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Wo Islands wilde Seele wohnt Wo Islands wilde Seele wohnt - eBook-Ausgabe

Anne Siegel
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Außergewöhnliche Menschen und ihr Leben mit der Natur

— Spannende Biografien über Mut, Kreativität und Lebenslust
Hardcover (20,00 €) E-Book (19,99 €)
€ 20,00 inkl. MwSt. Erscheint am: 04.04.2025 In den Warenkorb Im Buchshop Ihrer Wahl bestellen
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Wo Islands wilde Seele wohnt — Inhalt

Starke Persönlichkeiten aus dem rauen Norden

Eine Schafzüchterin, die als Selbstversorgerin in den unwirtlichen Bergen lebt, ein Gletscher-Ranger, der Wasserfälle und Wanderwege kontrolliert, eine Eisschwimmerin, die ein Rabenmuseum unterhält ... Die isländische Gesellschaft ist tief geprägt von der wilden Schönheit und den extremen Naturgewalten ihrer Heimat. Aus ihnen schöpfen die Männer und Frauen ihre Kraft und Inspiration. Diese Verbundenheit spiegelt sich in Anne Siegels spannenden Porträts außergewöhnlicher Menschen wider. So ergeben sich faszinierende Einblicke in den Alltag und in die Seele der Isländerinnen und Isländer.

„Anne Siegels Bücher sind pures Glück zwischen zwei Buchdeckeln.“ WDR

Mit diesem Band findet der erfolgreiche Bestseller „Wo die wilden Frauen wohnen“ einen facettenreichen Nachfolger, der sich nicht nur den wilden Frauen Islands widmet, sondern auch den wilden Männern.

„Diese Biografien machen sofort Lust auf eine Reise in den wilden Norden.“ Hamburger Morgenpost über „Wo die wilden Frauen wohnen“

€ 20,00 [D], € 20,60 [A]
Erscheint am 04.04.2025
256 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-89029-597-8
Download Cover
€ 19,99 [D], € 19,99 [A]
Erscheint am 04.04.2025
256 Seiten
EAN 978-3-492-60980-7
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Leseprobe zu „Wo Islands wilde Seele wohnt“

Sigurdur Erlingsson
Ranger
Von Stammtischen im Heilwasser, Trollen und Geologie
Der Ranger vom Vatnajökull hat sogar eine ganz ähnliche Größe und Statur wie der berühmte Schauspieler aus dem fernen Kalifornien, der gerade auf einer Geländemaschine durch Island fährt. Eine vage Ähnlichkeit ist den beiden nicht abzusprechen. Würde Pitt sich auch eine Lopi-Strickjacke anziehen, wäre die Verwandlung schon halb gelungen.
Davon kann ich mich selbst überzeugen, an jenem launigen, kühlen Augusttag, an dem ich Sigurdur, genannt Siggi, besuche und plötzlich Brad Pitt [...]

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Sigurdur Erlingsson
Ranger
Von Stammtischen im Heilwasser, Trollen und Geologie
Der Ranger vom Vatnajökull hat sogar eine ganz ähnliche Größe und Statur wie der berühmte Schauspieler aus dem fernen Kalifornien, der gerade auf einer Geländemaschine durch Island fährt. Eine vage Ähnlichkeit ist den beiden nicht abzusprechen. Würde Pitt sich auch eine Lopi-Strickjacke anziehen, wäre die Verwandlung schon halb gelungen.
Davon kann ich mich selbst überzeugen, an jenem launigen, kühlen Augusttag, an dem ich Sigurdur, genannt Siggi, besuche und plötzlich Brad Pitt im Besucherzentrum des Hochland-Nationalparks am See Mývatn auftaucht: Motorradhose, weites Karohemd in leuchtenden Farben und eine überdimensionierte Mütze auf dem Kopf. Der Pitt-Stopp in Island muss wohl auf dem Weg von Los Angeles zum Filmfestival nach Venedig liegen, wo der Schauspieler nächste Woche erwartet wird.
Die Mitarbeiterinnen hier begegnen ihm so, wie das in Island üblich ist. Ihre Blicke sagen: „Wir wissen, wer du bist, aber hier bist du einer von uns!“
Wahrscheinlich lieben berühmte Menschen genau dieses Selbstbewusstsein. Björk trifft man schließlich auch „ganz normal“ im kleinen Lebensmittelshop in Reykjavíks Westen, wo sie unbehelligt ihre Wocheneinkäufe erledigen kann.
Die Motorräder der Herren-Gang, die hier einen Haudegen-Urlaub macht, sind geländetauglich, und hätte Pitt sich nicht heute früh in den Besucherstrom am Mývatn eingereiht, es wäre wohl gar nicht aufgefallen, wer da gerade unterm Sturzhelm ein bisschen inkognito durchs Land gondelt.
Sollte es sich um eine Art Geheimrecherche für eine Serie handeln, in deren Zentrum ein Ranger aus dem Hochland steht? Wir werden das wohl erst in ein paar Jahren wissen. Aber das wäre eine ziemlich gute Idee für spannende Unterhaltung: Ein Ranger im wildesten Gebiet der ohnehin schon wilden Insel. So ein Siggi im Zentrum einer TV-Serie würde ziemlich was hermachen.
Allein die letzten drei Tage – drei ganz normale Tage im Leben des Isländers, der für den Nationalpark im Hochland zuständig ist:
Erst gab es Besuch von dreißig NASA-Leuten, die in der Nähe der Askja ihre Mission zum Mond erproben, dann musste Siggis Hochlandpatrouille einen im Sand festgefahrenen Jeep befreien. Zur Sicherheit erneuerten die Naturwächter gleich noch einmal die Wegemarkierungen.
Die Nacht darauf verbrachte der Ranger in Nýidalur. Nach manchen Einsätzen schafft Siggi es schlichtweg nicht mehr nach Hause. Im Hochland ist er mit seinen Kolleginnen und Kollegen im Sommer, wenn die Sonne nicht untergeht, manchmal rund um die Uhr beschäftigt. Sein Einsatzgebiet ist riesig, und wenn gerade keine Hütte für eine Übernachtung in der Nähe ist, gibt es das, was Siggi sein „mobiles Büro“ nennt: das Notzelt, das für die Ladefläche seines Pick-ups angepasst ist.
Am Tag danach riefen ein paar Radfahrer um Hilfe, die bei einer Mountainbiketour auf einem der Vulkanberge liegen geblieben waren. Viel Zeit für die Aktion blieb nicht, denn bei der Durchfahrung eines Flussbettes war der Leihwagen von Touristen neben der Furt stecken geblieben und musste befreit werden. Betonung auf „neben“ der Furt. Wieder einmal waren wohl die Warnschilder ignoriert worden.
Erster Check: Wo sind die Sicherheitsseile im Flussbett befestigt? Da geht es lang. Zweiter Check: Ist der Motor Ihres Fahrzeugs wasserfest? Das Sicherheitsschild vor diesen Flussfurten im Hochland weist eine ganze Liste auf. Siebter Check: Tragen Sie warme Kleidung in auffälligen Farben! Es wäre nicht das erste Mal, dass hier jemand verloren geht. Die Ranger, die solche Schilder aufstellen, passen auch auf, dass Reisende sich nicht überschätzen. Das passiert ständig.
„98 Prozent aller Besucher sind vollkommen okay. Mit denen haben wir keine Probleme. Ein Prozent von ihnen dachte nur ein einziges Mal nicht nach, die haben halt einen Fehler gemacht. Das ist auch nicht schlimm. Und dann ist da aber noch dieses eine Prozent an Idioten. Von denen lasse ich mir meinen Tag allerdings nicht versauen. Wir lernen sogar, mit ihnen zu kommunizieren.“
Was ist eigentlich der größte Fehler, den man hier machen kann? Gibt es den? Vielleicht kann man es als eine Art Hochlandschock oder -überforderung bezeichnen: „Die meisten Reisenden nehmen sich zu wenig Zeit, die Landschaft auf sich wirken zu lassen.“
Diese Landschaften haben zuweilen etwas Dramatisches. Karstige Rhyolithgebirge in zig hellen Brauntönen, die übereinandergeschichtet scheinen, wechseln sich hinterm nächsten Berg ab mit dampfenden Quellen. Das alles vor einer Kulisse, die wirkt, als sei man in Tolkiens Mittelerde gelandet.
Dichte Moose überziehen riesige Felslandschaften, an denen das Grün tentakelnd in die Tiefe tropft. Dann wüstenartige Ebenen. Weiter oben erscheinen plötzlich Oasen mit frischer Vegetation, und Rentiere kreuzen irgendwo den Weg. Wasserfälle, deren Dimensionen alles im Süden Islands übertreffen. Und als reiche das noch nicht aus für die zivilisationsmüde Seele, die sonst zu oft auf zweidimensionale Bildschirme glotzt, tauchen hinter eiszeitlichen Tuffbergen riesige Gletscher auf, von Eis bedeckte Vulkane, die aus 2000 Metern Höhe hinabstarren auf die staunenden Reisenden.
Es gibt Wege im Hochland, für die benötigt man im Auto zehn Stunden und legt nur hundert Kilometer dabei zurück. Das Gebiet, in dem der kernige blonde Ranger mit den kantigen Schultern und dem Vollbart arbeitet, ist riesig und das Wetter gerade so launisch und herausfordernd wie lange nicht mehr.
Gestern wusste er noch nicht, dass er an diesem Morgen zwischen wildem Thymian und Arktischen Weidenröschen aufwachen würde. Die Nachtschicht dauerte zu lange, um es noch bis nach Hause zu schaffen.
Im Sommer ist Siggi hier draußen, im Winter arbeitet er im Besucherzentrum. Die Arbeitsschichten sind lang, und manchmal fallen sie ganz plötzlich an, wie vor ein paar Wochen, als sich hier heftige Schneefälle mitten im Sommer ereigneten. Dafür gibt es anschließend Freizeit am Stück.
Am Fuß der Askja begann der Tag für Siggi beim ersten Morgenkaffee vor dem Zelt, mit Blick auf wechselnde Wetter, die sich am Horizont ankündigten.
Heute stehe ich auf seinem Programm, nach einer Achtzehn-Stunden-Schicht hat Siggi endlich ein paar Tage frei. Wir lernten uns vor ein paar Jahren kennen, als er eine meiner Lesungen in Island besuchte. Sigurdur Erlingsson lebt an dem Ort, den er von Kindesbeinen an liebt. Ich treffe ihn auf seinem Hof am See Grænavatn, gut eine Stunde von Akureyri.
Die Gegend ist malerisch und dramatisch zugleich. Auf der anderen Seite der See Mývatn mit den kleinen Inseln, die mit Grün bewachsen sind. Wo der See anfängt und wo er aufhört, erschließt sich nicht gleich. Der Grænavatn ist mit dem nahen Mývatn über einen kleinen Zwischenfluss verbunden.
Diese Landschaft wurde nach Vulkanausbrüchen von den großen Mývatn-Feuern geprägt, die die Gegend Anfang des 18. Jahrhunderts stark veränderten.
Zwischen 1975 und 1984 kam es erneut zu einer Reihe von heftigen Vulkanausbrüchen. Die Spuren davon sind auf dem Weg zum Grænavatn noch sichtbar. Er führt mich am Námaskarð vorbei, wo noch immer Schwefelquellen vor sich hin brodeln. Vor dem Pass liegt der riesige Explosionskrater Stóra Víti. Seine vorgelagerten, hell gefärbten Berge und die riesige Öffnung des Kraters wirken wie ein fremder Planet. Der Mývatn und seine Umgebung weiter südlich sehen im starken Kontrast dazu aus wie das reinste Auenland.
Die Farm, auf der Siggi lebt, ist eine der ersten, die in Island entstanden. Zu ihr gehören mehrere Tausend Hektar Land. Den Mittelpunkt des Hofes bildet das über hundert Jahre alte Bauernhaus, ein großes, lang gezogenes traditionelles Gebäude aus hellgrünem Holz mit dunkelgrünen Fenstereinfassungen. Über zwei Gauben ein Grasdach, das an den Seiten in kleine Ställe übergeht. Hier lebten ganze Generationen von Tierhaltung und Forellenfang. Zwei Höfe in der direkten Nachbarschaft betreiben noch aktiv Landwirtschaft, und auch Siggi besitzt ein paar Schafe und Pferde.
Die Auffahrt zum Hof ist aufregend – sie führt zwischen zwei Grashügeln durch eine vielleicht zwei Meter tiefe Mulde, die im Sommer wild mit hohen Gräsern bewachsen sind. Es wirkt, als nähere man sich dem Hof aus der Unterwelt kommend. Einen Moment lang frage ich mich, ob mein Auto hier überhaupt durchpasst.
Hinter dem alten Bauernhaus liegt ein neueres Gebäude, in dem Siggi lebt. Hier und da ein alter Grassoden-Stall. Seeblick vom Wohnzimmer und Schlafzimmer. Am Horizont schneebedeckte Berge auf der einen Seite und ein alter Vulkan auf der anderen. Was für ein feiner, außergewöhnlicher Fleck Erde.
Das ist Siggis Sehnsuchtsort, seit er denken kann. Auf der Farm wuchs sein Vater auf, Erlingur, der später Lehrer wurde und nach Akureyri zog. Wann immer er konnte, besuchte Siggi hier, gut eine Stunde vom Zuhause bei seinen Eltern entfernt, seine Großeltern am Grænavatn. Dies ist, am Rande des Hochlandes gelegen, einer der kältesten Orte Islands. Im Winter treibt das Thermometer die Temperaturen oft bis an die dreißig Grad minus.

Es ist Abend, der Wind fegt energische kleine Wellen ans Ufer. Das Wasser des Sees ist eiskalt, es erneuert sich alle vier Tage vollständig, kommt ganz frisch aus den Bergen, von den Gletschern. Im Gras liegt ein Ruderboot, daneben noch die alten steinernen Stützen im Wasser des Sees, in denen früher die frische Milch in Kannen gekühlt wurde. Von einer kleinen Insel tönen die Rufe eines Haubentaucher-Paares übers Wasser.
Aus dem Haus kommt mir Kastro entgegengestürmt, Siggis Border Collie. Er ist auch im Hochland der Begleiter des Rangers.
Akureyri, wo Siggi aufwuchs, ist eine wunderschöne Stadt am Rande der Natur des Nordens, direkt am Meer und gleichzeitig Islands zweitgrößter Ort mit kleinem Flughafen, mehreren Schwimmbädern und einem beeindruckenden Botanischen Garten.
Doch Städte sind nichts für den Ranger. Vor allem wenn er nach Reykjavík komme, rege ihn die Stadt auf, sagt Siggi. „Reykjavík ist mir zu hektisch.“
Dabei hat er mal in einer sehr viel größeren Stadt gelebt. Siggi studierte in München. Dort fühlte er sich äußerst wohl, denn München habe etwas, was er noch in keiner Stadt erlebte: „Reykjavík ist die kleinste Metropole der Welt und München das größte Dorf!“ Und das meine er „durchaus aufwertend“, betont er. Dass jedes Viertel wie ein kleines Dorf sei, habe ihn fasziniert. München sei lebenswert.
Siggi spricht perfekt Deutsch. Wahrscheinlich perfekter als manche Deutsche. Es fällt mir immer auf, wie er mit seinem wunderbar isländischen Akzent ganz vorsichtig die Wörter formt. Er bildet sie weiter vorne auf den Lippen, anders als die isländischen Wörter, die den Mundraum erfüllen, weil seine Muttersprache viel mehr weiche Laute beinhaltet, die weiter hinten entstehen. Es klingt behutsam, wenn er exakt Deutsch artikuliert, vielleicht weil es in unserer Sprache andere Vokalfolgen gibt, und Siggi ist ein ziemlich präziser Mensch.
Bereits als Teenager verbrachte er ein Jahr mit seiner Familie in Deutschland. Seine Eltern nahmen als Gymnasiallehrer an einem typisch isländischen Sabbatical-Programm teil: Lehrer gehen nach langer Routine im Schuldienst noch einmal ein Jahr bezahlt ins Ausland, um dort zu studieren. Schließlich wirkt sich das später positiv auf ihren Unterricht aus.
So zogen Erlingur und Sigríður mit ihren drei halbwüchsigen Kindern für ein Jahr in die Nähe von Tübingen, um dort zu studieren. Siggi ist das sogenannte Sandwichkind, der Mittlere, er hat einen jüngeren Bruder und eine ältere Schwester.
„Für mich war es toll, in eine deutsche Klasse zu kommen. In Akureyri wurde ich im Jahr davor etwas gemobbt, und plötzlich war ich der coole Isländer in meiner neuen Klasse. Das war befreiend.“
Zwei Drittel seiner deutschen Klassenkameraden hatten Nonni und Manni gesehen, die deutsche Koproduktion der isländischen Abenteuerserie war gerade im Fernsehen gelaufen, als Siggi in Tübingen ankam.
Die Nonni-Bücher, die die Vorlage für die Serie bildeten, entstammen der Feder des isländischen Autors Jón Sveinsson. Sveinsson, ebenfalls in Akureyri geboren, war als junger Mann durch ein Stipendium nach Frankreich gekommen und dort später Pfarrer und Jesuit geworden.
Offensichtlich sehnte er sich so sehr nach seiner isländischen Heimat, dass er begann, die Jungen Nonni und Manni und deren Abenteuer im Eyjafjörður zu erfinden. Seine Bücher erreichten ein Millionenpublikum junger Leser und wurden in vierzig Sprachen übersetzt.
Was wenige wissen: Sveinsson hat mehrfach versucht, zurück nach Island zu kommen, aber im protestantischsten aller nordischen Länder fand sich partout keine Stelle für einen katholischen Geistlichen. So landete er in Deutschland und starb kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges in Köln, wo er auf dem berühmten Melatenfriedhof begraben liegt.
Siggi kam die Berühmtheit der isländischen Abenteuerfiguren zugute. Nonni und Manni kämpfen in den Geschichten schließlich sogar gegen Eisbären. Das Image eines jungen Isländers, der nach Deutschland kam, war also gesetzt.
Für sein Selbstbewusstsein war das Jahr in Tübingen genau das Richtige. Siggi beherrschte die Sprache schnell. In Deutschland herrschte schon etwas, das in Island erst sehr viel später Einzug hielt: „das ökologische Bewusstsein“. Das faszinierte ihn. „Wir hatten in Island überall sauberes Wasser und saubere Luft. Man musste sich nie Gedanken machen. Das war auch noch die Zeit, in der Isländer ihren Müll in verlassenen Tälern verbuddelten.“ Dass man in Deutschland Müll trennte, war vollkommen neu für ihn.
„Ihr Deutsche wart uns in Sachen ökologischem Denken bestimmt zwei, drei Jahrzehnte voraus!“ Er macht eine kurze Pause, lacht und sagt: „So wie wir euch heute drei Jahrzehnte in der Geschlechtergerechtigkeit voraus sind.“
Eine Vorstellung davon, wie seine Zukunft einmal aussehen sollte, hatte Siggi damals nicht. Er musste sich in der Schule nie sonderlich anstrengen und plante ein naturwissenschaftliches Studium. Damals kam er allein ein paar Monate vor seiner Familie zurück nach Island. Das Schuljahr war noch nicht ganz vorbei, am Grænavatn bei seinen Großeltern begann gerade die Lämmer-Saison, und so durfte der Vierzehnjährige allein von Zürich zurück nach Akureyri fliegen und für den Rest des Sommers bei seinen Großeltern auf der Farm helfen. Ein paar Jahre später ging Siggi zurück nach Deutschland, um in München Tiermedizin zu studieren.
Er liebt Bayern und scheint sich damals so sehr sprachlich angepasst zu haben, dass er später als Reiseleiter ein paar Norddeutsche mit seinem „Grüß Gott“ ein wenig erschüttert zu haben scheint.
Das bringt mich auf Siggis bemerkenswerte Unterarme. Kein Witz. Solche Unterarme haben sonst nur Klempner … und Matrosen. Diese Unterarmmuskeln entstanden in Siggis Semesterferien. Island hatte schon immer ein enormes Lohnniveau. Besonders in der Seefahrt. In den Semesterferien heuerte Siggi regelmäßig auf einem Fischtrawler an. Acht Wochen Ferien, in denen er ein kleines Vermögen verdiente. Die Arbeit auf See war allerdings unglaublich hart.
Der Eisfisch-Trawler hatte tausend Tonnen Bruttogewicht. Eine Tour dauerte in der Regel zehn Tage. In dieser Zeit waren die Männer in zwei Schichten rund um die Uhr beschäftigt. „Sechs Stunden arbeiten, sechs Stunden schlafen war der Rhythmus“, sagt der blonde Ranger. Macht zwölf Arbeitsstunden am Tag.
Eisfischen bedeutet, dass die gefangenen Fische direkt auf Eis gelegt werden. Dazu kommen sie in Tonnen, die Island-Fans ein Begriff sein dürften, denn diese Plastiktonnen werden im ganzen Land für alles Mögliche verwendet, weil sie so praktisch sind. Im Norden sieht man sie oft in den Gärten, wo sie als Kinderbadewannen zweckentfremdet werden.
„Ich habe damals den Wechsel von den 60- auf 400-Liter-Eisboxen mitgemacht“, erzählt Siggi und zeigt auf seine Unterarme. Wir sitzen inzwischen im Haus und trinken Kaffee.
Damals entstanden diese Muskeln, denn die Matrosen werfen sich die Tonnen, damit es schneller geht, zu. Siggi musste lernen, die riesigen Dinger zu fangen, und dabei bekommt man Muckis fürs Leben. „Wenn dann noch Seegang herrscht und dir so eine 400-Liter-Box entgegenfliegt, lernst du jonglieren.“ Damals gelang es dem Studenten schnell, die Boxen so zu werfen, dass sie direkt vor dem Fließband landeten, wo Eis hineingeschaufelt wird.
So karg, wie ich mir immer die Fischtrawler vorstellte, sind diese Schiffe, wie ich jetzt erfahre, gar nicht, die lange aufs Meer fahren und einen gewissen Komfort für ihre Leute bieten: Es gab auf dem Schiff sogar eine Sauna. Und einen Fitnessraum. „Mit Laufbrett“, sagt Siggi. Ich verstehe nicht ganz, und dann müssen wir beide lachen, denn er hat das Laufband direkt aus dem Isländischen ins Deutsche übersetzt.
Die Arbeit auf diesen Schiffen war extrem hart, aber Siggi, der als jüngster Matrose mitfuhr, lernte viel über den Zusammenhalt der Seefahrer. Einige Verrichtungen an Bord sind hochgefährlich. Da gilt es, präzise und schnell zu sein. Ich muss an die isländische Serie denken, die so viel über die Fischproduktion erzählt. Blackport. Darin gerät ein Mann in eine Fischzerkleinerungsanlage und verliert seine Hand.
„Früher kam das schon mal vor, dass, wenn eine Maschine schneller ohne eine Sicherheitsvorrichtung lief, die Sicherheitsvorrichtung entfernt wurde, damit man mehr Fisch verarbeiten konnte.“
Siggi hatte Glück, auch wenn es einmal ziemlich knapp war: Er klinkte ein riesiges Fischnetz nach dem Leeren nicht richtig aus, machte aber gerade noch rechtzeitig einen Schritt zurück, und so schoss das riesige Stahlseil unter Spannung knapp an seinen Knien vorbei. „Ich hätte mir wahrscheinlich beide Beine gebrochen, hätte es mich erwischt, oder sogar meine Beine verlieren können.“
Viele Matrosen scheiden in diesen Jahren wegen körperlicher Verletzungen aus. Mitte der 1990er-Jahre gibt es auf See noch keinen Satellitenempfang und keine Handys. Alte Matrosen, die nicht mehr zur See fahren, nehmen an Land für die Jungs auf See das Fernsehprogramm auf VHS-Kassetten auf und liefern sie ihren Freunden aufs Schiff. Siggi und die Mannschaft gucken regelmäßig das isländische Fernsehen mit einer Woche Verspätung an Bord.
Damals fahren noch achtzehn Leute auf dem Schiff. Siggi nimmt Fische aus, legt sie auf Eis, repariert die Netze und lernt, ziemlich gut zu putzen. Wenn sie zurück im Hafen sind, ist das Schiff meist blitzblank. Heute fahren die Fischtrawler mit wesentlich kleinerer Besatzung, weil auf den Schiffen mehr Vorgänge automatisiert sind.
Siggi hat mit diesen Jobs auf dem Meer sein Studium finanziert. Dass er letztlich doch nicht im Kuhstall landete oder in einer eigenen Tierarztpraxis, hatte mit den Gegebenheiten in seiner Heimat zu tun.
„Man guckt, wo gerade jemand gebraucht wird.“ In Akureyri begann der Touristenboom. Siggi betreibt dort die Schneekanone, geht parallel zur Skipatrouille und lernt dort vieles, was ihn später als Ranger qualifiziert.
„Hier ist der Arbeitsmarkt wesentlich dynamischer. Du arbeitest in dem Bereich, der dich zufrieden macht. Dadurch sind Akademiker oft in anderen Berufen, und das ist nicht schlimm, denn du kannst ja jederzeit wieder wechseln, was auch häufig passiert.“
Als der Ranger als Teenager in Tübingen zur Schule ging, irritierte ihn, wie früh sich die deutschen Kinder in der Schule für eine Richtung entscheiden sollten.
In Island arbeitet mehr als die Hälfte aller Beschäftigten unter dem Niveau ihrer Ausbildung. Dieser Ausdruck „Niveau“ ist allerdings eine Wertung, die die wenigsten Isländerinnen und Isländer benutzen würden in dem Land, in dem es kaum Klassismus gibt. Berufe werden hier nicht auf die gleiche Weise bewertet wie in Deutschland.
Das jemand einen „Abstieg“ vollziehe, würde hier niemand so sagen. Die wichtigere Frage bei der Bewertung von Arbeitsstellen lautet: „Bist du glücklich mit dem, was du machst?“
Siggi ist der lebende Beweis dafür, wie Berufung passiert. Er legte zwischendurch noch ein Intermezzo als Reiseleiter ein. Seine deutschen Sprachkenntnisse waren dabei sehr hilfreich. Als die neue Reisefirma erst einmal aufgebaut und fürs weitere Wachstum strukturiert war, verließ er sie wieder, denn mittlerweile wurden Ranger gesucht. Diese Tätigkeit in der freien Natur beinhaltete all das, wonach der blonde Mann vom Mývatn sich sehnte.
„Ich kann sagen, ich war schon im Mutterleib Ranger“, vertraut mir Siggi an. Seine Eltern waren im Sommer 1977 die ersten Ranger in der Gegend. Da war seine Mutter gerade schwanger mit ihm.
Rangerinnen und Ranger (die Hälfte der Belegschaft besteht aus Frauen) müssen ziemliche Allrounder sein. Siggis akademische Kenntnisse sind hier neben der praktischen Tätigkeit hilfreich, denn rund ums Hochland gibt es viele naturwissenschaftliche Phänomene, die die Ranger erklären oder in Schautafeln abfassen. Wenn der Dienst im Besucherzentrum stattfindet, kommt noch die pädagogische Arbeit dazu.
Im Rangerzentrum erscheinen viele Kindergruppen, die in die Grundzüge der Geologie und der Pflanzen und Tiere rund um den Hochlandpark eingeführt werden. Im Mývatn gibt es zum Beispiel algenartige Bälle, die „lake balls“, die es sonst nur noch in Japan gibt. Diese Seebälle rollen von den Wellen angetrieben über den Boden des Sees und halten ihn auf diese Weise rein. Es gibt auch Fischarten, die einzigartig sind und nur hier vorkommen. Die Ranger erklären auf ihren Erkundungstouren mit Gruppen die Wunder der hiesigen Natur und beantworten die Fragen der Kinder und Erwachsenen in mehreren Sprachen.
Ranger seien besondere Typen, meint Sigurdur Erlingsson. Früher, als seine Eltern diesen Job ausübten, war das eine klassische Tätigkeit nur für die Sommermonate. Seit zehn Jahren ist es in Island ein anerkannter Beruf. Anders ließe sich ein so großer Nationalpark wie dieser wohl auch gar nicht betreiben.
„Man muss auch gut mit sich allein klarkommen.“ Er habe es lernen müssen und liebt die Tage, die er ohne sein Team in der Einsamkeit verbringt, wenn ihn nur sein Hund Kastro begleitet.
„Gibt es so etwas wie schönste Momente im Rangerleben? Vielleicht ja sogar den schönsten Moment?“
„Ja, im Sommer in der Mitternachtssonne allein in die Caldera der Askja zu gehen und sich hineinzulegen.“
„Allein im Vulkan?“
„Ja, ganz allein. Wenn die Touristen alle weg sind.“
„Ist das nicht gefährlich?“
„Der letzte Ausbruch war 1961.“
Mir rutscht ein „Siggi, du bist ein cooler Hund“ raus, und er lacht. Die Chance, im Lotto zu gewinnen, wäre größer, als dass genau in diesem Moment der Vulkan hochginge.

Tüchtig zu sein bedeutet im Rangerleben nicht nur, Menschen zu retten, Pflanzen zu bestimmen und neue Wege anzulegen. Es gibt da noch eine ziemlich kontrastreiche dreckige Seite in seinem Beruf: „Du musst eklige Plumpsklos putzen können.“
Am Dettifoss, der auch zu seinem Gebiet gehört, entwickelte das Rangerteam ein Projekt, auf das sie alle ziemlich stolz sind: Ökoklos. In einer sternförmigen Anordnung stehen sie neben dem Parkplatz und leisten wichtige Dienste, denn an Islands größtem Wasserfall herrscht in den Sommermonaten Hochbetrieb. Der Parkplatz ist voll. Manche Blase auch, wenn die Gäste durchs menschenleere Hochland hierherkommen und für die Fahrt wesentlich mehr Zeit benötigten, als sie zunächst einplanten. Die Klos sind im Dauerbetrieb.
Solarpaneele treiben die Batterien der Trockentoiletten an, die Feuchtigkeit und Papier voneinander trennen und die Fäkalien kompostieren. Die Planung und den Bau erledigte das Team während der Coronapandemie. Touristen durften damals ohnehin nicht einreisen, und die Ranger nutzten die Zeit für solche Neu- und Umbauten, ganz isländisch als genderneutrale Toiletten.
Auf dem Vatnajökull stehen die gleichen Häuschen, die aus dezenten Holzkreationen bestehen und ästhetisch das schiere Gegenteil schäbiger Dixi-Klos darstellen.
Der Weg vom Parkplatz am Dettifoss bis zu dem riesigen Wasserfall ist anderthalb Kilometer lang. Er führt ein bisschen kurvenartig über eine gut gekennzeichnete Streckenführung zwischen Felsen hindurch. An zwei Stellen gibt es Abzweigungen zu anderen Wasserfällen, zum Selfoss und zum Hafragilsfoss. Manchmal liegen Matten auf dem Weg.
„Das ist alles gewollt. Wir haben den Parkplatz extra so gelegt, dass auf dem Weg zum Wasserfall Zeit bleibt, die Landschaft auf sich wirken zu lassen“, erklärt Siggi. Klar hätte man den Parkplatz viel näher an den Wasserfall bauen können, aber es sei wichtig, dass die, die herkommen, sich Zeit auf ihrem Weg zum Naturwunder nehmen.

Auf dem Weg zum Grænavatn mache auch ich eine Pause am Dettifoss, allein schon, um die neuen Ökoklos zu sehen, auf die die Ranger so stolz sind.
Es ist ein sonniger Sonntagnachmittag. Vor mir gehen Besucher schweigend nebeneinander zwischen großen Basaltbrocken, die den Weg auf der kleinen Anhöhe zum Dettifoss säumen. Die Überwältigung angesichts der Dimensionen raubt manchem Touristen die Worte. Eine italienische Gruppe mit bunten Plastik-Regenumhängen marschiert mit mir, davor spielen aufgeregte Kinder zwischen den Pfützen, die sich auf dem Pfad bildeten.
Der riesige Wasserfall ist auf dem Weg durchs Hochland schon von Weitem an einer flirrenden Sprühfontäne über die Felskappen hinweg zu sehen. Kleine Regenbogen bilden sich über den nieselnden Fontänen am Horizont.
Direkt vor diesen kraftvollen Wassermassen zu stehen, die vom Vatnajökull herabstürzen, sie in ihrer erstaunlichen Kraft und Fließgeschwindigkeit zu sehen, ist ein beachtlicher Moment.
45 Meter tief rauschen die Wasserkaskaden auf hundert Meter Breite mit ungeheurer Kraft in die Schlucht hinab. Kaum zu fassen, dass dieses tosende Gebilde in manchen Wintern zufriert. Den beeindruckenden Anblick, wenn das hier alles in Eis erstarrt, kenne ich nur von den Fotos, die Siggi im vorletzten Winter auf Facebook postete. Damals herrschte der kälteste Winter seit über hundert Jahren in Island. Der Dettifoss sah aus wie eine riesige Marmorskulptur.
In der Naturschutzbehörde wurde lange um die Frage gerungen, ob es nicht sicherer sei, Orte wie den Dettifoss im Winter konsequent zu sperren. Die Erfahrung lehrte aber, dass die verbotenen Zonen dann erst recht Reisende anziehen, die das spannend finden und sich bewusst fahrlässig verhalten. Deshalb sind all diese Orte ganzjährig offen.
Natürlich bedeutet so eine Entscheidung, dass die Beschäftigten des Nationalparks in der ruhigeren Jahreshälfte hier ganz besonders aufmerksam agieren müssen. Die Rettungsaktionen, um waghalsige oder verunglückte Touristen in Sicherheit zu bringen, die ihre Kraft nicht richtig einschätzen konnten, entwickelten sich in den letzten Jahren zu einem erheblichen Kostenfaktor in ganz Island.
Vor Kurzem erst setzte ein Tourist auf einem Gipfel einen Notruf ab, sodass ein ganzes Rettungsteam mit dem Hubschrauber anrücken musste. Als der Rettungssanitäter sich zu ihm abseilte, teilte ihm der Mann mit, er habe wohl überreagiert. Jetzt sei „alles wieder okay“, er könne den Abstieg doch alleine bewältigen und brauche sie nicht mehr.
Um die Kosten, die bei den vielen teuren Rettungseinsätzen anfallen, ein wenig aufzufangen, gehen die Ranger zum Jahresende einem interessanten Nebenerwerb nach: Dann verkaufen sie im ganzen Land Silvesterböller und Feuerwerk.
Wer sich also immer schon darüber wunderte, dass an Neujahr in Island wie besessen geböllert wird, muss wissen, dass das Volk damit jede Menge Noteinsätze querfinanziert. „Suchen, Retten, Sichern“ lautet die Devise derer, die in Island Menschen aus ausweglos scheinenden Situationen helfen. Zu den Hauptamtlichen kommen 4500 Freiwillige, also Männer und Frauen, die dafür trainiert sind, in ihrer Freizeit die Leben fremder Menschen zu bewahren. Sie begeben sich dafür regelmäßig in Gefahr, egal, ob Touristen in Gletscherspalten fallen oder isländische Fischtrawler auf See in Not sind. Landsbjörg, so heißt die isländische Rettungsorganisation, ist mit Hightech ausgestattet und rund um die Uhr im Einsatz. Das kostet.
Siggi und seine Kollegen errichten für den Sonderverkauf in der letzten Woche des Jahres Zelte und Stände. Die Raketen sind ein Verkaufsschlager. Viele Isländerinnen und Isländer identifizieren sich sehr stark mit dem Gedanken, auch unter Lebensgefahr füreinander einzustehen. Zu den vielen Tausend Aktiven kommen rund 20 000 Mitglieder. Das sind sechs Prozent der gesamten Bevölkerung.

Hat der Experte einen speziellen Rat für Island-Reisende? Siggi muss nicht lange überlegen: Im Winter unterschätzten viele auf ihren Wegen durchs Hochland die Anstrengung, die durch die fast ganztägige Dunkelheit entstehe, meint der Ranger vom Vatnajökull. Das wirke stark auf den Organismus. „Man wird schneller müde und überschätzt prompt die eigenen Kräfte.“
Oft ist das Hochland dann ohnehin gesperrt. Aber auch die Straßen, die als befahrbar gelten, können bei Eis und Schnee und der Dunkelheit, die zwanzig Stunden pro Tag herrscht, schnell zur Herausforderung werden.
Hat Siggi schon viele richtig dumme Sachen mit ausländischen Reisenden erlebt?
Der Ranger ist ein unendlich geduldiger Mann, aber seine Liste, wenn es um fahrlässiges Verhalten geht, ist lang. In zehn Jahren als Ranger hat Siggi einiges mitgemacht.
Viele erkennen selbst gar nicht, dass sie sich mit ihrem Verhalten in Gefahr bringen. Und ein paar haben einfach mehr Glück als Verstand. In dem besonders kalten Winter, als sogar der Dettifoss zufror, sei ein Alleinreisender in der Dämmerung am Wasserfall unterwegs gewesen, erzählt Siggi. Ein junger Mann, der nur Sneakers getragen habe. Es herrschten an dem Tag um die zwanzig Grad minus, und er war auf diesen dünnen, rutschigen Sohlen allein auf dem Weg zum stark vereisten Dettifoss.
Offensichtlich habe er auf dem Weg ständig auf sein Handy geblickt und dadurch den markierten Weg verpasst. Der Mann überkletterte im letzten Dämmerlicht am Nachmittag sogar Schutzzäune und rutschte auf den glatten Sohlen seiner Turnschuhe auf der gefrorenen Fläche vor dem Wasserfall fürchterlich aus. Der Kanadier stürzte dabei in eine vereiste Rinne des Wasserfalls und steckte fünf Meter tief darin fest.
„Zum Glück war der Wasserfall gefroren, und er hatte sein Handy noch in der Hand. Hätte der Mann keinen Handyempfang gehabt oder ihm wäre das Telefon aus der Hand gefallen und er hätte die Nacht dort verbringen müssen, er hätte das nicht überlebt.“
Viele Reisende machten auch den Fehler, Island „im Schnelltempo“ zu bereisen, sagt Siggi. Sie unterschätzten dabei, wie müde es mache, derart viele Eindrücke zu verarbeiten! Ihnen rät er, immer mal wieder innezuhalten.
Die Streckenführung durchs Hochland ist bewusst so angelegt, dass es Park- und Rastplätze für gelegentliche Pausen gibt. Wer noch nie im Land war, sieht nur die reinen Kilometer in der Fahrtbeschreibung und unterschätzt die Beschaffenheit der Strecken, die herausfordernd sein können.
„Es ist so viel, was du verarbeiten musst, wenn du die isländische Landschaft erfährst.“ Siggi empfiehlt sogar bewusste Ruhepausen, um das Erlebte wirken zu lassen. Wer über die Ringstraße saust, weiß das oft nicht. Und auch die wenigen Pisten abseits der Straße können eine Herausforderung sein. „Das sind Pisten, da fahren in der Hochsaison im Durchschnitt vielleicht fünf Autos pro Woche.“
Die Ranger sind es gewohnt, auch solche Strecken zu kontrollieren. Das Gebiet, in dem Siggi tätig ist, beträgt rund 4000 Quadratkilometer. Das entspricht 750 000 Fußballfeldern oder der 1,1-fachen Größe der Insel Mallorca.
Auch für das Team der Ranger können Wintertage hier zur Herausforderung werden, zum Beispiel wenn sie gegen die Schneestürme im Hochland kaum ankommen. Dann setzen sie ihre Touren manchmal nicht mehr fort, sondern pausieren in einer der Schutzhütten. Früher standen die das ganze Jahr offen, heute sind sie mit Zahlenschlössern versehen.
„Es gab schon Wintertage, da hat die Fahrt nach Hause achtzehn Stunden gedauert, und ich musste unterwegs mein eigenes Auto zwölfmal ausbuddeln“, erinnert sich der kernige Siggi.
Der Kontrast zu seiner Erzählung könnte in diesem Moment kaum größer sein: Wir haben den Ort unseres Gespräches gewechselt, und Siggi und ich sitzen inzwischen im Spa, im Dampfbad des Mývatn-Naturbades. Anschließend sinken wir zwischen weißen dampfenden Wolken in einen der Pools des Geothermalbades. Das hier ist einer der wenigen Orte, an denen Siggi ohne Hund Kastro unterwegs ist.
Das milchig hellblaue Wasser gleicht dem der Blauen Lagune aufs Haar. Das vierzig Grad warme Heilwasser der künstlichen Lagune soll Schmerzen lindern und ist voller Mineralien, Silikate und geothermischer Mikroorganismen, die gut für die Haut und gegen Asthma sein sollen. Bevor ein größeres Publikum diese Art von Heilbädern entdeckte, wurden sie vor allem als Kur gegen Schuppenflechte genutzt. Der Spa ist bis spätabends geöffnet. Wir sitzen in einer kleinen Ausbuchtung des Pools bis zum Kinn im warmen Wasser. Unter meinen Zehen spüre ich die winzigen Kiesel, die dem Wasser sein Blau verleihen.
Ein Stück weiter entfernt stehen Badende vor einer kleinen Bar und trinken Cocktails. Hier wird auch im Pool serviert.
„Die Ecke hier ist unser Stammtisch“, sagt Siggi. Er trinkt keinen Alkohol, aber in dieser Nische am Rande des Pools trifft er sich abends oft mit Freunden zum Quatschen.
Der Blick von hier, mitten in dieser Senke im Lavafeld, geht weit übers Land. In der Ferne liegt ein Vulkankegel. Davor der Mývatn und ein Berg, auf den Siggi nun zeigt: „Du weißt schon, dass einer meiner Vorfahren da drüben gegen einen Troll kämpfte, oder?“
Wir hatten vorher schon einmal über Trolle gesprochen. Ich hatte ein technisches Tool verloren und suchte es in meinem Koffer. „Wir sagen immer, dann brauchte es wohl gerade ein Troll, und müssen nicht mehr länger suchen. Er bringt es dir irgendwann zurück“, lautete Siggis Erklärung. Er sollte damit recht behalten, ich fand es sehr viel später wieder, die Trolle müssen wohl auch Hightech lieben.
Das mit den Trollen ist in Island so eine Sache. Selbst Menschen, die nicht spirituell wirken, kommen irgendwann während persönlicher Begegnungen auf sie zu sprechen. Dabei hatte ich Siggi gerade sagen wollen, dass er einen ziemlich guten Buddhisten abgäbe. Er hatte vom Alleinsein in der Natur erzählt und wie er das im Laufe seiner Tätigkeit als Ranger erst lernen musste und dann zu genießen begann. Tatsächlich käme ihm diese Form der Spiritualität, der Buddhismus, wohl am nächsten, gibt er zu.
„In den isländischen Geschichten ist das Verborgene Volk, also das Huldufólk, ein bisschen so wie wir, die normalen Leute. Die Elfen sind eher Adelige. König. Königin.“ Und die Trolle? „Das sind klar die Bösen, die Macht wollen.“ So richtig kann ich Siggis Grinsen gerade nicht deuten.
Laut Überlieferung kämpfte sein Vorfahr auf dem Weg nach Hause hier in der Nähe von Mývatn und Grænavatn mit einem schlimmen Troll, der auf Menschenfleisch aus war. Es war kurz vor Weihnachten, der Troll und Siggis Vorfahr kämpften so fürchterlich, dass der Mann in der Weihnachtsnacht seinen Verletzungen erlag. Seine Blutspur führte bis hier in die Nähe, in die Berge.
„Ich war ja früher mal Reiseleiter und habe mir die Hinweise in der Geschichte genau angeschaut.“ Siggi grinst immer noch. „Damals herrschte gerade eine vulkanische Phase. Es ist also gut möglich, dass er beim Schneetreiben in eine Vulkanspalte fiel, die er nicht sehen konnte. Und vielleicht hat er dadurch ein Hirntrauma erlitten, das er nicht überlebte!“
Manchmal präge auch die Geologie die Volksgeschichten, erklärt mein Gegenüber. Auf dem Weg nach Akureyri gebe es einen Berg, auf dem ein besonders schrecklicher Troll herrschte, ein böser Geist. Er attackierte Reisende, die mit zerrissenen Kleidern im nächsten Ort ankamen und grün und blau waren. Manche wurden nie wieder gesehen.
„Das ist ein bekanntes Lawinengebiet“, lässt Siggi mich wissen. Manche seien in den alten Geschichten auch ohnmächtig im Schnee gefunden worden, mit zerrissenen Kleidern. „Da war vielleicht die Hypothermie mit im Spiel, von Sulfatdämpfen kann man schon mal ohnmächtig werden!“
Das ergibt Sinn, auch wenn ich es kaum wage, das den isländischen Freunden zu erzählen, die sich im Zweifel lieber nicht über Trolle auslassen mögen, weil man ja nie weiß, wie die sich rächen. Bliebe noch die Frage nach den zerrissenen Kleidern aus der alten Geschichte. Wie sollte das denn gehen?
Auch dafür hat der Ranger eine Erklärung: „Das nennt man das paradoxe Entkleiden. Du bist so unterkühlt, dass die Gefäße sich erst stark zusammenziehen, um den Körper zu schützen. Dann aber öffnen sich die Gefäße wieder, und das Blut schießt zurück in die unterkühlten Arme und Beine. Der Körper bekommt in diesem Moment eine falsche Information fürchterlicher Wärme, obwohl man gerade erfriert.“ Die Menschen reißen sich im Irrglauben, sie würden schwitzen, die Kleider vom Leib. Interessant.
Da Siggi mir nun sogar die Wahrheit über Trolle erzählt, muss ich dringend noch zwei Fragen mit ihm klären, die mich beschäftigen. Schließlich leben wir in Zeiten, in denen Menschen aus aller Welt einzig und allein Island besuchen, weil dieser traumhaft schöne und besondere Ort auf ihrer „Bucketlist“ steht. Also etwas ist, das sie abhaken wollen und meist mit seltsamen Aktionen verbinden. Das sind nicht die, die die Natur genießen und pfleglich mit ihr umgehen, sondern die, die bloß „Content“ abgreifen und produzieren. Spektakuläre Bilder, die der Pflege ihrer eigenen Egos dienen und als Futter für ihre Social-Media-Kanäle gedacht sind.
Eine Aktion ist Siggi besonders im Gedächtnis geblieben: „Es kam mal vor, dass Leute mit Drohnen über Pferdeherden flogen und die Drohnen dann bewusst über den Tieren absenkten, damit die losgaloppierten. Sie machten das einzig und allein für die Bilder der dahinstürmenden Pferde. Das ist Tierquälerei.“
Und was ist eigentlich das ultimative Kleidungsstück, das man immer dabeihaben sollte, wenn man nach Island reist?
„Ganz klar die lange Wollunterhose. Ich bin Isländer. Wir tragen die Dinger fast 300 Tage im Jahr, sogar unter der Anzughose und unter der Ranger-Uniform!“

Es ist eine besondere Woche, in der ich Siggi am Grænavatn besuche. Und das nicht wegen Brad Pitt und der NASA, die gerade hier waren. Letztere übrigens vertreten durch eine Gruppe von Astronautinnen und Astronauten der Artemis-II-Mission aus Houston. Sie werden nach über einem halben Jahrhundert wieder die ersten Menschen sein, die für die NASA die Mondoberfläche erkunden sollen.
Der Ort auf der Erde, der dem Mond am ähnlichsten ist, liegt in Siggis Ranger-Schutzgebiet. „The Earth’s most moon-like environment“, wie die Gruppe der Weltraumleute das noch griffiger beschreibt. Die NASA-Leute marschierten eine Woche lang durch die schwarze Lavawüste und nahmen Gesteinsproben an Basaltfelsen, die von der Beschaffenheit ganz ähnlich wie die auf dem Mond sind. Siggi hatte schon öfter mit der NASA zu tun, die Gegend rund um die Askja ist auch für die Mars-Mission interessant.
Das, was gerade bei ihm zu Hause passiert, ist allerdings wesentlich aufregender: Er wohnt jetzt nicht mehr allein. Und diesmal ist nicht Hund Kastro gemeint. Wie Siggi mir den Namen seines Hundes erklärte, zeigt übrigens geradezu perfekt, wie isländischer Humor funktioniert: „Weißt du, warum Kastro Kastro heißt?“ Siggi zeigte am ersten Abend meines Besuches auf die Stelle, an der bei Rüden unterm Schwanz was baumelt. „Dem fehlt da was.“ (Ich musste noch kilometerweit auf dem Rückweg über diesen fantastischen Witz lachen.) Diese Woche ist außergewöhnlich, denn Siggis Freundin Regina wohnt jetzt auch am Grænavatn.
In den zehn Jahren seines Rangerdaseins pendelte der Mann aus dem hohen Norden regelmäßig nach Deutschland. Regina, die deutsche Sozialpädagogin, die mit Islandpferden arbeitete, und er hatten sich durch einen gemeinsamen Bekannten in Island kennengelernt und wurden beste Freunde. Es dauerte ein paar Jahre, bis sie begriffen, dass sie sich längst ineinander verliebt hatten. Die Fernbeziehung funktionierte, aber das ständige Pendeln zwischen Deutschland und Island war anstrengend, und die Abschiede fielen immer schwerer. Nun lebt Regina in Island, und das Strahlen dieser beiden Menschen, wenn sie einander anschauen, sagt, dass das der richtige Schritt war.
Regina, die längst fließend Isländisch spricht, beginnt gerade noch mal eine neue Berufsbiografie in Island. In fast jeder Branche werden Arbeitskräfte gesucht.
Die Geschichte von Siggi und Regina, die sich mit Ende dreißig und Anfang vierzig kennenlernten, hat eine schöne Pointe: Regina stammt aus dem Nachbarort bei Tübingen, in dem Siggi als Jugendlicher mit seinen Eltern und Geschwistern ein Jahr lang lebte.
Was mich an den berühmten Besucher mit Hollywood-Hintergrund im Gebiet des Rangers erinnert: Brad Pitt, von dem wir nicht wissen, ob er nicht doch für eine Rangerserie in Island recherchieren wollte, würde in Island wegen seiner Partnerinnenwahl wohl ein bisschen anecken. Der Hollywood-Beau hat eine neue Liebe. Sie ist beinahe dreißig Jahre jünger als er. In Island ist das nicht üblich. Dort werden Männer mit sehr jungen Frauen von ihren isländischen Kumpels wohlwollend zur Seite genommen, mit den Worten: „Alter, was stimmt nicht mit dir?“
Regina ist sieben Jahre älter als Siggi. Er liebt das. Wie hatte er es doch gleich ausgedrückt? Drei Jahrzehnte sei Island uns in Deutschland in Sachen Geschlechtergerechtigkeit voraus.
Vielleicht lässt sich das Phänomen aus der Perspektive eines isländischen Mannes leichter erklären: Männlich ist hier nicht derjenige, der Frauen abwertet, sondern der, der Frauen aufwertet.

Siggis Kraftort ist die Askja, eines der großen, mächtigen Vulkansysteme im Hochland, in deren Krater er sich gern legt.
Zur Askja gehören drei ineinander verschachtelte Krater. Einer davon ist der hochexplosive Víti, in dessen Vertiefung sich dreißig Grad warmes Wasser sammelt. Dieser Krater bildete sich erst nach einem der großen Ausbrüche der Askja, im März 1875. Damals regnete es Asche in den Ostfjorden, die sogar Tiere vergiftete und das Land der bäuerlichen Betriebe für lange Zeit ruinierte. Viele Menschen aus der Region wanderten danach aus, weil sie in der Region keine Zukunft mehr sahen.
Die Askja brach zuletzt 1961 aus. Sie liegt auf über 1500 Metern Höhe, wenige Kilometer nördlich des Vatnajökulls und gehört zum abgelegensten Teil des Hochlandes, in dessen Mitte sie thront.
Besuchen kann man diesen Ort nur, wenn gerade kein Schnee liegt, also nur in den Sommermonaten. Viele der Zufahrtsstraßen (sogenannte F-Roads) hierher sind für Mietfahrzeuge verboten. Zum Glück gibt es geführte Touren, manchmal sogar mit Ranger Siggi.

GPS-Daten: N65°03′07.1″ W16°42′37.1″


Anne Siegel
Buchautorin, Filmemacherin, Radio- und Podcastproduzentin
Das zottelige runde Heck Islands
Das ist doch vollkommen verrückt.
Ausgerechnet an dem Ort, an dem ich vor Jahren die bizarrste Begegnung im ganzen Land hatte, steht jetzt ein Haus aus schwarzem Holz. Es hat rote Fensterrahmen und sieht aus wie zufällig in die Weite der isländischen Landschaft gewürfelt. Als ich es mietete, ohne seinen genauen Standort zu kennen, ahnte ich nicht, dass es mit einem meiner wunderlichsten Erlebnisse in diesem sonderbar schönen Land verbunden ist. Das Haus war ja noch nicht da, als mich das Schicksal schon einmal hierher verschlug, an die Küste von Dalabyggð.
Da steht es nun inmitten satten Grüns, und seine roten Fenster weisen auf die Küstenlinie vor meinem Schreibtischblick. Dazwischen kreuzt ein Weg, den sie hier unerklärlicherweise als Straße bezeichnen, der aber diesen Namen aus der Begriffswelt einer Mitteleuropäerin gar nicht verdient. Es handelt sich um eine in die Jahre gekommene Schotterpiste voller Schlaglöcher, die Country-Greenhorns und Möchtegern-Rallye-Raserinnen hinterm Steuer ihrer Gefährte die Schweißperlen auf die Stirn zu treiben vermag.
Als ich neulich eine Freundin aus der Hauptstadt hierher einlud, schrieb sie mir: „Aber, Anne, du bist so weit weg!“ Und ich glaubte, sie habe mich falsch verstanden, und antwortete: „Nein, ich bin nicht in Deutschland, ich bin gerade in Island.“ Bis sie mich aufklärte, dass ich „in Island“ weit weg sei.
Als ich auf dem Weg hierher mit dem Wagen auf die erste steile Schotterstraße einbog, begriff ich, was sie damit gemeint hatte. „Weit weg“ im eigenen Land, das bedeutet hier: Die Strecke zu dir ist uneben und muss mit viel Zeit bewältigt werden. Dann doch lieber ganz isländisch über Facetime telefonieren.
Die Wellen am Hvammsfjörður peitschen unerbittlich aufs flache Kliff und höhlen in ihrem stetigen Rhythmus einen Schiffskadaver aus, der hier auf den hellbraunen Felsen strandete. Ich stelle mir vor, wie die Menschen, die das große hölzerne Boot einst in einer unwirtlichen Nacht lenkten, in ihm auf den Schaumkronen des Meeres die Sicht verloren haben und kurz darauf auch die Macht übers Schiffsruder. Stelle mir vor, wie sie über Bord gegangen sein mussten, bevor die hölzerne Riesin auf die karstigen Felsen da unten prallte.
Das Holz ist überall gesplittert, aber seine rostigen Splinte halten die morsche Gestalt noch immer zusammen. Die Schmiede, die die großen eisernen Stifte anfertigten, schufen ihr gutes Werk für die Ewigkeit. Irgendwann werden nur noch diese großen Nägel übrig geblieben sein.
Rechts das Meer, links freies Feld. So sah das sechs Jahre zuvor aus, als mein Weg mich in einer unwirtlichen Frühsommernacht schon einmal hier entlangführte, über jene Piste, die sie in den Karten als Straße kennzeichnen. Wenn ich auf den Weg da unten schaue, sehe ich mich in einem roten Mietauto abbremsen und verwirrt stehen bleiben. Genau hier.
Island hat gerade wieder einmal eine Art Runderneuerung hinter sich. Die Wirtschaft, die Politik, der Tourismus. Hier ist immer alles in Bewegung, als sei ewig Sommer, denn im Sommer sind die Menschen des Landes viel vitaler als im Winter, wenn sie sich zurückziehen und sehr viel mehr zur Ruhe kommen. Dann erst lässt ihr Tempo nach, wenn die Dunkelheit der nordischen Nacht überm Land liegt und nur ein paar Stunden des Tages den Himmel hell scheinen lässt.
Sechs Jahre ist es her, dass ich an dieser Stelle vorbeifuhr und das verrückte Erlebnis hatte. Sechs Jahre sind in der isländischen Politik und Geschichte eine halbe Ewigkeit. Dynamisch und jung, wie das Land ist, blicken die Menschen am liebsten in Richtung Zukunft. Ihr Blick ist kühn und stolz. Nicht unkritisch mit sich selbst, aber immer ein bisschen verliebt in die Zukunft. Das verbindet uns, Island und mich.
Während ich hier sitze und vom ersten Stock im Schreibzimmer auf die von der Sonne beschienene Küstenlinie mit ihren brandenden Wellen blicke, muss ich an diesen verrückten Tag damals denken. Es war noch nicht so sommerlich wie heute. Die Landschaft sah ein wenig karger aus.
Jetzt, im Juli, blüht alles bunt: Auf den Steinen strahlt die Polsternelke und überzieht karge Oberflächen wie leuchtende Kunstwerke. Hundert Jahre alt kann so eine Pflanze werden. Die Landschaft sieht aus, als habe jemand mit dem Pinsel kleine violette Kreise hineingetupft. Glockenblumen wiegen sich im Wind, und Grasnelken schimmern durchs satte Grün.
Bekassinen stürzen sich vom Himmel in feuchte Wiesen hinab, und die Küstenseeschwalben kreisen so hysterisch über frischer Brut am Boden, dass man sich wie einst Tippi Hedren in Hitchcocks Die Vögel wegducken möchte, wenn sie sich ein klein wenig zu nah über unsere Köpfe hinwegstürzen.
An der Küstenlinie erheben sich Singschwäne mit großen Schwingen und ziehen im Verbund übers Land. Und wie von tiefviolettem Zauber geküsst, ist der ganze Landstrich überzogen von blühenden Lupinen. Hier, an der Grenze nach Snaefellsnes, ist es in diesem Sommer erstaunlich mild und trocken.
Damals, Anfang Mai, war das anders. Da spielte das Wetter wieder einmal verrückt in Island. Es hatte ein fürchterliches Schneechaos gegeben, und ich war für solch einen Moment gar nicht präpariert, als ich in einem viel zu kleinen Mietwagen mitten auf einem Pass zum Stehen kam. Zu ärgerlich, gerade hatte ganz Island die Sommerbereifung auf seine Fahrzeuge gezogen, die im Winterhalbjahr mit Spikes versehen sein müssen.
Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, ich hätte so etwas schlicht nicht für möglich gehalten: Binnen einer Viertelstunde schneite unsere steile Passstraße komplett ein. Dabei hatte eben noch freundliches Frühsommerwetter geherrscht.
Mit mir waren auf der Strecke ungewöhnlich viele Autos unterwegs, es war ein typischer Freitagnachmittag in Island. Einer dieser Tage, an denen es die Menschen fröhlich jauchzend in Gruppen aufs Land zieht. Ganze Heerscharen isländischer Freundesrunden und Familien brechen dann auf zum Angeln, Segeln, Wandern, und die Hochebenen können für die paar Stunden, die das Wochenende einleiten, zu Verkehrsknotenpunkten werden. Von einem Moment auf den anderen schien an diesem Tag die Strecke nicht mehr passierbar. Und nun kam ich hier, ausgerechnet ich, die sonst so begeisterte Mobilistin, mit vor Panik schlotternden Knien hinterm Steuer zum Stehen.
Aus dem Schnee, der die eigentliche Fahrbahn längst unkenntlich gemacht hatte, stachen nur noch hohe, an den Enden dunkelgelb bemalte Stangen heraus, die die eigentliche Strecke markierten. Den Asphalt darunter gab es jetzt nur noch in meiner Fantasie, die den echten Weg zu erraten versuchte.
Eine halbe Stunde lang, in der sich alles blitzschnell vom munteren Frühlingstag in eine monochrome Winterlandschaft einfärbte, kamen wir zum Halten. Dann fuhr ich, als sich vor mir die ersten Wagen sehr langsam bewegten, im Schritttempo weiter, lediglich an den langen Stangen und den Rücklichtern der wenigen voranfahrenden Fahrzeuge orientiert. Andere hatten längst aufgegeben und standen mit Warnblinkleuchten und von innen beschlagenen Scheiben ratlos zwischen den Stangen mit den bunten Enden. An beiden Seiten der Fahrbahn lagen tiefe Gräben. An ihren steilen Abhängen hatte ich schon auf dem Weg zum Pass hinauf das ein oder andere lädierte Autowrack wahrgenommen.
Die Scheibenwischer gaben einen matten Blick auf die spiegelglatte Strecke vor mir frei. Die Wagenfenster beschlugen von der plötzlich einsetzenden Kälte, und nun erst begriff ich, was der Mann in der Autovermietung mit dem Satz gemeint hatte: „Wenn nichts mehr geht, hier ist unsere Notnummer.“ Die galt fürs ganze Land. Die kannten sich aus mit ihren Kundinnen.
In Island gibt es fiese Witze über Menschen, die hier Autos mieten und sich permanent selbst überschätzen. Ein chinesischer Reisender wurde mal hinter Húsavík aus dem Verkehr gezogen, als die Polizeistreife erkennen musste, dass das, was er beim Verleih in einer ganz anderen Sprache vorgezeigt hatte, nicht sein fremder Führerschein war, sondern eine Bibliothekskarte aus Shanghai. Wäre er nicht seiner absurden Idee gefolgt, dass in Island auf den Fahrbahnen Linksverkehr herrsche, hätte vielleicht niemand je von seinem kleinen Trick erfahren. Doch dann war da all der Gegenverkehr.
So elendig wie ich, als ich den Pass herunterfuhr, musste sich der arme Mann in Húsavík gefühlt haben, der wohl dachte: Island ist ja nicht so groß, ich probiere es einfach mal mit dem Lenken eines Autos.
Die glatte Fahrbahn, die in Schlangenlinien steil bergab an den Autotrümmern vorbeiführte, forderte meine ganze Konzentration. Erst als die frische weiße Fahrbahndecke sich vor mir festigte, warf ich aus reiner Routine einen Blick in den Rückspiegel: Alle, die hinter mir in dem Stau oben auf dem Pass gestanden hatten, waren verschwunden. Plötzlich wurde mir klar, dass außer meinem und wenigen anderen die meisten Autos neben der Fahrbahn gelandet sein mussten.
Wahrscheinlich schuf einst irgendeine göttliche Macht dieses Land für Menschen, die unerschrocken sind – auch eine Eigenart einer wilden Seele – und bei denen die Schwelle für eine verängstigte Reaktion ausgesprochen hoch liegt. Das sind die Momente, in denen auch sie lernen können, was Demut bedeutet. Dieser verdammte Pass hatte das geschafft – meine Knie schlotterten noch immer, als ich im Schritttempo in dem winzigen Konvoi ganz langsam eine Dreiviertelstunde hinab bis zur einzigen Raststätte weit und breit gelangte.
Ich fuhr den letzten Wagen, der überhaupt noch eine frisch errichtete Sperre weiter unten passierte. Die Straße war zur weißen Landschaft mit Fahrspur mutiert. Hinter mir hatte sich kein einziges Auto mehr aus der Höhe hinabbewegt. Unten standen die Leute der isländischen Verkehrswacht neben ihrer Straßensperre, die wir auf einer Fahrbahnseite mit unseren Fahrzeugen wie Schnecken auf Rädern passierten.
Der Pass wurde direkt hinter mir gesperrt, und als ich unten angekommen nach frischer Luft japsend die Autotür öffnete, verlor ich all meine Contenance und ließ mich vor den zwei Hünen der Straßenwacht in ihren leuchtenden Warn-Overalls hemmungslos gehen.
In Island fällt es mir leichter, emotional zu entgleisen, denn Weinen wird hier vor allem von Männern als Stärke empfunden, und diesen staunenden Kerlen fiel nun eine – zugegeben – verstörte, aber doch aus ihrer Sicht wohl als resilient zu betrachtende weibliche Person mit roten Haaren und einer markanten Hornbrille in einem Camouflage-Anorak heulend in die Arme.
Ich war noch schrecklich weit von meinem eigentlichen Ziel entfernt, aber an die normale Straße war nicht mehr zu denken.
„Die ist mindestens zwei Tage lang gesperrt, dir bleibt eigentlich nur noch der Weg über die Tiefebene und dann den steilen Küstenweg entlang. Das ist ein weiter Umweg, aber die einzige Straße, die überhaupt noch befahrbar ist.“
Ich rief die Besitzer des Hauses an, das ich gemietet hatte, denn die warteten bereits seit Stunden auf mich. Als sie hörten, wo ich mich befand, vernahm ich am anderen Ende Laute des Entsetzens:
„Lass dir bloß Zeit, ihr seid in den Nachrichten. Sicher ankommen ist wichtiger als alles andere, wir warten!“
Es sollte noch acht Stunden dauern, bis ich ihr Haus erreichte. Dieses Land hatte mich nicht nur an meine Grenzen gebracht, ich sollte an diesem Tag noch eine weitere typisch isländische Überraschung erleben.
Vorm großen Fjord ging es über eine karstige Hochebene hinauf auf eine dieser staubigen Pisten, die für Menschen in Island ganz normal zu sein scheinen, und ich verfluchte die Tatsache, dass ich überhaupt nur auf diesen Pass gelangt war, weil ich in einem Kreisverkehr eine Ausfahrt verpasst hatte.
Tatsächlich passiert mir das normalerweise nicht, denn ich habe ein Orientierungsgefühl, das es mit jedem Navi aufnehmen könnte. Gut, fast jedem. Ich hatte mich geirrt und hatte nun Stunden Zeit, auf diesem schwierig passierbaren Weg zu realisieren, dass auch ich vor solch einer Greenhorn-Geschichte nicht gefeit war.
Nun aber begann die wirklich anstrengende Piste, und mein kleiner roter Wagen kam schnell an seine Grenzen. Also drosselte ich das Tempo. Auf einem Streckenstück überholte mich ein großer Jeep mit hoher Geschwindigkeit. Das Fahrzeug wirbelte Dreck und Steine auf. Ein dicker Kiesel schleuderte davon hoch und krachte inmitten einer hellbraunen Staubwolke mit voller Wucht in die Windschutzscheibe meines Mietwagens. Ein spitzes, knackendes Geräusch folgte, und die Frontscheibe riss binnen Sekunden diametral von oben rechts nach unten links in einer sauberen Linie in zwei Stücke.
Es ist bemerkenswert, wie schnell man sich an optische Defizite gewöhnen kann. Ich lernte binnen kürzester Zeit, über die Kante hinwegzusehen, und war froh, dass mich der Mann der Mietwagenfirma am Mittag davon überzeugt hatte, eine Glasversicherung abzuschließen. Das Ding hier war gerissen, aber auf magische Weise hielt es noch fest im Rahmen.
Als ich den Wagen drei Wochen später zur Autovermietung zurückbrachte, hatte sich auch eine zweite Sonderversicherung gelohnt, denn ich geriet Tage später in einen Sandsturm, wie sie an der Küste Islands seit ein paar Jahren vermehrt entstehen. An einer Seite flexte der Sturm den Lack am Chassis in einem breiten Streifen ab.
Das Geräusch hätte ich zu gerne aufgenommen. Sandstürme kommen nicht nur in der Sahara, sondern auch im hohen Norden wie aus heiterem Himmel, und dann hält die teilnehmende Beobachterin lieber beide Hände am Steuer, statt in der Tasche auf dem Beifahrersitz nach dem Audio-Aufnahmegerät zu graben.
Der Riss in der Scheibe nötigte mir ein hysterisches Kichern ab. Die Straße führte irgendwann sehr dicht an der Steilküste entlang. Ich betete inständig, mir möge niemand entgegenkommen, denn das hier war einspurig, und rechts toste das Meer zig Meter unter dem schmalen Notweg, den ich passieren musste, um ans Ziel zu kommen.
Zuweilen führte der schmale Weg so nah um die felsigen Kanten der Steilküste herum, dass der Streckenverlauf erst hinter der nächsten Biegung erkennbar war. Eine Seltenheit in Island, wo man doch sonst fast immer bis zum Horizont blickt.
Vielleicht brauchen wir solche Wege, die wir bewältigen müssen, um uns weiterzuentwickeln. Vielleicht brauchen wir dieses Hadern mit uns und den Umständen, weil sich dadurch in unserem Innern eine Welt öffnet, eine Art innerer Muskel, den wir im modernen, hoch technisierten, so zivilisierten Alltag sonst veröden ließen.
Diesen Nachmittag in meinem Leben habe ich bis heute nicht vergessen. Das hier war die schlimmste und durchgeknallteste Strecke auf allen durchgeknallten Strecken, die ich je in Island fuhr. Als ich um halb zwölf in der Nacht in Hellissandur eintraf, sah ich die Sonne am Horizont gerade noch im Meer versinken. Wenig später fiel ich in einen achtzehnstündigen Tiefschlaf.
Es war an diesem Maitag mein Glück, dass es schon so lange hell blieb, denn der Weg war wild, aber ich konnte ihn wenigstens noch erkennen. Keine Selbstverständlichkeit im hohen Norden, der ob seines Wetters eine ständige Herausforderung ist.
Mittlerweile war ich mehr oder weniger allein auf der lausigen Piste. Auf einem Teilstück lag plötzlich ein Schneefleck in der Mitte des Weges. Hätte ich doch bloß das SUV gemietet, schoss es mir durch den Kopf, als ich begriff, dass ich mit dem Boden des Fahrzeugs genau auf die Schneefläche träfe, sollte ich die Stelle passieren. In Nächten wie diesen verliert die gepeinigte Seele alle Beherrschtheit. Es gilt, unverzagt zu handeln, es sieht einen ja niemand. Wem wollte ich hier etwas beweisen? Ich hielt kurz an, sah dieses irritierende Schneebrett vor mir und im Rückspiegel den schmalen Fjordweg. Zurück ging es nicht, und ich fand, ich sei nicht durch die halbe Nacht gefahren, um siebzig Kilometer vor dem Ziel plötzlich aufzugeben. Also holte ich tief Luft, schickte ein Stoßgebet zum Himmel und erinnerte mich an meine (zugegeben lang zurückliegenden) Zeiten als erste Skaterin von Sankt Olaf im Tecklenburger Land: Ich schaltete das Getriebe des Wagens exakt über dem Schneebrett in den Leerlauf. Mein Herz schlug wild, aber ehe ich mich’s versah, war ich mit dem stählernen Boden des Autos über die vereiste Fläche geglitten.
Was sollte danach schon noch kommen?
Das Ziel schien endlich erreichbar, wenn ich erst diese fürchterliche Schotterpiste überwunden haben würde. Nach meinem kleinen Surferlebnis fühlte ich mich besser. Ein paar Stunden mehr über Stock und Stein machten auch keinen Unterschied. Die asphaltierte Straße, die mich endgültig ans Ziel bringen sollte, rückte endlich näher. Und dann hatte ich genau hier, wo ich jetzt sitze und dieses Buch schreibe, diese unglaubliche Begegnung.
Anfang Mai war der Frost noch nicht aus den Böden gewichen. Schafe und Rinder waren noch nicht zurück auf den Sommerweiden. Und als ich an diesem Abend so allein im kleinen roten Mietauto den holprigen Fjordweg entlangzockelte, kroch plötzlich eine seltsame Ahnung in mir hoch.
Hatten mir dieser herausfordernde Weg und der brutale Pass, die hinter mir lagen, meine Wahrnehmung so stark getrübt, dass ich eine nordische Fata Morgana sah? Hier, inmitten dieser verrückten Nacht, in der ich nun allein auf weiter Flur schien, spürte ich einen Menschen. Zumindest glaubte ich, ihn zu spüren.
Ich verringerte die ohnehin niedrige Geschwindigkeit meines Wagens und verfluchte meine gelegentliche Feinfühligkeit, aber ich spürte ganz deutlich: Hier war noch jemand.
In the middle of nowhere? Nach all diesen Hindernissen?
Ich konnte bis zu einem Felsvorsprung weit über den Küstenstreifen schauen. Der Fels vor der weiten Ebene links war nur ein paar Meter hoch, die verlängerte Neigung eines kleinen Berges. Andere Fahrzeuge hätte ich von Weitem schon an einer Staubwolke ausmachen können, und rechts von mir rauschte das Meer in den Fjord. Wer sollte sich zu Fuß in dieser unwirtlichen Landschaft bewegen? Für sommerliche Wanderer war es noch viel zu früh.
Als ich mein Gefühl nicht weiter unterbinden konnte, hielt ich das Auto an. Unter mir röchelte der Motor, und ich blickte ein wenig müde geworden nach vorn. Da war der Felsen links des Weges, ein paar Meter hoch, und da sah ich sie – die Gestalt.
Die Gestalt, die ich förmlich gespürt zu haben schien, war kein Mensch, sondern ein schwarzes Schaf, das bei der Réttir, dem Viehabtrieb im Jahr zuvor, in den Bergen vergessen worden sein musste.
Manchmal tauchen diese armen Tiere in den ersten Monaten eines Jahres wieder auf, wenn sie in klirrender Kälte einen ganzen Winter in der Einöde verbrachten. Tiere, die es bis ins Frühjahr hinein hier draußen aushielten, waren an Körper und Konstitution vom unerbittlichen Winter gezeichnet.
Und das hier war nicht einfach nur ein Schaf. Nein, neben dem Felsen erschien ein schwarzes zerzauseltes Etwas mit einem ziemlichen Charakterkopf, das sichtlich müde wirkte nach den Monaten allein in den Bergen. Wahrscheinlich war ich das erste lebende Wesen, das ihm, außer arktischen Füchsen und ein paar Wildvögeln vielleicht, nach langer Abgeschiedenheit begegnete. Zwei aufgerissene hellgrüne Augen starrten mich über einem schwarzen Haarkringel am Hals, der aussah wie eine aufgeplusterte Fellkette, wie paralysiert an. Sein ungeschorenes Fell hatte sich am Hintern in einen verrotteten Puschel verwandelt. Die Wolle am vorderen Körper war abgewetzt und wirkte bis auf den dicken Puff um den Hals seltsam ausgedünnt, als sei es in einem Weidezaun hängen geblieben und hätte sich mit Macht selbst befreit.
Dieses Schaf wirkte wie ein alter Cowboy, der zum ersten Mal seit Langem in die Stadt kommt und den Saloon betritt, wo die Gespräche verstummen und sich alle Blicke auf ihn richten, weil er so anders aussieht. Und alle schweigen, weil sie wissen: Der hat ganz schön viel erlebt, bevor sie seiner ansichtig wurden.
Die Last am Hinterteil verlieh dem schwarzen Schaf einen leicht schaukelnden Gang auf staksigen, dünnen Beinen. Von Schönheit konnte hier keine Rede sein. Die Stelzenbeinchen des einsamen Schafes aus den Bergen wurden von überlangen Klauen getragen. Direkt vor meinem Auto blieb es stehen. Stierte dabei wohl genauso ungläubig auf mich, wie ich, der soeben hinterm Steuer die Kinnlade heruntergeklappt war, auf das Tier starrte. So etwas hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.
Das hier wollte ich gespürt haben?
Das war das Segelschiff mit dickem rundem Heck unter den Schafen! Das sein eindrückliches Gezottel herumtrug, statt es zu kaschieren. Es schien dieser Kreatur nicht an Selbstbewusstsein zu mangeln. Im Gegenteil, sie schien dieses Schwanken zu genießen und torkelte lustig vor sich hin.
Wer war ich schon, die ich mich mit Wintereinbrüchen, einer liegen gebliebenen Schneewehe und nahezu unpassierbaren Küstenwegen rumschlug? Das hier war die wahre Heldin im Fjord. Schiff ahoi.
Ich stellte den Motor aus, öffnete die Tür und begann mit ihm zu sprechen. Eine Weile standen wir so voreinander, das Schaf und ich. Und vielleicht war es mein schallendes Gelächter, das es vertrieb, denn es setzte seinen Weg gen Strand fort. Dort hinunter, wo die Singschwäne in weiten Schwüngen landeten und ihre Nester für den Sommer vorbereiteten. Ich bin sicher, dass dieses Schaf den Anschluss an die Herde wieder gefunden hat, als all die anderen wieder auf die endlosen Sommerweiden gelassen wurden, und bestimmt hatte es bald wieder einen 1-a-geschorenen Schafsbody und gekürzte Klauen, die ihm einen normalen Gang verleihen würden.
Vielleicht sind wir ja alle manchmal ein bisschen wie dieses schwarze Schaf, das zurück zur Herde will?
Auch ich kam nicht allein zurück in diese Gegend, sondern mit liebsten Menschen, denen ich mich täglich auf unserer Reise ein paar Stunden entziehe, um hier zu schreiben. Unsere Vermieterin hatte in der Zwischenzeit ausgerechnet hinter Schafs-Rundhecks Winterfelsen ihr Sommerhaus gebaut. So sitze ich hier und frage mich, was mir das wohl sagen soll.

Es ist Sommer in Island, und wieder einmal lodert ein Vulkan, der eine ganze Gemeinde in Angst und Schrecken versetzt. Vielleicht müssen die Menschen von Grindavík für immer ihre Heimat verlassen, weil der Sylingarfell-Krater einen Riss quer durch ihr Städtchen schlug. Noch ist nicht klar, ob er bald wieder für Jahrhunderte erlischt oder die über der Erdspalte Lebenden noch lange in Panik versetzen wird, wenn er im Fünf-Wochen-Rhythmus ausbricht und wieder aufhört zu speien.
Das ist mein neunter Vulkan, seit ich Island bereise, und gestern wurde mir plötzlich klar, dass dies meine fünfzigste Reise hierher ist, in dieses Land, in dem ich vor anderthalb Dekaden eigentlich nur mal kurz etwas für ein einziges Buch recherchieren wollte.
Nie hatte ich geplant, die Sprache zu lernen. Wir sind ja nur 50 000 Menschen, die außerhalb Islands dessen unbezwingbar wirkende Grammatik zu verstehen versuchen und die ungewohnten Laute über unsere Lippen bringen. Bis ich die richtig artikuliere, braucht es noch ein paar Kurse.
Mein letztes Buch über diesen herrlichen Flecken mitten im Nordatlantik erschien, als hier auf der Insel die Pandemie ausbrach, die die ganze Welt in Atem hielt. Uns alle veränderte diese Coronazeit. Überall. Aber in Island passierte etwas, was sich meiner Beobachtung bis dahin entzogen hatte.
Als ich im ersten Herbst nach der Seuche in einer Reykjavíker Hipster-Boutique mit dem Besitzer ins Gespräch kam und fragte, wie sie denn diese schlimme Zeit ökonomisch überstanden hätten, erzählte mir der kreativ gekleidete Mann, dass ihre Jahresbilanz nahezu unverändert geblieben sei.
„Isländerinnen und Isländer kaufen doch immer so gern im Ausland ein, aber die kamen nicht aus dem Land, also mussten sie nun bei uns kaufen“, meinte er lächelnd. Ich musste schmunzeln, denn auch ich kaufte im internationalen Warenverkehr gerade meine Schuhe hier und nicht in Deutschland.
Tatsächlich veränderte sich noch etwas für die Menschen hier in der Zeit der Pandemie, die erstmals in der Geschichte des Landes den Tourismus komplett zum Stillstand kommen ließ. Islands Regierung legte ein ungewöhnliches Konjunkturprogramm auf: Alle im Land erhielten Gutscheine für den Eintritt zu Naturwundern und touristischen Zielen Islands, die sonst im Sommer von aus dem Ausland anreisenden Touristen förmlich überrannt werden. Kurz vor Beginn der Pandemie hatte Island seinen Besucherrekord erreicht. Es wurden gerade zweieinhalb Millionen Reisende erwartet, und dann stoppte Corona alles von einem Tag auf den anderen. Also reisten Islands Menschen zum ersten Mal seit Langem zu den eigenen Naturschönheiten, unbehelligt von den üblichen Besuchermassen.
„Ich habe mein Land ganz neu kennengelernt“, lautet ein Satz, den ich danach öfter hörte, und plötzlich kauften Menschen hier Sommerhäuser, die das früher gar nicht vorgehabt hatten. Das war, als seien sie an die Schönheit ihrer Heimat erinnert worden.
Im Herbst darauf war ich zum Literaturfestival in Reykjavík eingeladen, und mir schien, als seien alle ein bisschen milder miteinander geworden, fragiler als sonst.
Viele touristische Anlauforte wurden schnell noch modernisiert. Und schnell bedeutet hier wirklich schnell. In Island bestehen Straßenbaustellen meist nur wenige Tage, oft sind Schlaglöcher oder Teerschichten gleich am anderen Tag erneuert.
Ähnlich schnell pulsiert das Leben.
In Reykjavík schießen gerade die Häuser in die Höhe wie nie zuvor. Letzte Woche blickte ich die Túngata hinablaufend auf eine vollkommen neue „Skyline“. Das mag verrückt klingen für ein Land, in dem eine der bemerkenswertesten Schlagzeilen letzten Winter lautete: „Bald sind wir 400 000 (Menschen)“. Kurz darauf korrigierte sich die statistische Stelle, die den neuen Rekord vermeldet hatte. Man habe sich leicht verzählt, aber bald, ja, bald sei es so weit. Zwei Drittel aller Menschen hier leben in oder um Reykjavík herum.
In diesem Jahr erlebte der Tourismus zum ersten Mal seit dem Ende von Corona eine Art Krise im Frühsommer. Viele Reisende sagten wegen des aktuellen Vulkans auf der Reykjanes-Halbinsel und einer hohen Inflation ihre Reisen ab. Es war im ersten Teil des Sommers außergewöhnlich leer für isländische Verhältnisse, was das Reisen angenehm macht.
Aber kaum vier Wochen später war ich zurück und besuchte Siggi, den Ranger, fuhr ins Hochland, und da war sie, die große Reisewelle. Meine Freunde lachten, denn ich fuhr das Auto, das alle Touristen hier haben: einen weißen Dacia Duster. Als ich vom Dettifoss zurückkam und auf den Parkplatz neben dem Naturwunder blickte, traute ich meinen Augen nicht. Da standen vierzig weiße Duster, alle nebeneinander in einer Reihe, und ich kann von Glück sagen, dass es die elektronische Fernbedienung für Autos gibt, denn da blinkte etwas inmitten der großen Reihe, und das war mein Mietauto.
Das Auto, das ich fuhr, führte dann zu einer ungewöhnlichen „Nebenrecherche“, erfuhr ich doch, dass der Mann, der früher jahrzehntelang für die Bauern die praktischen tschechischen Traktoren ins Land brachte, sich mittlerweile auf die Duster spezialisiert hatte. Der Dacia Duster ist nach dem Tesla derzeit der zweithäufigste in Island verkaufte Neuwagen, und das sagt ziemlich viel über den Touristenboom aus, dessen Bilanz am Ende des Jahres bei weit über zwei Millionen Reisenden liegen soll.
Die Vulkane, die hier gerade ausbrechen, sind für die Touristen halbwegs harmlos, aber für die Menschen von Grindavík sind sie fürchterlich. In Island unterscheiden die Menschen zwischen „wirklichen Vulkanen“ und „denen für Touristen“. Was in diesem Fall nicht ganz stimmt, denn ständig gerät neben der wirklichen Bedrohung für den Fischerort Grindavík und seine Menschen auch immer wieder einer der lukrativsten Orte auf der Insel in Gefahr – die Blaue Lagune.
Neben ihr liegt das Svartsengi-Kraftwerk, das die Halbinsel mit Energie versorgt und das ebenfalls durch das Aufreißen einer Erdspalte gefährdet ist. Nach 700 Jahren ist nun ganz plötzlich die Infrastruktur im Süden der Insel bedroht.
Erst eine alte Militärkarte aus den 1950er-Jahren wies die Fissur des ursprünglichen Vulkanfeldes auf, die sich exakt unter dem Städtchen Grindavík befand. Dass hier zu Wikingerzeiten schon einmal die Erde gebebt hatte, war einfach nicht überliefert worden, als Menschen sich später ansiedelten. Dabei ist Grindavík heute einer der wichtigsten Häfen im Land.
Stoisch planieren die Bauarbeiter der Straßenbehörde nach jedem Ausbruch dieses Spaltenvulkans, der dann über mehrere Kilometer in der Länge aufreißt, die nächste Straße über die Lava, die die alte Straße gestern noch unter sich begrub.
Das zu beobachten ist wie ein steter Workshop in Resilienz. Dann dürfen die Menschen wieder in die Blaue Lagune, in die sich kaum noch Einheimische verirren, weil ihr Eintritt und die Hotelpreise dort selbst aus isländischer Perspektive höllisch teuer geworden sind.
Aus isländischer Perspektive: Das bedeutet, dass hier der Mindestlohn höher ist als anderswo und das Einkommensniveau eher Schweizer als deutschen Verhältnissen entspricht.
Das mit dem Mindestlohn ist offensichtlich nicht allen klar. Ein amerikanischer Essenslieferant verlor neulich seine Lizenz in Island, als radelnde Ich-AGs mit migrantischem Hintergrund und blauen Satteltaschen voller Essen in Reykjavík von Cops angehalten wurden. Die armen Lieferservice-Boys wussten überhaupt nicht, dass ihr Auftraggeber gegen ein paar einheimische Gesetze verstieß, weil ihnen kein Mindestlohn garantiert wurde und er sie auch nicht anstellte, sondern in eine Art Scheinselbstständigkeit gebracht hatte. In einem Land, in dem die Gewerkschaften der Stachel in manch neoliberalem Business sein können, ein echter Frevel.
Noch liegt die Sache vor Gericht, aber es sieht so aus, als werde der Essenslieferservice, der international tätig ist, aber an keinem der Arbeitsorte seiner Fahrer Steuern zahlt, allein in Island besteuert, sonst dürfen seine Fahrer hier nicht mehr tätig sein. Und die müssen dann – auch das wird einmalig werden auf der Welt – hier angestellt sein.
Dynamisch ist Island auch, weil das geologisch jüngste Land der Welt eine extrem junge Bevölkerung hat. Früh Kinder zu bekommen wird ökonomisch belohnt und ist für Studierende kein Problem, weil die Kinderbetreuung rundum gewährleistet ist und Alleinerziehende vom Staat durch entsprechende Vergünstigungen auf das soziale Niveau der anderen gehoben werden. Mehr als die Hälfte aller Abgeordneten im isländischen Parlament ist inzwischen weiblich. Ein Viertel von ihnen ist unter vierzig. Im deutschen Parlament macht diese Altersgruppe gerade mal sechs Prozent aus.
Island erlebt in diesem Sommer eine politische Transformation. Noch nie wurden so viele Menschen als Kandidatinnen und Kandidaten für eine Präsidentschaftswahl registriert. Die Premierministerin trat sogar zurück, um als Präsidentin kandidieren zu können. Es war, als sei ein lautes Seufzen im ganzen Land zu hören gewesen. Ausgerechnet die Frau, die die links-grüne Minderheitsregierung so lange stabilisiert hatte, wollte es noch mal wissen und in ein Amt mit noch mehr Prestige aufsteigen. Katrín Jakobsdóttir ist eine klassische Repräsentantin der isländischen Politik. Hier heißt das nämlich auch: Politik ist nicht alles.
Als die Pandemie auch Island ziemlich lange lahmlegte und an Staatsreisen nicht zu denken war, schrieb die „gelernte“ Literaturwissenschaftlerin zusammen mit Ragnar Jónasson einen süffig-spannenden Krimi. Selbstentfaltung weit vom politischen Rand entfernt. Sie habe einfach die Zeit, die sonst für Staatsreisen draufgegangen sei, für ihren literarischen Erstling genutzt, gab sie gut gelaunt in einem Interview preis.
Doch dieser Rücktritt löste selbst im sonst so entspannten Island etwas aus. Katrín, wie sie hier alle nennen, setzte ihre eigene politische Karriere auf eine einzige Karte, denn mit einer verlorenen Wahl wäre auch ihr normaler Platz einer Abgeordneten im Althing dahin.
Es gab kein Zurück mehr auf ihren alten Posten. Doch Katrín Jakobsdóttir ist bekannt für ihre starken Nerven. Ein paar Jahre zuvor konnte die halbe Welt live miterleben, wie hartgesotten die Regierungschefin sich bei einem manifesten Erdbeben verhielt, denn die Premierministerin befand sich gerade in einem Zoom-Interview mit der Washington Post, als ihr Amtszimmer deutlich durchgerüttelt wurde. Eigentlich hatte die jugendlich wirkende Politikerin gerade über die Vorzüge des isländischen Gesundheitssystems referiert, als die Deckenlampe im Hintergrund mächtig zu schaukeln begann und deutlich vernehmbar Dinge in ihrem Amtszimmer zu Boden fielen. Das Videobild schwankte einen Moment, Katrín griff sich ins schulterlange Haar und sagte: „Oh mein Gott, das ist ein Erdbeben.“ Dann drehte sie sich prüfend um, wandte sich wieder dem Interviewer im fernen Washington zu und entschuldigte sich, während sie sich den Staub von den Schultern putzte, mit den Worten: „Nun, das ist Island! Das Haus steht noch, mir geht es gut.“ Das Erdbeben hatte eine Stärke von 5,5 auf der Richterskala. Da verrutschen schon mal Gebäudeteile, oder Dächer brechen ein.
Wer die isländische Premierministerin bis dahin noch nicht kannte, lernte sie nun ob dieses Ereignisses durch die weltweite Berichterstattung auf News-Portalen und auf den Panorama-Seiten internationaler Zeitungen kennen. Diese Unerschrockenheit ist Teil der DNA der Menschen Islands.
Vielleicht verstanden nicht alle ihren Wunsch, Präsidentin werden zu wollen. Es geschah etwas Seltsames bei dieser letzten Wahl: Die Nation schien sich zu spalten. Ein Geschäftstermin, den ich in Reykjavík gehabt hätte, wurde mit der Ansage verschoben: „Du glaubst ja nicht, was hier gerade los ist!“
Mit ihrer Kandidatur als Präsidentin verlor die Frau, die bis dahin als Links-Grüne immer wieder die Minderheitsregierung am Polarkreis stabilisiert hatte, jede Menge Fürsprecherinnen und Fans. Viele von ihnen nahmen es ihr übel, dass durch ihren Rücktritt der unbeliebteste Politiker im Land als Premierminister nachrückte. Das war der reinste Krimi. Achtzig Prozent aller Isländerinnen und Isländer nahmen an den Wahlen teil, 75 Prozent entschieden sich für eine Frau unter den insgesamt zwölf Kandidaten, die alle einen Teil der isländischen Bevölkerung repräsentierten.
Am Ende entschieden sich die meisten für die Geschäftsfrau Halla Tómasdóttir, die am Vorabend durch ihre Rede zu überzeugen vermochte, als sie auf die Frage, inwieweit sich Island in den Ukraine-Russland-Krieg einmischen könne, antwortete, Island sei von jeher ein pazifistisches Land gewesen, so wollten sie es auch diesmal halten. Menschen seien in Island willkommen und seien frei, eine Inspiration in „Mutter Natur“ zu finden. Das Land stehe für nachhaltige Energie und Geschlechtergerechtigkeit.
Eine andere Entwicklung im Land gefällt längst nicht allen, denn es ist gerade eine Phase eingetreten, in der plötzlich mehr Kriminalität in Island herrscht als früher. Die Kriminalstatistik, die sonst zwei Morde pro Jahr ausweist, zeigt im ersten Halbjahr dieses Jahres schon sechs Mordfälle an. Die Haftanstalten werden gerade erweitert, und die Polizisten im Land erhielten eine Sondergenehmigung, Taser zu tragen. Das ist neu, denn Waffen trägt die Polizei im pazifistischen Land Island bislang nicht. Aber in Reykjavíks Nachtclubs tobte ein erbitterter Bandenkrieg, und bei der Reykjavíker Kulturnacht kam durch einen Messerstecher ein siebzehnjähriges Mädchen in der Skúlagata ums Leben. Messerangriffe sind leider auch hier inzwischen ein Thema.

Island 2024 ist aber auch voller skurriler Ereignisse. Die Gurken werden nach einer TikTok-Challenge knapp, weil ein Influencer namens „Cucumber Guy“ fast täglich Gurkenrezepte bei TikTok veröffentlicht. Eine Vermisste konnte nach 36 Stunden lebend aus dem kalten Ozean gerettet werden, die Frau ist wohlauf. Das Land diskutiert über den CO2-Emissionshandel und ob es einsteigen soll.
Eine neue Protestform wurde eingeführt: Die Demonstrantinnen singen nun Choräle gegen die Ausweisung eines behinderten Jungen aus Palästina. Die Flüchtenden sind zum großen Thema in der Politik geworden. Auch Island hatte nicht mit dem Ukraine-Krieg rechnen können. Dass Frauen in diesem Land sehr sicher sind und es bereits eine kleine ukrainische Gemeinde gibt, führte dazu, dass es eine große Anzahl von Frauen aus der Ukraine auf die Insel im Nordatlantik verschlug.
„Ehrlichkeit, Respekt und Verantwortung“ ist das Motto der neuen Präsidentin. Sie möchte Jugendliche damit stärken. Sie wolle Menschen zusammenbringen, die nichts miteinander verbindet, hatte Halla Tómasdóttir in ihrer Antrittsrede gesagt.
Dabei hatten am Tag nach der Wahl alle gezittert, die letzte Wahlurne aus den Westfjorden war abhandengekommen. Das Auto, das sie transportierte, musste erst mit einem Schneeeinbruch klarkommen und hatte dann eine Reifenpanne. Etwas erschöpft traf die Fahrerin mit den letzten Stimmen für Halla ein, die nun die neue Präsidentin Islands ist.
Frei nach Vigdís Finnbogadóttir: „Wenn wir die Welt retten wollen, dann nur durch Männer und Frauen, die den Mut haben, eine Zeit lang die Führung zu übernehmen.“ Am Ende des Sommers passiert dann das, was eine Tageszeitung mit dem Satz „Die Regierung ist explodiert“ überschrieb. Keine fünf Monate hielt sie unter dem neuen Regierungschef Bjarni Benediktsson, der die Führung in Katrín Jakobsdóttirs Minderheitsregierung übernahm, nachdem die erfolgreiche Regierungschefin ihr Amt verlassen hatte. Mit Männern in der Regierung hat Island einfach kein Glück. Am Jahresende wird gewählt. Die Spitzenkandidaten der meisten Parteien sind diesmal Frauen. Zum Glück sind wieder alle fürchterlich in die Zukunft verliebt. Es kann ja nur besser werden, sagen sie dann am Polarkreis und lassen sich die Lebensfreude nicht durch die Politik verderben. Das wäre schließlich das Letzte. Entsprechend fällt die Wahl aus. In Rekordgeschwindigkeit bildet eine Dreierkoalition die neue Regierung. Die drei Parteiführerinnen demonstrieren von Tag eins an Geschlossenheit und einen Zusammenhalt, wie man ihn hier in der Politik parteiübergreifend so noch nie erlebte. Mit der 36-jährigen Kristrún Frostadóttir (die seit Langem als größtes politisches Talent gilt) bekommt Island die jüngste Premierministerin seiner Geschichte. Erstmals sitzen im Parlament mehr Frauen als Männer. Das Motto der neuen Regierung lautet: „Dankbarkeit, Demut, Rock ’n’ Roll“.

So ist Island. Seine wilde Seele lebt in den Menschen, den Tieren, den Landschaften.

Mein persönlicher Kraftort liegt rund acht Kilometer nördlich von Húsavík. Tungulending ist eine ehemalige Fischfabrik, aus deren Resten der deutsche Kameramann Martin Varga ein Gästehaus aufgebaut hat. Hier entstand ein magischer Ort mit perfektem Blick über die Bucht Skjálfandi, deren Berge auf der anderen Seite auch im Sommer schneebedeckt sind. 
Viele Einheimische aus der Gegend nutzen das angeschlossene Café für Besuche. Tungulending liegt nahe der Straße, die von Húsavík nach Kópasker und Raufarhöfn führt, etwa auf der Höhe der kleinen Insel Lundey (einem Paradies für Papageitaucher). Der Weg führt nach links auf einer Anhöhe (nicht das Schild an der Straße verpassen) über eine kleine Schotterstraße durch Wiesen hindurch. Während der Weidezeit muss man hier auch mal ein Gitter öffnen und wieder schließen. Am Ende der Erhebung geht ein steiler Sandweg hinunter zum Gästehaus. Von hier aus lassen sich regelmäßig Wale beobachten. Tungulending ist geschmackvoll eingerichtet, aber das wahre Herzstück ist seine Terrasse mit den großzügigen Holzstufen direkt am Meer. Ein idealer Platz fürs Betrachten endlos langer Sonnenuntergänge. Auch der alte Steg, an dem früher die Heringstrawler anlegten, ist noch erhalten geblieben und ragt weit in die Bucht hinein. 
Ich hatte hier mal eine denkwürdige deutsch-isländische Lesung: Als ich im Café über die Köpfe des Publikums hinweg von meinem Buch aufblickte, starrte ein Seehund, der draußen aufs Fensterbrett geklettert war, neugierig zu uns ins Lokal hinein. In diesem Jahr hat das schöne Haus am Meer ein junges Paar aus Deutschland übernommen. 

GPS-Daten: N66°08′35.34″ W17°15′28.4″

Anne  Siegel

Über Anne Siegel

Biografie

Anne Siegel, in Norddeutschland geboren und aufgewachsen, lebt in Köln und arbeitet als Buchautorin und Radiojournalistin. 2015 veröffentlichte sie ihr Romandebüt „Nordbräute“. Neben weiteren Romanen erschienen von ihr mehrere Sachbücher, unter anderem 2016 der viel beachtete Band »Frauen, Fische,...

Veranstaltung
Lesung mit Musik
Freitag, 28. März 2025 in Schleswig
Zeit:
19:30 Uhr
Ort:
Slesvighus,
Lollfuß 89
24837 Schleswig

Konzert: Svavar Knútur

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Buchpräsentation
Donnerstag, 03. April 2025 in Köln
Zeit:
19:00 Uhr
Ort:
Christuskirche,
Dorothee-Sölle-Platz 5
50672 Köln
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Lesung
Freitag, 04. April 2025 in Erkelenz
Zeit:
19:30 Uhr
Ort:
Stadtbücherei Erkelenz,
Gasthausstraße 7
41812 Erkelenz
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Lesung
Mittwoch, 23. April 2025 in Wolgast
Zeit:
19:00 Uhr
Ort:
Wolgast,
Lange Str. 17/18
17438 Wolgast
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Lesung
Donnerstag, 24. April 2025 in Ueckermünde
Zeit:
19:30 Uhr
Ort:
Friedrich-Wagner-Buchhandlung,
Ueckerstr. 79
17373 Ueckermünde
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Lesung
Freitag, 25. April 2025 in Berlin
Zeit:
Uhr
Ort:
Berlin
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Lesung
Dienstag, 06. Mai 2025 in Offenburg
Zeit:
20:00 Uhr
Ort:
Buchhandlung Roth,
Hauptstr. 45
77652 Offenburg
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Lesung
Samstag, 07. Juni 2025 in Voerde
Zeit:
Uhr
Ort:
Lesezeit !,
Bahnhofstr. 61
46562 Voerde
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Lesung
Donnerstag, 16. Oktober 2025 in Herbrechtingen
Zeit:
19:00 Uhr
Ort:
Stadtbücherei Herbrechtingen,
Eselsburger Str. 8
89542 Herbrechtingen
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