern die Realität vertuscht und sie für unsere Augen retuschiert. In ihren ersten Lebenstagen war Lea erschreckend blass, fast durchscheinend, wie Milch in einer Plastiktüte. Sie war sonderbar. Und doch stockt mir kurz das Herz angesichts ihres kühnen Ausdrucks schon auf jenen frühen Bildern, ihres Selbstbewusstseins von Beginn an. Und jedenfalls erkannte ich, wenn auch erst später, dass ich anderer Leute Kinder zu lieben lernte, die Liebe zu Lea jedoch das Gegenteil eines Lernprozesses war, es war ein Alles-Vergessen.


Außerhalb des Bildes presse ich für Lea Orangensaft, und auf dem Foto trinkt sie ihn schon mit zögernden Schlucken aus ihrem rosa Plastikbecher. Die Säure frappiert sie, und das ist ein bisschen lustig. Die Vitamine strömen in sie hinein, werden absorbiert und wirken in ihrem Innern, vor meinen Augen gesundet sie, ohne überhaupt krank gewesen zu sein. Und auch nachts, wenn sie schläft, spüre ich ihr Wachstum, die Ofenwärme und das Größerwerden (im Bett liegend, sieht sie unwahrscheinlich lang aus). Selten mal, wenn sie tatsächlich krank ist – Erkältung oder ein Virus oder Infekt –, entflammt ein anderes Temperament unter ihrer Haut. Sie ist nie geschwächt oder benommen, im Gegenteil, erhöhte Temperatur macht sie stürmischer, unglaublich redselig. Ich halte das für eine Manie. Ihre Augen blitzen, ihr Gesicht läuft hochrot an, und ihre Stimme wird tief und heiser. Sie jagt mir Angst ein. Zu solchen Zeiten erkenne ich, dass ich nichts für sie tun kann, dass sie in die Arme ihres Schicksals entrückt ist. Aber nach einem, höchstens zwei Tagen beruhigt sich alles wieder. Meine Mutter ruft ständig an, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, ist sehr besorgt, ihre vierzig Jahre als Krankenschwester haben sie vieles über die Launen des Schicksals gelehrt, hohes Fieber bei Kleinkindern erschreckt sie, jede Form von Übertreibung, wie ich schon sagte. Lea ist völlig okay, versichere ich ihr. Das Fieber ist gesunken, und sie schläft.

Am nächsten Morgen kräht Lea wieder fröhlich auf ihrem Kinderstuhl. Erstmals haben wir eine Digitalkamera gekauft, und jetzt kann ich sie nach Herzenslust fotografieren, noch und noch, so viel ich will. Unter bestimmten Lichtverhältnissen wirken die Augen meiner Tochter auf Fotos leer vor lauter Himmelblau. Ich habe braune Augen, wie auch ihr Vater. Die blaue Augenfarbe unserer Tochter ist ein rezessives Merkmal in unseren Körpern, eine Kreuzung von Erbfaktoren, die zwei Generationen zurückgreift. Meine Großmutter mütterlicherseits hatte blaue Augen ebenso wie Meirs Großvater väterlicherseits. In solchem Licht wirkt auch Leas Haar beim Fotografieren sehr hell, fast blond. Die Bilder dieser Dämonin lösche ich sofort, und unter den verbliebenen suche ich das schönste aus, um es später meiner Mutter zu zeigen. Eine Stunde danach, unterwegs zum Kindergarten, will die gesunde Lea wieder alles drücken. Den Lichtschalter im Treppenhaus. Den Fahrstuhlknopf. Die Fernbedienung des Autoschlüssels. Und auch am Nachmittag, auf dem Rückweg – die Tasten des Bankautomaten drücken, die Scheine rausziehen, die Münze in den Einkaufswagen stecken, den Kreditkartenbeleg unterschreiben. Mit dreieinhalb Jahren kann sie ihren Namen kritzeln, und auch eine Unterschrift hat sie, kringelig, ein Schmuckband. Zu Hause schreibt sie wieder und wieder auf Papierbögen: Lea, Lea, Lea, Lea. Sie bittet nicht darum, weitere Worte schreiben zu lernen.


Ich behaupte, dass das Problem der Liebe nicht wieder auftrat. In sämtlichen Monaten der Schwangerschaft hatte ich mich mit dem Rätsel der Liebe herumgeschlagen, aber als meine Tochter zur Welt kam, war mir plötzlich alles klar. In den langen Nachmittagsstunden, in denen wir beide allein zu Hause waren, rief ich meine Mutter an und berichtete ihr, wie wunderbar Lea war. Ich erzählte beharrlich, ließ sie nicht das Thema wechseln, weigerte mich, ihren Geschichten zu lauschen, bevor sie sich meine angehört hatte, und fand Methoden, dies wie absichtslos zu erreichen. Der Verkäuferin im Eckladen sagte ich (überlaut – meine Stimme hatte ich damals nicht immer im Griff): Was habe ich bloß getan im Leben, bevor meine Tochter auf die Welt kam? Ich wollte sagen, dass ich mich an nichts erinnerte, alles war ausgelöscht, ich war neugeboren mit dem Mädchen. Meiner Mutter konnte ich mit so was nicht kommen, ich hätte uns beide in Verlegenheit gebracht, sie hätte all das herausgehört, was sie zu hören fürchtete, aber es war Verliebtheit, ich war verliebt, wollte meine Liebe zu Lea herausschreien, ohne Rücksicht auf irgendwen. Ich war glücklich, genoss die Erfindung meiner eigenen Mutterschaft. Die unzähligen Umarmungen, die zarten Küsschen, das liebevolle Plappern und Gurren. Ich stillte sie, wann immer sie wollte, Tag und Nacht. Sie schlief und wachte, wann es ihr passte. Kein Ratgeberbuch wollte ich lesen. Ich roch an ihren Söckchen und Höschen, bevor ich sie in die Waschmaschine steckte, beschnupperte ihr fettiges Haar, ihren Mundhauch am Morgen, all ihre süßen Stinkereien. Sie krabbelte barfuß im Sandkasten, grapschte den Nachbarshunden ins Fell. Ich ignorierte alle Grenzen und Regeln und demonstrierte das stur gegenüber meiner Mutter, diese Liebe zu meiner Tochter, die ich ganz allein entdeckt hatte, so gänzlich anders als die Liebe meiner Mutter zu mir.


Nur selten war ich wütend auf Lea. Ich erkläre, dass es keine Wut gab, nicht in den ersten Jahren und auch nicht später. Manchmal war sie mir über, dann verzog ich die Miene und hob die Stimme, aber innerlich war ich nicht wütend. Ich hatte meinen Spaß. Was ich sagen will, ist, dass ich es auch genoss, sie ein bisschen zu erziehen, ihr zu predigen, die Mutter herauszukehren. Aber auf eines achtete ich: Wenn die wütende Lea mit ihren Ärmchen fuchtelte und mir damit aufs Bein oder auf die Brust trommelte oder sie mir zornig auf die Lenden hieb, packte ich sie fest an den Handgelenken und sagte: Nein! Niemals Mama hauen! Auch nicht im Spaß! Und dann brach sie in Tränen aus. Aber nach einigen Versuchen wagte sie nicht mehr, auf mich einzuschlagen. Trotzdem war ich manchmal beleidigt ihretwegen. Wenn sie völlig ruhig, nicht verärgert, ganz bewusst, „geh weg, lass mich in Ruhe“, sagte, konnte ich ihr nicht ins Gesicht sehen, sondern kehrte ihr lange den Rücken zu, und dann wurde sie ganz unglücklich.


[i] Anne Enright, Das Familientreffen, aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser, Penguin Verlag, 2017 (DVA, 2008).

[ii] Anne-Sophie Brasme, Dich schlafen sehen, aus dem Französischen von Reiner Pfleiderer, Goldmann Verlag, 2001.

Über Hila Blum

Biografie

Hila Blum, 1969 in Jerusalem geboren, lebte auf Hawaii, in Paris und New York. Sie war als Journalistin tätig und arbeitet seit vielen Jahren als Lektorin. Nach dem internationalen Achtungserfolg ihres ersten Romans, „Der Besuch“, gelang ihr mit „Wie man seine Tochter liebt“ ein literarischer...

Pressestimmen
Kleine Zeitung (A)

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Radio Bremen „Cosmo“

„Dieser Roman ist großartig. Ja, ich hab’s geliebt ihn zu lesen.“

Frau im Leben

„Eine mit viel Feingefühl erzählte Familiengeschichte“

P.S. Zeitung

„Hila Blum flicht Zitate von großen Autorinnen ein, unter anderen von Atwood, Munro und Strout. Blums lakonischer Erzählstil erinnert an deren großartige Chroniken des alltäglichen Familiendramas.“

Schweizer Radio und Fernsehen (SRF)

„Eine spannende und raffiniert erzählte Geschichte“

NDR "Kultur"

„Wirklich kühn baut Hila Blum mit dem ersten Satz eine unglaubliche Spannung auf.“

karinahahnrezensionen.com

„Den Schmerz über die Trennung von der Tochter beschreibt Hilda Blum in berührenden Worten.“

Freie Presse

„Hila Blum schildert dies mit eindringlicher Präzision und Empathie.“

Heilbronner Stimme

„Schmerzhaft poetisch berichtet die Mutter in der Rückschau von Dingen, die sie selbst nicht versteht, und offenbart einen tiefen Blick in ihre Seele.“

echo_books

„Ein leiser, besonnener Roman, der ohne Paukenschläge daherkommt, durch die Seiten gleiten lässt und dabei großen Spaß macht. Große Leseempfehlung.“

SRF 1 „BuchZeichen“

„Das Gelungene an dem Buch ist, dass es Luft lässt für verschiedene Interpretationen.“

(CH) SRF 2 - Kultur kompakt

„Dieser Roman bleibt von Anfang bis Ende von einer köchelnden Spannung durchzogen.“

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