

Wisting und die Untiefen der Vergangenheit (Wistings schwierigste Fälle 3) Wisting und die Untiefen der Vergangenheit (Wistings schwierigste Fälle 3) - eBook-Ausgabe
Kriminalroman
— Packende Spannung aus NorwegenWisting und die Untiefen der Vergangenheit (Wistings schwierigste Fälle 3) — Inhalt
Zwei Leichen für den besten Ermittler Norwegens
Der Farris-See nördlich von Larvik trocknet infolge von Regenmangel immer mehr aus. Dadurch wird in der Nähe des Ufers die Leiche eines Mannes entdeckt, der seit acht Jahren als vermisst gilt. Seine linke Hand ist an den Lenker eines Motorrads gefesselt. William Wisting und sein Team beginnen mit den Ermittlungen, da entdeckt ein Rentner mit einem Metalldetektor am anderen Ufer die Habseligkeiten eines vier Jahre zuvor verschwundenen Mädchens. Welche dunklen Geheimnisse wird der See noch preisgeben, wenn die Dürre weiter anhält?
Leseprobe zu „Wisting und die Untiefen der Vergangenheit (Wistings schwierigste Fälle 3)“
1
Der Wasserstand war seit dem letzten Mal um gut einen Meter gesunken. Dabei war ein altes Ruderboot zum Vorschein gekommen. Es hatte Löcher im Rumpf und lag auf der Seite, halb versunken im Schlamm, mit dem Heck im trüben Wasser.
Evert Harting setzte sich auf die Kante des Kofferraums und zog seine Stiefel an. Die Luft stand still. Er schob seine Schirmmütze zurecht und blickte hinaus auf den Farris. Die Wasseroberfläche des Sees war nahezu spiegelglatt und der Widerschein der Sonne so stark, dass er den Blick abwenden musste.
Entlang des Ufers hatte das [...]
1
Der Wasserstand war seit dem letzten Mal um gut einen Meter gesunken. Dabei war ein altes Ruderboot zum Vorschein gekommen. Es hatte Löcher im Rumpf und lag auf der Seite, halb versunken im Schlamm, mit dem Heck im trüben Wasser.
Evert Harting setzte sich auf die Kante des Kofferraums und zog seine Stiefel an. Die Luft stand still. Er schob seine Schirmmütze zurecht und blickte hinaus auf den Farris. Die Wasseroberfläche des Sees war nahezu spiegelglatt und der Widerschein der Sonne so stark, dass er den Blick abwenden musste.
Entlang des Ufers hatte das Wasser einen breiten, farblosen Streifen hinterlassen. Ein unberührtes Areal.
Er legte sich den Ausrüstungsgürtel um, nahm den Metalldetektor aus dem Wagen und hielt ihn probehalber an eines der Hinterräder. Ein lauter Ton war zu hören, als die Suchspule sich der Metallfelge näherte. Die Signale waren auf dem Display deutlich zu erkennen.
Ein Vogel mit langem Schnabel stob auf, als Harting sich dem Suchgebiet näherte. Der getrocknete Lehmboden hatte Risse gebildet, die sich gleich einem Netzwerk kreuz und quer über den gesamten Bereich erstreckten. An einigen Stellen ragten Büschel welken und vertrockneten Schilfs aus dem Boden, an anderen lagen Steine.
Die dünne Lehmkruste zerbrach unter seinen Schritten zu kleinen Brocken.
Er entdeckte den großen Stein, an dem er beim letzten Mal die Suche abgebrochen hatte, und setzte die Arbeit systematisch fort. Seine alten Stiefelabdrücke waren immer noch zu sehen. Er bewegte sich parallel zu ihnen vorwärts, bis er den Felsbrocken erreichte. Dort drehte er sich um und lief zurück. Von der Autobahnbrücke im Süden hörte er das ferne Rauschen des Verkehrs.
Der Detektor gab ein Signal von sich. Der hochfrequente Ton verriet Harting, dass etwas aus Leichtmetall im seichten Untergrund lag. Mit dem Fuß stocherte er im Boden und entdeckte eine leere Bierdose. Der aufgewirbelte Staub löste ein Kratzen in seinem Hals aus. Er ging ein Stück weiter, justierte die Empfindlichkeit der Sonde und setzte die Suche fort.
Evert Harting hoffte, Überreste der alten Fresjeborg zu finden, die hier angeblich irgendwo am Ufer gestanden hatte und im 17. Jahrhundert einem Hochwasser zum Opfer gefallen war. Die Burg soll über einen eisernen Turm verfügt haben, doch er hätte sich schon mit einem alten, handgeschmiedeten Nagel zufrieden gegeben.
Er nahm einen Schluck aus der Wasserflasche an seinem Gürtel und machte weiter.
Ein paar Bretter lagen auf dem getrockneten Schlammboden lose übereinander. Sie waren von Algen grünlich verfärbt und teilweise faulig. Er ließ den Detektor darüber hinweggleiten, doch es gab kein Signal.
Bis hinüber zu der Felskante, die das Suchgebiet begrenzte, war der Boden mit eingesunkenem Treibholz gespickt. Evert Harting schob den Metalldetektor zwischen einen grauen Stamm und eine Baumwurzel. Sofort gab die Sonde ein Signal von sich, einen Ton, der schnell anstieg und jäh wieder abfiel. Die Bildschirmanzeige deutete auf Kupfer oder ein anderes schnell leitendes Metall hin.
Er legte den Detektor aus der Hand und kippte die Wurzel zur Seite. An einem der verdrehten Wurzelstränge hing ein verirrter Angelköder.
Jedes Mal war es aufregend, wenn der Detektor ein klares Signal von sich gab, doch meistens handelte es sich um Schrott. Einmal hatte er eine dänische Silbermünze aus dem Jahr 1642 gefunden, ein Zwei-Schilling-Stück mit der Abbildung Christians IV., das an einem Feldrand in Stokke gelegen hatte. Ein anderes Mal war er auf einen silbernen Fingerhut aus dem späten 19. Jahrhundert gestoßen.
Er ließ den Köder an der Baumwurzel hängen und ging wieder zurück. Dabei achtete er darauf, die Sonde so zu bewegen, dass sie sich mit den Bereichen überlappte, in denen er bereits gesucht hatte. Die Sonne brannte ihm in den Nacken, und das Hemd klebte vor Schweiß.
Mit jeder neuen Runde kam er näher ans Wasser heran. Er hatte sich gerade ausgerechnet, dass er noch dreimal gehen müsste, als der Detektor zu piepen begann. Der Indikator auf dem Bildschirm signalisierte einen Goldfund.
Evert Harting spürte den Puls ansteigen. Um den Fund einzugrenzen, ließ er den Detektor im Kreis herumfahren. Er markierte die Stelle mit dem Kopf der Sonde, legte das Gerät dann zur Seite, schob die Mütze aus der Stirn und wischte sich den Schweiß mit dem Hemdsärmel ab.
An seinem Gürtel hing ein kleiner Spaten. Er nahm ihn, kniete sich hin und schaufelte ein wenig trockene Erde zur Seite, die er durch seine Finger rieseln ließ. Sie enthielt Steinchen und Pflanzenreste.
Er wusste, dass er tiefer graben musste, und arbeitete sich mühsam weiter vor. Nach und nach wurde die Erde klumpiger und feuchter. Er legte den Spaten weg und griff zu seinem Pinpointer. Der piepte und vibrierte in seiner Hand, als er ihn auf den Grund des Lochs führte. Der Fund schien sich am Rande der kleinen Grube zu befinden, die er gegraben hatte.
Der Schweiß brannte ihm in den Augen. Er blinzelte ihn weg, grub eine weitere Handvoll Erde hervor und zerbröselte sie auf der Handfläche. Nichts. Er unternahm einen neuen Versuch und spürte plötzlich, dass seine Finger etwas berührten. Als er sie wieder aus dem Loch zog, blieb etwas Fadenartiges daran hängen. Eine Goldkette.
Er nahm sie in die Hand und ließ sie mehrmals auf die andere Handfläche fallen, um die Erde abzulösen.
Es war eine dünne Halskette, etwa vierzig Zentimeter lang, in deren Mitte ein Anhänger befestigt war. Der Buchstabe A. Das Kettenglied neben dem Verschluss war beschädigt, als wäre die Kette jemandem vom Hals gerissen worden.
Ein kühler Windstoß wirbelte etwas Staub auf. Evert Harting schloss die Hand um die Goldkette und erhob sich. Ein Kajakfahrer paddelte gerade über den See. Auf der anderen Seite wurde das Sonnenlicht von ein paar fahrenden Autos reflektiert, und Harting glaubte Menschen am Fuße der steilen Felskante zu sehen, die sich zum Wasser hinunterzog.
Eine ganze Weile blieb er stehen und sah hinüber, ehe er schluckte und seine Faust betrachtete. Vorsichtig öffnete er sie.
So eine Kette hatte er einmal auf Zeitungsfotos gesehen – und das war jetzt schon einige Jahre her.
Oben an dem A befand sich ein kleines Loch, durch das die Kette geführt wurde. Am rechten unteren Rand des Buchstabens befand sich ein weiteres Loch, sodass er leicht schräg am Hals der Person hing, die die Kette trug.
Mit dem Daumen rieb Evert Harting über den Buchstaben und kratzte mit dem Fingernagel etwas Erde ab. Dann steckte er die Kette in die Brusttasche und schob mit dem Fuß die Erde zurück ins Loch.
2
William Wisting folgte der Wegbeschreibung auf seinem Handy und erreichte die richtige Abzweigung. Auf beiden Seiten standen Laubbäume dicht beieinander. Das Sonnenlicht schien durch die Äste und warf streifenförmige Schatten auf den unübersichtlichen Schotterweg vor ihm.
Er brauchte nicht weit zu fahren, bis er die anderen entdeckte. Die Autos standen in einer breiten Kurve, die den Blick auf den Farris freigab. Staub wirbelte auf, als er den Wagen abbremste. Nils Hammer stand mit zwei jungen uniformierten Beamten am Wegesrand.
Wisting öffnete die Fahrertür und stieg aus. Der heiße Motor gab klickende Geräusche von sich.
Hammer trank einen Schluck aus seiner Wasserflasche.
„Ich dachte, du würdest dir den Fundort vor der Bergung gern noch ansehen“, sagte er.
Die jungen Kollegen traten ein wenig zur Seite. Wisting ging dicht an den niedrigen Holzzaun heran und spähte über die Kante. Etwa fünf Meter unterhalb von ihm stand ein dritter Polizist. Alles, was bis vor Kurzem noch von Wasser bedeckt gewesen war, lag jetzt offen da. Wisting sah einen alten Kühlschrank, einen Herd, einen Rasenmäher, ein paar Rollen mit rostigem Stacheldraht, alte Dachplatten, undefinierbaren Metallschrott und ein Motorrad.
„Du hast die Fahndung selbst herausgegeben“, sagte Hammer. „LU 4813, Yamaha DT, 100 Kubik.“
Um den Schrotthaufen herum waren Fußspuren in dem getrockneten Schlammboden zu sehen. Irgendjemand hatte das Nummernschild abgewischt, ansonsten schien das Motorrad unberührt zu sein.
Wisting drehte sich um und betrachtete den Weg, auf dem er gekommen war. Das Motorrad lag etwa sechs Meter vom Ufer entfernt. Die Geschwindigkeit musste so hoch gewesen sein, dass der Fahrer aus der Kurve geflogen war.
„Der Grundbesitzer hat den Zaun vor sieben Jahren errichtet, um zu verhindern, dass hier Müll abgeladen wird. Er war es, der den Fund gemeldet hat.“
Das Sonnenlicht wurde von dem verchromten Auspuffrohr reflektiert.
„Die Stelle hier nennt sich Roper’n“, fuhr Hammer fort. „Die Leute aus der Umgebung haben sich hingestellt und die Fähre herbeigerufen, wenn sie hinauf nach Siljan oder runter in die Stadt wollten.“ Er deutete auf die Überreste einiger Vertäuungshaken am Felsen.
„Wie komme ich da hinunter?“, wollte Wisting wissen.
Einer der Polizisten zeigte ihm, wo sie selbst zuvor entlanggegangen waren: durch ein trockenes Bachbett auf der rechten Seite des Plateaus. Wisting schob einen Ast aus dem Weg und machte sich an den Abstieg durch das unwegsame Gelände. Hammer folgte ihm.
Auf den ersten Metern der steilen Felswand konnte Wisting sich noch an einem biegsamen Zweig festhalten. Auf dem letzten Stück galt es, auf dem Untergrund festen Halt zu finden.
Der Polizist, der schon hinuntergeklettert war, kam ihnen entgegen. Er war einer der jungen Kollegen, die im Sommer Urlaubsvertretungen übernahmen.
„Da drüben liegt ein Geldschrank“, sagte er und zeigte in die Richtung.
Wisting schirmte die Augen vor dem scharfen Sonnenlicht ab. Halbwegs eingesunken in den Untergrund lag ein grauer Stahlschrank, stellenweise von Reisig bedeckt, das sich in den Stacheldrahtrollen drum herum verfangen hatte. Gleich daneben ragte eine verbogene Stoßstange aus dem Boden, zusammen mit weiteren ausrangierten Autoteilen und etwas, das an einen Heizstrahler erinnerte.
„Gut beobachtet“, sagte Wisting und merkte, dass der junge Polizist sich über das Lob freute.
„Ist wohl gestohlen und dann hier abgeladen worden, nachdem er geleert wurde“, meinte der junge Kollege.
„Das sehen wir uns später noch genauer an.“
Sie bahnten sich einen Weg zu dem Motorrad. Die Sonne hatte den grauen Untergrund ausgetrocknet, und die Erde zerbröselte unter ihren Schritten.
An einer Stelle brach Wisting durch die spröde Bodenkruste. Er sank bis zur Wade ein und musste sich auf einer alten Waschmaschine abstützen. Das Wasser sickerte in das Loch, als er den Fuß herauszog, aber er war nicht nass geworden.
Das Motorrad lag mit eingesunkenem Vorderrad auf der Seite. Auch der Fahrer war da. Der Tank und der Lenker waren teilweise von einer schwarzen Lederjacke bedeckt. Eine blaue Jeans war in Auflösung begriffen. Aus einem Stiefel ragten ein paar graue Knochen hervor.
Wisting ging um das Motorrad herum. Der Helm lag einen halben Meter daneben. Das Visier war heruntergeklappt, aber an der Halsöffnung konnte er bleiche Wirbelknochen ausmachen.
„Fast auf den Tag genau acht Jahre her, seit er verschwunden ist“, kommentierte Hammer.
Wisting nickte.
Morten Wendel. Sechzehn Jahre alt. Ein zerstörtes Leben mit einem fatalen Ende.
„Was denkst du?“, fragte Hammer. „Ein Unfall oder war das Absicht?“
„Ich weiß nicht“, erwiderte Wisting. „Aber alles in dem Fall deutet auf Letzteres hin.“
Er trat einen Schritt beiseite, hockte sich hin und hob den linken Ärmel der steifen Lederjacke an. Am Lenkergriff befanden sich Knochenreste, die in etwas steckten, das nach einem schwarzen Gummihandschuh aussah.
Hammer gab ein Seufzen von sich und fluchte laut.
„Was ist das?“, fragte der junge Polizist.
„Klebeband“, erwiderte Hammer.
Der andere verstand nicht.
„Er hat sich die Hand an den Lenker geklebt, damit er sich nicht anders entscheiden konnte“, erklärte Hammer. „Als er dann aufs Wasser zugefahren ist, gab es kein Zurück mehr. Er musste mitsamt dem Motorrad auf den Grund sinken.“
Dem jungen Polizeibeamten schien der Gedanke nicht zu behagen.
„Ich habe schon die Kriminaltechnik informiert“, fuhr Hammer fort. „Die Kollegen sind auf dem Weg hierher.“
Wisting drehte sich um und sah auf den See hinaus. Von Süden her näherte sich ein Kajak. Der Fahrer trieb es mit gleichmäßigen und rhythmischen Paddelschlägen an.
Es war 13:48 Uhr am Montag, dem 13. Juli. Der Sommer war nicht einmal zur Hälfte vorbei.
3
Evert Harting sah die beiden leeren Plastikkanister, als er den Kofferraum öffnete und den Detektor herausnahm. Er hätte sie unterwegs auffüllen sollen, aber das war ihm irgendwie entfallen.
Er ließ die Kanister stehen. Sie hatten zu Hause genügend Wasser bis zum nächsten Tag. Es war das erste Mal, dass der Brunnen nichts hergab. In den Rohren erklang bloß ein hohles Geräusch. Zuerst hatte er geglaubt, die elektrische Pumpe habe den Geist aufgegeben, doch dann war er froh, sich die Reparaturkosten sparen zu können, als ihm klar wurde, dass der Brunnen schlichtweg ausgetrocknet war.
Ella saß im Schatten des Verandadachs mit einem ihrer Kreuzworträtsel.
„Ich hab das Wasser vergessen“, sagte er, ehe sie ihn fragen konnte. „Ich bring’s beim nächsten Mal mit.“
„Wolltest du noch mal los?“, fragte sie.
„Nein“, sagte er. „Ich kümmere mich morgen darum.“
Sie lächelte. „Wird schon gut gehen. Hast du was gefunden?“
Evert Harting schüttelte den Kopf. Die Kette hatte er im Handschuhfach liegen gelassen. „Bloß Schrott.“
Er legte den Detektor an seinen Platz unter der Küchenarbeitsplatte und schloss das Ladekabel an.
„Wir müssen heute die Koteletts grillen“, sagte Ella. „Die liegen schon seit Donnerstag im Kühlschrank.“
„Hast du Hunger?“
„Nein, noch nicht.“
„Ich kann sie später grillen.“
Er sah auf die Uhr und überprüfte die Lufttemperatur auf der Schattenseite des Verandabalkens. Halb drei, siebenundzwanzig Grad.
„Im Kühlschrank steht kalter Saft“, sagte Ella.
Evert Harting nickte, ging hinein und füllte ein Glas. Auf der Außenseite bildeten sich Kondenswasserperlen. Er nahm es mit hinaus und sah, dass Ellas Glas schon leer war.
„Im Haus, sechs Buchstaben“, sagte Ella und kratzte sich mit dem Kugelschreiber unter dem Kinn. »Fängt mit i-n-t an.
Evert Harting nahm einen Schluck und sah zu der kleinen Bucht hinüber, wo abends die Rehe hinkamen, um zu trinken.
Sie waren seit achtunddreißig Jahren verheiratet. Die Tage ähnelten einander, auch hier in der Hütte. Das meiste war gesagt. Manchmal vermutete er, dass Ellas Kreuzworträtsel der Versuch waren, ein Gespräch zu beginnen. Manchmal kannte sie wahrscheinlich die Antwort, fragte aber dennoch, weil die Lösung als Stichwort für etwas dienen konnte, worüber sie reden wollte.
„Interieur“, schlug er vor, ohne nachzuzählen.
„Das sind mehr als sechs Buchstaben“, meinte Ella. „Ich hab’s zuerst mit Mauern probiert, aber das hat nicht gepasst.“
Sie hatten einander bei der Arbeit kennengelernt. Er war Sachbearbeiter gewesen, sie hatte in der Buchhaltung gearbeitet. Es war seltsam, dass sie als Pensionärin ihre Zeit mit Kreuzworträtseln ausfüllte, wo sie doch das ganze Leben mit Zahlen gearbeitet hatte. Oder war gerade das der Grund?
„Hast du mit Kjell-Tore über das Klo gesprochen?“, fragte er.
„Ja, er schaut sich das an, wenn er herkommt.“
Nach dem Tod von Ellas Eltern hatten sie die Hütte am Farris übernommen und den Bruder ausbezahlt, aber Kjell-Tore kümmerte sich noch immer um die Instandhaltung.
„Das geht doch mit dem Plumpsklo“, sagte Ella. „Wir hatten ja früher auch nichts anderes.“
Evert Harting nahm einen Schluck Saft. Kjell-Tore hatte die Verbrennungstoilette installiert. Sie war erst zwei Jahre alt und funktionierte eigentlich gut, doch plötzlich hatte der Brenner versagt.
„Er war gerade in Flensburg, als ich ihn erreicht habe, und ist jetzt auf dem Weg hier hoch“, fuhr Ella fort. „Ich habe ihn gebeten, Jägermeister für dich zu kaufen, und diese Würstchen, die so gut waren. Er hat ja einen Kühlschrank im Wohnmobil.“
„Sehr gut.“
Kjell-Tore kam meist Mitte Juli zu ihnen. Dann verbrachten sie ein paar Tage zusammen in der Hütte, bevor Ella und Evert sich das Wohnmobil ausliehen und für eine Weile in den Norden fuhren, während Kjell-Tore allein zurückblieb.
Ein Vogel mit breiten Schwingen kam über die Baumwipfel an der Nordseite geflogen und nahm Kurs auf den See. Er schlug ein paarmal mit den Flügeln und verschwand dann hinter den Bäumen auf der anderen Seite der Bucht.
„Intern“, sagte Evert Harting und kippte den Rest des Safts in sich hinein. „Im Haus. Etwas hausintern halten.“
Sie blickte auf das Kreuzworträtsel und fuhr mit dem Kuli prüfend über die Kästchen.
„Das passt“, sagte sie.
Solche Sachen beherrschte er gut. Die Fähigkeit, nicht in einem einzigen Denkmuster zu verharren, war ihm im Ministerium von großem Nutzen gewesen. Die ganze Zeit nach alternativen Lösungen und Antworten zu suchen. Vielleicht war das auch der Grund, warum seine Gedanken jetzt zur Goldkette weiterwanderten.
„Ich setz mich ein bisschen rein“, sagte er.
„Bei dieser Hitze?“
Evert Harting antwortete nicht, sondern ging in die Hütte und trat auf den Küchentisch zu, auf dem sein Laptop stand. Ella kam hinterher, füllte ihr Glas mit Saft aus dem Kühlschrank und öffnete ein Fenster.
Er wartete, bis er wieder allein war, ehe er etwas in das Suchfeld schrieb.
Annika und vermisst.
Die ersten Treffer stammten aus norwegischen Online-Zeitungen. Er scrollte weiter und entschied sich stattdessen für einen Artikel aus der schwedischen Zeitung Aftonbladet. Das Fahndungsfoto der vierzehnjährigen Annika Bengt füllte den oberen Teil des Bildschirms. Sein Verdacht wurde bestätigt. Sie trug die gleiche Art von Kette, wie er sie gefunden hatte. Das A für Annika lag gleich unterhalb ihres Halsgrübchens auf der sonnengebräunten Haut.
Der Artikel war fast vier Jahre alt. Als er erschien, war Annika schon fünf Tage verschwunden gewesen. Die Suchaktion war beendet worden, ohne dass die Polizei eine Spur von ihr gefunden hatte.
Es gab auch ein Foto der schwedischen Ermittlungsleiterin auf dem Campingplatz Bovikstrand bei Göteborg, wo Annika mit ihren Eltern zum Zeitpunkt ihres Verschwindens gewesen war. Das Fahndungsfoto von Annika war eines der letzten, die von ihr gemacht worden waren. Es war in schwedischen, norwegischen und dänischen Medien in jedem einzelnen Artikel über den Fall erschienen. Sie ähnelte ein wenig der Annika aus den Pippi-Langstrumpf-Filmen. Struppige dunkle Ponyfransen und dunkle Augen, die kleiner wurden, wenn sie lächelte.
Es gab noch andere Fotos von ihr, die Freunde online gestellt und weiterverbreitet hatten. Einige stammten von ihrer Schule in Vetlanda, die meisten jedoch von ihrem letzten Sommer in Bovikstrand. Auf einem davon lag sie im Sand eingegraben, nur der Kopf ragte noch heraus. Eines der wenigen Fotos, auf denen die Halskette nicht zu sehen war.
Evert Harting klickte die Fotos weg und rief einen neueren Artikel aus dem vergangenen Sommer auf. Der Vermisstenfall war immer noch ein Mysterium. Alle Spuren verloren sich, nachdem das Mädchen kurz vor Mitternacht ihre Freunde am Strand zurückgelassen hatte. Aufgrund eines Missverständnisses wurde sie erst am nächsten Vormittag als vermisst gemeldet. Sie sollte mit zwei Freundinnen in einem Wohnwagen schlafen, aber vorher bei ihren Eltern vorbeischauen. Ihre Freundinnen glaubten, sie hätte sich anders entschieden, während die Eltern davon ausgingen, dass sie am anderen Ende des Campingplatzes übernachtete. In dem drei Jahre später erschienenen Artikel war keine Rede davon, dass es sich bei dem Fall um etwas anderes als ein Verbrechen handeln könnte.
Draußen auf der Veranda schaltete Ella das Radio ein. Ein Sender mit Verkehrsmeldungen und Musik.
Evert Harting wandte sich wieder der Suchmaske zu und kombinierte Annika Bengt mit dem Wort Halskette. Die einzigen Treffer waren Artikel, in denen die Kette mit dem Buchstaben im Zusammenhang mit Annika Bengts Personenbeschreibung erwähnt wurde, nichts jedoch war darüber zu erfahren, wo die Kette gekauft worden war oder herstammte.
Buchstabenschmuck wurde so etwas genannt. Es gab verschiedene Arten. Was er gefunden hatte, wurde als Kette mit seitlich angebrachter Initiale in Gelbgold bezeichnet. Er fand eine norwegische Onlineboutique, wo genau solche Ketten verkauft wurden. Es wurde als persönliches Schmuckstück in asymmetrischem Stil angepriesen und kostete weniger, als Evert vermutet hatte. Knapp dreitausend Kronen für Kette und Anhänger.
Die Onlineboutique warb mit Tausenden zufriedener Kunden. Er versuchte zu schätzen, wie viele solcher Anhänger wohl im Umlauf waren. Die Hälfte der norwegischen Bevölkerung waren Frauen. Ella konnte er sich nicht mit so einem Schmuck vorstellen. Dafür war sie zu alt. Er rundete die Anzahl von möglichen Trägerinnen auf zwei Millionen ab, wobei er ältere Frauen und kleine Kinder vernachlässigte. Das norwegische Alphabet hatte neunundzwanzig Buchstaben, aber nicht alle wurden gleich oft benutzt. Wenn er zwei Millionen durch zwanzig teilte, käme er auf hunderttausend potenzielle Käuferinnen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass mehr als ein Prozent von ihnen eine solche Kette gekauft hatte. Es war ein wenig wie auf der Straße: Man musste mehr als hundert Frauen begegnen, bis man auf eine traf, die die gleiche Kleidung trug wie eine der anderen Passantinnen.
Eine von hundert.
Tausend verkaufte Anhänger in Norwegen. Vielleicht doppelt so viele in Schweden.
Wie viele Trägerinnen mochten ihre Kette verloren haben?
Die Wahrscheinlichkeit, dass es viele waren, wurde immer kleiner.
Mit einer langsamen Bewegung klappte er das Laptop zu. Es war bloß ein Gedankenspiel, das ihn nicht weiterbrachte. Und ob er sich weiter damit beschäftigen sollte, war ohnehin fraglich.
Plötzlich stand Ella im Zimmer. Die Zeit war in Windeseile vergangen, während er am Computer gesessen hatte. Fast zwei Stunden.
„Wir haben noch etwas Kartoffelsalat, oder?“, fragte sie und öffnete den Kühlschrank.
Er stand auf. „Ich schmeiße mal den Grill an“, sagte er und blieb einen Moment lang nachdenklich stehen.
Er sollte den Schmuck wohl dahin zurückwerfen, wo er hergekommen war, am besten in noch tieferes Wasser.
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