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Wisting und der See des Vergessens (Wistings Cold Cases 4) Wisting und der See des Vergessens (Wistings Cold Cases 4) - eBook-Ausgabe

Jørn Lier Horst
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Kriminalroman

— Skandinavischer Krimi um einen Ermittler, der niemals aufgibt
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Wisting und der See des Vergessens (Wistings Cold Cases 4) — Inhalt

William Wisting erhält einen merkwürdigen Brief. Auf dem weißen Blatt steht lediglich die Zahlenfolge „12-1569/99“, die Fallnummer eines Mordes aus dem Jahr 1999. Die 17-jährige Tone verschwand damals auf dem Heimweg von der Arbeit, man fand kurz darauf ihre Leiche, der Täter wurde verurteilt. Scheinbar ein schnell geklärter Mord, der in Vergessenheit geriet, obwohl der Verurteilte stets seine Unschuld beteuerte. Mittlerweile hat er seine Strafe abgesessen. Und ausgerechnet jetzt hält das Verschwinden einer jungen Frau das Land in Atem. Ein Fall mit erschreckenden Parallelen zu Tones Ermordung! Wisting beginnt zu ermitteln, doch nicht jedem gefällt, dass er die Sache neu aufrollt …

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 29.06.2023
Übersetzt von: Andreas Brunstermann
416 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31914-0
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€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 01.04.2021
Übersetzt von: Andreas Brunstermann
416 Seiten
EAN 978-3-492-99803-1
Download Cover

Leseprobe zu „Wisting und der See des Vergessens (Wistings Cold Cases 4)“

1

Eine Fliege landete auf dem Rand des Wasserglases. Wisting verscheuchte sie und setzte sich auf der Terrasse unter den Sonnenschirm. Er trank das Glas zur Hälfte aus und überprüfte die Anzahl seiner Schritte auf dem Handy. Die App hatte fast viertausend Schritte gezählt, dabei war es nicht einmal zwölf Uhr. Die meisten Schritte waren registriert worden, während er mit dem Rasenmäher hin- und hergegangen war. Wisting hatte es sich zum Ziel gesetzt, im Urlaub jeden Tag mindestens zehntausend Schritte zurückzulegen, war im Durchschnitt jedoch bei unter [...]

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1

Eine Fliege landete auf dem Rand des Wasserglases. Wisting verscheuchte sie und setzte sich auf der Terrasse unter den Sonnenschirm. Er trank das Glas zur Hälfte aus und überprüfte die Anzahl seiner Schritte auf dem Handy. Die App hatte fast viertausend Schritte gezählt, dabei war es nicht einmal zwölf Uhr. Die meisten Schritte waren registriert worden, während er mit dem Rasenmäher hin- und hergegangen war. Wisting hatte es sich zum Ziel gesetzt, im Urlaub jeden Tag mindestens zehntausend Schritte zurückzulegen, war im Durchschnitt jedoch bei unter achttausend geblieben.

Einige Jahre vor Ingrids Tod hatten sie beide von Thomas einen Schrittzähler zu Weihnachten geschenkt bekommen. Es handelte sich um ein kleines digitales Gerät, das am Gürtel oder am Hosenbund befestigt wurde. Es zeichnete die Bewegungen im Hüftbereich auf und rechnete sie in Schritte um. In den ersten Wochen hatten Ingrid und er ein wenig gewetteifert, wer sich am meisten bewegte. Doch je mehr Zeit verging, desto öfter war das Gerät in der Schublade liegen geblieben. Nur das Handy hatte Wisting immer bei sich.

Er blickte auf sein iPad und öffnete den Internetbrowser. Dann suchte er nach aktuellen Zeitungsartikeln über Agnete Roll, die Frau, die am selben Tag verschwunden war, als Wisting seinen Urlaub angetreten hatte. Allerdings war sie erst zwei Tage danach als vermisst gemeldet worden. Die ersten Artikel hatten noch von der Suchaktion der Polizei berichtet, mittlerweile hatte die Sache aber immer weniger Ähnlichkeit mit einem normalen Vermisstenfall. Im Artikel der Lokalzeitung äußerte sich auch nicht mehr der Leiter der Suchstaffel, sondern Nils Hammer als Ermittlungsleiter. Offenbar gab es bislang jedoch keine neuen Entwicklungen in dem Fall.

Die zweiunddreißigjährige Agnete Roll war mit ihrem Mann in der Innenstadt von Stavern gewesen. Dabei hatte es Meinungsverschiedenheiten gegeben, und Agnete war früher als ihr Mann nach Hause gegangen. Eine halbe Stunde später hatte er zu seinen Freunden gesagt, dass er auch nach Hause wolle. Laut Zeitungsartikel war die Vermisste zuletzt kurz vor Mitternacht beim Verlassen des Pubs in der Innenstadt gesehen worden. Das lag vier Tage zurück.

Jedes Mal, wenn Wisting sein Tablet hervorholte, erwartete er, dass entweder die Leiche von Agnete Roll gefunden oder ihr Ehemann festgenommen und des Mordes beschuldigt worden war.

Er legte das iPad beiseite und trank noch einen Schluck Wasser. Dann streckte er die Beine aus und legte den Kopf zurück. Eine Möwe kreiste am Himmel über ihm.

Eigentlich zog Wisting gedruckte Zeitungen vor, aber es dauerte ihm zu lange, erst auf die nächste Ausgabe warten zu müssen, um den aktuellen Stand der Dinge zu erfahren. Insbesondere, wenn ein Fall noch nicht abgeschlossen war. Wisting wollte gern zu jeder Zeit und an jedem Ort Zugang zu den neuesten Informationen haben.

Es war ungewohnt für ihn, einem Mordfall vom Rande des Spielfelds zu folgen, statt aktiv an den Ermittlungen beteiligt zu sein. Anhand der Medienberichte hatte Wisting den Eindruck, dass irgendetwas an dem Fall nicht stimmte. Agnete Rolls Ehemann wurde nicht namentlich genannt, allerdings hatte Wisting ihn in den sozialen Netzwerken gefunden. Erik Roll war ein Jahr älter als seine Frau und arbeitete bei einer lokalen IT-Firma. Fast zwei Tage hatte er gewartet, ehe er seine Frau als vermisst meldete.

Vermisstenfälle waren stets schwierig, aber Wisting hatte eine klare Vorstellung davon, wie er selbst die Ermittlungen organisiert hätte. Die Arbeit musste breit angelegt werden, um nichts außer Acht zu lassen, und zugleich in die Tiefe gehen, um auf das fokussieren zu können, was besonders auffällig war und den Ermittlungen eine Richtung vorgeben konnte.

Er wusste, dass Hammer und die anderen genau das taten. Dass sie versuchten, alles über Erik Roll herauszufinden, und ihn genau unter die Lupe nahmen.

Mit dem Tablet hätte Wisting sich in das Polizeisystem einloggen und Dokumente zu dem Fall einsehen können, aber er hatte bewusst darauf verzichtet. Bei Ermittlungen nicht mehr dabei zu sein war etwas, an das er sich bald gewöhnen müsste. Aufgrund seines Alters würde er in absehbarer Zeit den Polizeidienst für immer quittieren.

Ungeachtet dessen merkte er, dass die Neugier ihn packte. Vermisstenfälle konnten fast immer dadurch aufgeklärt werden, dass man die Ereignisse und Gespräche kurz vor dem Verschwinden einer Person rekonstruierte.

Ein Geräusch ließ Wisting aufschrecken. Der Briefkastendeckel auf der Vorderseite des Hauses klapperte. Er blieb sitzen, bis er den Postboten weiterfahren hörte, stand dann auf und lief durch das Haus hindurch zur Straßenseite. Eine graue Katze lag im Schatten vor der Garage. Sie sprang auf, rannte auf die Straße und zum Nachbarn hinüber.

Wisting warf einen Blick auf das Haus seiner Tochter. Er hatte ihr versprochen, sich um die Post zu kümmern. Line war seit fünf Tagen verreist.

Er leerte seinen Briefkasten. Ein paar Reklameblätter und ein Brief kamen zum Vorschein. Ein weißer Umschlag, auf dem in kantigen Buchstaben sein Name und seine Adresse geschrieben standen. Kein Absender.

Dann ging er hinüber zu Lines Haus. Der Briefkasten enthielt die gleiche Reklame, sonst nichts. Er legte sie in die Altpapiertonne und ging wieder zurück zu seinem Haus, denn er war neugierig auf den Brief, den er bekommen hatte.

Nur selten bekam er Briefe, jedenfalls solche wie diesen. Auch Rechnungen wurden kaum noch per Post verschickt, die Beträge wurden kommentarlos vom Konto abgebucht.

Die Schrift auf dem Umschlag fiel ihm gleich ins Auge. Sie war schwarz und wirkte beinahe wie gedruckt. Die Ws in William und Wisting sahen identisch aus und ließen ihn vermuten, dass es sich um personalisierte Werbung handelte. Die Is hingegen unterschieden sich leicht voneinander und deuteten darauf hin, dass die Empfängeradresse tatsächlich mit der Hand geschrieben war.

Wisting schlitzte den Umschlag mit einem spitzen Küchenmesser auf und nahm den Inhalt heraus. Ein einfaches Blatt Papier, das doppelt gefaltet war. Anscheinend war es erst zerknüllt und dann wieder glatt gestrichen worden. In der Mitte des Blattes stand eine Ziffernfolge:

12–1569/99.

Die Zahlen waren mit derselben Sorgfalt auf das Blatt geschrieben worden wie die Buchstaben auf den Umschlag.

Wisting blieb mit dem Papier in der Hand stehen. Er wusste genau, was er da vor sich hatte, verstand aber trotzdem nicht, was es bedeuten sollte.

Es handelte sich um eine Fallnummer, die noch aus der Zeit stammte, als er bei der Polizei angefangen hatte. Heutige Strafsachen wurden mit einem achtziffrigen Aktenzeichen versehen. Früher hingegen wurden Fallnummern vergeben, aus denen man bestimmte Informationen sofort ablesen konnte. Die letzten Ziffern hinter dem Schrägstrich bezogen sich auf das Jahr, also 1999, während die ersten beiden angaben, zu welchem Polizeidistrikt der Fall gehörte. 12 war die Kennzahl für die ehemalige Polizeidienststelle in Porsgrunn und 1569 die eigentliche Fallnummer. Eine laufende Nummer, die neuen Fällen chronologisch zugeordnet wurde.

Wisting legte das Papier auf den Küchentisch und sah es prüfend an.

Der Polizeidistrikt 12 war Wistings Nachbardistrikt und mit circa fünfzigtausend Einwohnern in etwa so groß wie sein eigener. Auch die Anzahl der Fälle pro Jahr war mit dreitausend ungefähr gleich. Wenn er dies berücksichtigte, musste der Fall 1569 aus dem Sommer 1999 stammen.

Das Ganze lag so lange zurück, dass der Fall vermutlich nicht elektronisch registriert worden war. Wisting würde ihn in keinem Datensystem finden, allerdings mussten die Falldokumente irgendwo in einem Archiv aufbewahrt werden.

Er versuchte sich zu erinnern, ob es im Sommer 1999 irgendwelche besonderen Vorkommnisse gegeben hatte, aber ihm fiel nichts ein. Line und Thomas waren im Juni sechzehn geworden und hatten vom Herbst an die weiterführende Schule besucht. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie in den Sommerurlaub gefahren waren. Line hatte einen Ferienjob in einer Eisdiele in Stavern bekommen, oder war das vielleicht erst im Jahr danach gewesen? Thomas hatte im Jachthafen gejobbt.

Wisting ließ den Brief liegen und trat wieder auf die Terrasse hinaus. Er setzte sich, nahm sein iPad und googelte das Jahr 1999. Die großen Zeitungen hatten schon damals Onlineausgaben ins Netz gestellt, aber es war schwierig, bestimmte Artikel herauszusuchen. Allerdings gab es Websites, wo die wichtigsten Geschehnisse aus jedem Jahr aufgelistet waren. Am 23. Mai war der Dreifachmord auf dem Orderud-Hof begangen worden. Boris Jelzin hatte die Regierung in Russland abgesetzt, fünfzehntausend Menschen hatten bei einem Erdbeben in der Türkei ihr Leben verloren. Kommunalwahlen hatten stattgefunden, und Bill Clinton war zu Besuch in Oslo gewesen.

Wisting kombinierte die Jahreszahl mit Porsgrunn, startete eine neue Suche, doch sie brachte ihn nicht weiter.

Vielleicht war der Fall 1569 gar nicht in den Medien aufgetaucht, allerdings musste der anonyme Absender eine bestimmte Absicht verfolgen, wenn er Wisting die Fallnummer schickte. Offenbar handelte es sich um einen Fall, bei dem er in irgendeiner Form involviert gewesen war.

Oder auch nicht.

Als Ermittler hatte Wisting schon häufiger anonyme Post erhalten. In der Regel handelte es sich um lange Briefe, voll von konspirativen Gedanken und unzusammenhängenden Behauptungen. Einige waren direkt an ihn gerichtet und bezogen sich auf Fälle, an denen er gearbeitet hatte, während andere ihn nur in seiner Eigenschaft als Ermittler erreicht hatten.

Er ging wieder ins Haus und betrachtete die ungewöhnliche Schrift. Offenbar war ein schwarzer Filzstift verwendet worden, und die Striche waren etwa einen Millimeter breit. Auf dem Umschlag klebte eine Briefmarke, die am Vortag abgestempelt worden war, doch aus dem Stempel ging nicht hervor, wo der Brief aufgegeben worden war.

Wisting fand es unangenehm, solch einen Brief nach Hause geschickt zu bekommen. Er war zwar nicht bedrohlich, wirkte aber dennoch beunruhigend, als handelte es sich um eine Vorwarnung, dass noch mehr kommen würde.

Er zog eine Schublade auf und nahm eine Rolle Gefrierbeutel heraus. Zwei davon riss er ab und schob den Briefbogen mithilfe einer Gabel in den einen und den Umschlag in den anderen Beutel.

Die ganze Geschichte irritierte ihn. Es war nichts, was er einfach unbeachtet lassen konnte. Er musste herausfinden, um welchen Fall es sich handelte.

In Porsgrunn gab es keine Polizeidienststelle mehr, doch wenn er Glück hatte, war der Vorgang mit allen anderen Dokumenten im neuen Polizeipräsidium in Skien gelandet. Dort würde er vielleicht noch am selben Tag eine Antwort bekommen. Schlimmstenfalls war die Akte im Staatsarchiv gelandet, was einige Tage Wartezeit bedeuten würde.

Wisting rief Bjørg Karin vom Büro der Kriminalaktenverwaltung an. Sie war keine Polizeibeamtin, bekleidete jedoch eine der wichtigsten Funktionen in der Behörde, da sie für den reibungslosen Ablauf der Tagesgeschäfte sorgte. Da sie schon länger als er selbst bei der Polizei war, kannte sie alle Irrgänge und war diejenige, zu der Wisting immer ging, wenn er wissen wollte, an welche Stelle im System er sich wenden musste. Sie wusste vermutlich, wen sie im benachbarten Distrikt anrufen und bitten konnte, im Archiv nachzusehen.

Bevor er sein Anliegen vorbringen konnte, musste er allerdings erst erzählen, wie der Urlaub bislang verlaufen war, welche Pläne er für den Rest des Sommers geschmiedet hatte und was er vom momentanen Wetter hielt.

Den anonymen Brief erwähnte er gar nicht, sondern sagte nur, es handele sich um einen alten Fall aus dem Nachbardistrikt.

„Könnten Sie die Unterlagen für mich besorgen?“

Bjørg Karin stellte keine Fragen.

„Ich rufe Eli an“, sagte sie. „Dann liegt die Akte hier, wenn Sie aus dem Urlaub zurückkommen.“

Wisting nahm an, dass es sich bei Eli um Bjørg Karins Kollegin handelte, die im Nachbarbezirk eine vergleichbare Stelle innehatte.

„Ich hätte die Akte aber gern so schnell wie möglich“, sagte er.

„Verstehe“, erwiderte Bjørg Karin. „Die interne Post kommt morgen gegen zwölf.“

„Das ist gut. Und noch etwas, könnten Sie Eli bitten nachzusehen, um was für einen Fall es sich handelt, und mir dann Bescheid geben?“

Bjørg Karin versprach, sich darum zu kümmern. Sie schien es etwas ungewöhnlich zu finden, dass er nach einer Akte zu einem Fall fragte, den er gar nicht kannte. Doch sie sagte weiter nichts dazu.

Wisting trat wieder hinaus auf die Terrasse und setzte sich mit dem iPad hin. Nach einer halben Stunde rief Bjørg Karin zurück.

„Ich habe mit Eli gesprochen“, sagte sie und zögerte einen Augenblick. „Kann es sein, dass es sich um einen Mordfall handelt?“

„Das vermute ich“, gab Wisting zurück. „Ich habe nur die Fallnummer.“

„Sie schickt uns die Akte hierher. Dürfte morgen um die Mittagszeit hier eintreffen.“

„Bestens.“

Er stand auf, trat ans Geländer der Terrasse und sah auf die Stadt hinunter.

„Wer wurde denn ermordet?“, fragte er.

„Tone Vaterland.“

„Tone Vaterland“, wiederholte er, aber der Name weckte keine Assoziationen in ihm.

„Dann sehe ich Sie morgen?“, fragte Bjørg Karin. „Sie kommen im Büro vorbei?“

„Wir sehen uns morgen“, bestätigte Wisting.


2
4. Juli 1999, 20:48 Uhr

Tone Vaterland setzte sich aufs Fahrrad. Das eine Pedal schrammte mit jedem Tritt am Kettenkasten entlang. Wenn Tone erst einmal richtig in Fahrt kam, fing das Fahrrad laut an zu klappern. Das war so, seit sie letzten Herbst im Graben gelandet war. Auch die Vorderbremsen funktionierten nicht so, wie sie sollten. Aber das war ihr egal. Schon bald würde sie nicht mehr auf das Rad angewiesen sein. In sechs Wochen war ihr achtzehnter Geburtstag, und der Fahrlehrer hatte von einer Prüfung Anfang September gesprochen. Sie würde den Wagen ihrer Mutter übernehmen.

Die Sogwirkung von einem überholenden Lastwagen ließ sie kurz schwanken. Aber sie fand das Gleichgewicht wieder und trat rasch in die Pedale.

Es gab keine andere Möglichkeit, als über die E18 zu fahren. Schon das dritte Jahr arbeitete sie während der Ferien in dem Schnellimbiss kurz vor Stathelle. Im ersten Jahr hatten ihr Vater oder ihre Mutter sie hingebracht und abgeholt. Meistens die Mutter. Aber in diesem Jahr waren sie in die Ferien gefahren, und Tone war vier Wochen lang allein zu Hause.

Es ging nur um zwei Kilometer auf der verkehrsreichen Straße. An heißen Tagen wie diesen legte sie für gewöhnlich am Stokkevann eine Pause ein und badete im See, um den Fettgeruch aus den Haaren zu bekommen und sich hinterher saubere Sachen anzuziehen. Das Schlimmste an diesem Job war der Gestank von Bratfett und Frittieröl, der bis in die Poren drang und sich dort festsetzte. Sie hatte immer einen Rucksack mit Sachen zum Wechseln dabei, der während der Arbeit draußen neben dem Fahrrad stand, um vor den Ausdünstungen verschont zu bleiben. Abgesehen davon war der Job in Ordnung. Sie wurde gut bezahlt, es gab nicht allzu viel zu tun, jedoch immer genug, um die Zeit schnell vergehen zu lassen. Die meisten, die anhielten und etwas bestellten, waren irgendwohin unterwegs, Urlauber oder Fernfahrer, aber es gab auch ein paar Stammkunden. Einige davon waren ziemlich eklig und gaben schlüpfrige Kommentare von sich, die Tone gelernt hatte zu ignorieren. Und dann gab es noch Moped-Rolf, der außer Nummer acht und eine Cola nie etwas sagte. Nummer acht war das Menü, das er immer bestellte. Hackburger mit einem halben Liter Cola. Moped-Rolf ging dauernd aufs Klo. Bevor er aß und danach. Manchmal blieb er eine Viertelstunde dort sitzen. Doch seit einigen Tagen hatte sie ihn nicht mehr gesehen.

Zwischen den Bäumen auf der rechten Seite konnte sie den See schimmern sehen.

Sie bog ab, fuhr die letzten Meter über die alte Landstraße und stellte das Fahrrad an der Stelle ab, wo der Trampelpfad begann.

Keine anderen Räder waren zu sehen, und unten vom Wasser war niemand zu hören. Wie es aussah, war sie allein.

Sie warf sich den Rucksack über die Schulter und rannte das letzte Stück hinunter zum See. Ein paar feuchte Flecken auf dem Felsen verrieten, dass jemand vor nicht allzu langer Zeit hier gewesen war.

Sie blickte umher. Auf der anderen Seite des Sees war ein Mensch in einem Kanu unterwegs, das war alles.

Sie zog das lila T-Shirt vom Bamblegrill über den Kopf, streifte die Schuhe ab und zog die Hose aus.

Vor zwei Tagen hatte sie hier nackt gebadet.

Sie spähte abermals umher, fragte sich, ob sie es heute wieder so machen sollte. Der Kanufahrer war auf dem Weg in die entgegengesetzte Richtung. Auf dem Trampelpfad war niemand. Alles, was Tone hörte, war der Verkehrslärm von der E18.

Sie nahm ein Handtuch aus dem Rucksack und legte es mit der Shampooflasche ans Ufer. Dann zog sie sich schnell aus, versteckte ihre Unterwäsche unter dem Rucksack und machte sich für einen Kopfsprung bereit.

Sie fühlte sich ungeheuer frei und kostete das Gefühl zur Gänze aus. Bald war sie achtzehn. Den ganzen Sommer allein zu Hause. Und sie verdiente ihr eigenes Geld. Aber das war nicht alles. Endlich war auch Schluss mit Danny.

Sie machte einen kleinen Schritt vorwärts, dichter an die Kante heran, und streckte die Arme über den Kopf. Dann schwankte sie einen Augenblick hin und her, ehe sie sich kopfüber ins Wasser stürzte. Mit geschlossenen Augen tauchte sie ein paar Meter und kam dann wieder an die Oberfläche.

Das Wasser war noch wärmer als am Tag zuvor. Ihre langen Haare klebten ihr im Gesicht, sie strich sie mit einer Hand weg und blickte zum Ufer. Noch immer war niemand zu sehen.

Sie machte ein paar Schwimmzüge auf dem Rücken, drehte sich dann herum und machte mit langsamen Brustzügen weiter.

Am nächsten Tag würde sie auch arbeiten, aber danach hatte sie zwei Tage frei. Sie und Maria wollten mit dem Bus nach Langesund fahren. Vielleicht würden sie sogar ins Tordenskiold reinkommen. Maria kannte einen der Türsteher.

Etwa zwanzig Meter vom Ufer entfernt machte sie kehrt und schwamm zurück. Sie fand festen Grund unter den Füßen und steuerte auf die Shampooflasche zu.

Zwei Vögel stoben von einem Baum auf, ansonsten war immer noch alles ganz ruhig.

Sie gab etwas Shampoo auf die Handfläche und ließ die Flasche im Wasser treiben, während sie ihre Haare einseifte. Dann kam sie halbwegs aus dem Wasser heraus, wusch sich den restlichen Körper mit Shampoo und sah immer wieder zum Trampelpfad hinüber. Als sie fertig war, tauchte sie unter, um sich abzuspülen, ehe sie sich schnell abtrocknete und wieder anzog.

Gerade noch rechtzeitig, denn jetzt hörte sie jemanden kommen.


3

Wie üblich wurde Wisting um kurz vor vier in der Nacht wach. Er schwang die Beine aus dem Bett, erhob sich und tapste im Halbschlaf ins Badezimmer. Das Licht ließ er ausgeschaltet, um nach dem Toilettengang sofort wieder einschlafen zu können.

Seine schlaftrunkenen Gedanken kehrten zurück zu dem Fall aus dem Jahr 1999. Der hatte ihn schon den ganzen Tag beschäftigt und ihm das Einschlafen schwer gemacht.

Fall 12–1569/99.

Im Internet stand nicht viel über den alten Mordfall, aber immerhin hatte Wisting herausgefunden, dass er aufgeklärt worden war. Schon nach drei Tagen war ein Mann gefasst und einige Zeit später zu siebzehn Jahren Gefängnis verurteilt worden.

Was Wisting am meisten beschäftigte, war der Brief. Offenbar wollte der anonyme Verfasser seine Aufmerksamkeit auf den alten Fall lenken, was ihm auch durchaus gelungen war. Wisting verstand nur nicht den Grund dafür.

Nachdem er im Badezimmer fertig war, wurde ihm klar, dass er sowieso nicht wieder einschlafen könnte, wenn er sich wieder ins Bett legte. Stattdessen ging Wisting in die Küche und füllte ein Glas mit Leitungswasser.

Umschlag und Brief lagen noch auf dem Tisch. Wisting griff nach dem Beutel mit dem Papierbogen und hielt ihn ins Licht. Er hatte schon Fälle erlebt, bei denen der Absender eines Briefes identifiziert worden war, weil sich etwas, was er geschrieben hatte, auf das darunterliegende Blatt durchgedrückt hatte. Allerdings war das hier nicht der Fall.

Das Papier könnte natürlich analysiert werden, um Hersteller und Verkaufsstellen zu ermitteln, aber hierauf Ressourcen zu verschwenden kam nicht infrage. Ganz abgesehen davon war das meiste Papier heutzutage massenproduziert. Vermutlich hatte er Umschläge und Briefbögen derselben Sorte in seinem Arbeitszimmer liegen.

Wisting legte den Brief beiseite und schaltete sein iPad ein. Er überflog die Onlineausgaben der Zeitungen, während er das Wasserglas leerte, aber es waren keine neuen Informationen über die verschwundene Frau zu finden. Das anscheinend Wichtigste, das die VG im Laufe der Nacht veröffentlicht hatte, war ein neuer Bericht über Ernährungsgewohnheiten. Gleichwohl blieb Wisting mit dem Tablet in der Hand stehen und starrte auf den Bildschirm. Ein Gedanke hatte sein Bewusstsein gestreift. Eine Möglichkeit, die er unbedingt austesten musste, bevor er sich wieder ins Bett legte.

Er nahm das iPad und die beiden Plastikbeutel mit in sein Arbeitszimmer. In einer der Schubladen lagen Umschläge, in einer anderen verschiedene Bleistifte und Schreiber. Er suchte sich einen schwarzen Filzstift heraus und legte das iPad in einen großen Umschlag. Der Bildschirm leuchtete durch das Papier hindurch, sodass er die Überschrift des Zeitungsartikels noch lesen konnte. Dann nahm er den Filzstift und zeichnete die Überschrift nach. Fleischkonsum muss halbiert werden.

Als er das iPad wieder aus dem Umschlag nahm, sah die Überschrift auf dem Umschlag fast aus wie gedruckt.

Genauso war der Absender möglicherweise vorgegangen. Er hatte einen Bildschirm als Leuchttisch verwendet und auf diese Weise eine Handschrift ohne besondere Kennzeichen fabriziert.

Wisting ließ das Ergebnis seines Experiments auf dem Schreibtisch liegen und ging wieder ins Schlafzimmer. Das Fenster stand auf Kipp. Er zog den Vorhang zur Seite und sah hinaus. Ein paar Insekten kreisten um die Laterne über dem Briefkasten.

Es würde nicht bei einem Brief bleiben, dachte er. Es würden weitere kommen.

Jørn Lier  Horst

Über Jørn Lier Horst

Biografie

Jørn Lier Horst, geboren 1970 in Bamble/Norwegen, war Kriminalhauptkommissar bei der norwegischen Polizei, bevor er 2004 als Kriminalschriftsteller debütierte. Seitdem schrieb er sich mit seinen Romanen um den Polizisten William Wisting in die erste Liga der norwegischen Krimiautoren.

 

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